KAPITEL EINUNDZWANZIG

DIE ZWÖLF KOLONIEN

Ich betrat als Letzte den Festsaal, in dem sich bereits alle Vampire des Hauses versammelt hatten, und bemerkte die aufgeregte, nervöse Magie. Darius stand auf dem Podium an der Saalvorderseite, Ethan und Malik neben ihm. Die Vampire flüsterten und scharrten mit den Füßen, während sie der Dinge harrten, die da kommen mochten.

Ich bewegte mich leise durch die Menge bis ganz nach vorne und blieb erst stehen, als ich Augenkontakt mit Ethan hergestellt hatte, um ihn wissen zu lassen, dass ich da war. Jederzeit bereit, ihm zu helfen … oder ihn zu trösten, wenn alles vorbei war.

»Wir leben in einer seltsamen Zeit«, sagte Darius. Für seinen Vortrag in einem Raum, in dem sich viele Vampire Chicagos aufhielten, schien er sich für eine noch schneidigere Sprechweise entschieden zu haben.

»Die Öffentlichkeit weiß von uns und unseren übernatürlichen Brüdern. Durch die Registrierungsgesetze haben sie von uns verlangt, sie von unserer Existenz in Kenntnis zu setzen. Der Orden durchlebt eine seiner schlimmsten Krisen, und die Führungsriege dieser Stadt versinkt im Chaos. Es gibt viele, die uns beschimpfen; viele, die uns auslöschen würden, wenn die Obrigkeit es erlaubte.«

Die Magie im Raum spiegelte die wachsende Nervosität der Anwesenden.

»Gerade in solch schweren Zeiten ist die Stabilität der Häuser von größter Bedeutung. In finanzieller, in leitender und in struktureller Hinsicht. Die Häuser existieren, um die Vampire vor dem Wankelmut der Menschen zu schützen. Ohne sie bricht das Chaos aus. Wir wären heimatlos, hilflos, ohne Führung, die unsere Kräfte bündeln könnte.«

Das schien mir nicht zwingend wahr zu sein, denn sowohl Noah als auch die anderen Abtrünnigen in Chicago wirkten gut genährt und gut gelaunt.

»Das Greenwich Presidium hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Häuser zu unterstützen und ihnen den richtigen Weg zu zeigen. Das Greenwich Presidium existiert in der einen oder anderen Form seit sehr langer Zeit, und auch wenn es einige nicht glauben mögen, so haben wir nicht nur Erfahrung, sondern auch reichlich Wissen zu bieten.«

Die Menge lachte anerkennend. Darius mochte seine Fehler haben, und meiner Meinung nach hatte er zu viele, aber er wusste, wie er sein Publikum fesselte. Allerdings würden faszinierte Zuschauer, die um ihr Überleben fürchteten, wohl kaum ihren vermeintlichen »König« von der Bühne pfeifen.

»Franklin Cabot ist nicht perfekt«, stellte Darius fest. »Seine Arbeit als Verwalter in diesem Haus ist möglicherweise nicht fehlerfrei verlaufen. Aber dennoch war es seine Aufgabe, es zu begutachten, zu analysieren, zu stabilisieren und uns davon zu berichten. Obwohl er das Haus verfrüht verlassen musste, hat er diese Aufgabe erledigt.«

Die Vampire in meiner Nähe erstarrten merklich. Sie wussten, dass sie jetzt vermutlich nichts Gutes zu hören bekommen würden. Wenn man Ethan betrachtete – und die Sorgenfalte zwischen seinen Augen sah –, so war er wohl der gleichen Meinung.

»Cabot ist die Unterlagen dieses Hauses durchgegangen, die es seit seiner Gründung vor fast hundert Jahren angesammelt hat, nicht nur die zu den Finanzen, sondern auch alle anderen. In finanzieller Hinsicht steht das Haus hervorragend da. Seine Anlagen sind breit aufgestellt, sein Vermögen wesentlich größer als seine Schulden, und es steht ausreichend Kapital für Notfälle auf mehreren internationalen Konten zur Verfügung. Das Haus verfügt über ausreichende Notfallkonzepte, und seine hier wohnhaften Vampire scheinen mit ihrem Schicksal sehr zufrieden zu sein. Aber …«

Ich bereitete mich innerlich auf die Hiobsbotschaft vor.

