18
Warner Agees Laptop, ein mehrere Jahre alter Dell, war an einen kleinen Drucker angeschlossen. Beide Geräte waren mit an der Wand befindlichen Steckdosen verbunden. Wegen der kreuz und quer verlaufenden Kabel und der überall herumliegenden Ausdrucke musste man aufpassen, dass man nicht stolperte oder auf ein Blatt Papier trat.
Scarpetta hatte den Verdacht, dass Agee in dem offenbar von Carley angemieteten Hotelzimmer pausenlos gearbeitet hatte. Offenbar war er beschäftigt gewesen, bevor er Hörgeräte und Brille abgenommen, die Karte mit dem Magnetstreifen auf den Frisiertisch gelegt hatte und über die Treppe verschwunden war. Wahrscheinlich hatte er ein Taxi genommen und sich schließlich in den Tod gestürzt. Sie fragte sich, was er in seinen letzten Lebensminuten wohl hatte hören können. Gewiss nicht die Rettungsmannschaft mit ihren Seilen, Geschirren und anderen Ausrüstungsgegenständen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um ihn von der Brücke zu holen. Bestimmt auch nicht den Verkehr auf der Brücke. Nein, nicht einmal den Wind. Er hatte den Ton abgeschaltet und das Bild verschwimmen lassen, um sich den endgültigen Sprung ins Nichts zu erleichtern. Sein Plan war nicht nur gewesen, sein Leben zu beenden. Aus irgendeinem Grund hatte er beschlossen, keine andere Alternative in Erwägung zu ziehen.
»Fangen wir mit den letzten Anrufen an«, schlug Lucy vor und beugte sich über Agees Telefon. Sie hatte es in eine Ladestation gelegt, die sie in einer Steckdose neben dem Bett entdeckt hatte. »Anscheinend hat er nicht viel telefoniert. Ein paar Anrufe gestern Vormittag und dann nichts mehr bis sechs Minuten nach acht am Abend. Danach noch ein Anruf, etwa zweieinhalb Stunden später, also um zwanzig vor elf. Ich beginne mit dem um sechs nach acht, starte eine Suchanfrage und schaue, was dabei herauskommt.« Sie tippte etwas in ihr MacBook.
»Ich habe das Passwort meines BlackBerry deaktiviert.« Scarpetta wusste nicht, warum sie es ausgerechnet in diesem Moment aussprach. Sie hatte zwar daran gedacht, doch es hatte ihr nicht auf der Zunge gelegen. Nun war die Tatsache auf dem Tisch und lag vor ihnen wie eine überreife, vom Baum gefallene Frucht. »Ich glaube nicht, dass sich Warner Agee mein BlackBerry angesehen hat. Oder Carley, falls sie nicht auf die Fotos vom Fundort gestoßen ist. Soweit ich feststellen kann, sind die Anrufe, Nachrichten und E-Mails, die eingegangen sind, seit ich es zuletzt benutzt habe, nicht geöffnet worden.«
»Ich weiß«, erwiderte Lucy.
»Was soll das heißen?«
»Mein Gott. Die Nummer, von der aus Agee angerufen worden ist, hatte schon Millionen von Vorbesitzern. Übrigens ist das Mobiltelefon auf ihn registriert, und zwar unter einer Adresse in Washington, D. C. Ein Konto bei Verizon, das ist ein Billiganbieter mit wenig Freiminuten. Wahrscheinlich war er nicht sehr gesprächig, wohl wegen seiner Hörbehinderung.«
»Ich bezweifle, dass das der Grund ist. Seine Hörgeräte sind hochmodern und haben sogar Bluetooth-Funktion«, antwortete Scarpetta.
Als sie sich in dem Hotelzimmer umsah, kam sie zu dem Schluss, dass Warner Agee die meiste Zeit in einer klaustrophobischen, meist stillen Welt verbracht hatte. Gewiss hatte er keine Freunde gehabt, und falls es Angehörige gab, stand er ihnen nicht sehr nah. Sie fragte sich, ob sein einziger zwischenmenschlicher Kontakt, die einzige Person, zu der er eine emotionale Bindung unterhalten hatte, die Frau gewesen war, die ihn aus Eigennutz unterstützte: Carley. Sie hatte ihm zu Arbeit und einem Dach über dem Kopf verholfen und war hin und wieder mit einer neuen Chipkarte erschienen. Scarpetta nahm an, dass Agee kein Geld besessen hatte. Was war wohl aus seiner Brieftasche geworden? Vielleicht hatte er sie nach dem Verlassen des Zimmers letzte Nacht weggeworfen, weil er nicht identifiziert werden wollte, hatte aber die Fernbedienung von Siemens vergessen. Bestimmt bewahrte er sie gewohnheitsmäßig in der Hosentasche auf und hatte nicht an die Nachricht gedacht, die jemanden wie Scarpetta direkt zu ihm führen würde.
