KAPITEL SECHS
SCHWERTKAMPF
Es war wieder still auf der Welt.
»Wo ist sie hin?«, fragte Todd. Sein Hut war verdreckt und zerknittert, seine Kleidung zerrissen und schmutzig. Er hatte eine harte Nacht hinter sich.
»Ich bin mir nicht ganz sicher.« Ich sah mich um, und für einen Augenblick erfasste mich Panik, weil ich mir nicht sicher war, wo Ethan steckte. Er erhob sich am Waldrand, und einige Gnome halfen ihm dabei. Er zuckte weiterhin zusammen, weil er offensichtlich immer noch nicht schmerzfrei war, und er kam nur mühsam auf uns zu.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Kopfschmerzen«, sagte er. »Und mir ist schwindlig.«
»Ist sie noch in der Nähe?«
Er schloss die Augen und nickte.
»Du bist also zweifellos mit ihr verbunden?«
Er öffnete seine Augen wieder. »Emotional, glaube ich. Ich spüre ihren Zorn, ihren Stress. Ihre Sucht.« Er sah mich bedauernd an. »Ihre Enttäuschung.«
Ich glaube, er versuchte sich für seinen stahlharten Griff zu entschuldigen, aber das Gespräch mussten wir auf später verschieben. »Wenn sie immer noch in der Nähe ist, wo genau steckt sie dann?«
»Sie ist nicht an den Bäumen vorbeigekommen«, sagte Todd.
»Daher kann sie auch nicht ins Silo gelangt sein.«
»Und Paige?«, fragte Ethan. »Wo ist sie?«
»Wie konnte sie diesen Kampf verpassen?«, wunderte ich mich.
Aber diese Frage beantwortete sich in dem Augenblick, in dem ich sie gestellt hatte. Ich schloss die Augen … und roch den schwachen Duft von Zitrone und Zucker.
»Was ist los, Hüterin?«
»Tate ist hier.« Mein Herz begann zu rasen, als mir die möglichen Konsequenzen durch den Kopf schossen.
»Woher weißt du das?«
»Er hat einen Duft – Zitrone und Zucker.« Ich kam mir töricht vor – welches übernatürliche Wesen roch schon nach Plätzchen? –, aber ich konnte den Geruch nicht ignorieren und ebenso wenig, was er bedeutete.
Ethan schien es nicht merkwürdig zu finden. »Wenn er hier ist und du das bereits weißt, warum weiß es Paige noch nicht?«
»Ich glaube, wir sollten sofort zurück zum Haus«, sagte ich und lief los. Ethan folgte mir.
Wir waren bei unserem Rundgang über das Anwesen so weit gekommen, dass wir uns nun auf der anderen Seite des Bauernhauses und des Silos befanden. Ich fiel beinahe hin, als wir über unebenen Boden liefen, den wir bisher noch nicht kannten. Ich sprang über zwei Zäune, während mein Herz wie wild pochte, und dann tauchte die Hausrückseite wieder vor mir auf. Ich eilte um das Haus herum zur Vordertür, die sperrangelweit offen stand. Auf dem Boden der Diele lagen Bücher verstreut, deren Seiten leicht im Wind flatterten.
Ethan trat hinter mich und fluchte leise.
»Paige?«, rief ich und ging vorsichtig den Flur entlang. Das Wohnzimmer war leer und unbeleuchtet, ebenso die Küche. Ich ging weiter und warf einen Blick in den Raum, der meiner Meinung nach das Elternschlafzimmer sein musste. Er war leer, das Bett ordentlich gemacht, das Licht ausgeschaltet.
»Paige!«, rief ich noch einmal, aber es war nichts im Haus zu hören. Es war nicht das geringste Anzeichen von Magie zu spüren. Nichts außer dem schwachen, süßlichen Duft von Zitrone und Zucker.
»Sie ist nicht hier«, sagte ich.
»Ich glaube nicht, dass wir uns wirklich fragen müssen, wo sie hin ist«, sagte er.
Das glaubte ich auch nicht. »Das Silo«, sagte ich. »Sie wollen das Maleficium, und es befindet sich im Silo.« Ich fürchtete bloß, dass uns noch Schlimmeres bevorstand. Mallory war in dem Augenblick verschwunden, als ich Tates unverkennbaren Geruch wahrgenommen hatte – aber sie war nicht in der Nähe des Silos oder Maleficium gewesen. Wir waren so sehr damit beschäftigt gewesen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, dass wir keine Zeit dazu gehabt hatten, uns über Paige oder Tate Gedanken zu machen … oder den Zugang zum Silo.
Hatten Mallory und Tate etwa gemeinsame Sache gemacht?
