KAPITEL ZEHN

DIE GERECHTIGKEITSLIGA

Ich fuhr zum Haus Cadogan zurück und stellte meinen Wagen drei Häuserblocks entfernt ab. Direkt vor dem Haus war alles zugeparkt. Eins der Häuser in der Nachbarschaft war hell erleuchtet, und hinter den durchscheinenden Vorhängen bewegten sich munter schattenhafte Umrisse hin und her. Offensichtlich fand dort eine Party statt. Für die meisten Leute ging das Leben ganz normal weiter, ob nun Vampire in ihrer Stadt lebten oder nicht.

Als ich das Haus erreichte, nickte ich den beiden schwarz gekleideten Wachen am Eingang zu, unseren Söldnerfeen. Im Gegensatz zu ihrer Königin waren die meisten Feen groß gewachsen, mit hageren Gesichtern und hageren Körpern; sie hatten langes, dunkles, glattes Haar und trugen schwarze Uniformen. Die meisten Wachen waren Männer, aber zuweilen nahm auch eine ihrer Frauen diese Pflicht wahr.

Meine Beziehung zu den Feen konnte seit dem Treffen mit Claudia, ihrer Königin, als angespannt bezeichnet werden, aber da wir reinen Tisch gemacht hatten, dachte ich mir, dass eine kurze Nachfrage nicht schaden könnte.

»Irgendeine Spur von Seth Tate?«, fragte ich. »Oder von jemandem, der ihm ähnlich sieht?«

Beide Feen schüttelten die Köpfe. »Wir sind auf der Hut«, sagten sie. »Sie ist sich seiner Existenz bewusst.«

Mit »sie« meinten sie vermutlich Claudia. Sie hatte einmal angedeutet, dass Tate über alte Magie verfüge. Vielleicht wusste sie mehr über ihn. Und vielleicht wäre das einen Besuch wert. Oder doch eher einen Anruf, denn ihre Wachen würden mich sicherlich nicht mehr in ihre Nähe lassen.

»Weiß sie, was er ist?«, fragte ich.

Die Feen sahen einander an. »Er ist alt«, sagte die rechte. »Älter als die Herrscher des Himmels. Mehr wissen wir nicht.«

»Danke«, sagte ich. »Ihr könnt mich jederzeit rufen, wenn ihr ihn sehen solltet.«

Sie schnaubten verächtlich, vermutlich, weil meine Aussage andeutete, dass sie meiner Hilfe bedurften, aber das war mir egal. Ich war in ihren Augen lieber unfähig als gefährlich.

Ich betrat das Haus und ging zu Ethans Büro. Unser letztes Aufeinandertreffen war seltsam verlaufen, und ich hoffte, dass er sich in der Zwischenzeit auf Darius’ Besuch hatte vorbereiten und wieder ein wenig beruhigen können.

Die Tür zu seinem Büro stand offen, und deswegen warf ich einen kurzen Blick hinein. Er saß an seinem Schreibtisch, und ich klopfte leise an die Tür, um auf mich aufmerksam zu machen. Bei dem Geräusch sah er auf.

»Ich habe Mallory besucht.«

Ethan winkte mich herbei, und ich nahm wie jeder brave Novize vor seinem Tisch Platz.

»Sie ist im Klein und Rot im Ukrainian Village untergebracht.«

»In der Bar?«

Ich nickte. »Über der Küche gibt es ein Schlafzimmer, und sie arbeitet für Gabriel.«

Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Und was genau macht sie?«

»Im Moment spült sie Geschirr.«

Ethan nickte nachdenklich. »Ah. Niedere Tätigkeiten, um sie daran zu erinnern, dass sie nur aus Fleisch und Blut besteht.«

»So lautet zumindest die Theorie. Berna war vor Ort, und ich nehme an, dass sie die Herbergsmutter spielt, aber Gabriel hat mir keine weiteren Details verraten.«

»Haben Paige und Catcher irgendwas dazu zu sagen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie wollten noch zu einem Gespräch mit Baumgartner und sind daher nicht lange geblieben. Außerdem scheinen Catcher und Mallory eine Auszeit zu nehmen.«

Ethan verzog das Gesicht. »In Anbetracht der Umstände nicht wirklich überraschend, aber das macht die Situation nicht gerade leichter.«

»Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich glaube nicht, dass es sie überraschte, aber sie war nicht erfreut darüber.«

»Und wie macht sie sich?«

»Die Schuldgefühle und Gewissensbisse melden sich langsam, was definitiv ein Fortschritt ist. Sie wird wie jede Abhängige die üblichen Entzugsphasen durchlaufen.« Ich hielt inne. »Kannst du sie spüren?«

Er nickte und wich meinem Blick aus. »Sie ist am anderen Ende der Stadt, weswegen die Emotionen nicht ganz so stark sind, aber ich kann das Verlangen immer noch spüren. Als ob jemand in meinem Gehirn per Anhalter mitfahren würde.«

Der perfekte Übergang, um unsere Beziehung wieder ins Gespräch zu bringen. Doch bevor ich dazu kam, betrat Malik den Raum. Er hatte karamellfarbene Haut und trug den gleichen Anzug wie Ethan. Aber in seinen blassgrünen Augen lag Besorgnis.

»Lehnsherr«, sagte ich respektvoll.

»Sie ist dir gegenüber unterwürfiger, als sie es mir gegenüber jemals war«, stellte Ethan mit erhobener Augenbraue fest.

»Bessere Führungsqualitäten«, sagte Malik mit einem Lächeln, das aber sofort wieder verschwand. »Du hast für Mallorys Verwahrung gesorgt?«

»Habe ich. Sie ist bei den Formwandlern.«

Malik nickte. »Es ist gut, dass sie unter Bewachung steht. Ich habe gerade einen Anruf von deinem Großvater erhalten. Er hat den Polizeifunk abgehört.«

Eine praktische Art, um an Informationen zu kommen, wenn die Bürgermeisterin dein Büro hat schließen lassen und dein Budget gestrichen hat.

»Was ist passiert?«, fragte Ethan.

»Du erinnerst dich an Paulie, Seth Tates früheren Schützling? Er ist tot.«

Paulie Cermak, ein Zigarrenstumpf von einem Mann mit einem fürchterlichen Akzent, hatte für Seth Tate den Drogenhandel organisiert. Sie vertrieben V, eine Droge, die die Wahrnehmungen eines Vampirs erheblich verstärkte und bei Einnahme sehr schnell zu überhöhter Gewaltbereitschaft führte.

»Ist das so überraschend?«, fragte Ethan. »Mr Cermak hat sich mit ziemlich zwielichtigen Gestalten eingelassen.«

Malik holte sein Handy hervor, wischte mit dem Daumen über den Bildschirm und zeigte mir dann das Foto. Es war in Schwarz-Weiß, aber dennoch deutlich zu erkennen: Paulie lag rücklings auf dem Boden in einer Blutlache. Es sah so aus, als ob man ihm die Kehle durchgeschnitten hätte.

Ich verzog das Gesicht. »Ich kann ja nicht behaupten, dass ich den Kerl mochte, aber das hätte ich ihm nicht gewünscht.«

»Nein«, stimmte Malik mir zu. »Das ist kein schöner Tod.«

»Todeszeitpunkt?«, fragte Ethan.

»Vor etwa acht Stunden.«

»Mehr als ausreichend Zeit für die Tates, aus Nebraska hierherzukommen und die Tat zu begehen.«

»Aber warum sollten sie das tun?«, fragte Ethan. »Paulie war doch Vergangenheit. Warum sollte er oder es oder sie oder was auch immer ein Interesse daran haben, ihn umzubringen?«

»Rache?«, schlug Malik vor.

»Aber er hat für Tate gearbeitet«, sagte ich. »Und Tate hat Paulie an die Polizei verraten. Da gibt es keinen Grund für Rache.« Natürlich gab es so gesehen auch keinen Grund, etwas gegen Paige zu unternehmen, aber die Tates hatten ihr Haus trotzdem niedergebrannt.

Helen steckte ihren ordentlich frisierten grauhaarigen Schopf durch die Tür. »Er ist hier.«

Ethan stand auf und nickte. »Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um die erste von vielen Nettigkeiten handelt, mit denen die Tates Chicago heimzusuchen beabsichtigen.« Er sah mich an. »Sprich mit Luc und Kelley. Finde heraus, was wir nicht wissen und welche Pläne sie verfolgen könnten.«

Er klang vollkommen professionell; es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es zwischen uns jemals mehr als die berufliche Beziehung zwischen Hüterin und Meister gegeben hatte. Natürlich besprachen wir gerade äußerst wichtige Dinge, und ihm stand ein Treffen mit Darius bevor, aber das beruhigte mein ungutes Gefühl keineswegs.