»Was soll das heißen, dass du alles weißt?«, wiederholte sie, an Lucy gewandt. »Was weißt du denn? Wusstest du auch, dass sich niemand an meinem BlackBerry zu schaffen gemacht hat?«
»Moment, ich probiere gerade etwas aus.« Lucy nahm ihr eigenes BlackBerry und rief eine Nummer an, die sie vom Bildschirm ihres MacBooks ablas. Nachdem sie eine Zeitlang gelauscht hatte, unterbrach sie die Verbindung. »Nur ein Freizeichen. Ich wette, es handelt sich um ein Einwegtelefon, was eine Erklärung dafür wäre, warum so viele verschiedene Leute dieselbe Nummer gehabt haben und keine Mailbox eingerichtet wurde.« Sie betrachtete noch einmal Agees Telefon. »Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt«, sagte sie dann. »Als du mir die Mail geschickt hast und ich dein BlackBerry zerstören wollte, warst du dagegen. Also habe ich sofort nachgesehen und festgestellt, dass die neuen Nachrichten, E-Mails und Botschaften auf der Mailbox nicht geöffnet worden waren. Das ist der einzige Grund, warum ich den Datenspeicher deines Telefons nicht gegen deinen Willen gelöscht habe. Warum hast du dein Passwort deaktiviert?«
»Wann bist du dahintergekommen?«
»Erst als du dein Telefon verloren hast.«
»Ich habe es nicht verloren.«
Lucy konnte ihr nicht in die Augen schauen. Aber nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte. Jedenfalls hatte Scarpetta nicht diesen Eindruck. Ihre Nichte war emotional veranlagt. Sie hatte Angst, und ihre Augen waren so dunkelgrün wie das tiefe Wasser eines Baggersees. Ihr Gesichtsausdruck wirkte ungewöhnlich mutlos und erschöpft. Außerdem war sie mager geworden, als triebe sie weniger Sport als gewöhnlich, und das, obwohl Kraft und Fitness bei ihr an erster Stelle kamen. In den wenigen Wochen, in denen Scarpetta sie nicht gesehen hatte, war Lucy merklich gealtert.
Lucy bearbeitete die Tastatur. »Jetzt schaue ich mir die zweite Nummer an, von der aus dieses Telefon gestern Nacht angerufen wurde.«
»Du meinst den Anruf um zwanzig vor elf?«
»Genau. Es ist zwar eine Geheimnummer, doch der Anrufer hat sich die Mühe gespart, sie zu unterdrücken, weshalb sie in Agees Telefon gespeichert ist. Wer immer es auch sein mag: Es handelt sich um die letzte Person, mit der er gesprochen hat. Zumindest, soweit wir wissen. Also war er um zwanzig vor elf noch lebendig und bei bester Gesundheit.«
»Lebendig, ja. Aber er hat sich sicher nicht wohlgefühlt.«
Lucy tippte weiter auf ihrem MacBook herum und ging dabei auch die in dem Dell-Laptop gespeicherten Dateien durch. Sie war in der Lage, zehn Dinge gleichzeitig zu tun, und konnte eigentlich fast alles – nur kein ehrliches Gespräch über die Dinge führen, die in ihrem Leben wirklich wichtig waren.
»Er war so intelligent, den Verlauf zu löschen und den Papierkorb zu leeren«, verkündete sie. »Nur falls es dich interessiert. Allerdings wird mich das nicht daran hindern, die Daten zu finden, die er beseitigen wollte. Carley Crispin«, fügte sie hinzu. »Ihr gehört die Geheimnummer, von der aus er um zwanzig vor elf angerufen wurde. Der Vertrag von Carleys Mobiltelefon läuft bei AT&T. Sie hat etwa vier Minuten lang mit Agee telefoniert. Offenbar keine sehr erfreuliche Unterhaltung, sonst hätte er sich nicht ein paar Stunden später von einer Brücke gestürzt.«
Am Vorabend um zwanzig vor elf war Scarpetta noch in der Maske bei CNN gewesen und hatte bei geschlossener Tür mit Alex Bachta geredet. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann genau sie sich verabschiedet hatte. Ungefähr zehn bis fünfzehn Minuten später. Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr Verdacht nicht unbegründet gewesen war. Carley hatte gelauscht und genug gehört, um zu wissen, was ihr blühte. Scarpetta sollte ihren Platz als Moderatorin der Sendung einnehmen. Zumindest war Carley vermutlich davon ausgegangen, denn jemand wie sie würde niemals auf den Gedanken kommen, dass jemand das Angebot von Alex ausschlagen könnte. Also hatte Carley mit ihrer Kündigung gerechnet und war sicher bestürzt gewesen. Selbst wenn sie lange genug vor der Tür gewartet hatte, um Scarpettas Ablehnung und ihre Begründung mitzubekommen, musste sie sich nun mit dem Unvermeidlichen abfinden, das sie mit Zähnen und Klauen zu verhindern versucht hatte. Mit einundsechzig Jahren würde sie gezwungen sein, sich nach einer anderen Stelle umzusehen. Dabei standen die Chancen, dass es ihr gelingen würde, wieder bei einem angesehenen und einflussreichen Sender wie CNN unterzuschlüpfen, fast bei null. Womöglich würde sie wegen der Wirtschaftslage und ihres Alters arbeitslos bleiben.