Ich sah Ethan an. »Ich glaube, dass Mallory nur eine Ablenkung war.«
»Eine Ablenkung?«
»Tate und Mallory wollen beide das Buch. Mallory weiß, dass es sich im Silo befindet, und durch eine schnelle Internetrecherche wird sie die Tür ausfindig gemacht haben. Wenn sie sie so leicht gefunden hat, warum sollte sie dann so weit vom Silo entfernt auftauchen?«
»Sie war eine Ablenkung«, stellte Ethan fest. »Sie sollte uns ablenken, während Tate Paige aufsuchte und sie dazu zwang, ihm zu zeigen, wo im Silo sich das Buch befindet. Aber warum sollten Tate und Mallory zusammenarbeiten? Wie hätten sie sich überhaupt finden sollen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Aber warum sollten sie nicht zusammenarbeiten? Mallory will das Buch, beide wollen das Böse in ihm entfesseln, und wir sind ihnen zahlenmäßig überlegen. Sie können beide Magie einsetzen, Paige aber auch, und sie konnten nicht wissen, auf welche Art von Sicherheitsmaßnahmen sie stoßen würden.«
Ich ging zum Vordereingang zurück und sah nach draußen, aber es gab keinen anderen Hinweis darauf, dass irgendetwas nicht stimmen könnte. Die Farm sah aus wie jede andere Farm kurz vor Wintereinbruch: Bald würde Schnee fallen, dann würde er wieder schmelzen, und die neue Saat müsste ausgebracht werden.
»Zum Silo?«, fragte er.
Ich nickte. »Lass uns gehen.«
Wir gingen schweigend zu dem Feld hinüber, in dem sich das Silo befand, und hielten nach jedem noch so kleinen Hinweis auf die beiden Ausschau. Als wir uns dem Gebäude näherten, wurde der Duft stärker, als ob ein Gebäckproduzent in allernächster Nähe eine Fabrik eröffnet hätte.
Der Betonwürfel sah noch so aus, wie wir ihn verlassen hatten. Die Tür war verschlossen, und es gab weder übernatürliche Lichter noch Geräusche, die uns darauf vorbereiteten, dass Tate und Mallory mit Magie um sich warfen.
Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht waren wir doch nicht zu spät.
»Sie sind da unten.«
Wir drehten uns um und sahen Todd, an dessen Schulter sich ein blutroter Fleck befand.
»Geht es dir gut?«
»Ich werde schon wieder«, sagte er. »Sie sind hineingegangen. Ich habe nur eine dieser Kugeln abbekommen.«
»Paige?«, fragte ich.
»Paige, die andere Hexe und der Dunkle.«
Tate hatte dunkle Haare; also war er wohl der Dunkle.
»Während wir mit Mallory gekämpft haben«, sagte Ethan, »hat Tate sich Paige geschnappt und darauf gewartet, dass Mallory uns den Gnadenstoß gibt.«
Vielleicht hatte Paige recht gehabt. Mit jeder ihrer Handlungen sorgte Mallory dafür, dass unsere Freundschaft ihrem Ende entgegenging.
»Vielen Dank für deinen Eifer«, sagte ich zu Todd. »Und vielen Dank für eure Hilfe.«
Er nickte. »Dieser Kampf ist für uns vorüber. Wir tauchen nun unter. Wir formieren uns neu. So leben wir unser Leben.«
Als er wieder zu mir aufsah, sah er verdammt sauer aus. »Setzt dem noch heute Nacht ein Ende.«
»Das haben wir vor«, versprach Ethan und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich möchte mich für mein vorheriges Verhalten entschuldigen. Meine Aussagen waren kurzsichtig und naiv. Es war uns ein großes Glück, dich kennengelernt zu haben und Seite an Seite mit deinen Männern auf dem Schlachtfeld zu kämpfen.«
Todd zögerte einen Moment und nahm dann die ihm angebotene Hand. »Viel Glück«, sagte er und eilte über das Feld davon. Stille senkte sich auf das Land, und Sterne funkelten am Himmel.
»Ich würde mich viel besser fühlen, wenn sie uns begleiten würden«, sagte ich.
Ethan brauchte mit seiner Antwort so lange, dass ich zu ihm hinübersah. Er hatte die Augen wieder zusammengekniffen und die Stirn gerunzelt.
Ich legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wo ist sie?«
»Ganz in der Nähe«, sagte er und rieb sich die Schläfen. »Ich kann spüren, wie unruhig sie ist. Aber diesmal fühlt es sich anders an.«
»Vermutlich bereitet sie sich darauf vor, wieder dunkle Magie einzusetzen – und diesmal meint sie es ernst. Kommst du zurecht?«
»Ich schaffe das. Lass uns das hinter uns bringen.«
Sein bissiger Unterton hielt mich davon ab, noch einmal nachzuhaken. Er war ein großer Junge. Wenn er meine Hilfe brauchte, dann konnte er mich darum bitten.
