KAPITEL SIEBEN

NICHTS GEHT MEHR

»Was in aller Welt ist gerade geschehen?«, fragte Ethan, aber da auf seine Frage nur Schweigen folgte, schien niemand von uns eine Antwort darauf zu haben.

Wir starrten den Raketenschacht hinauf, als ob die Antwort auf unsere Frage irgendwann in diese Mauern des Kalten Krieges geritzt worden wäre.

»Er hat sich gespalten«, sagte Ethan und sah zu Paige hinüber. »Wie ist das möglich?«

Sie verzog das Gesicht und humpelte zum Tisch, um sich an ihn zu lehnen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Wir betrachteten das Maleficium, das noch immer auf dem Boden neben Mallory lag. Allerdings war von ihm nicht viel mehr übrig als ein großer Kohlebrocken in Buchform. Einige vergilbte Seiten ließen sich noch ansatzweise erkennen, aber das Buch bestand eigentlich nur noch aus Asche, die sich vermutlich in die Luft erheben würde, wenn man sie ein wenig zu stark anpustete.

Aber wenn das Maleficium – das Behältnis – zerstört war, was war dann mit seinem Inhalt geschehen. »Paige, was ist mit der schwarzen Magie? Dem Bösen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht –«

»Es ist verschwunden.«

Mallory sprach sehr leise, und in ihrer überraschten Stimme lag ein Hauch von Traurigkeit.

Wir sahen sie alle an. Sie kniete auf dem Boden und starrte auf ihre Hände, die noch immer rissig und spröde waren. Sie zitterten wie die Hände einer Suchtkranken, die unter Entzugserscheinungen litt. Sie umschlang sich mit ihren Armen und starrte in die Ferne. Vielleicht bedauerte sie, dass sich die Dinge nicht so entwickelt hatten, wie sie es sich vorgestellt hatte.

»Verschwunden?«, fragte Ethan.

Sie wandte sich ihm langsam zu. »Es war im Buch, und das Buch ist verschwunden. Also ist es auch verschwunden.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich, aber mir wurde klar, dass ich auf die Frage keine Antwort von ihr brauchte.

Sie stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Mallorys Aussehen hatte sich seit ihrem Angriff nicht verändert. Sie sah genauso nervös aus, genauso erschöpft.

Sie hatte sich einen weiteren Schuss schwarze Magie gesetzt, und es hatte nicht funktioniert. Und jetzt gab es keine Magie mehr, mit der sie es hätte versuchen können.

In diesem Augenblick war sie am absoluten Tiefpunkt angelangt.

»Sie weiß, dass die Magie verschwunden ist, weil sie sich kein bisschen besser fühlt«, sagte ich. »Weil sie einen weiteren Zauberspruch gewirkt und dabei die Macht des Maleficium abgerufen hat, ohne dadurch geheilt worden zu sein. Jetzt ist das Buch weg, und für sie ist alles zu spät. Es wird keine schwarze Magie mehr aus dem Maleficium geben, richtig?«

Mallory sah auf, und mein Blick muss voller Zorn gewesen sein. Sie blickte zur Seite, und Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Ich war mir nicht sicher, ob sie nun wirklich Reue empfand, aber vielleicht – lieber heute als morgen – würde sie sich endlich eingestehen, was sie eben noch so geflissentlich ignoriert hatte: die schrecklichen Folgen ihres Verhaltens.

»Aber was ist dann mit Tate geschehen?«, fragte Ethan.

Ich dachte an das, was wir gesehen hatten, vor allem an den Moment kurz vor seiner Teilung. »Er hat das Buch berührt. Wenn Mallory den Zauberspruch zum Abschluss gebracht hat, und kein anderes Böse entkommen ist, ist es dann möglich, dass es, na ja, komplett in Tate hineingeflossen ist?« Ich sah Mallory an. »Ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte sie mitleiderregend.

Ethan war völlig unbeeindruckt. »Du weißt es nicht? Du weißt es nicht? Du hast dich gerade dazu entschlossen, das gesamte Böse der Welt aus einem uralten Buch zu entfesseln und sollst dir der möglichen Folgen nicht bewusst gewesen sein? Törichtes, dummes Mädchen.«

»Ethan«, sagte ich sanft.

»Nein, Merit, sie muss das hören.« Er hockte sich vor sie hin, mit diesem neuen Funkeln in seinen Augen. Mir wurde eiskalt bei seinem Gesichtsausdruck. »Sie hat sich bisher keine Gedanken über die Konsequenzen ihrer Handlungen gemacht. Vielleicht wird sie das ja jetzt tun.«

Mallory antwortete ihm nicht. Sie saß einfach auf dem Boden und starrte ihn mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an, als ob ihr plötzlich klar geworden wäre, dass auch sie fehlbar war.