»Und was ist dann passiert?«, fragte Scarpetta, nachdem sie Lucy die Geschehnisse im Anschluss an Carleys Sendung geschildert hatte. »Ist sie von der Tür verschwunden und hat sich in ihre Garderobe geflüchtet, um rasch mit Warner zu telefonieren? Was mag sie zu ihm gesagt haben?«
»Vielleicht, dass sie seine Dienste nicht länger benötigt«, erwiderte Lucy. »Wozu braucht sie ihn noch, wenn man ihr die Sendung wegnimmt? Ohne Sendung ist außerdem Schluss mit seinen Fernsehauftritten.«
»Seit wann stellen Fernsehmoderatoren ihren Gästen langfristig Hotelzimmer zur Verfügung?«, wunderte sich Scarpetta. »Insbesondere heutzutage, wo an allen Ecken und Enden gespart wird.«
»Keine Ahnung.«
»Ich bezweifle stark, dass CNN ihr die Kosten erstattet. Ist sie wohlhabend? Zwei Monate in diesem Hotel kosten ein Vermögen, selbst wenn man ihr einen Rabatt eingeräumt hat. Aus welchem Grund wirft sie so mit dem Geld um sich? Warum hat sie ihn nicht anderswo untergebracht, wo die Miete billiger ist?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Vielleicht hatte es etwas mit der Lage zu tun«, überlegte Scarpetta laut. »Oder es war noch eine dritte Person beteiligt, die alles finanziert und ihn unterstützt hat. Jemand, den wir nicht kennen.«
Offenbar hörte Lucy ihr nicht zu.
»Und wenn sie um zwanzig vor elf Warner angerufen hat, um ihm mitzuteilen, dass er gefeuert ist und sein Zimmer verlieren wird, war es doch völlig unlogisch, ihm mein BlackBerry zu bringen«, stellte Scarpetta fest. »Weshalb hat sie ihm nicht einfach gesagt, er solle seine Sachen packen und am nächsten Tag das Zimmer räumen? Falls sie ihn rausschmeißen wollte, hatte sie keinen Anlass, ihm mein Telefon zu geben. Bestimmt hat er sich nicht weiter verpflichtet gefühlt, ihr zu helfen, wenn sie im Begriff war, die Zusammenarbeit zu beenden. Ob Agee mein BlackBerry an jemand anderen weiterreichen sollte?«
Lucy erwiderte nichts.
»Was ist so wichtig an meinem BlackBerry?«
Lucy tat so, als hätte Scarpetta nichts gesagt.
»Die einzige Erklärung wäre, dass es eine Verbindung zu mir darstellt und sehr viel über mich verrät. Genau genommen über uns alle«, beantwortete sie ihre eigene Frage.
Lucy schwieg. Sie hatte keine Lust, über das gestohlene BlackBerry zu sprechen, weil dann nämlich das Thema auf den Tisch gekommen wäre, warum sie es überhaupt gekauft hatte.
»Wegen des GPS-Empfängers, den du eingebaut hast, weiß es sogar, wo ich bin«, fügte Scarpetta hinzu. »Natürlich nur, solange ich es bei mir habe. Allerdings glaube ich nicht, dass es mein Aufenthaltsort ist, der dich interessiert.«
Scarpetta blätterte die Ausdrucke durch, die auf dem Couchtisch lagen. Es waren Hunderte von Internetrecherchen, die Nachrichtenmeldungen, Leitartikel, Hinweise und Blogs im Zusammenhang mit dem Fall Hannah Starr zutage gefördert hatten. Aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, da die wichtigste Frage noch, undurchdringlich wie eine Betonmauer, vor ihr aufragte.
»Du willst nicht darüber reden und dich zu dem bekennen, was du getan hast«, sagte Scarpetta.
»Worüber soll ich nicht reden wollen?« Lucy blickte nicht auf.
»Nun, so leicht kommst du mir nicht davon.« Scarpetta sah weiter die Nachrichtenmeldungen durch, die Agee ausgedruckt hatte. Offenbar hatte er in Carleys Auftrag Nachforschungen angestellt. »Du schenkst mir etwas, worum ich dich nicht gebeten habe und das ich, wenn ich ehrlich bin, auch nicht gebrauchen kann. Ein hochtechnisiertes Smartphone. Und plötzlich wird mein gesamtes Leben durch ein von dir geschaffenes Netzwerk vereinnahmt, was mich zur Geisel eines Passworts macht. Trotzdem vergisst du einfach, nachzuschauen, ob bei mir alles in Ordnung ist? Falls dir wirklich so viel daran gelegen gewesen wäre, mir, Marino, Benton und Jaime das Leben zu erleichtern, hättest du dich verhalten wie ein seriöser Systemadministrator. Du hättest zum Beispiel nachgeprüft, ob deine Anwender auch ihr Passwort benutzen, ob die Daten so gut geschützt sind, wie sie sein sollten, und ob es Sicherheitslücken oder andere Probleme gibt.«
»Ich dachte, du magst es nicht, wenn ich dir nachspioniere.« Lucy bearbeitete hektisch die Tastatur des Dell-Laptops und öffnete den Ordner mit den heruntergeladenen Dateien.
Scarpetta griff nach einem anderen Papierstapel. »Was hält Jaime davon, dass du ihr hinterherschnüffelst?«, erkundigte sie sich.
»Letzten September hat er einen Vertrag mit einem Immobilienmakler in Washington, D. C., abgeschlossen«, entgegnete Lucy.
»Weiß Jaime von dem GPS-Empfänger?«
»Anscheinend hat er beschlossen, seine Wohnung zu verkaufen, und ist ausgezogen. Sie wird als unmöbliert angeboten.« Lucy wandte sich wieder ihrem MacBook zu und tippte weiter. »Wollen wir mal schauen, ob er sie losgeworden ist.«
»Wirst du mir jetzt endlich antworten?«, beharrte Scarpetta.