Vorsichtig öffneten wir die Tür zum Silo, die Waffen im Anschlag. Drinnen war es noch viel dunkler als hier draußen, und meine Augen hatten sich noch nicht daran gewöhnt. Ich machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn.
Aber nicht vorsichtig genug.
»Stopp!«, rief Ethan und packte mich am Arm, bevor ich in die Dunkelheit hinabstürzte.
Die Hebebühne war verschwunden.
Ethan riss mich zurück, bevor mich mein Schwung hätte hinabfallen lassen. Ein unkontrollierter Sprung in die Tiefe hätte nicht sonderlich angenehm für mich geendet.
»Herrgott!«, sagte Ethan und zog mich vom Rand weg. Seine Hände zitterten vor Anspannung.
»Wie es scheint, haben sie den Aufzug genommen«, sagte ich und sah über den Rand nach unten. »Wie sollen wir nach unten kommen?«
»Das sind zehn Meter«, sagte Ethan. »Ich kann da hinunterspringen, aber dir fehlt die Erfahrung.«
»Das ist so nicht ganz richtig.«
Ethan sah mich prüfend an.
»Während du weg warst, habe ich gelernt zu springen. Nun ja, wie man fällt. Jonah hat es mir beigebracht.«
»Ah!«, war die einzige Reaktion, die Ethan zeigte. Aber er sah mich für einen kurzen Moment mit einem Hauch von Neugierde an.
»Er hat mir geholfen, als du … weg warst«, erklärte ich, obwohl er mich nicht um eine Erklärung gebeten hatte.
»Ich bin nicht eifersüchtig, Hüterin.«
»Okay.«
»Es gibt keinen Grund für mich, eifersüchtig zu sein.«
Ich war im gleichen Maße amüsiert und elektrisiert von seiner Angeberei. Das war Ethan auf der Überholspur, der mit Bleifuß auf sein Ziel zuraste und sich ausnahmsweise nicht von politischen Überlegungen ablenken ließ.
»Zurück zum Thema«, empfahl ich daher. »Wer als Erster hinabspringt, könnte die Plattform wieder nach oben schicken?«
»Das ist zu laut. Wir müssen leise sein, sobald wir unten sind. Vermutlich weiß einer von beiden ohnehin schon, dass wir auf dem Weg sind, aber wir müssen uns nicht auch noch lautstark ankündigen.« Er sah mich an. »Du bist sicher, dass du das kannst?«
Ich konnte nicht leugnen, dass mir dieser Sprung, wie alle anderen auch, Angst einjagte, aber ich glaubte, dass Ethan das in diesem Augenblick nicht zu hören brauchte. Meine Angst war auf jeden Fall kein Grund, es nicht zu tun. Wenn ich allem, vor dem ich Angst hatte, auszuweichen versuchte, dann würde ich das Haus niemals verlassen.
»Ich gehe als Erster«, sagte er, und bevor ich ihm widersprechen konnte, war er schon verschwunden. Ein kurzer Lufthauch war alles, was oben von ihm zurückblieb. Zwei Sekunden später hörte ich, wie er unten landete.
Meine Augen hatten sich endlich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sah über den Rand nach unten. Ethan gab mir ein Zeichen. Als er Platz gemacht hatte, steckte ich mein Schwert in seine Scheide, atmete tief durch und sprang.
Das Schlimmste am Sprung für einen Vampir – und es war das wirklich einzig Schlimme daran – war der erste Schritt. Er war für Vampire genauso unangenehm wie für Menschen – dieses Übelkeit erregende Gefühl, das man beim plötzlichen Fall empfand, und die Angst, dass man den Sprung nicht überlebte.
Aber dann änderte sich alles.
Die Welt wurde langsamer, als ob sie sich uns anpassen wollte. Aus vielen Metern wurde ein einziger, anmutiger Schritt, und solange man locker in den Knien blieb, war die Landung überhaupt kein Problem.
Ich landete, wie es sich für eine Superheldin gehörte – in geduckter Haltung, ein Knie gebeugt, eine Hand auf dem Boden und die andere auf dem Schwertgriff. Ich sah zu Ethan auf.
Sein Blick war voller Stolz.
»Du kannst es«, flüsterte er.