All ihre Arbeit, ihre Forschungen, die Zaubersprüche – sinnlos. Vergeblich. Sie hatte alles verspielt – ihre Freunde, ihre Fähigkeiten, ihren Geliebten –, und sie hatte all das für etwas aufgegeben, was sie für einen sicheren Einsatz gehalten hatte. Doch jeder Spieler bekam irgendwann schlechte Karten, und die Bank gewann immer.

Ich legte Ethan eine Hand auf die Schulter, und er stand auf und streichelte meine Wange. Ich glaube nicht, dass er sich bei mir entschuldigen wollte – er wollte mich vielmehr darauf vorbereiten, was noch alles geschehen würde. Was mit Mallory geschehen würde.

»Wir müssen herausfinden, was gerade passiert ist«, sagte Paige leise, und ich konnte praktisch hören, wie das magische Getriebe in ihrem Kopf arbeitete. »Wir müssen herausfinden, was er ist – was sie sind. Wir müssen das verstehen.«

Verständlich, dass sie das in Erfahrung bringen wollte. Sie war die Archivarin des Ordens, und ich ging davon aus, dass sie all das niederschreiben würde. Doch das konnte im Augenblick warten.

»Im Augenblick«, sagte ich, »müssen wir wissen, was sie sind und was sie als Nächstes tun werden. Wir können ja nicht einmal abschätzen, welchen Schaden sie gemeinsam anrichten können.« Ein Tate war schon schlimm genug. »Lasst uns hier verschwinden.«

Ich half Mallory auf die Beine. Sie sprach kein Wort und wich meinem Blick aus, aber sie ließ zu, dass ich sie hinausbrachte.

Ethan tat dasselbe bei Paige, und unser bunter Haufen humpelte den Flur entlang zur Aufzugsplattform. Wir fuhren hinauf, zurück in die Welt.

Als wir nach draußen traten, empfing uns der beißende, scharfe Gestank von Rauch.

Gelbrote Flammen züngelten in den Himmel. Am Feldrand stand das Bauernhaus in Flammen.

Hatte Tate – oder sie beide – das verbrochen? Handelte es sich um einen letzten Racheakt? Seth hatte mir und Ethan geschworen, er würde nicht zulassen, dass wir ihn aufhielten. Vielleicht waren die beiden zu dem Entschluss gelangt, dass es an der Zeit war, uns für unsere ständigen Einmischungen zu bestrafen.

Paige legte eine Hand auf ihren Mund, um ihr Schluchzen zu dämpfen. Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie auf ihr Haus starrte. Und dann rannte sie los. Für eine verletzte Hexenmeisterin bewegte sie sich ziemlich schnell.

Ich reichte Mallory an Ethan weiter. »Ich hole sie zurück.«

»Sei vorsichtig.« Er nickte, und ich rannte über das Feld. Es war kälter geworden, und der Boden schien seit unserem Betreten des Silos härter geworden zu sein. Ich kam mir vor, als ob ich auf einem umgedrehten Eierkarton liefe – kleine, unebene Hügel und Täler, die es nahezu unmöglich machten, den nächsten Schritt zu planen.

Es überraschte mich daher nur wenig, dass ich irgendwann stolperte und der Boden sich meinem Gesicht rasend schnell näherte. Ich fing mich mit meinen Händen auf, zog mir dabei aber einige ordentliche Schrammen zu. Ich hoffte, dass mich in der Dunkelheit niemand hatte stürzen sehen; ich stand wieder auf und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz mein rechtes Fußgelenk durchzuckte.

Aber ich hatte keine Zeit, die Verletzung heilen zu lassen. Paige näherte sich dem Haus sehr schnell, und in ihrem mentalen Zustand traute ich ihr nicht zu, auf ihr eigenes Wohlergehen zu achten.

Ich fluchte laut, um mich besser zu fühlen, und lief so schnell humpelnd weiter, wie ich konnte. Als ich über den Zaun sprang, schlug mir die unglaubliche Hitze voll entgegen. Beißender Rauch quoll aus dem Haus, und Flammen züngelten durch die Fenster nach draußen. Paige, die ihren Arm schützend vor ihr Gesicht gelegt hatte, arbeitete sich langsam zum Hauseingang vor.

