KAPITEL VIERZEHN

DU ERHELLST MEIN LEBEN

Grelles Licht und brennender Schmerz empfingen mich, als ich erwachte. Meine Lederjacke war verschwunden, und Sonnenlicht strahlte auf meine nackten Arme. Ich zog sie in den Schatten zurück, der den Rest meines Körpers schützte.

Mir standen Tränen in den Augen, als sich Blasen auf meiner Haut bildeten, aber der Schmerz war vermutlich die geringste meiner Sorgen. Völlig benebelt kniff ich meine Augen vor dem grellen Sonnenlicht zusammen und sah mich um.

Ich befand mich in einem quadratischen Betonzimmer mit einem Fenster an einer Wand. Das Fenster war nicht verhangen, und das Licht ergoss sich ungehindert in den Raum. Ich war in die einzige dunkle Ecke geschoben worden, zusammengekauert und hilflos … und mein Handy hatte ich in meiner Jackentasche.

»Bequem, oder?«

Ich hätte um die Uhrzeit auch nicht wach sein sollen. Langsam und wie betrunken sah ich zu Tates Stimme auf. Er stand in der offenen Tür, die sich etwa sechs Meter sonnenüberfluteten Betons von mir entfernt befand.

Die Tür führte nach draußen. Selbst wenn ich es geschafft hätte, den Raum zu durchqueren, so hätte es für mich keinen Ausweg gegeben.

Tate hatte mich in ein Gefängnis aus Sonnenlicht gesperrt. Er hatte mir sogar mein Schwert gelassen, denn was hätte ich damit schon ausrichten können? Ich hatte zu wenig Platz, um es wirksam einzusetzen – außer natürlich, ich erhoffte mir damit, den schmerzlichen Tod durch das Sonnenlicht zu ersparen.

»Du bist ein Sadist«, sagte ich.

»Wohl kaum. Ich bin ein Realist«, erwiderte er. »Die Welt könnte ein besserer Ort sein. Ich habe vor, dies zu beweisen.«

Mein Verstand arbeitete viel zu langsam; ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. »Wo sind wir?«

»Das ist unwichtig«, sagte er. »Die entscheidende Frage ist, warum wir hier sind.«

»Weil du ein gottverdammter rachsüchtiger Hurensohn bist?«

Tate lachte und betrat den Raum. Er trug eine dunkle Hose und ein T-Shirt. Seine Flügel waren verschwunden, aber auf seinem T-Shirt waren Blutflecken zu sehen. Ich nahm an, dass Jonah einige Treffer hatte landen können.

Er lachte leise und kam näher. Es war verstörend, ihm zuzusehen. So wunderschön … und so tödlich. Ich musterte ihn, suchte in seinem Gesicht und auf dem Körper nach einem Detail, mit dem ich die beiden hätte unterscheiden können. Aber da war nichts.

»Ich bevorzuge den Begriff Bote der Gerechtigkeit. Vielen Dank dafür.«

Es schien, dass der Bibliothekar recht gehabt hatte. »Du kannst bevorzugen, was du willst. Wer für sich beansprucht, Richter, Geschworener und Henker zugleich zu sein, ist nicht gerecht. Er ist bloß arrogant.«

»Ich bin hier nicht der Arrogante, Hüterin des Hauses Cadogan.«

»Du bist einer der gefallenen Engel, oder nicht? Ein Dunkler? Das ist doch schon laut Definition arrogant. Du hast geglaubt, du wüsstest es besser als alle anderen.«

»Ich kann das Gute vom Bösen unterscheiden.«

»Ist das hier gut? Mich zu bestrafen, weil ich geholfen habe, vier Polizisten zu retten? Mich in diesen Raum zu sperren, in dem ich in wenigen Stunden zu Asche zerfallen werde?«

»Diese Männer waren korrupt«, sagte er. »Ihre Seelen waren korrupt.«

»Diese Männer haben Familien. Sie haben Frauen und Kinder.«

»Sie haben anderen geschadet. Sie verdienen es, bestraft zu werden«, beharrte er.

»Das zu entscheiden ist nicht deine Aufgabe.«

Er erstarrte, und das war beinahe furchterregender, als mit ihm zu streiten. Ich starrte einen zornigen Mann an, der sich plötzlich in eine Marmorstatue verwandelt hatte.

»Diejenigen, die das Gute nicht vom Bösen unterscheiden können, haben keinen Mut. Ihnen fehlt der Wille, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Nur wer über die Willenskraft verfügt, den Worten Taten folgen zu lassen und die Bestrafung durchzuführen, sollte der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen. Niemand hat diese Männer zu diesem Verhalten gezwungen. Sie haben ihren eigenen Weg gewählt. Sie müssen für die Folgen ihres Handelns einstehen.«

»Das hätten sie auch getan. Deshalb hat man sie eingesperrt.«

»Und sie wieder freigelassen. Das menschliche Justizsystem hat einfach kein Rückgrat.«

»Das ist nicht deine Entscheidung. Hat dich diese Haltung nicht schon vor Jahrtausenden in Schwierigkeiten gebracht?«

Meine Hände begannen zu zittern. Mein erschöpfter Körper wehrte sich gegen die Tatsache, dass ich tagsüber wach war. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und zwang mich dazu, mich zu konzentrieren.