Ich stand auf, richtete meinen Schwertgürtel und zog meinen Jackensaum gerade. »Hast du an mir gezweifelt?«
»Ich habe nicht gezweifelt«, sagte er. »Ich wollte mir lediglich … einen Eindruck verschaffen.«
Ich schnaubte verächtlich, ging aber nicht weiter darauf ein. So Gott wollte, gab es für mich später genügend Zeit, ihm das heimzuzahlen.
Wir spähten in den Flur, der vom Aufzugsschacht wegführte. Das Licht war eingeschaltet, aber keine Spur von Tate, Mallory oder Paige.
Ich sah zu Ethan hinüber, meinem erstklassigen Warnsystem für verärgerte Hexenmeisterinnen. Er zuckte erneut zusammen, was mich erahnen ließ, dass ihm Mallory wieder Kopfschmerzen bereitete, aber er stand noch.
»Glaubst du, Paige hat sie direkt zum Buch geführt?«, fragte ich ihn.
»Kommt darauf an, in welchem Zustand sie war. Und das werden wir erst wissen, wenn wir sie sehen.«
»Wie lautet der Plan?«
Ethan sah sich um. »Wenn sie das Buch haben wollen, müssen sie in das unterste Geschoss des Silos. Aber ich will erst einen Überblick über die Situation bekommen, bevor wir blind hineinrennen. Wir sollten uns den Raketenschacht genauer ansehen und herausfinden, wo sie sich aufhalten. Von hier ab Funkstille. Beherrschst du noch die Handsignale?«
Ich nickte. Luc hatte den Wachen des Hauses Cadogan mehrere Handsignale beigebracht, mit denen wir uns während einer Mission gegenseitig Informationen zukommen lassen konnten. Sie hatten sich als äußerst praktisch erwiesen und würden es jetzt wieder sein, da wir unsere Anwesenheit vor dem ehemaligen Bürgermeister und einer gereizten Hexenmeisterin geheim zu halten versuchten. Vorausgesetzt, sie wussten nicht bereits, dass wir auf dem Weg waren, was mir allerdings unwahrscheinlich erschien.
Mit gezückten Schwertern schlichen wir den Flur entlang. Ethan wählte die rechte Seite, und ich war direkt hinter ihm auf der linken. Wir lauschten an jeder Tür, an der wir vorbeikamen, und versuchten etwas zu hören, aber es war totenstill, selbst wenn wir all unsere Sinne als Vampire einsetzten.
Es war uns vermutlich keine große Hilfe, dass die gesamte Anlage aus meterdicken Betonwänden bestand, um die Rakete vor einem möglichen Angriff zu schützen. Ich war mir nicht sicher, ob die Wände auch einen Schutz gegen ein uraltes Böses bildeten, aber etwas in mir ließ mich ahnen, dass wir das bald herausfinden würden.
Wir hatten die riesige Schiebetür zum Siloinneren fast erreicht, als ich einen glänzenden blutroten Tropfen auf dem Boden entdeckte. Er war winzig, doch der Geruch frisch vergossenen Blutes war deutlich wahrnehmbar.
Ich kniete mich hin, tippte kurz mit meiner Fingerspitze hinein und roch dann vorsichtig daran. Eindeutig Blut, das stark mit Magie versetzt war. Ob es sich um Paiges oder Mallorys Blut handelte, konnte ich nicht sagen, aber das war auch nicht wirklich wichtig. Eine der Hexenmeisterinnen hatte Blut vergossen.
Ich stand wieder auf, wischte meine Hand an der Hose ab und deutete auf die Schiebetür. Ethan gab mir ein Zeichen, an den Griff heranzutreten, und nahm dann mit gezücktem Schwert an der Tür Aufstellung. Als er nickte, zog ich daran.
Die Tür glitt zur Seite, und Ethan betrat den Raum. Ich folgte ihm. Der Raum war leer und lag größtenteils im Dunkeln. Doch von unten, aus dem Untergeschoss des Silos, leuchtete es zu uns herauf. Von dem Ort, an dem sich das Maleficium befand.
Ethan bedeutete mir vorwärtszugehen. Ich schluckte meine wachsende Angst hinunter, schlich an den Raketenschacht heran und sah vorsichtig nach unten.
Zum zweiten Mal binnen weniger Wochen war das Maleficium verschwunden.
Doch das Chaos hatte gerade erst begonnen. Das Gebäude erbebte plötzlich, als es von einem schweren magischen Impuls getroffen wurde, der sich kreischend durch die Wände hindurchbewegte. Wenn wir nicht ohnehin schon zu spät waren, dann würden wir es gleich sein.
Ich verschwendete keine Zeit.
»Merit!«, brüllte Ethan, aber ich war schon in der Luft und sprang hinab in den Raketenschacht. Ich landete in gebückter Haltung auf dem Podest, auf dem sich das Maleficium befunden hatte.
