KAPITEL FÜNF
EIN GNOM KOMMT SELTEN ALLEIN
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Bist du – du bist –«
»Ein Gnom, ja. Natürlich. Offensichtlich.« Er seufzte, eindeutig verärgert. »Auf geht’s.«
»Wohin gehen wir, um genau zu sein?«, fragte Ethan.
Der Gnom verdrehte die Augen und ließ seine Schultern in gespielter Verzweiflung sinken. »Ihr seid hier, um mit der Hexe fertigzuwerden. Wir sind hier, um mit der Hexe fertigzuwerden. Und da sich bei der Hexe eindeutig was zusammenbraut, sollten wir unsere Stellungen beziehen und uns darauf vorbereiten, ihr in den Arsch zu treten.«
Okay, der Gnom hatte ein ziemlich freches Mundwerk. Was ich eigentlich nicht erwartet hätte.
»Moment«, sagte Ethan und hob eine Hand. »Paige hat euch erschaffen, um ihr bei der Bewachung des Buchs zu helfen?«
Mit wutverzerrtem Gesicht wackelte der Gnom auf Ethan zu und trat ihm gegen das Schienbein.
Ethan fluchte laut, aber er hatte es auch verdient.
»Niemand hat mich erschaffen, Blutsauger. Ich bin, was ich bin. Wir helfen Paige bloß, weil wir nicht einfach zusehen können, wie die Welt völlig aus den Fugen gerät – und das nur, weil sich eine hochnäsige Hexenmeisterin aus Chicago nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern kann. Ich mag Hexenmeister nicht besonders; sie verstehen uns einfach nicht. Was übrigens auch für Vampire gilt.« Dann murmelte er einige Worte vor sich hin, über Vampire und ihre Überheblichkeit und dass wir im Prinzip nur »ziemlich große Mücken« seien.
»Okay«, sagte ich, »wir sollten uns alle erst mal wieder beruhigen.« Ich sah auf den Gnom hinab. »Ich bedaure das Durcheinander. Wir wussten nicht, dass ihr mit Paige zusammenarbeitet. Und wie war noch mal dein Name?«
Er musterte mich mit einem zusammengekniffenen Auge, als ob er meine Vertrauenswürdigkeit einzuschätzen versuchte. »Ich heiße Todd.«
Nicht gerade der Name, den ich bei einem Gnom erwartet hätte, aber auch in Ordnung. »Todd, ich heiße Merit, und das ist Ethan.«
»Freut mich. Und da wir nun beste Freunde sind, sollten wir uns wohl darum kümmern.«
»Worum?«, fragte Ethan.
Todd deutete über die Weide. Die vereinzelten Wolken, die über das Feld hinwegzogen, hatten eine blaue Färbung angenommen und drehten sich mit einer unnatürlichen Geschwindigkeit.
Mit Jonah hatte ich einmal darüber gescherzt, dass das Zentrum des magischen Chaos in Chicago so etwas wie ein riesiger Tornado sei. Offensichtlich war das der Fall.
»Ist sie in der Lage, das Wetter zu kontrollieren?«, fragte ich.
»Das ist kein echter Tornado«, sagte Todd. »Das ist Magie.«
Sichtbare Magie, wie sie auch Tate beherrschte. Ich fühlte mich nach dieser Erkenntnis nicht wirklich besser.
Ethan zuckte zusammen und ballte seine Hände zu Fäusten. Ich ging davon aus, dass er Mallorys mentale Angriffe abzuwehren versuchte.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich ihn.
»Ich kriege das hin«, sagte er, aber in diesem Augenblick zog ein scharf nach Rauch und Schwefel stinkender magischer Wind zu uns herüber, der mich daran zweifeln ließ, dass er das wirklich schaffen würde.
Ich sah auf unseren neuen Verbündeten hinab. »Wie sieht der Plan aus, Todd?«
Todd rückte seinen kleinen kegelförmigen Hut zurecht. »Wir halten es auf. Wir sind ihr zahlenmäßig überlegen.«
Sein Selbstbewusstsein war überraschend, klang in meinen Ohren aber nicht gerade glaubwürdig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir drei eine Chance haben sollten gegen eine Frau, die in der Lage war, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen.
»Drei gegen eine erhöht nicht gerade die Gewinnaussichten«, sagte ich.