»Ihr schwachen Kreaturen, die die wahre Gerechtigkeit nicht vertragen.«

»Was du Gerechtigkeit nennst, nennen wir Krieg. Zerstörung. Chaos.« Ich unterdrückte einen Schmerzensschrei. Ethan suchte vermutlich verzweifelt nach mir, aber Jonah hatte mich bestimmt verschwinden sehen. Mich zu finden würde schwer werden, aber sie würden es schaffen. So Gott wollte, würden sie mich finden.

»Warum hast du mich hierher gebracht?«, fragte ich.

»Um ein Exempel an dir zu statuieren.«

»Mit welchem Ziel?«

»Du hast mich daran gehindert, meine Aufgabe zu erfüllen, genau wie diese rothaarige Hexe. Das hier war dein Vorschlag, erinnerst du dich nicht?«

Die rothaarige Hexe musste Paige sein. »Du hast ihr Haus niedergebrannt, weil sie sich dir in den Weg gestellt hat?«

»Die Gerechtigkeit lässt sich nicht durch Feiglinge aufhalten.«

»Und Menschen umzubringen macht dich nicht zu einem Helden. Es macht dich zu einem Mörder.«

»Ich sehe schon, dass du deine Entscheidung bereust, den Platz dieser Polizisten einzunehmen. Noch hast du ein wenig Zeit, dies zu bedauern, nicht wahr?«

Er deutete auf die Sonnenstrahlen, deren Einfallswinkel sich um einige Grad verändert hatte. Bald schon würde mein schützender Schatten verschwunden sein, und ich wäre der Sonne schutzlos ausgeliefert.

»Ich gebe zu«, sagte er und ließ den Blick durch den Raum schweifen, »dass dies das erste Mal ist, dass ich mich dieses besonderen Vorgangs bediene. Ein Schlag mit dem Schwert hätte einfach nicht denselben Effekt bei dir, nicht wahr? Das würdest du viel zu leicht überleben.«

Zum ersten Mal bedauerte ich, dass ich über besondere Heilkräfte verfügte, aber ich würde Tate niemals die emotionale Oberhand gewinnen lassen.

»Du hast heute schon mal verloren«, sagte ich. »Wir haben dich aufgehalten. Sie werden mich finden, und du wirst wieder verlieren.«

Doch mit jeder Sekunde schien es unwahrscheinlicher, dass sie mich noch rechtzeitig fanden. Die Pressekonferenz hatte am frühen Abend stattgefunden. Eine ganze Nacht war verstrichen, und die Sonne war wieder aufgegangen. Niemand hatte mich bis jetzt gefunden. Und weder Jonah noch Ethan konnten nach mir suchen, jetzt, wo die Sonne wieder am Himmel stand.

Mir lief die Zeit davon.

Tate zog etwas aus seiner Tasche und hielt es hoch. Es glänzte im strahlenden Sonnenlicht, und ich sah zwinkernd zur Seite, damit ich nicht geblendet wurde.

»Du hast immer noch mein Cadogan-Medaillon«, sagte ich. »Das ist ja nichts Neues.«

»Eigentlich ist es das.« Ich hörte das Klirren der Kette und ging davon aus, dass er es wieder weggesteckt hatte. Es lohnte sich nicht, es vor meinen Augen baumeln zu lassen, wenn ich nicht einmal hinsah.

»Ich finde es auf interessante Weise symbolisch. Ein Mädchen, eine Doktorandin, wird eines Nachts gegen ihren Willen zur Vampirin gemacht. Sie wird in eins der Vampirhäuser hier in Chicago wiedergeboren. Sie macht sich selbst zu einer Retterin verlorener Seelen und entschließt sich, mit mir um die Vormacht zu kämpfen. Sie verliert, und hier stirbt sie.«

»Dann wirst du das ja nicht mehr brauchen.«

»Im Gegenteil«, sagte er. »Das ist jetzt mein Siegpreis. Ein Erinnerungsstück.«

Damit meinte er, dass mich irgendwann die Sonnenstrahlen erreichen und ich nicht mehr da sein würde. Ein Häufchen Asche, aber er hätte dann immer noch eine Trophäe als Beweis für seinen Sieg. (Entweder bemerkte er nicht, dass ich ein Ersatzmedaillon trug, oder er würde sich von einer so unbedeutenden Tatsache nicht den Sieg vermiesen lassen, den er sich offensichtlich schon ausmalte.)

Ich wusste, dass ich Ethan nicht mehr hören konnte, aber ich stellte mir dennoch seine Stimme vor, wie er mir einen Vortrag hielt, der dem ähnelte, den ich ihm auf dem Feld in Nebraska gehalten hatte. Dass ich mich gefälligst daran erinnern solle, dass ich eine Vampirin Cadogans sei, dass ich stärker sei, als Tate vermutete, dass ich überleben würde, bis er mich fand.