Vor mir, in einem großen, kreisrunden Raum, standen die Feinde, nach denen ich gesucht hatte. Mallory beugte sich über das Maleficium, das aufgeschlagen auf dem Boden lag. Tate stand zwischen mir und Mallory, und Paige lag verletzt neben ihm, blutend und bewusstlos. Sie trug weder Jacke noch Mütze; Tate musste sie mit einem Trick aus ihrem Haus gelockt haben – oder an den Haaren herbeigezerrt.
»Hallo, Ballerina«, sagte Tate.
Heute Abend trug er ein dunkles Hemd, eine dunkle Krawatte und einen dunklen Anzug. Der Todesbringer in hübscher Verpackung, nur dass er diesmal auch erschöpft wirkte – abgekämpft, mit eingefallenem Gesicht, und er sah keinen Deut besser aus als Mallory. Vielleicht war er gegen die Folgen schwarzer Magie auch nicht gefeit.
»Vermutlich könnte ich sagen, dass es mich freut, dass du deinen kleinen Ausflug überlebt hast, aber das klänge wohl ein wenig heuchlerisch.«
Ich hörte Schritte hinter mir und wusste, dass auch Ethan im Untergeschoss angekommen war.
»Auch für ihn«, sagte Tate tonlos. »Aber das wäre nun wirklich gelogen.«
»Geht vom Buch weg«, sagte ich zu ihnen, nahm eine entspannte Haltung ein und bereitete mich auf den Angriff vor.
»Du weißt, dass ich das nicht tun werde.«
Ein weiterer magischer Impuls raste durch den Raum, und offensichtlich entstammte er dem Buch. Der Boden und die Wände erzitterten.
Ich würde den Teufel tun und ihnen erlauben, mich unter dem Beton und Stahl eines vierzig Jahre alten Raketensilos in Nebraska zu begraben.
»Ethan«, sagte ich, »ich greife von unten an.«
»Dann ich von oben«, sagte er und schritt mit gezücktem Schwert vor.
Ich wich einen Schritt zurück und rannte dann mit voller Geschwindigkeit auf Tate zu. Seine Augen wurden groß, als ich mich auf ihn zubewegte, aber Ethan lenkte ihn mit einem Schwertschlag ab.
Ich ließ mich auf die Knie fallen und nutzte den Schwung, um über den glatten, bemalten Betonboden zu Mallory auf der anderen Seite des Raums zu rutschen.
Ich kam wieder hoch, überließ es Ethan, sich um Tate zu kümmern, und richtete mein Schwert auf sie.
»Das ist das letzte Mal, Hexe, dass ich das sage. Verschwinde!«
Sie sah vom Maleficium auf. Ihre blutigen Finger schwebten über dem Text, und in ihren Augen lag ein unbezwingbarer Schmerz.
Ich hätte ihrem Zorn, ihrer Angst oder Erschöpfung mit Worten begegnen können, aber der Schmerz war sein eigener Herr, und ich war mir nicht sicher, ob Worte in diesem Fall noch helfen konnten.
Ich hörte, wie Fleisch und Knochen knackten, und sah zu Ethan zurück. Er hatte es bei Tate altmodisch mit einem weiteren rechten Haken versucht, vermutlich als Dankeschön dafür, dass er ihm den Mercedes zu Schrott verarbeitet hatte.
Doch diesmal sah Tate den Angriff kommen, und er wich ihm schnell genug aus. Er hatte eine Hand gehoben, Ethans Faust gefangen und hielt sie einfach fest, während Ethan ihn wütend anfunkelte.
»Ich war davon ausgegangen, dass meine bisherigen Warnungen irgendwann ernst genommen werden würden.«
»Ich brauche manchmal ein wenig länger.«
»Auch im hohen Alter kein bisschen weise, hm?« Scheinbar mühelos wirbelte Tate Ethan durch den Raum. Er flog krachend gegen eine der Stahlstützen.
»Ethan!« Mein Herz setzte für einen Schlag aus, bevor er zu Tate aufsah. Blut lief ihm aus einer Schnittwunde am Kopf herab, und er brauchte länger als sonst, um aufzustehen, aber er stand auf.
Ich wollte schon zu ihm hinrennen, als er mich entsetzt ansah.
»Hinter dir!«, brüllte er.
Ich sah hinter mich. Mallory hatte eine Kugel aus Magie herbeigezaubert, die nun glühend zwischen ihren Händen schwebte. Der bläuliche Schimmer huschte über ihr Gesicht, was sehr unvorteilhaft aussah, als ob sich Schulkinder mit einer Taschenlampe unters Kinn leuchteten. Und dann, als ob ich ihr völlig fremd wäre – eine Bedrohung, nicht eine langjährige Freundin –, schleuderte sie mir die Magie entgegen.