»Paige!«, brüllte ich, aber sie blieb nicht stehen. Sie sah sich nicht einmal um. Es war natürlich möglich, dass sie mich nicht gehört hatte. Das verheerende Feuer hatte die Lautstärke eines Düsentriebwerks erreicht, und überall zischte und knisterte das Holz, als die inneren Strukturen des Bauernhauses in sich zusammenbrachen.

Ich hielt nicht viel von Feuer. Ich hatte mich als Kind an einer fehlgeleiteten Feuerwerksrakete böse verbrannt, und der Gedanke, mich diesem tosenden Inferno zu nähern, gefiel mir gar nicht. Aber ich war unsterblich; sie nicht. Mir blieb also nur eins übrig.

Ich zog mein Shirt hoch über den Mund, um es als behelfsmäßige Maske zu nutzen, und ging weiter.

Rauch und Ascheregen nahmen zu, je näher ich dem Haus kam, und ich konnte kaum noch atmen. Die Luft war kochend heiß und verbrannte bei jedem Atemzug die Lungen. Aber ich ging weiter.

»Paige!«, rief ich, als etwas Großes in unserer Nähe zu Boden stürzte. »Geh nicht näher!«

Sie hustete laut. »Ich brauche meine Bücher!« Dann blieb sie einige Meter vor der Eingangstür stehen und hob die Arme. Selbst durch die unglaubliche Hitze konnte ich das Summen von Magie spüren. Sie musste Tates Einfluss abgeschüttelt haben und ihre eigenen Fähigkeiten wieder einsetzen können.

»Wenigstens ist sie nicht einfach reingelaufen«, murmelte ich und sah zu, wie ein Buch, dann ein zweites und drittes aus dem Hausflur nach draußen flogen.

Sie schien nicht über die Kraft zu verfügen, das Haus zu retten, aber wenigstens konnte sie einige ihrer wertvollsten Schätze in Sicherheit bringen.

Meine Erleichterung war nicht von Dauer. Als ein weiteres lautes Krachen zu hören war, sah ich auf. Die Flammen züngelten an dem kleinen Vordach über dem Hauseingang hoch, und eine seiner Ecken hatte sich bereits beträchtlich abgesenkt.

Plötzlich gab es nach.

Ich dachte nicht nach. Ich ignorierte den stechenden Schmerz in meinem Fußgelenk und rannte durch den Rauch und die Feuerzungen vorwärts, von denen ich fast sicher war, dass sie durch das Fenster nach mir zu greifen versuchten.

Sie sah mich nicht kommen und merkte erst, dass ich bei ihr war, als ich meinen Körper und meinen Schwung dazu nutzte, sie zur Seite zu stoßen. Wir flogen durch die Luft und fielen einige Meter weiter zu Boden, als das Vordach herabkrachte – genau dort, wo Paige eben noch gestanden hatte. Die brennenden Holztrümmer blockierten nun den Weg ins Haus.

»Grundgütiger«, sagte sie keuchend, als sie erst mich ansah und dann wieder zum Haus hinüberblickte. »Danke. Ich hätte sterben können.«

Während ich noch auf dem Boden lag, schlug ich einen Funken auf meinem Jackenärmel aus. »Das war das Mindeste, was ich tun konnte. Der heutige Abend war für euch Hexenmeisterinnen schon schlimm genug.«

Als eine weitere Funkenexplosion aus dem Fenster hervorbrach, stand ich auf und reichte Paige meine Hand. »Wir sind noch zu nah.«

Sie ließ mich ihr aufhelfen, und gemeinsam hinkten wir zu dem Bücherstapel, den sie hatte retten können. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt. Die sechs Bände waren mit Asche überzogen und am Einband angesengt.

»All meine Bücher«, sagte sie, »all meine Aufzeichnungen: verloren.«

Sie hob eins der Bücher auf und klopfte den Staub ab. »Jedes Buch ist nur ein kleiner Teil einer kompletten Sammlung. Sechs Bücher? Das ist praktisch nichts.«

Paige hielt das Buch an sich gedrückt. Hier in der Dunkelheit, als die Flammen ihr rotes Haar zuckend erhellten, wirkte sie wie ein Wesen aus einem der Märchen der Gebrüder Grimm.

Wir sahen beide auf, als sich uns Schritte näherten. Ethan, der einen Arm um Mallory gelegt hatte, kam auf uns zu.

Paige verschwendete keine Zeit. »Daran bist du schuld.« Sie sprang vor, um auf Mallory einzuschlagen, aber ich schlang meinen Arm um ihre Hüfte und hielt sie zurück.