»Der offizielle Standpunkt des Greenwich Presidium und seiner Häuser in Bezug auf die Menschen ist, sie zu meiden. Die Vampire bleiben für sich. Menschliche Zivilisationen sind im Lauf der Geschichte gekommen und gegangen, und das wird auch in Zukunft so sein. Es ist in unser aller Interesse, dass wir diese Haltung beibehalten und uns, einfach ausgedrückt, nicht in ihre Angelegenheiten einmischen.

Das Vorgehen des Hauses Cadogan ist mit diesem Standpunkt nicht zu vereinbaren. Das wirft natürlich die Frage auf, ob Haus Cadogan die Rahmenbedingungen für die Mitgliedschaft im Greenwich Presidium erfüllt.«

Ich erstarrte. Die Vampire im Saal überdachten offensichtlich die Möglichkeit, auf die Darius anspielte, und waren nervöser denn je … Es bestand die Möglichkeit, dass Haus Cadogan bald schon nicht mehr Mitglied des Greenwich Presidium sein würde. Wir würden seine Feinde sein.

»Das Haus Cadogan lehnte die Bemühungen des Greenwich Presidium ab, dieses Haus zu begutachten und ihm Halt zu geben. Wenn das Haus Cadogan die Bemühungen des Greenwich Presidium nicht unterstützen will, dann muss sich das Greenwich Presidium die Frage stellen, ob Haus Cadogan noch Mitglied des Greenwich Presidium bleiben kann.«

Darius ließ seinen Blick über die anwesenden Vampire schweifen und sah dann wieder Ethan an.

»Das Presidium hat einen Sufetat einberufen«, sagte er. »Und der Sufetat hat dafür gestimmt, die Mitgliedschaft des Hauses Cadogan im Greenwich Presidium schnellstmöglich zu beenden.«

Panik machte sich breit. Die Vampire redeten im Flüsterton über die Möglichkeit, dass sie binnen Monatsfrist hauslos sein konnten. Ich hörte ihre geflüsterten Worte, und auch wenn viele sich vom Greenwich Presidium verraten fühlten, so schlugen sie sich doch nicht alle auf Ethans Seite.

»Das Greenwich Presidium hat nicht das Recht dazu.«

»Ethan bringt das schon in Ordnung – er muss es einfach.«

»Liegt es an Ethan?«

Zum ersten Mal war ich froh, dass Ethan nicht telepathisch verstehen konnte, was seine Vampire über ihn sagten.

»Ich halte einen Ausschluss nicht für die richtige Entscheidung. Auch wenn ich viele der Entscheidungen dieses Hauses kritisch betrachte, so zweifle ich nicht daran, dass sie in bester Absicht getroffen wurden. Getroffen wurden sie aber, und sie wurden von erfahrenen Vampiren im vollen Bewusstsein der möglichen Folgen getroffen.

Daher werde ich morgen alle Mitglieder des Greenwich Presidium zu einer abschließenden Abstimmung zusammenrufen. Ungeachtet des Ausgangs wünsche ich Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.«

Darius ließ ein letztes Mal seinen Blick schweifen, nickte zum Abschied und verließ das Podium. Vor ihm teilte sich die Menge, und alle Augen folgten ihm, bis er den Saal verlassen hatte. Einen Moment standen wir schweigend da und fragten uns, was jetzt passieren würde – und was aus uns werden sollte.

Konnte Haus Cadogan allein überleben? War der Schutz des Greenwich Presidium wirklich von Bedeutung? Ich war mir dessen nicht sicher. Und wenn ich die Gesichter in meiner Nähe betrachtete, war ich mit meiner Unschlüssigkeit nicht allein.

Wir drehten uns alle zu Ethan um, denn wir brauchten die Versicherung, dass alles gut werden würde.

»Schließt die Tür«, sagte er und deutete in Richtung der Vampire am Saalende. Sie fiel mit einem mächtigen Krachen ins Schloss.