Ich nickte, trat auf den Flur hinaus und zog die Tür hinter mir zu. Dann blieb ich mit dem Kopf an die Wand gelehnt einen Moment stehen. Unsere Beziehung war wie das Aufeinandertreffen zweier ungeschickter, rhythmusgestörter Tänzer – immer einen Schritt vor und zwei Schritte zurück. Doch jetzt galt es, mich um Paulie zu kümmern. Ich verdrängte also Ethan aus meinen Gedanken und ging zur Treppe.

Jedes der drei Vampirhäuser Chicagos verfügte über Wachen, deren Aufgabe es war, das Haus – und dessen Vampire – zu beschützen. Als Hüterin war ich zwar genau genommen keine Wache, aber da wir unterbesetzt waren, half ich aus. Bei allen Wachen gab es einen Hauptmann und ein Hauptquartier.

Unser Hauptquartier befand sich im Kellergeschoss des Hauses Cadogan, passenderweise in der Nähe des Sparringsraums und der Waffenkammer, und war mit den neuesten elektronischen Spielereien ausgestattet. Touchscreen-Bildschirme, riesige Wandmonitore. Nur das Beste vom Besten für diejenigen, die über die Sicherheit Cadogans wachten.

Bedauerlicherweise konnten selbst die neusten technischen Spielereien Luc und Kelley, unseren früheren Hauptmann und seine Nachfolgerin, nicht von ihrer Liebe zum Papier kurieren. Jeden Tag sammelten sich unzählige Seiten in unseren Ordnern – die sogenannten »Tagesaufgaben«, die Berichte über die Hausaktivitäten enthielten und alle anderen wichtigen oder auch unwichtigen Dinge, von denen sie glaubten, dass wir sie wissen müssten.

Und Luc war nicht mal mehr unser Hauptmann. Er war nun Maliks Stellvertreter und würde diese Funktion so lange ausüben, bis Ethan wieder das Zepter im Haus übernahm. Wenn wir mal davon ausgingen, dass dies auch geschehen würde …

Ich betrat die Operationszentrale und sah, wie Luc und Kelley zu dem Foto vom armen und vor allem toten Paulie hinaufsahen. Juliet saß vor einem der Computermonitore und hielt den Blick auf die Bilder der Überwachungskameras gerichtet, die das Haus und das gesamte Anwesen zeigten. Lindsey war offensichtlich draußen auf Patrouille.

»Ein hübscher Anblick, nicht wahr?«, fragte ich und setzte mich ihnen gegenüber an den Konferenztisch.

Luc schnaubte und verschränkte die Arme vor seinem Batisthemd. »Du hast es also unverletzt aus Nebraska zurückgeschafft.«

Auf dem Tisch stand eine Schale mit Pralinen. Ich beugte mich vor und nahm mir eine. Ich hatte sie verdient.

»Das habe ich«, sagte ich. »Du hättest es dort gemocht. Bauernhöfe an jeder Ecke und Kühe in Hülle und Fülle.«

Luc vermittelte zwar den Eindruck eines Cowboys, der gerade erst vom Weideland zurückgekehrt war, aber zumindest war er wieder angezogen. Mir brannten immer noch die Augen von meiner Unterbrechung vorhin.

»Meine Tage als Cowboy sind schon lange vorüber«, sagte Luc.

»Ich dachte, deine Tage als Wache wären auch vorüber.«

Kelley kicherte. »Seine Ausrede ist, dass da oben schon genügend Anzugträger herumlaufen.«

Luc schnappte sich ebenfalls eine Praline, nachdem er die Schale nach einer ganz bestimmten durchsucht hatte. »Sowohl Ethan als auch Malik sind durchaus in der Lage, als Stellvertreter diesem Haus zu dienen. Sie haben beide verdammt viele Jahre auf ihrem Konto.«

Es fiel mir schwer, mir Ethan als etwas anderes als den Meister dieses Hauses vorzustellen. Das momentane Arrangement war eine unangenehme Situation für alle Beteiligten.

»Wie war Ethan so als Peter Cadogans Stellvertreter?«, fragte ich daher neugierig.