»Sie hat das getan!«, schrie Paige, und ihre roten Locken flogen hin und her, während sie sich in meinen Armen wand. »Das ist allein ihre Schuld. Sie ist an allem schuld. Glaubst du etwa, wir anderen spüren das Ungleichgewicht nicht? Natürlich tun wir das! So wissen wir, was gut und was böse ist, Mallory. Deswegen können wir es unterscheiden! Das ist keine Bestrafung; das ist Teil unserer Gabe. Wir setzen sie ein. Wir lernen von ihr. Und lassen uns nicht dazu bringen, die Welt zu vernichten!«

»Paige, hör auf! Das hilft uns auch nicht weiter.« Es kostete mich Mühe, sie festzuhalten, während sie weiterhin Mallory zu packen versuchte. Die schien das Gespräch aber überhaupt nicht wahrzunehmen.

»Sie sollte für das, was sie angerichtet hat, auch bezahlen!«

»Das wird sie«, sagte Ethan. »Aber du wirst ihr Strafmaß nicht bestimmen.«

»Das sollte ich aber. Schau, was sie angerichtet hat!«

»Paige, das ist genau das, was Mallory versucht hat – Dinge zu kontrollieren, die sie nicht hätte kontrollieren sollen. Sie hätte es nicht tun sollen, und du solltest es auch nicht tun.«

Paige schüttelte den Kopf, aber nach kurzer Zeit hörte sie auf, sich zu wehren. Ich ließ sie wieder los.

»Alles, was ich besaß, war da drin. Alles. All meine Sachen. Meine Klamotten.« Sie schluckte schwer. »Ich kann nirgendwohin.«

Unsere Kleidung und der gesamte Inhalt unserer Seesäcke. Zum Glück hatten wir unsere Schwerter mitgenommen. Die Temperaturen eines Hausbrands würden temperiertem Stahl vermutlich nicht viel anhaben können, aber ich hatte kein Interesse daran, diese Theorie zu widerlegen.

»Wenn du mit uns nach Chicago zurückkehren möchtest, kannst du gerne bei uns im Haus bleiben, bis eine andere Lösung gefunden ist«, sagte Ethan. »Wir müssen außerdem Mallory sicher zurückbringen. Sie hatte schon einmal magische Handschellen um. Könntest du …?«

Paige nickte, wischte sich die Tränen aus den Augen und ließ mit einer minimalen Handbewegung einen kurzen, aber heftigen Magie-Impuls entstehen, der Mallorys Hände wie einen Reißverschluss zusammenzog.

Mallory ließ es einfach geschehen. Kein Widerspruch. Kein Widerstand. Ich konnte mich nur fragen: War das der Beginn einer echten Reue oder nur eine weitere Gelegenheit, ein schlechtes Gewissen vorzutäuschen, bis sie wieder fliehen konnte?

»Die werden sie eine Zeit lang festhalten«, sagte Paige und holte ein Handy aus ihrer Tasche. »Ich rufe Baumgartner an. Er kann entscheiden, wo sie untergebracht wird. Vielleicht am selben Ort wie zuvor, nur mit mehr Sicherheitskräften.«

Als wir das Geräusch von Stiefeln in unserer Nähe hörten, sahen wir auf. Dunkle Gestalten kamen von der anderen Seite des Hauses zu uns herüber.

»Tate?«, fragte Paige.

Ich ließ meinen Sinnen freien Lauf und roch den scharfen Geruch eines Tiers. Ich entspannte mich ein wenig. Unsere Chancen standen nun nicht mehr ganz so schlecht.

»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Formwandler.«

Um genau zu sein, handelte es um Gabriel Keene, muskulös, braunhaarig, dessen Blick aus goldenen Augen einen zu durchbohren schien. Er war der Anführer des Zentral-Nordamerika-Rudels der Formwandler. Und neben ihm war ein weiteres Mitglied seines Rudels: der groß gewachsene und schlaksige Jeff Christopher, ein Angestellter meines Großvaters. Oder besser gesagt: ehemaliger Angestellter.

Sie trugen beide Jeans und schwere Lederjacken. Ich ging davon aus, dass sie ihre Motorräder in der Nähe geparkt hatten.

»Was macht ihr denn hier?«, rief ich aus.

»Begrüßt man so einen alten Freund, Kätzchen?«

Gabriel hatte recht. Ich rannte zu ihm und umarmte ihn. Er lachte und tätschelte mir den Rücken. »Das reicht. Sullivan wird sonst eifersüchtig.«

Ich wich zurück und winkte Jeff kurz zu. Er lief rot an.

»Sullivan hat mir versichert, dass er nicht eifersüchtig wird«, sagte ich.