Ethan stand auf dem Podium, den Blick auf die Tür gerichtet, die Arme in die Hüften gestemmt. Die Sorgenfalte zwischen seinen Augen war verschwunden, und er blickte uns mit neuer Entschlossenheit an.

»Das Greenwich Presidium existiert seit vielen Jahren«, sagte er. »Vampire schlossen sich unter seiner Ägide zu Häusern zusammen, weil es zu ihrem Besten war, weil der Schutz, den das Greenwich Presidium bot – in finanzieller, politischer, militärischer Hinsicht –, es wert war.«

Er sah auf uns hinab. »Doch die Zeiten haben sich geändert. Das britische Empire beherrscht die Weltmeere nicht mehr, und die Vereinigten Staaten sind nicht mehr Kolonien, die des Schutzes bedürfen. Wenn das Greenwich Presidium zu dem Entschluss kommt, dass die Mitgliedschaft des Hauses Cadogan gekündigt werden soll … dann ist es vielleicht an der Zeit, dass wir uns fragen, ob das Greenwich Presidium für uns noch von Belang sein sollte.«

»Sie können uns nicht einfach rauswerfen!« Ein Vampir mit dunklen Haaren und besorgtem Gesichtsausdruck trat aus der Menge hervor und sah hektisch zwischen Ethan und Malik hin und her. »Unsere Unsterblichkeit war nie in größerer Gefahr.«

»Wir sind keine Abtrünnigen!«, rief jemand anders aus der Menge. »Wir sind besser als das.«

Zustimmendes Gemurmel war zu hören.

»Wir können nicht einfach abtrünnig werden«, brüllte noch jemand. »Wir können nicht einfach aufgeben.«

Das Murmeln wuchs zu einem vielstimmigen Gebrüll an. Die Vampire mochten Ethan viel verdanken – und sie mochten ihre Zweifel am Greenwich Presidium haben –, aber ihre Angst davor, hauslos zu sein, war stärker als alles andere.

»Ruhe«, brüllte Ethan, und Schweigen senkte sich auf den Saal. Er bedachte sie mit einem Blick aus seinen smaragdgrünen Augen, und in ihm lag eiserne Entschlossenheit – der Blick eines Meistervampirs, nicht eines Mannes, der sein Schicksal von Darius West bestimmen ließ.

»Erinnert euch daran, wer ihr seid und wer wir als Gemeinschaft sind. Lasst euch nicht von eurer Angst leiten – das hat das Greenwich Presidium schon für euch getan. Wir haben als Vampire Cadogans seit über einem Jahrhundert überlebt, und was auch sonst noch in Chicago oder im Rest der Welt geschehen mag, wir bleiben Vampire Cadogans

Ethans Blick wurde sanfter, und er trat auf dem Podium einen Schritt näher an sein Publikum heran. Er entspannte sich sichtlich, als er sich vom Meistervampir zu ihrem Freund und Vertrauten wandelte.

»Es kann keinen Zweifel daran geben, dass wir uns in einer ernsten Lage befinden«, sagte er. Er sprach nun leiser, und alle hielten den Atem an, um auch jedes seiner Worte deutlich verstehen zu können. Eine sehr effektive Methode.

»Doch bedenkt, was wir im letzten Jahr erlebt haben. Wir wurden ohne unsere Zustimmung von einer Meisterin, die mindestens drei menschliche Frauen getötet hat, ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Unsere Vampire wurden von ihr angeworben oder von ihr und ihren Schergen gejagt, und wir sind zum Ziel einer Miliz geworden, die es offensichtlich darauf abgesehen hat, Chicagos ›Vampirproblem‹ zu lösen.«

Die Menge lachte, als Ethan das Wort mit den entsprechenden Handzeichen hervorhob. Ethan nutzte die entspanntere Lage, steckte die Hände in die Taschen und kam von dem Podium herab. »Setzt euch«, sagte er. »Alle.«

Die Vampire sahen sich kurz nervös an, bevor sie sich alle auf den Hartholzboden setzten.

»Gut«, sagte Ethan und nahm auf dem Rand des Podiums Platz. Das war für Ethan ein bemerkenswert zwangloses Verhalten – vielleicht hatte ihn sein Tod auch in dieser Hinsicht verändert.