Und er würde mich finden. Er würde es schaffen. Ich musste nur durchhalten, bis er hier war. Ich musste nur überleben.

Beweg dich!, ermahnte ich mich und rutschte einen Zentimeter nach rechts. Ich zwang mich weiterzureden, denn dann konnte ich die Zeit, die ich hier mit Tate verbrachte, wenigstens sinnvoll nutzen.

»Es gibt jetzt zwei von dir.«

»In gewisser Hinsicht«, lautete seine rätselhafte Antwort.

Ich sah ihn mit finsterem Blick an. »Ich habe dich gesehen. Du hast das Maleficium berührt, und du wurdest zweigeteilt.«

Er schnalzte mit der Zunge. »Ich bin nicht zweigeteilt, Ballerina. Ich bin ganz. Mein Name ist Dominik.«

Er war einer der drei Dunklen, von denen der Bibliothekar gesprochen hatte – Uriel, Azrael und Dominik. »Du hast Karthago zerstört?«

Er lachte aus vollem Halse. »Das habe ich nicht. Das war nicht mein spezielles Werk, sondern das meiner Waffenbrüder. Aber zumindest weißt du nun besser zu schätzen, was wir uns zum Ziel gesetzt haben.«

»Zerstörung und Rache?«

»Nur wenn sie verdient ist«, sagte er. Er hatte offensichtlich nicht die geringsten Skrupel, sich selbst zu dem Mann zu ernennen, der bestimmte, wer was verdiente – oder auch nicht.

»Die Welt ist ein grausamer Ort«, sagte er. »Sie ist oft auch ungerecht.« Dominik trat an das Fenster heran, sah erst hinaus und dann wieder zu mir.

»Ich bin gleich wieder zurück«, sagte er. »Beweg dich nicht vom Fleck.«

Er verließ das Zimmer. Für einen kurzen Augenblick hoffte ich, er hätte draußen jemanden gesehen – meinen Retter. Doch die Welt blieb weiterhin stumm.

Meine Erschöpfung ließ mich erzittern, und ein Teil meines Arms wurde kurz der Sonne ausgesetzt. Schmerzen jagten durch meine Nervenbahnen. Ich zog meine Knie an die Brust heran und umschlang sie mit den Armen. Wenn es noch schlimmer wurde, konnte ich aufstehen und mich in den mir verbliebenen, immer kleiner werdenden Platz quetschen. Aber irgendwann würde auch der nicht mehr ausreichen, und ich hatte nicht einmal mehr eine Jacke, um mich mit ihr zu schützen.

Dass er mir meine Jacke genommen hatte, nur um meine Arme zu entblößen und mich so dem Sonnenlicht noch stärker auszusetzen, war auf widerwärtige Weise gründlich. Ich musste ihm vermutlich dankbar dafür sein, dass er mich nicht vollständig ausgezogen hatte. Aber auch wenn ich dadurch nicht gänzlich ungeschützt war, so würde mir meine Kleidung auch nicht mehr helfen, wenn das letzte bisschen Schatten verschwunden war.

Und der Schatten verschwand schneller und schneller.

Bitte findet mich, irgendwer, dachte ich.

Merit?

Mein Name ertönte in meinem Kopf. Panisch antwortete ich in Gedanken: Ethan?

Ich bin es, Morgan. Ich bin bei Ethan. Er ist hier. Er hat mich gebeten, mit dir zu reden. Weißt du, wo du bist?

Ich schloss erleichtert die Augen. Ich hatte fast vergessen, dass ich eine Verbindung zu Morgan Greer hatte. Gott sei Dank hatte jemand daran gedacht.

Ich sah mich im Zimmer um, aber die Formen verschwammen langsam vor meinen Augen, so erschöpft war ich. Ich weiß es nicht. Ich bin in einem Zimmer; die Sonne scheint herein. Ich versuche im Schatten zu bleiben, aber davon ist nicht mehr viel übrig.

Kannst du irgendetwas erkennen? Kommt dir etwas bekannt vor?

Ich schloss die Augen, um wieder einen klaren Geist zu bekommen, und öffnete sie wieder. Mit zusammengekniffenen Augen, um mich vor dem grellen Licht zu schützen, erkannte ich draußen etwas Rotes. Meine Netzhaut brannte wie Feuer.

Rot, sagte ich, schloss die Augen und weinte erleichtert. Draußen ist etwas Rotes zu sehen.

Einen Moment lang herrschte Stille. Panik erfasste mich. Morgan? Bist du noch da? Verlass mich nicht. Bitte verlass mich nicht.

Ich bin hier, Merit. Jeff und Catcher und Ethan sind auch hier. Wir reden darüber, wo du sein könntest? Kannst du mir sagen, was für ein Rot du siehst? Hellrot? Dunkelrot?

Ich schluckte schwer und zwang mich, noch einmal nach draußen zu sehen. Dunkelrot. Orangerot.

Sonst noch etwas?

Tränen liefen mir über die Wangen. Ich weiß es nicht. Ich bin so müde.

Das weiß ich, aber du musst dich konzentrieren. Was befindet sich sonst in deiner Nähe.