»Er ist nicht nur darauf sitzengeblieben, es kam sogar zu einer Zwangsversteigerung. Eine Eigentumswohnung, drei Zimmer, zwei Bäder, in der Fourteenth Street, nicht weit vom Dupont Circle. Anfangs sollte sie sechshundertzwanzigtausend kosten, inzwischen liegt sie bei gut fünfhunderttausend. Also ist er vermutlich in diesem Zimmer gelandet, weil er sonst obdachlos geworden wäre.«
»Weich mir bitte nicht aus.«
»Als er sie vor acht Jahren gekauft hat, hat er knapp sechshunderttausend hingeblättert. Damals waren die Zeiten wohl noch besser.«
»Hast du Jaime von dem GPS erzählt?«
»Ich würde sagen, der Typ ist pleite. Tja, und jetzt ist er tot«, meinte Lucy. »Deshalb spielt es wahrscheinlich keine Rolle mehr, wenn die Bank die Eigentumswohnung kriegt.«
»Ich weiß, dass du einen GPS-Empfänger eingebaut hast.« Scarpetta ließ sich nicht von ihrem Thema abbringen. »Aber was ist mit Jaime? Hast du es ihr gesagt?«
»Wenn jemand alles verliert, gerät er möglicherweise so in Verzweiflung, dass er von einer Brücke springt.« Lucys Gesichtsausdruck hatte sich verändert, und ihre Stimme zitterte fast unmerklich. »Was hast du mir immer vorgelesen, als ich klein war? Ein Gedicht von Oliver Wendell Holmes. ›Der Einspänner‹. Beim Bau einer Kutsche, das sage ich dir,/ Gibt es stets einen schwachen Punkt . Das ist der Grund, wie sehr wohl jeder weiß,/ Warum die Panne kommt vor dem Verschleiß ... Als ich dich in meiner Kindheit in Richmond besucht und immer wieder vorübergehend bei dir gewohnt habe, habe ich mir gewünscht, du würdest mich behalten. Meine Mutter, dieses Miststück! Um diese Jahreszeit ist es immer das Gleiche. Die Frage, ob ich über Weihnachten nach Hause komme. Monatelang höre ich kein Wort von ihr, und dann möchte sie wissen, ob ich sie über Weihnachten besuche. In Wahrheit will sie nur sichergehen, dass ich nicht vergesse, ihr ein Geschenk zu schicken. Etwas Wertvolles, am besten einen Scheck. Zum Teufel mit ihr!«
»Aus welchem Grund misstraust du Jaime?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Du hast in dem Zimmer, das neben deinem lag und schließlich in deinem Haus in Windsor Farms meines wurde, bei mir auf dem Bett gesessen. Ich habe dieses Haus geliebt. Du hast mir Holmes’ Gedichte aus einem Buch vorgelesen. ›Der alte Oliver Cromwell‹, ›Das Perlboot‹, ›Vergangene Tage‹. Du hast mir alles über das Leben und den Tod erklärt und gesagt, Menschen seien wie dieser Einspänner. Sie funktionierten hundert Jahre lang und zerfielen eines Tages zu Staub.« Beim Sprechen hatte Lucy die Hände auf beiden Tastaturen. Auf den Bildschirmen der Laptops öffneten und schlossen sich Dateien und Links. Alles, um ihre Tante nicht ansehen zu müssen. »Du meintest, die Leute, die bei dir in der Gerichtsmedizin landeten, verkörperten die Metapher für den Tod an sich. Sie litten an allen möglichen Problemen unter der Sonne und machten dennoch weiter, bis zu dem Tag, an dem es vorbei ist. Und das habe vermutlich mit ihrer Schwachstelle zu tun.«
»Ich vermute, Jaime ist deine Schwachstelle«, erwiderte Scarpetta.
»Ich dachte immer, es wäre das Geld«, entgegnete Lucy.
»Hast du ihr nachspioniert? Ist das der Grund, warum du uns die Dinger geschenkt hast?« Scarpetta wies auf Lucys und ihr eigenes BlackBerry auf dem Couchtisch. »Befürchtest du, Jaime könnte dich finanziell ausnutzen? Hast du Angst, dass sie wie deine Mutter ist? Hilf mir, es zu verstehen.«
»Jaime braucht weder mein Geld noch mich.« Lucy beherrschte mühsam ihre Stimme. »Niemand ist mehr so wohlhabend wie vor der Krise. Bei dieser Wirtschaftslage schmilzt das Geld vor deinen Augen dahin wie eine kunstvolle Eisskulptur, deren Herstellung ein Vermögen gekostet hat. Und dennoch löst sie sich einfach in Wasser auf, und man fragt sich, ob es sie je gegeben hat und was die ganze Aufregung sollte. Ich musste auch Verluste hinnehmen.« Sie zögerte, als wage sie kaum, ihren Gedanken auszusprechen. »Es geht nicht um Geld, sondern um eine andere Sache, in die ich hineingeraten bin und die ich missverstanden habe. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ich habe die Anzeichen falsch gedeutet.«
»Für jemanden, der so gut Gedichte zitieren kann, bist du manchmal ganz schön schwer von Begriff«, antwortete Scarpetta.
Lucy schwieg.
»Was hast du diesmal missverstanden?« Scarpetta wollte Lucy zum Reden bringen.