Ethan verschränkte die Hände und legte seine Ellbogen auf den Knien ab. Dann beugte er sich vor und betrachtete die fast hundert Vampire zu seinen Füßen.

»Sie haben einen Mann in dieses Haus geschickt, der unser Blut rationierte, der unsere Vampire in die Sonne geschickt und uns unseres Schutzes beraubt hat. Ist das das Verhalten einer Organisation, die uns helfend zur Seite steht? Die uns beschützt? Oder handelt es sich um das Verhalten einer Organisation, die uns kontrollieren und provozieren will? Die Welt hat sich in den letzten Hundert Jahren verändert, und es lohnt sich durchaus, die Frage zu stellen, ob unsere Mitgliedschaft, so wie sie es ausdrücken, auch weiterhin ein Privileg ist.«

Er ließ seinen Blick über die Vampire schweifen. »Ein Haus aus den Reihen des Greenwich Presidium auszuschließen ist ein Vorgehen von größter Bedeutung. Nicht Mitglied des Greenwich Presidium zu sein macht das Leben nicht leichter. An unserem Namen wird ein Makel haften, natürlich, und sicherlich gibt es die Sorge, dass wir allein nicht ausreichend geschützt sind. Doch dieses Haus ist finanziell gut abgesichert und könnte sich auch ohne das Greenwich Presidium behaupten. Es hat Freunde in der gesamten Stadt, einschließlich Merits Großvater, den Anführer des Zentral-Nordamerika-Rudels, Wassernymphen, Elfen, die Sirene des Michigansees und womöglich auch die Königin der Feen. Meine Freunde, meine Brüder und Schwestern, ich habe keine Angst

Er stand wieder auf, betrat das Podium und hob eine kleine Schachtel auf, die dort abgestellt worden war. Sie hatte oben einen kleinen Schlitz, durch den höchstens ein oder zwei Blatt Papier passten.

Es war ein Stimmzettelkasten.

»Wir gehören nicht zu einer Kolonie des britischen Empire. Wir sind Bürger der Vereinigten Staaten, und wir gehen die Dinge anders an. Ich schlage vor, dass wir unsere eigene Entscheidung treffen. Wir können darauf warten, dass wir morgen offiziell ausgeschlossen werden. Oder wir können heute Nacht selbst handeln. Wir können das Greenwich Presidium zu unseren Bedingungen entlassen. Wir können eine neue Dachorganisation gründen, die unseren jetzigen Bedürfnissen entspricht.«

Er stellte die Schachtel wieder hin und steckte die Hände in die Taschen. Das Greenwich Presidium zu verlassen musste ihm Magenschmerzen bereiten, aber in seinem Gesicht war nicht der geringste Zweifel zu erkennen.

»Alles, worum ich euch bitte, ist, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden«, sagte er. »Wenn ihr das tut, dann werde ich eure Entscheidung ohne Wenn und Aber unterstützen, egal, wie sie lautet. Ich werde stolz auf eure Entscheidung sein.« Er nickte kurz. »Diese Versammlung ist hiermit beendet.«

Sofort setzte ein lautstarkes Geschnatter ein, und die Vampire verließen den Saal.

»Was wirst du machen?«

»Ist das nicht kompletter Wahnsinn?«

Sie machten ihren Zweifeln Luft, aber zugleich war auch ein wenig Hoffnung und neue Energie zu spüren. Es war eindeutig, dass dies nicht zu den Entscheidungen gehörte, die Novizen üblicherweise zu treffen hatten.

Als der Saal fast schon leer war, trat Ethan von dem Podium herab und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ich ergriff sie.

»Was glaubst du, was sie tun werden?«, fragte ich.

»Das ist nicht so wichtig«, sagte er. »Die Entscheidung ist nicht von Bedeutung, aber dass sie handeln, das ist wichtig. Entweder schließen wir uns dem Greenwich Presidium bedingungslos an und betteln um Vergebung, oder wir entscheiden uns dagegen und leben unser Leben nach unseren eigenen Bedingungen. Wir leben in aufregenden Zeiten, Hüterin.«

Wir gingen Hand in Hand zur Festsaaltür. »Mit aufregend meinst du ziemlich furchterregend?«

»Ich hatte mich gegen diese Worte entschieden, aber wenn du dich angesprochen fühlst …«

»Que será, será«, sagte ich. »Jetzt lass uns einen Engel umbringen.«

Na gut. Das hatte sich unausgesprochen in meinem Kopf besser angehört.