Ich kann sonst nichts sehen.

Alles in Ordnung, Merit. Verwende deine anderen Sinne. Was riechst du? Was hörst du?

Ich schloss meine Augen und ließ die Mauern sinken, die mich gegen die Eindrücke im Zimmer schützten. Ich hörte das Gurren und Scharren von Tauben, die in der Decke über mir ihren Schlafplatz hatten, und spürte eine feuchte Brise in der Luft.

Ich glaube, wir sind in der Nähe des Sees, sagte ich zu Morgan.

Sehr gut, Merit. Was sonst?

Damit sagte er nur, dass meine Aussage nicht wirklich half. Der Michigansee war riesig, und sie würden mich vermutlich niemals finden.

Nein, ermahnte ich mich. Konzentriere dich. Wenn du das hier überstehen willst, dann musst du dich konzentrieren!

Ich versuchte es erneut und ließ meine Sinne meine nähere Umgebung erforschen. Noch mehr Tauben. Kies. Feuchtigkeit, absterbendes Gras.

Und unter alldem ein trockener, beißender Geruch. Etwas Pulverartiges. Etwas Staubiges.

Etwas, das ich kannte.

Ich versuchte mich zu erinnern, aber ich konnte nur sehr schwerfällig denken.

Merit? Bist du noch da? Ethan fragt nach dir.

Morgan sagte das, um mich aufzumuntern, aber ich spürte, wie schwer es ihm fiel, Ethans Namen auszusprechen, unsere Beziehung zu erwähnen.

Er fügt sich selbst Schmerzen zu, um mir zu helfen, dachte ich, und diese Erkenntnis reichte mir, um meine Gedanken wieder zu sammeln und die Erinnerung in aller Deutlichkeit abzurufen: Ich stand in einem Zimmer, und Seth Tate saß an einem Tisch vor mir. Der Duft von Zitrone und Zucker erfüllte die Luft. Aber unter diesem Duft verbarg sich mehr … derselbe Geruch von Kalk, den ich auch jetzt roch.

Ich wusste, wo ich war.

Die Keramikfabrik, sagte ich.

Es handelte sich um ein verlassenes Gelände, wo man Seth Tate eingesperrt hatte, bevor er sich auf die Suche nach dem Maleficium machte. Ich hatte ihn dort aufgesucht – hier –, zweimal. Beide Male bei Nacht, und beide Male recht lange, denn Tate hatte mir wertvolle Informationen über das Maleficium und Magie gegeben.

Über mir sind Tauben.

Sie wissen, wo du bist, Merit. Sie sind auf dem Weg. Halte durch.

Bitte lass mich nicht allein. Ich rutschte einen weiteren Zentimeter in meine Ecke. Wenn sie mich nicht rechtzeitig fanden, dann wollte ich nicht allein sein. Nicht hier. Nicht an diesem Ort mit Tate.

Ich lass dich nicht allein, sagte er. Ich bin bei dir.

Ich weiß nicht, wie viele Minuten oder Stunden vergingen, aber ich stand in der Ecke, den Rücken an die Wand gepresst, und nur noch wenige Zentimeter trennten mich vom Sonnenlicht, als ein lautes Geräusch ertönte, das einem Schuss ähnelte. Ich legte mir die Hände auf die Ohren. Stimmen waren zu hören. Schreie, das Aufheulen eines Motors, das Geräusch von Kies.

Das Sonnenlicht kam näher, achtete nicht auf meine Tränen und war sich nicht einmal bewusst, welche Gefahr es für mich darstellte. Mir lief die Zeit davon. »Bitte seid meine Rettung. Bitte seid meine Rettung.«

Erneut hörte ich Morgans Stimme in meinem Kopf, die genauso erschöpft wie meine klingen musste. Merit, sie kommen, um dich zu holen. Halte durch, okay?

Ich legte meinen Kopf an die Wand hinter mir und spannte jeden Muskel an, um mich weiterhin aufrecht zu halten und den geringen noch verbliebenen Schatten zu nutzen. Du schaffst das, sagte ich mir immer wieder. Du schaffst das. Du schaffst das.

Paige kam in den Raum gestürmt. »Ich habe sie gefunden!«, rief sie.

Ich schluchzte erleichtert.

Jeff kam hinter ihr hereingerannt, eine silbern glänzende Rettungsdecke in Händen. Er rannte auf mich zu, denn er war gegen das Sonnenlicht immun. »Ich hole dich jetzt hier raus, okay?«

Ich schaffte es, kurz zu nicken, bevor er die Decke über mich warf und mich in seinen Armen davontrug, als ob ich leicht wie eine Feder wäre. Ich schaffte es noch, einen Arm um seinen Hals zu legen. »Tate?«

»Kurzfristig lahmgelegt«, sagte Paige und schob Jeff zur Tür hinaus. »Viel Zeit haben wir aber nicht.«

Jeff trug mich nach draußen, wo ich einen Motor aufheulen und eine Wagentür sich öffnen hörte. Ich wurde sanft auf etwas Weichem abgelegt, und dann waren wir auch schon auf dem Weg.