Todd lachte freudlos. »Nein, aber die Zahl ist ja auch nicht korrekt. Jungs?«
Der Waldboden verwandelte sich in eine Gnomenlandschaft. Sie kletterten aus Öffnungen hervor, die in den Bäumen klafften, sowie aus Löchern in der Erde, die vermutlich den Zugang zu Erdhöhlen darstellten, und sammelten sich um uns, insgesamt etwa einhundert. Sie trugen alle Uniformen in den Primärfarben, weiße Hüte und lange Bärte, die ihnen fast bis zum Gürtel reichten.
Die Erde um uns herum sah auf einmal aus wie die Restpostenabteilung eines Gartenmarkts.
Todd steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff mit ohrenbetäubender Lautstärke. Die Gnome nahmen Haltung an, wie Soldaten vor gehisster Flagge.
»Die Hexe ist beinahe hier«, sagte er, »und wir wissen, wonach sie sucht.«
Die Gnome nickten zustimmend, und in ihren Reihen flüsterten viele: »das Buch«.
»Jenseits des Waldes und des Bachs befindet sich der Zugang zum Silo«, sagte Todd. »Sie darf das Buch nicht erreichen. Sie darf den Bach nicht überqueren. Wir dürfen das nicht erlauben. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Böse in unsere Welt zurückkehrt.«
Todd deutete auf einen Gnom, der eine besonders leuchtende Karohose trug. »Keith, dir gehört der linke Flügel. Mort, geh mit deinen Männern nach rechts. Frank wird den Bach überqueren und uns den Rücken freihalten, und ich führe meine Leute zum Angriff.«
Nachdem er diese Befehle erteilt hatte, besprach Todd mit seiner Truppe strategische Einzelheiten. Es war ein beeindruckender Anblick, und ich schämte mich dafür, an ihm gezweifelt zu haben und davon ausgegangen zu sein, dass er wegen seiner geringen Größe kein wirklicher Soldat sein konnte. Mit der Souveränität eines Generals und der Erfahrung eines meisterhaften Strategen ließ er seine Männer Stellung beziehen.
Bedauerlicherweise wusste nicht einmal Todd, was Mallory tun würde – und ich auch nicht. Ich wusste, dass sie Zaubersprüche wirken konnte, und ich wusste, dass sie Kugeln aus Magie werfen konnte, die große Schmerzen verursachten, wenn man sie abbekam. (Ich hatte mir von Catcher beibringen lassen, wie man diesen Kugeln auswich.) Wir wussten alle, was sie wollte, und wir wussten, dass sie bereit war, dafür alles zu tun, egal, wie viel Schaden sie damit anrichtete.
Als die Gnome ihre angewiesenen Stellungen bezogen, sah ich zu Todd. »Was sollen wir tun?«
»Was könnt ihr denn?« Er klang nicht gerade überzeugt davon, dass ihn meine Antwort beeindrucken würde.
Ich klopfte auf meinen Schwertgriff. »Wir können beide mit Stahl recht gut umgehen. Außerdem kenne ich sie. Ich könnte sie ablenken.«
»Wie das?«
Ich sah mich um. »Wenn unsere Strategie darauf abzielt, sie nicht auf die andere Seite des Waldes zu lassen, dann könnte ich sie so lange ablenken, bis deine Männer sie eingekesselt haben? Das würde es den Flanken ermöglichen, sich in eine bessere Position zu bringen.«
»Das ist keine schlechte Idee«, sagte Todd, aber Ethan war überhaupt nicht beeindruckt.
»Du wirst dich nicht als Köder anbieten«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Aus diesem Blickwinkel hatte ich es noch gar nicht betrachtet, aber er hatte nicht ganz unrecht. Ich wusste auch, dass er mich nur schützen wollte, aber meine Sicherheit war in diesem Augenblick nebensächlich. Unsere wichtigste – und einzige – Aufgabe war es, Mallory daran zu hindern, das Maleficium zu erlangen.
Ich wandte mich Ethan zu. »Ich bin immer noch Hüterin des Hauses Cadogan«, ermahnte ich ihn. »Ich werde alles tun, damit du in Sicherheit bist.«
»Merit –«
Ich fiel ihm sofort ins Wort. »Ethan«, sagte ich leise, aber entschlossen. »Ich muss dies tun, und das weißt du auch. Ich kann hier nicht rumstehen und andere Leute diesen Kampf für mich führen lassen. Ich habe mehr Ehre im Leib als das. Du hättest mich sonst auch nicht zur Hüterin ernannt.« Aber war es ehrenwert? Ich war gerade dabei, meine beste Freundin in einen Hinterhalt zu locken. Natürlich würde ich sie am liebsten anschreien und würgen, aber ich wollte auch nicht, dass sie verletzt wurde.