Wir versammelten uns in der Operationszentrale: der Himmelsbote, die Hexenmeisterin, die Vampire. Und in der Leitung waren ein Hexenmeister, eine weitere Hexenmeisterin und ein Formwandler.

Wir fanden am Konferenztisch kaum genügend Platz, aber das war nicht entscheidend. Wir waren ein Team, das sich gemeinsam daranmachte, ein Problem zu lösen, auch wenn Darius es bevorzugt hätte, wenn wir einfach Däumchen drehten.

Wir arbeiteten außerdem mit schlichten Mitteln. Anstelle von Whiteboards oder Touchscreens hatten wir riesige weiße Blätter auf den Tisch gelegt, und jeder hatte einen Permanentmarker erhalten.

»Also«, sagte Luc, »wir wissen, dass der eigentliche Kampf mit dem Schwert geführt werden wird. Das ist Ethans Aufgabe.« Er deutete mit seinem Marker auf Ethan und schrieb dann SCHWERT oben auf ein Blatt.

»Zuallererst«, sagte Lindsey, »müssen wir Dominik zum Ort des Kampfes bringen. Das geht durch die Beschwörung.« Sie schrieb unten auf das Blatt BESCHWÖRUNG.

»Dieser Teil der Geschichte ist recht unkompliziert«, sagte Seth und legte das Sigill auf den Tisch. »Das Sigill ist wie eine direkte Verbindung zu einem Engel der Gerechtigkeit. Wenn wir das Sigill aufzeichnen, muss Dominik erscheinen.«

»Funktioniert das auch bei dir?«, fragte ich.

Seth schüttelte den Kopf. »Tatsächlich ist mir das Ganze neu. Wir haben während unserer Recherchen herausgefunden, dass nur den Engeln der Gerechtigkeit Sigillen zugeordnet wurden. Sie dienten zur Kontrolle ihrer Macht und wurden von den Erzengeln erschaffen, die offensichtlich befürchteten, dass die Engel der Gerechtigkeit ihre Befugnisse überschreiten könnten.«

»Und genau das haben sie dann auch getan«, sagte Ethan finster.

Seth nickte.

»Na gut«, sagte Luc. »Wir haben die Macht, ihn hierher zu beschwören. Wir haben einen Schwertkämpfer, der es mit ihm aufnimmt.« Er zeichnete in die Blattmitte einen Kreis. »Jetzt brauchen wir nur noch die Möglichkeit, ihn angreifbar zu machen.« Er sah zu Paige hinüber. »Irgendwelche Ideen?«

Paige verzog das Gesicht. »Noch nicht ganz. Wir haben eigentlich schon ein paar Vorstellungen. Wir glauben zum Beispiel, dass Annullierung auch bei ihm funktionieren könnte. Wenn sie bei Hexenmeistern funktioniert, dann gibt es keinen Grund, warum das nicht auch für Himmelsboten gelten sollte. Sie sind beide magische Wesen. Es gibt da nur ein kleines organisatorisches Problem.«

»Und das wäre?«, fragte Ethan.

»Die Annullierung funktioniert im Grunde wie ein Blitzableiter. Die Person, die diese Art der Magie wirkt, muss die andere Person tatsächlich berühren, um ihr die Macht zu nehmen. Es dauert nicht lange, und es gibt Möglichkeiten, wie man einen solchen Zauberspruch beschleunigen kann, aber Dominik wird auf keinen Fall zulassen, dass ich, Catcher oder Mallory ihn berühren. Er weiß, was wir sind, und wir werden nicht einmal in seine Nähe kommen.«

»Das ist ein Problem«, sagte Luc.