Doch Lucy weigerte sich. Eine Zeitlang saßen sie wortlos da. Tasten klapperten, als Lucy tippte, während Scarpetta raschelnd in den Ausdrucken auf ihrem Schoß blätterte. Sie überflog weitere Texte aus dem Internet, die Hannah Starr, Carley Crispin und die nachlassende Beliebtheit ihrer Sendung behandelten. Ein Kritiker sprach von Carleys freiem Fall auf der Nielsen-Skala. Außerdem wurden Scarpetta und der Scarpetta-Faktor erwähnt. Ein Blogger schrieb, die einzige unterhaltsame Folge ihrer Sendung, die Carley in dieser Saison zustande gebracht habe, sei die mit dem Gastauftritt von CNNs angesehener forensischer Analystin, der furchtlosen, stahlharten und skalpellscharfen Scarpetta, deren Kommentare den Nagel stets auf den Kopf träfen. »Kay Scarpetta dringt mit ihren schlagfertigen Bemerkungen zum Kern des Problems vor und ist eine harte Konkurrenz – vielleicht zu hart – für die oberflächliche, aufgeblasene Carley Crispin.« Scarpetta stand auf.
»Erinnerst du dich an den Besuch in Windsor Farms, als du böse auf mich warst und deshalb meine Festplatte formatiert hast?«, fragte sie ihre Nichte. »Damals warst du, glaube ich, zehn und hattest etwas, das ich gesagt oder getan hatte, falsch gedeutet oder missverstanden und dann, um es milde auszudrücken, überreagiert. Formatierst du jetzt deine Beziehung mit Jaime, bis alles gelöscht ist, ohne zuvor mit ihr darüber zu sprechen, ob es überhaupt einen Grund dafür gibt?«
Sie öffnete ihre Tatorttasche und nahm ein frisches Paar Handschuhe heraus. Dann umrundete sie Warner Agees zerwühltes, mit Kleidungsstücken übersätes Bett und begann, die Schubladen der Kommode mit der gewölbten Front zu durchsuchen.
»Was hat Jaime angestellt, das du möglicherweise missverstanden hast?«, ergriff sie wieder das Wort.
Weitere Herrenkleidung, nichts davon zusammengelegt. Boxershorts, Unterhemden, Socken, Pyjamas, kleine Samtschatullen mit Manschettenknöpfen, einige davon antik, jedoch nicht wertvoll. Die nächste Schublade enthielt Sweatshirts und T-Shirts mit Logos: FBI-Akademie, verschiedene Außenstellen des FBI, Geiselbefreiungskommando, Nationale Eingreiftruppe, alles alt und ausgewaschen. Es waren die Embleme von Organisationen, denen Agee so gern angehört hätte. Scarpetta brauchte Warner Agee nicht zu kennen, um zu wissen, wie verzweifelt er sich nach Anerkennung gesehnt und sich an die Überzeugung geklammert hatte, dass das Leben ungerecht war.
»Was könntest du falsch verstanden haben?«, hakte sie noch einmal nach.
»Es ist nicht leicht, darüber zu reden.«
»Versuch es wenigstens.«
»Ich kann nicht. Nicht mit dir«, erwiderte Lucy.
»Sei ehrlich. Mit niemandem.«
Lucy sah sie an.
»Du hast grundsätzlich Schwierigkeiten, mit anderen Menschen über Angelegenheiten zu sprechen, die dir wichtig sind und dir sehr viel bedeuten«, fuhr Scarpetta fort. »Bei dir dreht sich alles um Dinge, die eigentlich herzlos, belanglos und nebensächlich sind. Maschinen. Die unsichtbaren Verknüpfungen im Internet und die Leute, die sich an diesen nicht existierenden Orten aufhalten. Ich bezeichne solche Personen als Phantome, die ihre Zeit damit totschlagen, dass sie twittern, chatten, bloggen und ins Leere hineinplappern.«
Die unterste Kommodenschublade klemmte, sodass Scarpetta die Finger hineinstecken musste, um den verkanteten Gegenstand – Pappe und Hartplastik – zu lockern.
»Ich bin real. Ich befinde mich in einem Hotelzimmer, zuletzt bewohnt von einem Mann, der nun als zerschmetterte Leiche in der Gerichtsmedizin liegt, weil ihm das Leben nicht mehr lebenswert erschien. Rede mit mir, Lucy. Erzähl mir, was los ist. Und zwar in einer Sprache aus Fleisch und Blut, in der Sprache der Gefühle. Glaubst du, dass Jaime dich nicht mehr liebt?«
Endlich ging die Schublade auf. Sie war mit leeren Tracfone- und SpoofCard-Packungen, Gebrauchsanweisungen, Anleitungen und Aktivierungskarten vollgestopft, die unbenutzt wirkten, weil die Abdeckstreifen auf den Rückseiten nicht abgekratzt waren. Auch eine ausgedruckte Anleitung für einen Internetdienst war dabei, der es Anwendern, die zwar sprechen, aber nur schlecht hören konnten, ermöglichte, Telefonate in Echtzeit mitzulesen.
»Redet ihr nicht mehr miteinander?« Während Scarpetta weiter Fragen stellte, schwieg Lucy beharrlich.
Scarpetta wühlte sich durch verwickelte Kabel von Ladegeräten und glänzende Plastikhüllen, die Kartentelefone enthalten hatten. Es waren mindestens fünf.
»Habt ihr Streit?«
Sie kehrte zum Bett zurück, kramte in den schmutzigen Kleidern herum und zog die Laken weg.