Ich wollte mich instinktiv ducken. Immerhin hatte ich die eine oder andere Kugel und einige Funken von einem Dutzend anderer abbekommen, als ich mich im Training nicht schnell genug bewegt hatte. Ich nahm an, dass damals nur Kugeln mit geringer Magiewirkung zum Einsatz gekommen waren, aber selbst diese hatten einige hässliche Verbrennungen hinterlassen, bei der auch ein Vampir mit seinen beachtlichen Selbstheilungsfähigkeiten Tage brauchte, um sie verschwinden zu lassen.
Ehrlich, diese instinktive Reaktion wurde praktisch sofort ausgelöst, und ich wich zwei oder drei Kugeln aus, die an den Wänden hinter mir zerplatzten.
Aber während ich ihnen auswich, stellte ich mir auch eine Frage …
Catcher hatte mir nicht erlaubt, mit meinem Schwert Völkerball zu spielen. Ich war davon ausgegangen, dass er mein uraltes Katana nicht beschädigt sehen wollte. Aber was wäre, wenn das Problem nicht der Schaden am Schwert – sondern der Schaden an der Magiekugel war?
Diese Möglichkeit, so dachte ich mir, war ein kleines Experiment wert. Daher stellte ich meine Versuche, Mallorys Magie auszuweichen, ein und starrte sie verächtlich an.
Ich packte den Schwertgriff mit beiden Händen und hob es hoch … wie einen Schläger.
Alles oder nichts, dachte ich.
Mallory warf die Kugel wie bei einem Baseballspiel in die Luft, gerade, kräftig und auf mein Herz gezielt. Ich bewegte meine Finger locker am Griff … und als der richtige Moment gekommen war, schlug ich zu.
Alles oder nichts.
Die Schwingungen, die die reine Magie und der magische Stahl auslösten – Stahl, den ich vor vielen Monden mit meinem eigenen Vampirblut gehärtet hatte –, rissen mir fast den Arm ab. Aber ich lockerte meinen Griff um Leder und Rochenhaut nicht … und sah zu, wie sich die Kugel in Millionen kleine blaue Funken auflöste.
»Das war’s«, murmelte ich und sah zu, wie sich das Feuerwerk in nichts auflöste. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Mallory und hob eine Augenbraue auf die Art, wie Ethan es immer tat. »Ist das schon alles?«
Offensichtlich verstand sie meinen Sarkasmus als Herausforderung. Eine Kugel nach der anderen jagte nun auf mich zu, und jede von ihnen verströmte einen beißenderen Gestank als die vorherige, da die in ihnen gebundene Magie immer stärker wurde. Die Anstrengung ging nicht spurlos an ihr vorüber: Ihre Stirn begann schweißnass zu glänzen, trotz der Novemberkälte, und sie biss die Zähne zusammen.
Auch ich hatte meine Arbeit zu leisten. Ich setzte jede Bewegung, jede Finte ein, die ich jemals einstudiert, bei Catcher oder Ethan abgesehen oder in Wrigley Field miterlebt hatte. Ich schlug nach vorne, nach hinten, von beiden Seiten. Ich machte einen Salto rückwärts, um einer hellblauen Kugel auszuweichen, nur um mich anschließend sofort zu Boden fallen zu lassen, weil die nächste Kugel auf meinen Kopf gezielt worden war.
Sie verpasste mich deutlicher, als ich es erwartet hätte. Mallory wurde müde.
Normalerweise war sie klug genug, um ihre Handlungen zu durchdenken und einige Schritte im Voraus zu planen. Aber heute Nacht, wo sie ohnehin schon müde war, konnte ich sie vielleicht ein letztes Mal ködern.
Ich stand wieder auf und forderte sie mit der Handbewegung heraus, die Bruce Lee so berühmt gemacht und die Ethan so viele Male auch bei mir angewandt hatte. »Du willst mich haben? Dann komm her und hol mich.«
Sie fletschte die Zähne, drehte ihre Finger und saugte eine weitere Magiekugel aus dem Äther.
Ich breitete die Arme aus. »Glaubst du, du kannst mich wirklich treffen, Hexe? Mitten in die Brust?«
Sie hatte die Kugel geformt und schleuderte sie mir entgegen.
Ich ließ meinen vampirischen Sinnen freien Lauf – Seh- und Hörkraft, Geruchs- und Tastsinn. Die Welt explodierte in einem bunten Wirbel unkontrollierter Wahrnehmungen, und diese schienen die Ereignisse in meiner Nähe zu verlangsamen. Ich sah zu, wie die blaue Lichtkugel in Zeitlupe auf mich zuflog; ihre Oberfläche war ein löchriger Wirbel aus Energie, der nach seinem Ziel suchte.