»Na ja, vielleicht ist es das nicht«, sagte ich. »Es gäbe da womöglich eine Lösung.«

Ich atmete tief durch, nahm meinen Mut zusammen und sah Ethan an. »Du kannst näher an Dominik herankommen als alle anderen. Er wird dich nicht für eine Bedrohung halten – nicht wie die anderen. Du warst ihm schon mal nahe genug, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Wir wissen aber auch, dass es zwischen Ethan und Mallory eine Verbindung gibt. Ich glaube, das könnten wir ausnutzen.«

»Nein«, sagten Catcher und Ethan gleichzeitig.

»Ich werde niemals zulassen, dass jemand anders mich kontrolliert«, sagte Ethan. »Außerdem soll ich gegen ihn kämpfen. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn sie in meinen Gedanken ist, und ich kann schon gar nicht gegen ihn bestehen.«

»Wir reden hier nicht über Kontrolle«, sagte ich sanft. »Mallory kann das ja ohnehin nicht, weil ihr Zauberspruch nicht zum Abschluss gebracht wurde. Aber vielleicht kann sie diesen Zauberspruch durch dich hindurch wirken.«

»Nein«, wiederholte Catcher. »Sie wird sich nicht in eine solche Gefahr bringen. Er ist ein Engel, verdammt noch mal. Weißt du, über wie viel Magie er verfügt? Und wie viel sie durch beide hindurchleiten müsste? Das könnte sie umbringen.«

Die Magie im Raum war nun fast schon spürbar – und sie stammte nicht nur von Ethan.

»Ich mach’s«, sagte Mallory leise.

Wir starrten auf das Telefon.

»Es ist meine Schuld«, sagte sie. »Dem kann keiner widersprechen, und es lässt sich auch nicht ändern. Wenn es nur so funktionieren kann, dann muss es so sein.«

»Mallory –«, unterbrach sie Catcher, und ich sah vor meinem inneren Auge, wie sie den Kopf schüttelte.

»Ich muss es tun«, sagte sie. »Wenn Ethan es mir erlaubt.«

Im Raum herrschte Schweigen, während er still vor Wut schäumte. Dann sah ich in seinem Blick, wie sein Zorn verflog und etwas anderes an seine Stelle trat – er hatte seinen Verstand wieder eingeschaltet.

»Wie würde das ablaufen?«, fragte er.

Ich beugte mich zum Telefon vor. »Wenn ich das richtig verstanden habe mit dem Schutzgeist, Mallory, dann soll er dir mehr Kraft zur Kontrolle des Universums übertragen, richtig?«

»Das ist der Grundgedanke«, sagte sie. »Der Schutzgeist ist eine Art Batterie. Aber Ethan ist kein Schutzgeist.«

»Nicht in dem Maße, dass du ihn tatsächlich zu etwas zwingen könntest«, stimmte ich ihr zu. »Aber du hast auf jeden Fall eine Verbindung zu ihm. Und wenn eure Emotionen miteinander verbunden sind, dann könnte das doch auch für die Magie gelten, oder? Und wenn du Ethan dazu benutzen kannst, Magie zu kanalisieren, kannst du ihn dann nicht auch dazu verwenden, sie Dominik zu nehmen? Dafür musst du ihn nicht kontrollieren – er muss nur als eine Art Leiter dienen. Ein magischer Blitzableiter zwischen dir und Dominik.«

Schweigen.

Ethan fuhr sich mit den Händen durch die Haare und sah mich an. »Das würde er von mir nicht erwarten.«

»Er würde nicht davon ausgehen, dass du Magie zur Wirkung bringen könntest. Ihm ins Gesicht zu schlagen? Das wird er auf jeden Fall von dir erwarten. Aber das ist möglicherweise der Schlüssel zum Erfolg – es passt zu dem, was er von dir hält. Er würde vermuten, dass du ihm möglichst nahe kommen willst, um ihm eine zu verpassen. Nicht, um ihm seine Magie zu nehmen.«

»Ich soll eine Art Mittel zum Zweck sein. Für den Einsatz von Magie?«

»Du bist unser Werkzeug«, sagte ich. »Und ein sehr gut aussehendes.«

»Und auch nur vorübergehend«, betonte Mallory.