»Schlaft ihr nicht mehr miteinander?«
»Mein Gott!«, rief Lucy. »Du bist meine Tante, verdammt!«
Scarpetta zog die Schubladen des Nachtkästchens auf. »Den ganzen Tag berühre ich nackte Leichen. Wenn Benton und ich miteinander schlafen, tanken wir Kraft, geben uns Energie, zeigen uns, dass wir zusammengehören, tauschen uns aus und erinnern uns wieder daran, dass es uns gibt.« In den Schubladen waren Zeitschriftenartikel, noch mehr Ausdrucke, sonst nichts. Kein Einweg-Tracfone. »Manchmal streiten wir auch. Zum Beispiel letzte Nacht.«
Sie kniete sich auf den Boden, um unter die Möbel zu spähen.
»Früher habe ich dich gebadet, deine Wunden versorgt, mir deine Wutanfälle angehört und das Durcheinander in Ordnung gebracht, das du angerichtet hast. Wenigstens habe ich es immer geschafft, dich auf die eine oder andere Weise vor Schaden zu bewahren. Manchmal habe ich heulend in meinem Zimmer gesessen, so sehr hast du mich zur Verzweiflung getrieben«, sagte Scarpetta. »Ich habe deine zahlreichen Freundinnen und Liebschaften kennengelernt und eine recht gute Vorstellung davon, was du mit ihnen im Bett machst, weil wir alle gleich sind, im Großen und Ganzen die gleichen Körperteile besitzen und ähnliche Dinge damit anstellen. Außerdem wage ich zu behaupten, dass ich schon vieles gehört und gesehen habe, das nicht einmal du dir ausmalen kannst.«
Sie stand auf. Nirgendwo eine Spur von dem Tracfone.
»Warum, um alles in der Welt, genierst du dich vor mir?«, fuhr sie fort. »Ich bin nicht deine Mutter. Dem Himmel sei Dank, dass ich nicht wie meine schreckliche Schwester bin, die dich praktisch weggeben hat. Ich wünschte nur, sie hätte sich wirklich zu dieser Entscheidung durchringen können und dich mir überlassen. Dann hätte ich vom ersten Tag an für dich sorgen können. Ich bin deine Tante, und ich bin deine Freundin. Inzwischen sind wir in einem Alter, in dem wir wie Kolleginnen miteinander umgehen können. Also kannst du offen zu mir sein. Liebst du Jaime?«
Lucys Hände lagen reglos auf ihrem Schoß. Sie starrte darauf.
»Liebst du sie?«
Scarpetta fing an, Papierkörbe auszuleeren und in zerknülltem Papier herumzuwühlen.
»Was machst du da?«, erkundigte sich Lucy schließlich.
»Er hatte Tracfones, vermutlich bis zu fünf Stück. Wahrscheinlich hat er sie gekauft, nachdem er vor zwei Monaten hier eingezogen ist. Nur Strichcodes, kein Aufkleber, der darauf hinweist, aus welchem Laden sie stammen. Er könnte sie zusammen mit den SpoofCards benutzt haben, um eine falsche Telefonnummer vorzutäuschen. Liebst du Jaime?«
»Wie viele Minuten hat man mit so einem Tracfone?«
»Mit jedem kann man sechzig Minuten telefonieren. Das Guthaben verfällt nach neunzig Tagen.«
»Also besorgt man sich so ein Ding in einem Flughafenkiosk, einem Souvenirladen oder einem Supermarkt wie Target oder Walmart und bezahlt in bar. Wenn die sechzig Minuten aufgebraucht sind, wirft man das Telefon weg und kauft sich ein neues, denn um es wieder aufzuladen, müsste man seine Kreditkartennummer angeben. Seit etwa einem Monat will Jaime nicht mehr, dass ich bei ihr übernachte.« Lucy errötete. »Zuerst waren es ein oder zwei Nächte in der Woche, dann drei bis vier. Sie behauptet, es liege daran, dass sie so überarbeitet sei. Natürlich, wenn man mit niemandem ins Bett geht ... «
»Jaime war schon immer überarbeitet. Das ist bei Leuten wie uns eben so«, erwiderte Scarpetta.
Im Wandschrank entdeckte sie einen kleinen Wandsafe. Er war leer, die Tür stand weit offen.
»Das macht es noch schlimmer, richtig? Genau das ist ja verdammt noch mal der Punkt.« Lucy wirkte bedrückt. Ihr Blick war zornig und gekränkt. »Es bedeutet doch, dass bei ihr etwas anderes dahintersteckt. Du weist Benton nicht zurück, ganz gleich, wie beschäftigt du bist. Ganz im Gegensatz zu Jaime, und dabei sind wir erst ein knappes Jahr zusammen. Also kann es nichts mit Überarbeitung zu tun haben.«
»Das stimmt wohl. Offenbar gibt es ein Problem.«
Scarpetta strich mit behandschuhten Händen über Kleidungsstücke, die in den Achtzigern und Neunzigern modern gewesen waren. Nadelstreifenanzüge mit Doppelreihersakko, Weste, breitem Revers und Einstecktuch. Weiße Hemden mit französischen Manschetten, die sie an Karikaturen von Gangstern aus der Zeit erinnerten, als das FBI noch von J. Edgar Hoover geleitet worden war. An einem Kleiderbügel hingen fünf gestreifte Krawatten, an einem anderen zwei beidseitig tragbare Gürtel – einer mit Naht, einer mit Krokomuster –, die zu dem braunen und dem schwarzen Paar spitz zulaufender Schuhe von Florsheim auf dem Boden passten.