»Wie genau wollt ihr sie aufhalten?«, fragte ich Todd.
»Wir sind Gnome«, sagte er. »Kampferprobte Krieger.«
»Könntet ihr sie bitte nicht umbringen?«
Todd blinzelte mich an und ließ mich damit in aller Deutlichkeit wissen, für wie dumm er mich hielt. »Wir sind Gnome, keine Menschen.« Er warf einen vielsagenden Blick auf das Schwert an meiner Seite. »Unser Ziel ist es, ihr den Zugang zum Silo zu verwehren, und nicht, sie unter die Erde zu bringen. Wenn wir sie besiegen, dann hat sie keine Wahl, außer sich uns zu ergeben. Das ist die Grundlage jedes ehrenvollen Kampfes.«
Das mochte ja der Fall sein, aber ich hatte ernsthafte Zweifel, dass Mallory davon schon mal gehört hatte.
Da unsere Aufgabe geklärt war, schloss sich Todd seinen Männern an, die ihre Stellungen hielten. Ethan und ich standen nun allein da. Ich musste erst all meinen Mut zusammennehmen, bevor ich ihn wieder ansehen konnte. Ich hatte ihm nicht gerade die Möglichkeit gelassen, seine eigene Meinung vorzutragen.
Seine Reaktion entsprach dann auch dem, was ich erwartet hatte. Seine Augen waren glasgrün, und Magie brach aus seinem Körper hervor wie eine tosende Brandung.
Ich wusste, dass er nicht wütend auf mich war, nicht wirklich. Er hatte Angst. Angst, dass ich verletzt werden oder mich opfern könnte, um Mallory zu retten. Ich konnte ihm diese Angst nicht nehmen, und ich konnte auch die Gewalt nicht aufhalten, die vermutlich gleich ausbrechen würde, aber vielleicht konnte ich ihn daran erinnern, dass er mich darauf vorbereitet hatte.
»Weißt du, du hast mich dazu ausgebildet, Hüterin zu sein. Eine Kriegerin zu sein. Irgendwann musst du dich schon darauf verlassen, dass ich dir zugehört habe.« Ich klang ziemlich fröhlich, und das war natürlich völlig falsch.
Er packte meinen Arm in einem schraubstockartigen Griff. Mit einem Mal lag in seinem Blick eine wütende Mischung aus Angst und Zorn. »Du wirst dich nicht für sie opfern.«
Ich konnte praktisch dabei zusehen, wie sein Zorn wuchs. Lag das an Mallory? An der Magie, die sie hier entlud?
Mein Arm schmerzte. »Das habe ich nicht vor«, versicherte ich ihm und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien. Doch er ließ nicht locker und erhöhte den Druck noch weiter.
»Lenk sie ab, wenn es sein muss, aber lass sie sie niederschlagen. Das hier ist nicht dein Kampf. Es ist Mallorys, und es gibt genug, wofür sie sich verantworten muss. Lass nicht zu, dass sie sich auch noch für deinen Tod verantworten muss.«
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach ich ihm. »Jetzt entspann dich bitte und lass meinen Arm los. Du tust mir weh.«
Er riss die Augen auf, erstarrte und zog dann seine Hand zurück. Entsetzen lag in seinem Blick, als er mich ansah. »Mein Gott, es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Ich rieb geistesabwesend meinen Arm.
Er suchte meinen Blick und wollte etwas sagen, aber dafür war es zu spät.
»Der Adler ist gelandet«, rief einer der Gnome.
Es hatte etwas vom Zauberer von Oz. Aus den umherwirbelnden Wolken senkte sich eine glühende Kugel in der Größe eines Kleinwagens. Sie drehte sich und platzte in einem Lichtblitz auseinander. Wie eine der guten Hexen trat Mallory hinaus in den Mittleren Westen.
Aber in diesem Fall gab es weder frisch frisierte Locken noch einen Zauberstab und erst recht kein glitzerndes Kleid. Tatsächlich erkannte ich sie kaum. Sie sah fürchterlich aus und ähnelte dabei einer Abhängigen, die dringend mehr von ihrer Droge benötigte. Ich war mir nicht sicher, was der Orden angestellt oder was sie durchgemacht hatte, seit sie geflohen war, aber sie sah noch schlimmer aus als bei unserem letzten Treffen. Dünner und trauriger. Ihre Haare, früher hellblau, hatten Glanz und Farbe verloren. Sie hingen nun lustlos und blond auf ihre Schultern herab. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, und ihr Gesicht wirkte hager.