Jeff zog die Decke beiseite. Mein Herz setzte in der plötzlichen Dunkelheit kurz aus. Ich hob eine Hand, und er drückte sie.

»Ich kann nichts sehen.«

»Das ist nur vorübergehend«, sagte eine andere Stimme. Catcher, vorne im Wagen. »Du warst dem Sonnenlicht zu lange ausgesetzt; hier drinnen ist es für deine Rezeptoren zu dunkel. Das geht vorbei.«

Ich nickte, konnte mich aber nicht daran hindern, hemmungslos zu weinen. Eine Minute später, und ich wäre ein Häufchen Asche gewesen.

Ich schluchzte, und Jeff zog mich an sich.

»Pscht«, sagte er, als ich den würzigen Duft seines Parfüms einatmete und mich an sein Hemd klammerte. »Alles wird gut. Erhol dich ein wenig, und dann bringen wir dich nach Hause. Oh, und ich glaube, Catcher hat deine Jacke gefunden.«

»Danke«, sagte ich und weinte erleichtert, bis mir die Augen zufielen.

Ich wachte erst wieder gegen Mitternacht des nächsten Abends auf.

Ich setzte mich in meinem Bett auf. Das Zimmer wurde durch das goldene Licht erhellt, das vom Flur durch die offene Tür hereinfiel. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich angepasst hatten, aber ich konnte endlich wieder sehen.

»Wasser?« Ich berührte meinen Hals. Ich war völlig ausgetrocknet, und meine Stimme klang rau und kehlig.

Ethan kam herein, und die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er trug einen Anzug, aber der oberste Hemdknopf war geöffnet, und seine Krawatte hing ihm nur lose um den Hals. Er trat an mein Bett heran und reichte mir einen Becher Wasser vom Nachttisch.

Ich trank es in wenigen Zügen leer.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Ethan.

Er sah mich an, berührte mich aber nicht. Selbst nach dem, was letzte Nacht geschehen war, hielt er Abstand zu mir.

»Ich fühle mich schrecklich«, sagte ich, und das betraf nicht nur die Sache mit Tate. »Ich habe das Gefühl, ich hätte vierundzwanzig Stunden lang nicht geschlafen.« Ich reichte ihm das leere Glas zurück. »Mehr davon, bitte.«

Er füllte es wieder auf. »Blut wäre wohl auch eine gute Idee. Trink das aus, und ich hole dir welches.«

Ich widersprach ihm nicht und trank. Ich trank so schnell, dass ich es beinahe nicht bei mir behalten hätte. Mein Magen fühlte sich mit einem Schlag aufgebläht an, und mir wurde übel. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen.

»Ist mit Jonah alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Alles bestens. Er war derjenige, der uns angerufen hat. Er hat hier bis kurz vor Sonnenaufgang ausgeharrt und ist dann ins Haus Grey zurückgekehrt. Catcher und Jeff haben dich mehrere Stunden lang gesucht. Offensichtlich hast du sie ganz schön auf Trab gehalten.«

»Wie das denn?«

»Erinnerst du dich nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mich vor dem Gefängnis berührt und irgendwie bewusstlos gemacht. Ich habe nichts mehr mitbekommen, bis ich in diesem Raum aufgewacht bin.« Ich sah zu Ethan auf. »Ich weiß, was er ist. Sein Name ist Dominik. Er ist einer der gefallenen Engel, genau wie es der Bibliothekar vermutet hat. Er hat große schwarze Schwingen, Ethan. Fledermausflügel.«

»Wenn er Dominik ist, was ist dann Seth?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Dominik war alleine dort. Zumindest glaube ich das. Wie hat Paige ihn aufgehalten?«

»Magische Blendgranate«, sagte er. Das erklärte den lauten Knall. »Sie führt bei magischen Wesen zur Desorientierung, aber ihre Wirkung ist nur von kurzer Dauer.«

»Ihr sollte ich wohl auch danken.«

»Sie ist heute Abend nicht hier. Sie sagte, sie müsse mit Baumgartner sprechen, weil sie etwas auf dem Herzen habe.«

Ich lächelte. »Schön für sie. Sie scheint ihre Magie ernst zu nehmen, im Gegensatz zum restlichen Orden.«

Als ich die Decken zurückschlug, stellte ich fest, dass ich ein aufreizendes Nachthemd trug. Ich sah ihn böse an. »Das ist nicht dein Ernst?«

»Das ist Lindseys Schuld«, sagte er. »Sie sagte, das sei das erstbeste, was sie gefunden habe, und dass die Zeit dränge. Wir waren nicht sicher, wie schlimm deine Verbrennungen waren, und wollten dich daher schnellstens aus den Klamotten haben.« Wir musterten beide meine Arme. Die Verbrennungen waren noch als rosafarbene Veränderungen zu erkennen, aber sie waren bereits gut geheilt.

»Die Haut wird noch eine Zeit lang schmerzempfindlich sein«, sagte er, »aber du wirst gesund werden.« Er unterbrach sich. »Ich hatte Angst, wir wären zu spät.« Seine Gesichtszüge verrieten seine innere Qual.