»Speziell«, sagte Kelley. »Er hat schnell gelernt, war aber in der Regel davon überzeugt, dass nur er recht hat. Er respektierte Peter, aber es gab einige Reibungspunkte. Er wollte sein eigenes Haus.«

»Das war zwar vor meiner Zeit«, sagte Luc, »aber es entspricht dem, was ich gehört habe.« Er richtete sich auf und kam mit seinem Stuhl näher an den Tisch heran. »Und jetzt, wo wir in Erinnerungen geschwelgt haben – warum kümmern wir uns nun nicht um unsere eigentlichen Aufgaben?«

»Ich nehme an, Ethan hat dir von Tate erzählt?«, fragte ich.

»Hat er. Wir haben einen zusätzlichen Tate und einen Komplizen Tates weniger.« Luc tippte auf den Monitor und zoomte Paulies Verletzungen heran.

»Paulie war zweiundvierzig Jahre alt«, sagte er. »Er wurde auf dem Weg vom Gefängnis zu einer medizinischen Einrichtung getötet.«

»Wie steht es mit seinen Bewachern?«, fragte ich.

»Auch tot. Ebenso die beiden Rettungssanitäter, aber wir haben noch keine Fotos von ihnen erhalten. Wir kriegen nicht mehr so viele Informationen, da dein Großvater ja leider nicht mehr im öffentlichen Dienst ist.«

Ich nickte. »Es sieht so aus, als ob jemand einen Groll gegen Paulie gehegt hätte.«

»Könnte Tate gewesen sein«, sagte Kelley. »Es könnte noch Fakten geben, von denen wir nichts wissen.«

»Stimmt«, sagte ich. »Aber lasst uns mal des Teufels Advokat spielen. Was, wenn das hier gar nichts mit Tate zu tun hat? Vielleicht hatte ja jemand etwas gegen Paulie, der mit dem Büro des Bürgermeisters in keinem Zusammenhang steht. Nicht gerade schwer, sich das vorzustellen, denn Paulie hat immerhin mit Drogen gehandelt.«

»Das stimmt wohl«, sagte Luc. »Aber ich vertraue dem Prinzip der Sparsamkeit – die einfachste Erklärung ist normalerweise die richtige. Zwei Tates tauchen auf einmal auf, und einer ihrer Kameraden stirbt. Es fällt auch nicht schwer, sich eine Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen vorzustellen.«

»Also gehen wir vorerst davon aus, dass Tate Paulie umgebracht hat«, sagte Kelley. »Und das auf ziemlich brutale Weise. Warum?«

»Vielleicht hatte er noch eine Rechnung offen?«, schlug Luc vor.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ethan und ich haben eben darüber gesprochen. Paulie am Leben zu lassen hätte für Tate überhaupt keine Gefahr dargestellt. Er hat Paulie schließlich über den Tisch gezogen, nicht andersherum.«

»Was wäre denn dann sein Motiv?«, fragte Luc. »Tate hat jetzt doppelt so viel Spaß, und die beiden durchstreifen gemeinsam in diesem Augenblick die Welt.« Luc tat so, als ob er ein Mikrofon hätte. »Seth Tate, du bist vom Bösen berührt und in zwei Wesen gespalten worden. Wo wirst du als Nächstes hingehen?«

Er benahm sich so, als ob er Kelley das Mikrofon hinhielte, und sie beugte sich mit ernster Miene darüber. »Nach Disney World. Ich gehe nach Disney World.«

Ich sah zu dem Bildschirm hoch, der Leere in Paulies Blick und der Verletzung an seinem Hals. »Alle Brücken hinter sich abbrechen«, sagte ich leise. »Vielleicht hat es nichts mit Rache zu tun. Vielleicht ist es ein symbolischer Akt – Tate will die Verbindungen zu seiner Vergangenheit abbrechen. Aber warum? Und warum gerade Paulie?«

»Woran denkst du gerade, Hüterin?«

Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete den Bildschirm genauer. Die Wunde war sauber und glatt, ähnlich wie es bei einer Schwertverletzung der Fall wäre. »Die Tates rasten praktisch wie eine Rakete aus dem Silo, und wenigstens einer von ihnen kann Fahrzeuge kontrollieren. Wenn Tate Paulie hätte töten wollen, warum hat er ihn dann nicht einfach mit Magie umgebracht? Warum hat er ihn mit einer Waffe umgebracht? Mit einer Klinge?«