»Mallory, du verlangst von mir, dass ich dir vertraue«, sagte Ethan. »Du verlangst von mir, mich als Werkzeug zur Verfügung zu stellen. Als eine Marionette. Du verlangst viel. Kein Vampir würde bereitwillig so viel von sich aufgeben.«

»Du tust genau das bei jedem Vampir«, sagte sie. »Jedes Mal, wenn du einen neuen erschaffst. Du kommunizierst mit ihnen, nicht wahr? Du kannst sie in gewisser Weise herbeirufen und kontrollieren?«

Ethan sah zur Seite.

»Er kann mit niemandem mehr kommunizieren«, gestand ich an seiner Stelle ein. Nicht, dass die Vampire in diesem Raum darüber überrascht waren. »Dein Zauberspruch scheint ihm diese Fähigkeit genommen zu haben.«

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, dass das nicht ausreicht, aber es tut mir leid.«

Einen Moment lang schwiegen alle.

»Ich bin froh, dass ich lebe, Mallory. Dafür danke ich dir. Aber du hast mich und meinesgleichen in Gefahr gebracht, und diese Handlungen könnten sich am Ende als unverzeihlich erweisen.« Er sah mich an, und aufrichtige Liebe lag in seinem Blick. »Und trotzdem scheint Merit immer noch an dich zu glauben. Ich vertraue dir nicht«, sagte er. »Aber ich vertraue Merit. Ich habe sie kämpfen sehen. Wenn du mir irgendeinen Schaden zufügst, wird sie dich bis ans Ende der Welt jagen und deiner gerechten Strafe zuführen.«

»Das verstehe ich«, sagte Mallory.

»Wunderbar. Aber wenn ich mit der Annullierung beschäftigt bin, wer kämpft dann mit Tate?«

Nur Mut, ermahnte ich mich. »Das mache ich dann.«

Alle Blicke richteten sich auf mich.

»Nein«, sagte Ethan.

»Doch«, widersprach ich ihm. »Ich bin die Einzige, die fast so gut ist wie du. Du kannst diskutieren«, sagte ich und wiederholte damit praktisch seine Worte, »und ich bin sicher, du wirst sehr gute Argumente vorbringen, aber du weißt, dass ich recht habe.«

Wir sahen einander an und wussten, dass wir erneut Gefahr liefen, einander auf ewig zu verlieren. Aber dies war nicht das erste Mal, und es würde auch nicht das letzte Mal sein, dass wir uns solchen Herausforderungen stellen mussten.

Ethan nickte. »Du kämpfst mit ihm.«

Die Erleichterung im Raum war praktisch spürbar.

»Es gibt da allerdings noch ein weiteres kleines Problem«, sagte Paige. Wir sahen sie alle an.

»Ich bin ziemlich sicher, dass das hier als schwarze Magie zählt. Wenn ja, dann werden weder die Formwandler noch der Orden es ihr erlauben.«

Da hatten wir dann unseren Knackpunkt.

»Es gibt ein gewisses Risiko«, sagte Mallory. »Selbst wenn Gabriel seine Zustimmung gibt, habe ich ein wenig Sorge, dass ich einen Rückfall erleiden könnte. Es könnte mir hinterher wesentlich schlechter gehen, nicht besser. Allerdings hätte ich jetzt zum ersten Mal die Chance, jemand anderem zu helfen als nur mir selbst.«

»Ich werde da sein«, sagte Catcher. »Ich pass auf dich auf.«

Da die Entscheidung getroffen war, nahm Luc die Kappe seines Permanentmarkers wieder ab und schrieb in die leere Mitte unseres Plans BLITZABLEITER.

»Wenn er erscheint«, sagte Seth, »haben wir nur wenige Sekunden, um ihm seine Magie zu nehmen. Die Beschwörung zwingt ihn nur zu erscheinen – sie kann ihn nicht für längere Zeit binden.«

»Und wenn er beschworen wird, dann wird er vorgewarnt und wachsam sein.«

»Sehr wahrscheinlich. Ihr werdet sehr schnell sein müssen.«

Ein weiterer Grund, warum Ethan diese Sache in die Hand nehmen musste, nicht Mallory. Dominik würde sofort handeln, wenn Mallory neben ihm auftauchte, aber wenn er Ethan vorfand, dann war er vielleicht neugierig genug, um herauszufinden, was los war. Vielleicht lange genug, dass Ethan seine Aufgabe erledigen konnte.