»Es war ganz schön knapp.«

»Sie haben dich gefunden«, sagte er, »und das ist alles, was zählt.«

»Morgan war mein großes Glück. Wenn wir nicht in der Lage gewesen wären, miteinander zu sprechen …« Mir versagte die Stimme, als mir wieder Tränen in die Augen traten.

Ethan nickte. »Er hat nach deiner Rückkehr noch einmal angerufen, um sicherzugehen, dass es dir gut geht.«

»Er hat ganze Arbeit geleistet. Beruhigend, aber mit genügend Druck, um mich wach zu halten.«

Wir hatten beide daran gezweifelt, dass Morgan reif für seine Aufgabe als Meister eines Hauses war. Vielleicht konnte er in diese Rolle hineinwachsen. Vielleicht tat er das gerade.

»Ich muss mich bei ihm bedanken«, stellte ich fest. Es war das einzig Richtige, und es würde vermutlich auch dabei helfen, reinen Tisch zwischen uns zu machen.

»Das kannst du in hundert Jahren tun, wenn ich dir wieder erlaube, das Haus zu verlassen.«

»Pah.«

»Das ist mehr als nur ein Scherz, Merit. Ich spüre ein nahezu unbändiges Verlangen in mir, dich wegzusperren, damit du nicht mehr in Schwierigkeiten geraten kannst.«

»Mich wegzusperren würde weder meine Sicherheit garantieren noch mich aus Schwierigkeiten heraushalten. Und wenn du mich wegsperrst, könnte ich nicht für deine Sicherheit garantieren.« Natürlich gab es einige Dinge, vor denen ich ihn beim besten Willen nicht beschützen konnte. »Wie war dein Gespräch mit Darius?«

Er schüttelte den Kopf. »Lass mich unser Haus durch die politischen Meerestiefen navigieren. Vergiss nicht, ich bin immer noch Kapitän dieses Schiffs.«

»Wow. Normalerweise bist du eher der freche Kerl, nicht der alte Seebär. Ist es so schlimm?«

»Es sieht nicht gut aus.«

»Was ist passiert? Wird er uns die Akkreditierung entziehen?«

Ethan stand auf, ging zum Fenster hinüber und sagte kein Wort. Da war es wieder, dieses ungute Gefühl.

»Du wirst mir nichts davon erzählen?«

»Ich weiche diesem Gespräch nicht aus, weil es mir an Vertrauen zu dir mangeln würde«, sagte er und sah mich an. Zwischen seinen Augen war wieder die altbekannte Sorgenfalte aufgetaucht. »Sondern weil es nichts zu sagen gibt. Der Sufetat hat sich festgelegt, das weißt du. Darius wird entscheiden, was er entscheiden will. Diese Entscheidung hat er noch nicht in Worten ausgedrückt, und solange dies nicht geschehen ist, müssen wir warten.«

Mit dieser rätselhaften Aussage war das Thema für ihn erledigt. Meiner Ansicht nach hatte er heute Abend schon genügend durchgemacht, und ich entschloss mich, ihn deswegen nicht weiter zu bedrängen.

»Was waren denn die Nachwirkungen der Pressekonferenz? Ich kann mir nicht vorstellen, dass unsere neue Bürgermeisterin begeistert darüber war, dass jemand, der wie ihr Vorgänger aussieht – abgesehen von den Fledermausflügeln –, versucht hat, vier ihrer Beamten umzubringen.«

»Sie war ganz bestimmt nicht begeistert«, stimmte Ethan mir zu. »Sie hat aber auch nicht versucht, das Ganze uns Vampiren wieder anzuhängen. Was auch nicht besonders schwer gewesen sein dürfte, da du dich mit deinem Schwert in die Bresche geworfen und die Polizisten verteidigt hast. Journalisten lieben Geschichten, die nur das wahre Leben schreiben kann.«

»Welche Ironie«, sagte ich.

»Es hat allerdings einige Änderungen bezüglich das Status quo gegeben.« Ethan griff nach einer zusammengefalteten Zeitung auf dem Nachttisch und reichte sie mir.

Die obere Hälfte der Titelseite bestand aus einer Fotografie Dominiks, dessen Flügel sich unheilvoll über das Zeitungspapier erstreckten. Die Schlagzeile darunter lautete: VERSUCHTER POLIZISTENMORD DURCH GEFLÜGELTEN BÜRGERMEISTER. NOCH MEHR ÜBERNATÜRLICHE IN DER STADT.

Es handelte sich eigentlich nicht um den Bürgermeister, aber diesen Fehler konnte ich ihnen nachsehen. Die Stadt wusste nicht, dass hier zwei Tates ihr Unwesen trieben, und außerdem konnte man sie nicht voneinander unterscheiden.

»Lies den ersten Absatz«, sagte Ethan.