Aber ihr Aussehen störte die Gnome nicht. Sie brauchten nur eine Sekunde, um mit ihrem Angriff zu beginnen. Die Kühe beeilten sich, aus ihrem Weg zu kommen, als sie lange Holzbögen hervorzogen und Mallory mit gefiederten Pfeilen eindeckten.
Ich zuckte mitfühlend zusammen, aber die Mühe hätte ich mir sparen können. Sie mochte vielleicht nicht sonderlich gut aussehen, aber die Frau hatte wirklich was drauf. Sie schoss eine Reihe von magischen Funken ab, die die Pfeile in Flammen aufgehen ließen. Das Ganze wirkte wie ein Feuerwerk am vierten Juli … wenn es dafür gedacht gewesen wäre, einer Schlacht mit einer egoistischen Hexe zu gedenken.
Ich sah hinter uns. Wo steckte Paige? Wenn man darüber nachdachte, dann war das ihr Kampf. Sie hätte mittlerweile hier sein und sie mit der Magie bekämpfen sollen, über die wir nicht verfügten.
Eine weitere Gnomeneinheit trat vor und ließ ein Netz aus Ranken emporschnellen, das im Boden zu Mallorys Füßen verborgen gewesen war. Es riss sie nach oben und umschlang sie, aber sie erholte sich schnell und sprengte es in tausend Stücke. Das Netz löste sich vollends auf, und sie prallte mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden.
Sie wirkte ein wenig sauer.
Mallorys Aussehen hatte mich überrascht, aber dieses Gefühl war nichts im Vergleich zu dem Entsetzen, das ihre nächste Handlung in mir auslöste. Ohne die Gnome zu warnen und ohne das geringste Anzeichen von Reue jagte sie ihnen eine Magiekugel entgegen, die die Gnome wie Stoffpuppen zurückschleuderte. Sie schlugen auf dem Boden auf, bewusstlos, wenn nicht Schlimmeres.
Und sie hörte nicht auf. Sie jagte Kugel um Kugel hervor, bis sie einen Perimeter von etwa sechs Metern um sich herum freigeräumt hatte.
Nun galt es, alles auf eine Karte zu setzen. Ich sah zu Ethan hinüber, der mir zunickte. Wir traten aus dem Wald hervor, die Waffen gezückt und bereit für die Schlacht.
»Mallory Carmichael!«, rief ich. »Hör sofort damit auf!«
Sie verdrehte die Augen mit der Arroganz eines sadistischen, selbstsüchtigen Teenagers. »Verschwinde, Merit, oder bring mir das Maleficium, und wir können diesen wunderbaren Ort gemeinsam verlassen, wie eine große, glückliche Familie. Ich weiß, dass du niemanden verletzt sehen willst.«
Sie hatte recht, aber es war ja nicht so, dass die Übergabe des Buchs wirklich Leben retten konnte. Sie hatte bereits ein Dutzend Gnome zur Seite geschmissen, als ob sie nur störendes Laub wären.
Andererseits war sie sich vielleicht nicht ganz sicher, wo genau sich das Maleficium befand, wenn ich es ihr bringen sollte. Damit konnten wir arbeiten. Ich hielt sie also erst einmal hin, damit sich die Gnome neu formieren konnten.
»Wir haben bereits darüber gesprochen«, sagte ich. »Das Böse in die Welt zu entlassen wird dich nicht in Ordnung bringen. Du hast Übernatürliche und Menschen in Gefahr gebracht, in Chicago Chaos und Verwüstung angerichtet und bist unerlaubt vom Orden abwesend. Hör damit auf, damit wir endlich wieder alle in Ruhe unser Leben führen können.«
»Du weißt, dass ich das nicht kann«, sagte sie, und in diesem Augenblick erkannte ich es – das Bedauern in ihrem Blick. Sie wusste, dass ihr Verhalten falsch war, aber sie tat es dennoch. Sie tat es, obwohl sie so viel Schaden verursacht hatte, und würde damit auch nicht aufhören.