»Als du und ich versucht haben, mein verschwundenes BlackBerry zu finden«, meinte sie, »ist mir klar geworden, was dein GPS-Empfänger so alles kann. Deshalb sitzen wir jetzt hier in diesem Zimmer. Hast du in den Nächten, die du nicht mit Jaime verbracht, sondern sie elektronisch überwacht hast, denn etwas Wissenswertes erfahren?«
Hinten im Wandschrank lehnte ein ziemlich großer Hartschalenkoffer. Er war stark abgewetzt und zerkratzt, am Henkel hingen noch die Schnüre abgerissener Gepäckschilder.
»Sie ist nirgendwo hingegangen«, antwortete Lucy. »Entweder war sie bis spätabends im Büro, oder sie ist zu Hause geblieben. Außer sie hatte ihr BlackBerry nicht bei sich. Allerdings schließt das nicht aus, dass sie in ihrer Wohnung Besuch hatte oder eine Affäre im Büro unterhält.«
»Vielleicht kannst du dich ja bei dem Provider einhacken, der die Überwachungskameras in ihrem Haus, in der Staatsanwaltschaft und dem ganzen Gebäude One Hogan Street betreut. Und was kommt als Nächstes? Womöglich ein paar Kameras in ihrem Büro, ihrem Konferenzzimmer und ihrem Penthouse, damit du ihr noch besser nachspionieren kannst? Bitte sag mir, dass du das nicht bereits getan hast.«
Als Scarpetta den Koffer aus dem Wandschrank zerrte, stellte sie fest, wie schwer er war.
»Um Himmels willen, nein!«
»Hier geht es nicht um Jaime, sondern um dich.« Scarpetta drückte auf die Kofferschließen, die mit einem lauten Knacken aufsprangen.
Ein Schuss hallte.
Marino und Lobo nahmen den Gehörschutz ab und kamen hinter der tonnenschweren Barriere aus Betonblöcken und kugelsicherem Glas hervor, die sich etwa dreihundert Meter hinter Droiden in ihrem Schutzanzug befand. Droiden ging zu der Grube, wo Scarpettas FedEx-Paket gerade entschärft worden war, und kniete sich auf den Boden, um das Ergebnis in Augenschein zu nehmen. Dann drehte sie sich, immer noch den Helm auf dem Kopf, zu Marino und Lobo um und reckte den Daumen in die Luft. Ihre nackte Hand wirkte, umgeben von dunkelgrüner Polsterung, die sie doppelt so dick erscheinen ließ, klein und blass.
»Als ob man eine Schachtel Cracker Jack aufmacht«, meinte Marino. »Ich kann kaum erwarten, was für ein Spielzeug drin ist.«
Er hoffte, dass der Inhalt von Scarpettas FedEx-Paket die Mühe wert war, und wünschte gleichzeitig, es möge nicht so sein. Seit Anfang seiner Karriere hatte er ständig mit einem Widerspruch zu kämpfen, über den er nicht sprach und den er sogar sich selbst nur ungern eingestand. Eine Ermittlung brachte nur dann ein Erfolgserlebnis, wenn wirklich Gefahr drohte oder jemand zu Schaden gekommen war. Doch welcher anständige Mensch sehnte sich so etwas herbei?
»Womit haben wir es zu tun?«, erkundigte sich Lobo bei Droiden.
Ein Kollege half ihr beim Ausziehen des Schutzanzugs. Abscheu malte sich auf Droidens Gesicht, als sie wieder in ihren Parka schlüpfte und den Reißverschluss zuzog.
»Etwas, das stinkt. Derselbe ekelhafte Geruch. Es ist kein Scherzartikel, aber ich habe so etwas noch nie gesehen. Oder gerochen, um genau zu sein«, sagte sie zu Lobo und Marino, während ihr Kollege den Anzug wegpackte. »Drei Knopfbatterien vom Typ AG-10, Verstärkerantenne, Knallkörper. Eine Grußkarte, an der eine Art Voodoo-Puppe befestigt ist. Eine Stinkbombe.«
Der FedEx-Karton war auseinandergerissen worden und hatte sich in einen Haufen aus durchweichten Pappfetzen und Glassplittern verwandelt. Zwischen den Wällen aus schmutzigen Sandsäcken lagen außerdem die Überreste einer weißen Stoffpuppe und etwas, das wie Hundefell aussah. Ein Chip zum Aufnehmen von Stimmen war in tausend Scherben zerbrochen. Daneben befanden sich die zerstörten Knopfbatterien. Als Marino sich näherte, verstand er, wovon Droiden sprach.
»Es riecht wie eine Mischung aus Asphalt, faulen Eiern und Hundescheiße«, stellte er fest. »Was zum Teufel ist das?«
»Es muss in dem Glasröhrchen gewesen sein.« Droiden öffnete einen schwarzen Ausrüstungskoffer und holte Asservatenbeutel, eine innen mit Harz bestrichene Aluminiumdose, Gesichtsmasken und Nitrilhandschuhe heraus. »So etwas habe ich noch nie gerochen. So ähnlich wie Petroleum, aber doch keines. Eher Teer, Schwefel und Dung.«
»Und was sollte das Ding bezwecken?«, fragte Marino.