Ich war entschlossen, ihm ein Ziel zu geben.
Bevor sie eine weitere Kugel herbeizaubern oder sich in Sicherheit bringen konnte, hielt ich mein Schwert hoch, aber nicht um die Kugel in tausend Stücke zersplittern zu lassen … ich wollte sie auf sie zurückschmettern. Ich hielt das Katana direkt vor mich, mit der Klinge zur Seite und dem reflektierenden Stahl in Richtung Mallory.
Die Kugel prallte mit solcher Macht auf die Klinge, dass der Stahl erzitterte. Doch da er geschliffen und gestählt war, erledigte er seine Aufgabe. Die Kugel prallte ab und flog zurück zu Mallory. Sie war zwar langsamer, aber die Richtung stimmte und sie landete mitten auf ihrer Brust. Mallory wurde durch den Raum geschleudert, prallte gegen die Wand und schlug dann krachend zu Boden, was ihr sicherlich einige Rippen brach.
Jetzt konnte sie wenigstens niemanden mehr verletzen, auch nicht sich selbst. Zumindest für kurze Zeit. Ein Bösewicht erledigt … Blieb noch ein zweiter.
Und der hatte sich in seinen ganz eigenen Kampf gestürzt. Tate, der in der Lage war, mithilfe von Magie ein ganzes Auto von der Straße zu schieben, hatte wohl Lust auf eine andere Art der Herausforderung gehabt. Er hatte sich ein eigenes Schwert erschaffen, einen riesigen Zweihänder, auf dem komplizierte Zeichen eingraviert waren, die das Licht reflektierten. Ein Katana war eine elegante Hiebwaffe; das Ding sah so aus, als ob man damit einfach so lange auf den Gegner einprügelte, bis der umfiel.
Ethan besaß ein Schwert, und er wusste damit umzugehen. Aber Tate war ein Mann mit einem erklärten Ziel, und er würde sich nicht aufhalten lassen. Das Lächeln auf seinem Gesicht erinnerte mich an eine Katze, die so lange mit einer Maus spielt, bis das Spiel mit einem Biss endet. Tate war fest entschlossen, diesen Kampf zu einem Ende zu bringen – und Ethan zu töten –, aber zuerst wollte er mit seiner Beute spielen. Ethans Jacke wies bereits mehrere Schnitte auf.
»Autsch!«
Ich sah auf die andere Seite des Raums. Paige setzte sich auf und hielt sich mit einer Hand ihren blutenden Kopf.
Ich eilte in der Hoffnung zu ihr hinüber, dass sie vielleicht eine Möglichkeit hatte, das hier zu beenden. Ich kniete mich neben sie. »Alles in Ordnung?«
»Er hat mich gezwungen, ihm zu folgen und ihm zu sagen, wo sich das Buch befindet.« Ihre Lippen zitterten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Schon okay. Wir wussten alle, dass das passieren konnte. Er und Ethan kämpfen miteinander. Kannst du irgendwas dagegen tun? Kannst du Tate bewusstlos schlagen?«
Sie schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, und auf einer Seite zeichnete sich bereits ein hässlicher blauer Fleck ab. »Er hat etwas mit mir angestellt. Ich konnte ihn nicht daran hindern, hierherzukommen oder mich zu zwingen, ihm den Aufbewahrungsort des Buchs zu verraten.«
Es hörte sich wie eine Vergewaltigung mittels Zauberkräften an, eine Art psychischer Erpressung, die Tate verwendet hatte, um an das Buch zu kommen. Als ob ich noch weitere Gründe gebraucht hätte, ihn zu verabscheuen.
Betonsplitter flogen an uns vorbei, als Tates Schwert in die Wand krachte. Mallory war bewusstlos, Tate beschäftigt und Paige verletzt. Wenn sie nicht ihre Magie einsetzen konnte, dann konnte ich sie wenigstens von hier wegbringen, um sie nicht noch weiteren Gefahren auszusetzen – oder Tate daran hindern, sie für andere Zwecke einzusetzen.
»Glaubst du, du kannst gehen?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht.«
Ich hakte mich bei ihr unter und half ihr auf die Beine. Aber dieser Plan war nicht von Dauer.
»Merit!«, sagte Paige. »Mallory! Das Buch!«
Ich sah hinter mich. Mallory war aufgewacht und lag auf dem Boden, eine Hand auf dem Buch, und ihre Lippen bewegten sich, als sie den Zauberspruch vollendete.