»Es wird alles vorbereitet sein, bevor er auftaucht«, sagte Paige. »Du musst ihn dann nur noch berühren, um die Magie einsetzen zu können.«

Ethan nickte, aber er war eindeutig besorgt.

»Wenn er seine Magie verloren hat, kann er nicht mehr fliehen. Er wird dann hier gefangen sein, in seiner menschlichen Form.« Seth sah mich an. »Dann kommst du wieder ins Spiel.«

Ich nickte.

»Dann haben wir unseren Plan«, sagte Seth. »Ich werde ihn beschwören. Ethan und Mallory werden ihm seine Kräfte nehmen. Merit wird mit ihm kämpfen.«

Seine Aufzählung ließ eins aus: Merit wird ihn töten. Es schien keine andere Möglichkeit zu geben, wie unerfreulich sie auch sein mochte – selbst wenn Schritt Nummer zwei nicht funktionierte. Dominik musste vernichtet werden, oder weitere Menschen würden den Tod finden. Er hatte nicht das Recht, Richter, Geschworener und Henker in einem zu sein. Mir gefiel der Gedanke zwar nicht, es ihm in diesem Fall gleichzutun – und mich auf ein Spiel einzulassen, das nur mit seinem Tod durch meine Hand und mein Schwert enden würde –, aber ich zweifelte stark daran, dass wir eine andere Option hatten.

»Kein schlechter Plan«, sagte Luc, »meiner Meinung nach. Hat allerdings ziemlich viele Variablen.«

»Und bei jeder kann etwas schiefgehen«, kommentierte Catcher.

»Wo können wir den Plan ausführen?«, fragte Ethan.

»Auf heiligem Boden«, erwiderte Seth. »Es gibt keinen anderen Ort.«

Paige nickte. »Wenn man sich auf schwarze Magie einlässt, dann muss man sich auf heiligem Boden befinden. Unser Ziel ist es ja, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, nicht zu einem schlechteren.«

»Brauchen wir eine Kirche?«, fragte Ethan.

»Nicht notwendigerweise«, sagte Paige. »Jedes Grundstück, das gesegnet oder gereinigt wurde, reicht aus.«

»Wie finden wir den richtigen Ort?«, fragte Ethan.

»Ich könnte Gabriel fragen«, schlug Jeff vor.

»Gabriel?«, fragte Ethan.

»Wir sind eins mit der Erde«, erwiderte er. »Wenn es jemand weiß, dann er.«

»Gabriel wird wohl kaum von der Vorstellung begeistert sein, dass wir Dominik an einem Ort beschwören, den er für gesegnet hält«, mahnte ich an.

»Schon, aber ich glaube nicht, dass ihr auch nur einen Priester in Chicago findet, der davon begeistert ist.«

Jeff hatte recht.

Ethan nickte. »Dann fragen wir die Formwandler. Jeff, rufst du Gabriel bitte an und findest heraus, ob er Zeit für ein Gespräch oder Nachforschungen oder Ähnliches hat?« Er sah zu Seth und Paige. »Stellt sicher, dass wir alles haben, um die Magie wirken zu können. Wenn ihr bestimmte Materialien braucht, lasst Helen sie besorgen, und wenn ihr sie anfordert, bestellt alles zweimal.«

»Molchesaug’ und Unkenzehe?«, fragte Mallory.

»›Spart am Werk nicht Fleiß noch Mühe‹«, antwortete Ethan mit einem Zitat aus Macbeth. »Erledigt es so schnell wie möglich. Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier.«

Ich murmelte den Rest des Hexentextes. »›Feuer sprühe, Kessel glühe! Abgekühlt mit Paviansblut –‹«

Mallorys Stimme tönte dumpf durch die Leitung. »›Wird der Zauber stark und gut.‹«

Es lief mir kalt den Rücken herunter. Ein unbestimmtes und ungutes Gefühl beschlich mich, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.