Ich las laut vor: »Chicago steht unter Schock, nachdem heute Bürgermeister Seth Tate die sogenannten ›South Side Four‹ vor dem Polizeirevier angegriffen hat, aus dem sie entlassen werden sollten, und anschließend mithilfe riesiger, fledermausähnlicher Flügel geflüchtet ist. Als Reaktion darauf wurden in einer Pressemitteilung, die allen Nachrichtenredaktionen in Chicago zugestellt wurde, drei neue übernatürliche Spezies verkündet – die sogenannten Nymphen, Sirenen und Trolle. Bürgermeisterin Diane Kowalcyzk erklärte, dass sie mit Entsetzen festgestellt habe, dass Mr Tate ›eins der Monster‹ sei. Eine der Bürgermeisterin nahestehende Quelle behauptet, dass Kowalcyzk wisse, dass Dutzende übernatürliche Spezies in Chicago leben, sie diese Informationen der Öffentlichkeit aber vorenthalten habe.«

Ich sah zu Ethan auf, besorgt, wie er reagieren würde. Aber er lächelte mich nur an.

»Jemand hat der Bürgermeisterin und der gesamten Stadt verraten, dass es noch mehr Übernatürliche gibt.« Ich deutete auf die Zeitung. »Du hast damit kein Problem? Wieso macht dich das nicht wahnsinnig?«

»Weil dein Großvater die Pressemitteilung herausgegeben hat.«

Verwirrt blinzelte ich. »Was? Warum in Gottes Namen sollte er das tun?«

»Weil sie ihn dazu aufgefordert haben. Strategisch betrachtet ergibt das durchaus Sinn. Zum einen lässt es Kowalcyzk so inkompetent wirken, wie sie nun mal ist. Dieser Vorteil freut mich besonders. Zum anderen führen wir einen aussichtslosen Kampf. Seitdem Celina unsere Existenz verraten hat, sind Informationen über uns kleckerweise an die Öffentlichkeit geraten, und meistens nicht zu unseren Gunsten.«

Damit hatte er leider recht. Celina hatte die Vampire in die Öffentlichkeit gezerrt, und Gabriel musste die Existenz der Formwandler verkünden, als sein Bruder Haus Cadogan angreifen ließ.

»Du hast gesagt, er habe dazu die Erlaubnis gehabt?« Das war eine noch größere Überraschung. Es gab eine ganze Menge übernatürlicher Wesen, von denen die Allgemeinheit nichts wusste, und ich hatte von keinem gehört, der ein ausdrückliches Interesse daran bekundet hätte, sich mit den Menschen einzulassen.

»In Anbetracht von Tates – Dominiks – Verhalten dachte dein Großvater, es wäre vermutlich das Beste, dieses Thema mit den übernatürlichen Gemeinschaften in der Stadt erneut zu besprechen. Die Menschen in Chicago haben bereits zwei übernatürliche Spezies kennengelernt. Durch Dominik ist nun aufgrund seiner Flügel eine weitere hinzugekommen, und die Leute werden deshalb glauben, dass es da draußen noch mehr gibt, wenn sie das nicht ohnehin schon tun. Wenn die Übernatürlichen schon in die Öffentlichkeit gezerrt werden, dann wollten sie, dass dies zu ihren eigenen Bedingungen geschieht.

Darüber hinaus«, fügte er hinzu, »hat dein Großvater, so wie ich es verstanden habe, weidlich betont, dass die Vampire dieser Stadt ziemlich viel haben einstecken müssen und dass es an der Zeit sei, diese Last auf mehrere Schultern zu verteilen. Er sagt, es sei ihm eine große Hilfe gewesen, dass du dich mit diesen Gruppen getroffen und dich äußerst ehrenhaft verhalten hast. Du hast dich Problemen angenommen, die nicht deine waren, damit wir alle in Frieden leben können.«

Dieses Lob ließ mich hochrot anlaufen. Es bedeutete mir sehr viel, dass mein Großvater dies gesagt hatte. Er hatte mich praktisch großgezogen, und es freute mich sehr, dass ich mich seiner würdig erwiesen hatte.

»Das könnte eine Menge Dinge in Chicago verändern«, sagte ich.

»Das könnte es.«

Auf seinem Gesicht zeigte sich ein schwaches Lächeln, und den Grund dafür konnte ich mir schnell zusammenreimen. »Bei so gravierenden Umbrüchen würde Darius in arge Verlegenheit geraten, wenn er eins der Häuser fallen lassen würde.«

»Das ist ein unbeabsichtigter Nebeneffekt.«

Ob das tatsächlich Einfluss auf die Entscheidung des Greenwich Presidium hatte, ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Immerhin hatte dieses Gremium einen Hang dazu, die nüchternen Realitäten hier in Chicago zu ignorieren. Doch uns jetzt aufzulösen – darüber würden sie nun sicherlich zweimal nachdenken.

»Wie wurde es in der Öffentlichkeit aufgenommen?«, fragte ich.