Luc und Kelley legten den Kopf zur Seite, um das Bild genauer anzusehen. »Aha«, sagte Luc. »Guter Fang, Hüterin.«

»Er hatte in Nebraska ein Schwert«, erklärte ich. »Ich weiß nicht, ob er es erschaffen oder gefunden hat, aber er konnte ziemlich gut damit umgehen.«

»Wenn Tate der Täter war«, schlug Kelley vor, »dann wollte er vielleicht etwas Handfestes. Er wollte nicht einfach nur mit den Fingern schnippen und Paulie in die Luft gehen lassen. Er wollte daran teilhaben, und das ist ihm gelungen. Langsam – mit voller Absicht.«

»Er ist also ein Mann mit einem Ziel«, sagte ich. »Oder zwei Männer mit einem Ziel, die auch nicht vor einem Mord zurückschrecken. Das behagt mir allerdings gar nicht.«

»Vor allem deswegen nicht, weil wir nicht wissen, welches Ziel sie verfolgen«, sagte Luc.

»Bei dieser Mission ist verdammt viel Wut im Spiel«, sagte ich. »Verdammt viel Gewalt und verdammt viel Wut.«

»Das stimmt wohl, Hüterin.« Lucs Handy meldete sich. Er zog es heraus und sah auf das Display.

»Nun, wenn das nicht mal interessant ist«, sagte er und tippte darauf ein. »Ich habe mich für die Nachbarschaftswache in Hyde Park eingetragen. Sie erhalten bei Verbrechen Warnhinweise von der Chicagoer Polizei.«

»Raffiniert«, lobte ich ihn. »Keine schlechte Idee, um auf dem Laufenden zu bleiben.«

»Genau«, sagte Luc und tippte dann auf das Panel des Bildschirms über unseren Köpfen. »Vor allem, wenn wir dadurch ein Bild unseres Täters von einer der Sicherheitskameras der Klinik erhalten.«

Kelley und ich beugten uns vor und sahen, wie das Bild eines Mannes, der genau wie der frühere Bürgermeister Chicagos aussah, den Bildschirm ausfüllte.

»Wie es scheint, können wir hiermit bestätigen, dass Tate irgendein Ziel verfolgt«, sagte Luc.

Ich seufzte. »Das stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Das Problem ist nur – welcher Tate ist das? Und welches Ziel verfolgt er?«

Wir starrten auf die beiden Bilder von Tate, eins in Farbe, eins in Schwarz-Weiß. Wir vergrößerten sie, verkleinerten sie, versuchten irgendeinen Hinweis zu entdecken, durch den wir hätten herausfinden können, welcher der Tates das Verbrechen begangen hatte. Aber es gab keine Narben. Keine Muttermale. Keine Haarwirbel oder erkennbaren Geburtsmale. Allem Anschein nach gab es nichts, womit man diesen Tate von dem anderen hätte unterscheiden können.

Pech gehabt.

Das war aus zwei Gründen problematisch. Erstens kamen wir der Antwort auf die Frage, was die Tates waren und wohin sie als Nächstes gehen würden, keinen Schritt näher. Wenn wir auch nur die geringste Hoffnung darauf haben wollten, diese Kerle dingfest zu machen, dann mussten wir herausfinden, was sie waren, denn nur dann konnten wir eine Angriffsstrategie entwickeln. Andernfalls würden wir gegen diese magischen Wesen, die nicht die geringste Schwäche aufzuweisen schienen, nicht die geringste Chance haben.

Nicht einmal meine Fangzähne konnten mir aus dieser Patsche helfen.

Zweitens, und das war viel wichtiger, wenn einer der Tates seine früheren Komplizen umbrachte, wo steckte dann der andere Tate? Hatten sie sich getrennt? Waren sie beide dabei, ihre ureigenen Ziele zu verfolgen und dabei doppelt so viel Chaos wie zuvor anzurichten?

Eigentlich war eine Mordermittlung nicht unsere Aufgabe, aber wir hatten mit Paulie und mit Tate einiges erlebt, und damit fiel diese Geschichte definitiv in unseren Aufgabenbereich. Außerdem hatte Diane Kowalczyk Tate schon einmal aus der Patsche geholfen, und sie würde keinem von uns Übernatürlichen einen Gefallen tun.