»Ich glaube, die Absicht war, dass der Empfänger das Paket öffnet und darin eine Grußkarte mit einer Puppe darauf findet. Wenn man die Karte aufklappt, explodiert sie, und das Glasröhrchen mit der stinkenden Flüssigkeit platzt. Die Energiequelle des Stimmmoduls, also die Batterien, war mit drei handelsüblichen Sprengbomben an einem elektrischen Streichholz verbunden. Das ist ein Zünder, wie ihn professionelle Pyrotechniker benutzen.« Sie wies auf die Überreste der drei Knallfrösche, die an einem dünnen Überbrückungsdraht hingen.
»Elektrische Streichhölzer reagieren sehr empfindlich auf Strom«, erklärte Lobo Marino. »Ein paar Batterien wie für einen Kassettenrecorder genügen. Allerdings musste derjenige den Schalter und den Aufnahmeregler des Stimmmoduls verändern, damit der Strom aus den Batterien wie geplant eine Explosion auslöst, anstatt eine Aufnahme abzuspielen.«
»Ein Normalbürger könnte so etwas nicht?«, fragte Marino.
»Doch, durchaus, solange er nicht verblödet ist und in der Lage, eine Gebrauchsanweisung zu lesen.«
»Die er aus dem Internet hat.« Marino überlegte laut.
»Na klar. Man könnte sich mit den Anleitungen dort praktisch eine gottverdammte Atombombe zusammenbasteln«, erwiderte Lobo.
»Was, wenn Scarpetta das Paket geöffnet hätte?«, wollte Marino wissen.
»Schwer zu sagen«, antwortete Droiden. »Sie hätte sich verletzen können, so viel steht fest. Vielleicht ein paar abgerissene Finger oder Glassplitter im Gesicht oder in den Augen. Möglicherweise wäre sie entstellt oder sogar blind gewesen. Und auf jeden Fall hätte sich die stinkende Flüssigkeit über sie ergossen.«
»Ich nehme an, das war die Absicht«, ergänzte Lobo. »Jemand wollte sie mit dieser geheimnisvollen Flüssigkeit einnebeln und ihr ernsthaft Schaden zufügen. Lassen Sie mich mal die Karte anschauen.«
Marino öffnete seinen Aktenkoffer und reichte ihm den Asservatenbeutel, den Scarpetta ihm gegeben hatte. Nachdem Lobo Handschuhe angezogen hatte, klappte er die Weihnachtskarte auf, ein verstörter Weihnachtsmann auf Hochglanzpapier, der von Mrs. Weihnachtsmann mit dem Nudelholz verfolgt wurde. »Ich wünsch euch eine Hodie-Dodie-Weihnacht«, sang eine dünne Frauenstimme, ohne den Ton zu treffen. Lobo klappte das steife Papier zurück und holte das Stimmmodul heraus, während das alberne Geträller weiterging. »Steckt euch die Mistelzweige rein, wo sie hingehören ... « Er trennte das Modul von den Batterien – drei AG-10-Knopfbatterien, wie man sie auch in Armbanduhren verwendete. Es wurde schlagartig still. Nur der Wind pfiff vom Wasser heran durch den Zaun. Marino spürte seine Ohren nicht mehr, und sein Mund musste wie der vom Eisenmann aus Der Zauberer von Oz dringend geölt werden, denn es war so kalt, dass er allmählich Schwierigkeiten beim Reden bekam.
»Ein leeres Sprachmodul, optimal geeignet für eine Grußkarte.« Lobo zeigte Marino das Aufnahmegerät. »Diese Dinger werden von Leuten verwendet, die ihre Grußkarten selbst basteln. Ein Stromkreis mit Lautsprecher. Vorgefertigter Schalter zum automatischen Abspielen, was Sinn und Zweck der Sache ist. Der Kontakt mit dem Schalter schließt den Stromkreis und löst die Bombe aus. Kann man überall bestellen, was viel einfacher ist, als so etwas zu bauen.«
Droiden pflückte Bombenteile aus der nassen, schmutzigen Masse in der Grube. Im nächsten Moment stand sie auf, ging zu Marino und Lobo hinüber und hielt ihnen die in einem Nitrilhandschuh steckende Handfläche hin, auf der einige silberne, schwarze und dunkelgrüne Scherben aus Plastik und Metall lagen. Dann ließ sie sich von Lobo das intakte Aufnahmemodul geben und begann zu vergleichen.
»Eine mikroskopische Untersuchung wird es bestätigen«, sagte sie, aber es war klar, was sie meinte.
»Eine Art Aufnahmegerät«, erwiderte Marino und hielt seine großen Hände um ihre, um die Scherben vor dem Wind zu schützen. Am liebsten wäre er noch länger so dicht bei ihr stehen geblieben. Es spielte keine Rolle, dass er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war und sich allmählich in einen Eisblock verwandelte. Er fühlte sich trotzdem warm und hellwach. »Mein Gott, stinkt das! Und was ist das da? Hundefell?« Mit einem Gummifinger tippte er auf einige lange, derbe Haare. »Was hat denn das Hundefell zu bedeuten?«
»Offenbar war die Puppe mit Fell ausgestopft. Es könnte Hundefell sein«, entgegnete sie. »Jedenfalls weist die Bauart eindeutige Übereinstimmungen auf. Der Schaltkreis, der Kippschalter, der Aufnahmeknopf und der Lautsprecher mit Mikro.«
Lobo betrachtete die Weihnachtskarte und drehte sie um, um die Rückseite zu betrachten.
»Made in China. Recylingpapier. Also eine umweltfreundliche Weihnachtsbombe. Wie nett«, verkündete er.