»Sehr gemischt, so wie üblich. Einige feiern, einige haben Angst. Andere sind davon überzeugt, dass wir die Vorboten der Apokalypse sind.«

»Bei Dominiks Flügeln kann ich ihnen das nicht verübeln.« Der Anblick erinnerte sicherlich viele an das Ende der Welt, wenn die vier Reiter der Apokalypse auf einen zugaloppierten …

»Ich auch nicht. Es hat allerdings einen Vorteil: Bei so vielen Möglichkeiten haben sich unsere Demonstranten dazu entschlossen, uns in Ruhe zu lassen.«

»Du machst Witze?« Das musste ich mit eigenen Augen sehen. Ich stieg aus dem Bett und trat neben Ethan ans Fenster. Ich konnte zwar nur einen Teil unseres Vorgartens sehen, aber die Protestschilder vor dem Tor waren verschwunden.

Der Anblick erfüllte mich nicht nur mit Freude. »Es gibt nun ein Vakuum, in dem Hass gedeihen kann«, sagte ich, verschränkte die Arme und sah ihn an. »Wenn die Menschen nun nicht mehr gegen Vampire demonstrieren können, weil es so viele andere Möglichkeiten gibt, dann könnte McKetrick diese Lücke ausfüllen. Kowalcyzk ist immer noch unsere Bürgermeisterin, und soweit wir wissen, hört sie immer noch auf ihn. Er wird es hassen, wenn sich die Leute nun wieder blendend mit uns verstehen. Und er wird dafür sorgen, dass wir bald wieder in Schwierigkeiten sind.«

»Das erscheint durchaus möglich. Sogar sehr wahrscheinlich. Er ist ein hochmotivierter Kerl.«

Wir schwiegen für einen Moment und überlegten vermutlich beide, welchem Feind wir als nächste Zielscheibe dienten.

Aber als ich ihn wieder ansah, ruhte sein Blick auf dem Seidenslip, der mehr enthüllte, als er verbarg. Magie umgab uns, umschloss uns, als sich unser beiderseitiges Verlangen mit aller Macht in Erinnerung rief.

Ethan strich mit einer Fingerspitze zärtlich über meine entblößte Schulter, und ich erschauerte bei der Berührung. Ich schloss die Augen, und mein Blut geriet in Wallung, als seine Hand über meinen nackten Rücken glitt.

»Ethan«, sagte ich. Doch anstatt seinen Namen als Einladung zu verstehen, sich mir zu nähern, unterbrach er den Zauber.

Und wieder wurde meine Hoffnung enttäuscht.

»Es gibt so viele Dinge, vor denen man auf dieser Welt Angst haben sollte«, sagte ich. »Aber du gehörst nicht dazu. Es ist nur die Angst, die uns voneinander trennt«, sagte ich leise und ging dann in Richtung Badezimmer.

»Wo gehst du hin?«

»Duschen und mich anziehen.«

»Du musst noch völlig von der Sonne umnebelt sein, wenn du glaubst, dass du irgendwohin gehst«, sagte Ethan. »Du musst dich erholen.«

Mit der Hand auf dem Türgriff sah ich ihn mit demselben ausdruckslosen Blick an wie er mich. »Ich habe keine Zeit, mich zu erholen. Dominik ist immer noch da draußen, und wer weiß, wen er sich als nächstes Opfer aussucht. Ich muss herausfinden, wie er aufzuhalten ist.«

Ethan deutete auf das Bett. »Du legst dich sofort wieder hin.«

»Auf gar keinen Fall.«

Er hob herrisch eine Augenbraue. »Das war keine Bitte, Hüterin.«

»Schön, denn ich habe dich auch nicht um Erlaubnis gebeten.«

»Du hättest sterben können.«

»Bedauerlicherweise trifft das auf jeden einzelnen Tag meines Lebens zu. Gefahren gehören zu meinen Pflichten, Ethan. Eine Pflicht, die du mir auferlegt hast.«

Er verzog das Gesicht. »Ich versuche mich an die Gründe zu erinnern, warum ich dich zur Hüterin ernannt habe. Habe ich dir damit eine Lektion erteilen wollen?«

»Fragt sich nur, wer hier wem eine Lektion erteilt hat, geehrter Herr Professor?«

Er knurrte mich an, also beließ ich es dabei.

»Wir können uns nicht jedes Mal streiten, wenn ich zur Arbeit muss. Das nützt dem Haus nicht wirklich. Außerdem wärst du letzte Nacht sehr stolz auf mich gewesen, wenn wir mal außer Acht lassen, dass ich mich fast in Asche verwandelt hätte. Ich habe es geschafft, einen gefallenen Engel von seinem Ziel abzubringen, und ich habe einen Polizisten bezirzt, mir mein Schwert zurückzugeben.«

»Das ist beeindruckend.«

»Ist es. Wir wissen beide, dass ich trotzdem gehen werde.«

Er schäumte vor Wut, sagte aber zuerst nichts. Dann: »Du bist sturer als alles, was mir jemals untergekommen ist.«

»Ich habe nur von den Besten gelernt, Mr Sullivan.«

Ethan schnaubte, gab aber nach. Er drehte sich zur Seite und deutete mit großer Geste in Richtung Badezimmer: »Geh duschen und melde dich anschließend in der Operationszentrale.«

»Wie Ihr befehlt, Lehnsherr«, sagte ich und zog die Badezimmertür hinter mir zu.

Warum endeten alle unsere Gespräche mit einer geschlossenen Tür?