»Dieses Buch wird nichts besser machen«, flehte ich sie an. »Es wird die ganze Sache nur verschlimmern.«
»Wirklich? Dir hat es geholfen. Du hast deinen Ethan zurück.«
Sie lag falsch und zugleich richtig. »Ich bin froh, dass er zurück ist, aber das hast du nicht für mich und auch nicht für ihn getan. Du hast ihn dazu benutzt, um das zu bekommen, was du wolltest – und du hast mich benutzt, um seine Asche aus dem Haus zu holen. Wenn er gewusst hätte, dass für seine Rückkehr die Stadt zerstört werden müsste, hätte er diesen Preis niemals bezahlt.«
»Spiel dich nicht so auf.«
»Ich soll mich nicht aufspielen? Ich bin nicht gerade in Nebraska gelandet, um etwas zu stehlen, das nicht mir gehört.«
»Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was ich durchmache? Was ich gerade empfinde? Es tut weh, Merit! Körperlich. Mental. Emotional. Das Einzige, was es wiedergutmachen wird, ist, das magische Gleichgewicht auf dieser Welt wiederherzustellen.«
Sie sah mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an. Und als sie sich erneut ihrem Schmerz stellte, schrie Ethan auf, fiel auf die Knie und packte sich am Kopf.
Sie waren miteinander verbunden. Ihr Zauberspruch hatte auf irgendeine Weise eine Verbindung hergestellt, und ich konnte nichts dagegen tun. Mein Herz setzte für einen Augenblick aus, als ich hilflos mit ansehen musste, wie er sich auf dem Boden krümmte. Aber ich konnte mutig sein und mich ihr stellen, und daher trat ich auf sie zu.
»Das hört jetzt auf, Mallory.« Ich näherte mich ihr weiter, das Katana im Anschlag. »Das Maleficium erhältst du nur über meine Leiche.«
Sie sah hinüber zu Ethan, und für einen Augenblick dachte ich, ich wäre endlich zu ihr durchgedrungen, dass sie vielleicht darüber nachdachte, welche Konsequenzen ihr Verhalten hatte, welche Folgen sie für alle heraufbeschwor.
Aber ich täuschte mich gleich zweifach. Sie hatte nicht zu Ethan gesehen … sondern zu Keith, dem Gnom mit der fürchterlichen Karohose.
Sie rollte eine weitere Magiekugel zusammen und warf sie auf ihn. Er schrie auf, als sie ihn traf, und erstarrte.
Während wir ihn entsetzt anblickten, wurde uns allen klar, dass Mallory ihn weder hatte töten noch lähmen wollen.
Sie wollte ihn verändern.
Keith begann sich auszudehnen, zu verlängern. Seine Schultern wurden breiter, seine Arme zu Ästen. Sein Torso verdreifachte sich, und seine Beine wurden so lang, dass sich sein Kopf bald weit über uns befand. Aus einem lächelnden, etwa sechzig Zentimeter großen Gnom war ein sechs Meter großes Monstrum geworden. Er sah auf mich hinab und grinste mich bedrohlich mit dominosteingroßen Zähnen an, und das war kein erfreulicher Anblick.
Mallory hatte ihn nicht nur größer, sondern auch böser gemacht.
»Oh, das ist wirklich mies«, murmelte ich.
Ich schluckte schwer, verdrängte meine Angst, nahm Verteidigungshaltung ein und bereitete mich auf den Kampf vor.
Keith stolperte mit ausgestreckten Armen auf mich zu, als ob er mich aufheben wollte. Die Gnome waren in ihrer ursprünglichen Größe zwar recht rüstig, aber wenn man sie wie Knetmasse auseinanderzog, waren sie sehr behäbig. Außerdem schleppte er natürlich ein wesentlich größeres Gewicht mit sich herum.
Es tat mir in der Seele weh, mich verteidigen zu müssen, denn es war ja nicht seine Schuld, dass Mallory ihn in ein Monster verwandelt hatte. Also versuchte ich es zuerst mit einer anderen Strategie. Es kostete mich keine große Mühe, um ihn herumzulaufen und ihm dabei auszuweichen. Es sah zwar vermutlich sehr witzig aus, wie eine schwertschwingende Vampirin von einem sechs Meter großen Gartenzwerg über ein Maisfeld gejagt wurde, aber ich hoffte, ihn ermüden zu können, bevor er wirklichen Schaden anrichtete.
Todd war da optimistischer.