Wir brauchten mehr Informationen. Und ich hatte eine ziemlich gute Idee, wo ich sie herbekommen konnte. Nun ja, tatsächlich hatte ich drei Ideen. Wenn Tate sich verdoppeln konnte, dann würde ich noch einen drauflegen: Ich würde mich verdreifachen.

Ich rief als Erstes meinen Lieblingsformwandler an. Wie sich herausstellte, dachte auch er an Mord.

»Hast du das Foto gesehen?«, fragte Jeff.

»Ich habe es gesehen. Ich bin in der Operationszentrale und habe dich auf Lautsprecher geschaltet. Was weißt du?«

»Nicht viel«, sagte er. »Vier Tote, ein ehemaliger Bürgermeister als Verdächtiger. Nun, zumindest die eine Hälfte des doppelten früheren Bürgermeisters. Habt ihr mehr?«

»Nein. Wir haben über die außergewöhnliche Brutalität gesprochen, aber das war es dann auch schon.«

»Ja, mit Paulie hat es definitiv ein böses Ende genommen. Je nachdem, wen man fragt, hat er das bekommen, was er verdient hat.«

»Lass uns das mal etwas näher beleuchten. Weißt du irgendetwas über Pauli, das darauf hinweisen könnte, dass Tate dieser Meinung war?«

»Nicht, dass ich wüsste, aber ich kenne seine vollständige Akte nicht. Sie liegt auf den Servern des Chicago Police Department, und ich müsste mich da mal umschauen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Er schwieg einen Augenblick lang, als ob er darauf wartete, dass ich gegen sein Vorhaben, sich für diese Informationen in die Server einzuhacken, Einwände erhob. Aber es war Bürgermeisterin Kowalczyks Schuld, dass Tate hatte entkommen können, also hatte ich damit kein großes Problem.

»Tu, was du tun musst«, sagte ich auf Lucs Nicken und sprach ihn damit von allen vampirischen Einwänden frei.

»Werde ich«, sagte er. »Ich schau mich mal um und melde mich dann. Bis dahin solltet ihr vorsichtig sein. Ich kann mich ja täuschen, aber es sieht so aus, als ob Tate reinen Tisch machen wollte. Ich würde jedem, der jemals mit ihm in Kontakt war, raten, aufmerksam zu sein.«

Leider hatte er mit dieser Vermutung wahrscheinlich recht. Deswegen galt mein zweiter Anruf Gabriel (meinem zweitliebsten Formwandler, aber das würde ich ihm niemals sagen).

»Hast du einen Augenblick Zeit?«, fragte ich ihn und überging den Austausch von Nettigkeiten.

»Wenn’s kurz ist. Was ist los, Kätzchen?«

»Ein ehemaliger Kollege von Tate ist tot. Heute umgebracht, außerdem vier weitere Menschen, die sich in seiner Nähe befanden. Es war ein ziemlich grauenhafter Anblick, und wir glauben, dass möglicherweise Tate dahintersteckt.«

»Wie kommt ihr darauf?«

»Weil er der Einzige ist, den die Sicherheitskameras aufgezeichnet haben. Es gab zwischen ihm und dem Opfer eine Verbindung, und wir haben daher die Theorie aufgestellt, dass Tate seinen alten Freunden einen Besuch abstattet. Mallory gehört zu diesen Freunden, zumindest theoretisch, und ich schlage daher vor, dass ihr eure Kerle mit großkalibrigen Waffen verdoppelt.«

»Wird gemacht«, sagte Gabriel.

Da Paige noch nicht ins Haus zurückgekehrt war, rief ich sie schnell an.

»Du bist eine erstklassige Forscherin«, sagte ich. »Glaubst du, du könntest herausfinden, was Tate ist und wie wir ihn aufhalten können?«

»Das ist ein netter Vorschlag«, sagte sie, »aber wie du vielleicht weißt, fehlen mir gerade ein paar Tausend Bücher.«

Oh. Das Problem konnte ich lösen. »Überlass das mir. Komm einfach so schnell wie möglich zum Haus zurück.«

Wenn es eine Sache gab, von der ich mehr als genug besaß, dann waren es Bücher. Und irgendwo, verborgen zwischen unseren endlosen Bücherregalen, lagen die Antworten auf unsere Fragen.