Die Kampfgeräusche neben uns hörten auf, als Tate sich dem Klang der uralten Worte zuwendete. Ethan nutzte diese Gelegenheit und schlug brutal mit seinem Katana zu.
Der Schlag hätte Tate in zwei Teile spalten sollen, doch stattdessen hob er nur eine Hand, und Ethan flog wieder krachend gegen eine Wand.
Erneut drohte mein Herz auszusetzen, aber zum Glück stöhnte Ethan auf und rollte sich zur Seite. Meine Erleichterung wurde aber durch den Schock über Tates Macht überlagert, darüber, mit welcher Gewalt er so zwanglos agierte. Was war er?
Mallory ließ sich von der Gewalt um sich herum nicht aufhalten, sondern wirkte weiterhin ihren Zauberspruch in einer Sprache, die so rhythmisch und einfach klang wie Latein, aber kräftigere Konsonanten hatte sowie eine Betonung, die fast an das Russische erinnerte.
Da er sich Ethans entledigt hatte, sprang Tate über einen Tisch und versuchte das Buch zu ergreifen.
»Mallory, hör auf!«, schrie ich, aber es war zu spät.
Tate griff nach dem Buch, und in dem Augenblick, als seine Finger den roten Ledereinband berührten, brüllte Mallory die Beschwörungsformel: »Adnum malentium!«
Ein ohrenbetäubendes Donnern erfüllte die Luft, und die Energie schob Mallory zurück … doch nicht Tate.
Das Maleficium wurde zu einem hellblauen Lichtblitz, der sich um Tates Hand auf dem Buch legte und seinen Arm hinaufglitt wie eine schnell wachsende Ranke. Binnen Sekunden war er von Licht umhüllt. Mallory hatte etwas getan, etwas zu Ende gebracht, und das Maleficium reagierte darauf.
Das Licht waberte glühend um ihn herum wie eine sichtbare Aura, und einen Moment lang lächelte er, als ob er einen wichtigen Teil seines Plans zum Abschluss gebracht hätte.
Doch seine Freude hielt nicht lange an. Das Lichtfeld begann zu erzittern, und seine Gestalt mit ihm. Er zitterte und taumelte, und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen in dieser Lichtwolke. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber es war nichts zu hören, nur das schwache Pulsieren der Magie.
Binnen Sekunden begann sich seine zitternde Gestalt ruckartig nach oben und unten zu bewegen, und dann wurde sein Körper breiter. Er wurde nicht größer – er dehnte sich horizontal aus und schrie seinen Missmut heraus.
Der magische Schild wuchs mit ihm, und ich stolperte rückwärts, um nicht damit in Kontakt zu geraten.
Plötzlich wurde der doppelt so breite Tate wie ein DNA-Strang gespalten. Der Spalt begann an seinem Kopf und wanderte ruckartig krachend nach unten. Blitze zuckten auf, als ob die Sonne selbst zu uns herabgestiegen wäre, und dann war es vorbei.
Ein lautes magisches Knistern erfüllte den Raum, und dann flackerten die Lichter im Silo auf, einmal, zweimal.
Als die Ruhe wieder einkehrte, stand Seth Tate schwitzend und zerknittert mitten im Raum.
Und neben ihm stand ein weiterer Seth Tate.
Mein Verstand brauchte einige Sekunden, bis er wieder vollständig funktionierte – und selbst dann konnte ich immer noch nicht nachvollziehen, was ich hier gerade erlebt hatte.
Seth Tate, den früheren Bürgermeister von Chicago, gab es nun in zwei Ausführungen.
Die Tates betrachteten ihre Hände und dann sich, und dann holten sie tief Luft. Dann gaben sie einen ohrenbetäubenden, unmenschlichen Schrei von sich.
Ich fiel auf die Knie und hielt mir die Ohren zu. Das gesamte Gebäude erzitterte, und ich hätte schwören können, dass sich Beton und Stahl durch die von ihnen ausgesandte Energie verbogen.
Einen Augenblick lang herrschte Stille.
Und dann schossen sie beide nach oben, den Raketenschacht hinauf. Ich rannte unter die Öffnung und sah zu, wie sie hinaufflogen – fünf Meter, zehn Meter, fünfzehn Meter, fünfundzwanzig Meter –, und dann explodierten die Metalltüren des Raketenschachts und ließen Dreck und Wurzeln und Maisstängel auf uns herabregnen. Die Tates verschwanden durch die Öffnung hinaus in die Nacht, übernatürlichen Raketen mit unbekannten Kräften gleich.
Die herabrieselnden Trümmer nahmen ein Ende, und Sternenlicht schimmerte durch das Loch vom Himmel auf uns herab. Und im Mittleren Westen gab es nichts Neues.