»Keith, hör auf damit!« Er rannte vor ihn und winkte ihm zu. »Reiß dich zusammen, Mann. Das Mädchen ist auf deiner Seite. Du willst ihr nicht wehtun.«
In diesem Augenblick vergab ich Todd sofort, mir gegen das Schienbein getreten zu haben. Aber wenn es irgendetwas in Keith gab, das sich noch an Todd oder etwas anderes in seinem Leben vor Mallory erinnerte, so konnte ich es nicht erkennen. Seine Augen – überdimensional und von seinem riesigen weißen Hut überschattet – blickten leer drein. Nicht einfach nur benommen – in ihnen waren weder Gefühl noch Erinnerung, noch das geringste Anzeichen von Intelligenz zu erkennen.
Armer Keith.
Und verfluchte Mallory.
Selbst wenn wir es schafften, sie doch noch vor sich selbst zu retten, war ich mir nicht sicher, ob ich jemals vergessen oder es ihr gar vergeben konnte, was sie zu tun bereit war, um ihren Willen durchzusetzen. Aber das Problem ergab sich nur dann, wenn wir sie retteten. Also eins nach dem anderen …
Keith schlug nach Todd und warf ihn zu Boden. Ich hielt den Atem an, aber eine Sekunde später richtete er sich schon wieder auf und gab den anderen Gnomen den Befehl zum Angriff. Sie trugen einen weiteren Angriff vor, doch diesmal gegen einen der ihren.
Während ich Todd auf die Beine half, beschossen die Gnome Keith mit Steinen und den verbliebenen Pfeilen. Doch Keith war groß genug, um die wenigen Treffer zu überstehen. Er heulte laut auf, als ein Pfeil sein Schienbein traf, riss ihn heraus und warf ihn zu Boden. Dann stapfte er dem Gnom hinterher, der den Glückstreffer gelandet hatte.
Das Schlachtfeld verstummte für einen Moment, und Todds Blick wurde eiskalt. Er sah zu mir auf.
»Er ist fort«, sagte Todd. »Wenn wir ihn bewusstlos schlagen, könnte man ihn dann mit Magie zurückholen?«
Ich verschwendete keine Zeit auf Diskussionen. Ich rannte in die Mitte des Feldes, wo Keith mit Erdklumpen – und vermutlich war es nicht nur Erde – nach den Gnomen warf.
»Keith!«, brüllte ich und stellte mich ihm mit gezücktem Katana entgegen.
Er drehte sich nach mir um und stampfte dann auf mich zu.
»Es tut mir leid«, murmelte ich, und als er mit seiner fleischigen Hand nach mir schlug, holte ich mit dem Katana aus.
Ich erwischte seinen Handrücken. Blut spritzte zu Boden, und Keith schrie vor Schmerzen auf – ein furchtbares Geräusch, das nun auch die letzten Bauern, die trotz des riesigen Gartenzwergs auf dem Grund und Boden ihrer Nachbarin weitergeschlafen hatten, aufgeweckt haben dürfte.
Ich hielt inne, als ich das Blut vor mir sah, weil ich kurz Angst hatte, von meinem Blutdurst überwältigt zu werden. Aber an diesem Duft war nichts Schmackhaftes. Er roch nach Erde – feucht und mineralhaltig. Kein wirklich schlechter Geruch, aber nichts, was ich hätte trinken wollen.
Und Keith hätte mir wohl auch kaum die Möglichkeit dazu gegeben. Mit wutverzerrtem Gesicht und gebleckten Zähnen schlug er mit dem anderen Arm zu. Ich warf mich zu Boden, um seiner Hand auszuweichen, aber ich war nicht weit genug von ihm entfernt, um seinen Fingern zu entgehen. Sie trafen mich wie Baumstämme und schleuderten mich mehrere Meter über das Feld. Ich landete krachend mit dem Gesicht auf dem Boden, und Schmerzen durchzuckten meinen Körper.
Ich hatte keine Zeit, mich auszuruhen. Der Boden bebte, als sich Keith mir näherte. Ich zuckte zusammen, als sich meine Rippen mit einem stechenden Schmerz meldeten – mal wieder eine gebrochen, dachte ich –, und richtete mich mühsam auf.
Ein Trupp Gnome kam mir wieder zu Hilfe, aber ihnen ging schon bald die Munition aus. Keith warf sie wie störende Mücken zur Seite und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf mich.
Er stolperte auf mich zu. Ich packte mein Katana beidhändig und rammte es in seinen Fuß, ohne auf das Stechen in meiner Seite zu achten. Er heulte vor Schmerzen auf. Als er sich vorbeugte, um nach seiner Verletzung zu greifen, zog ich mein Schwert heraus und rannte durch seine Beine hindurch.
Bevor er sich zurechtfinden und ich über meine Handlungen nachdenken konnte, sprang ich auf seinen Rücken und kletterte hinauf. Mein Gewicht lenkte ihn von seinen Schmerzen ab, und er richtete sich auf. Er schüttelte sich, um mich loszuwerden.
In keinem Freizeitpark der Welt hätte ich einen solchen Fahrspaß erlebt … aber alles hat einmal ein Ende.
Meine gebrochene Rippe zwang mich zu entschlossenem Handeln, und daher kletterte ich auf seine Schultern, drehte mein Schwert um und rammte ihm das Griffende in den Druckpunkt hinter dem Ohr. Mit voller Kraft.
Keith erstarrte und fiel dann langsam zu Boden. Ich brachte mich mit einem Sprung in Sicherheit und rollte mich ab, während er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte.
Stille senkte sich auf das finstere Schlachtfeld.
Ich schob mir die Haare aus der Stirn, stand wieder auf und sah mich so lange um, bis ich Mallory entdeckte. Sie war ganz in der Nähe und schien plötzlich entsetzt zu sein, während sie den riesigen Gnom auf dem Boden betrachtete. Er war bewusstlos.
Ich wischte den Dreck an meinem Katana an meiner Hose ab und ging bis auf drei Meter an sie heran.
»Willst du dir noch weitere Sklaven erschaffen, oder bist du endlich so weit, dich mir zu stellen?«
Als sie nicht antwortete, ging ich noch näher an sie heran.
»Es geht um dich und mich«, sagte ich nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. »Bist du dazu bereit? Bist du bereit, mich für das zu töten, was du haben willst?« Ich drehte das Schwert in meiner Hand in der Hoffnung, ich könnte sie zumindest so weit einschüchtern, dass sie unachtsam werden würde.
»Ich habe keine Angst vor dir.«
»Wie witzig. Ich habe nämlich Angst vor dir. Ich habe Angst vor dem Menschen, der du geworden bist, vor dem Menschen, der du sein wirst, wenn du das erst mal zu Ende gebracht hast, was du vorhast. Ich habe Angst, dass du davon niemals wieder zurückkehren wirst.«
»Ich habe keine Angst«, wiederholte sie, aber die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wollte das Maleficium unbedingt – so sehr, wie sie daran glaubte, es zu brauchen –, aber sie hatte auch Angst davor.
Gut. Vielleicht hatte der Orden es ja doch geschafft, ihr in den wenigen Stunden vor ihrer Flucht ein wenig gesunden Menschenverstand einzureden.
Da ich glaubte, einen Fortschritt gemacht zu haben, redete ich weiter. »Sieh dich um. Sieh, was du getan hast. Du hast diesen Leuten Schaden zugefügt, Mallory, für einen Zauberspruch, von dem du glaubst, dass er dein Leben wieder besser machen wird. Aber wenn das stimmte, glaubst du dann nicht, dass die Hexenmeister es nicht schon längst getan hätten?«
»Sie verstehen das nicht.«
»Dann mach es ihnen begreiflich. Aber indem du mit ihnen redest, nicht, indem du unser aller Leben durcheinanderbringst.«
Keine Reaktion.
»Bitte«, sagte ich leise. »Komm mit mir nach Hause. Du kannst Catcher sehen und mit dem Orden reden. Wir können versuchen, dich wieder in Ordnung zu bringen. Ich weiß, das wird schwer, aber du kannst das. Ich kenne dich. Ich weiß, wer du bist und was dir wirklich am Herzen liegt.«
Schweigen. Einen Augenblick dachte ich, ich wäre zu ihr durchgedrungen. Ich dachte, ich hätte sie davon überzeugt, ihren unsinnigen Versuch aufzugeben, mit Gewalt ihren inneren Frieden wiederherzustellen. Ich dachte, sie würde mit mir nach Chicago zurückkehren.
Aber es sollte nicht sein. Plötzlich sah sie auf, wie ein Hirsch, der ein Raubtier im nahe liegenden Wald wittert, und blickte mich an.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte sie und zauberte einen blauen Lichtblitz herbei, in dem sie verschwand.