Doch Gabriels Lächeln verschwand, als er zu Ethan hinübersah. Als ob er nicht ganz sicher wäre, was er da vor Augen hatte, musterte er ihn von oben bis unten.

Gabriels Blick und das Kribbeln von Magie, die ihn umgab, bewiesen mir, dass es sich dabei um etwas Bedeutsames, Entscheidendes handelte. Gabriel hatte Ethan seit dessen Rückkehr nicht mehr gesehen, und es schien deutlich, dass er festzustellen versuchte, wer Ethan war – ob er noch ein Vampir war, ob er noch gut war, ob er noch Ethan war. Ob ihn die Magie verdorben, ihn in etwas anderes verwandelt oder irreparabel beschädigt hatte.

»Die Hexenmeisterin hat eine ganz schöne Show veranstaltet«, sagte er schließlich.

Ethan streckte Gabriel die Hand entgegen, aber Gabriel ignorierte sie und umarmte ihn ungestüm, sodass Ethan beinahe auf seine Zehenspitzen gehoben wurde.

»Und das ist nur eins von den merkwürdigen Dingen, die ich heute erlebt habe«, murmelte ich.

»Schön, euch beide zu sehen«, sagte Ethan. »Was bringt euch nach Nebraska?«

»Sie sind die Eskorte für das Maleficium«, sagte Paige. »Sie haben es hier abgeliefert, bevor Mallory die Flucht ergriffen hat.«

Ich deutete auf Jeff. »Das erklärt, warum du gestern nicht auf Arbeit warst. Du warst auf dem Weg hierher, mit dem Buch.«

Er zuckte seine schmalen Schultern mit einem beachtlichen Maß an männlicher Überheblichkeit. »Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.«

»Nachdem man uns ziemlich angebettelt hat, sind wir hier, um es wieder abzuholen«, sagte Gabriel. Dann warf er einen finsteren Blick auf das brennende Bauernhaus. »Irgendwie habe ich aber das Gefühl, dass sich unsere Pläne gerade geändert haben.«

»Das Maleficium ist zerstört worden«, sagte ich, und Gabriel sah mich mit deutlichem Entsetzen an. »Und es scheint, dass das darin enthaltene Böse ebenso vernichtet wurde. Oder zumindest größtenteils.«

»Größtenteils?«, fragte Jeff.

»Seth Tate hat das Buch in dem Augenblick berührt, als Mallory den Zauberspruch wirkte«, sagte Ethan. »Er hat sich geteilt.«

Gabriel blinzelte. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Aus einem Tate wurden zwei«, bestätigte ich.

»Das Buch ist zu Asche zerfallen, und die beiden sind durch den Raketenschacht nach oben geflogen.« Ethan sah zu dem Bauernhaus hinüber. »Als wir aus dem Silo kamen, sahen wir das Haus brennen.«

»Was ist er?«, fragte Gabriel, und ich glaube, er meinte das rhetorisch. Selbst wenn das nicht der Fall war, hatten wir keine Antwort.

»Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage«, sagte ich. »Was immer sie sind, einer von ihnen oder beide haben Paiges Zuhause in Brand gesteckt. Es scheint mir nicht schwierig, sich vorzustellen, dass sie nach Chicago zurückgekehrt sind, um noch mehr Chaos anzurichten. Wir müssen nach Hause.«

»Tatsächlich gibt es auch zu Hause einige Schwierigkeiten«, sagte Jeff.

»Oh?«, sagte ich.

»Vier Polizisten haben zwei Vampire und zwei Menschen zusammengeschlagen, die gemeinsam unterwegs waren.«

»Stammten die Vampire aus einem der Häuser?«

»Abtrünnige«, sagte er. »Die Polizisten behaupten, die Vampire hätten sie angegriffen. Die Vampire behaupten, sie hätten in einer Weinschenke mit den Menschen abgehangen, und die Polizisten hätten sie ohne Grund angepöbelt, ihnen Obszönitäten an den Kopf geworfen, dass Vampire und Menschen nichts miteinander zu tun haben sollten. Es scheint ziemlich deutlich, dass es mit dem Chicago Police Department bergab geht, seit dein Großvater nicht mehr da ist.«

»Rassismus ist auch im einundzwanzigsten Jahrhundert an der Tagesordnung«, sagte ich bedauernd.

»Wenn die Bürgermeisterin den Bürgern erzählt, die Vampire seien der Feind«, sagte Ethan, »dann ist solche Gewalt wenig überraschend.«

»Wenn wir uns bei der Stadt registrieren lassen müssen, wird sich unsere Lage auch nicht gerade verbessern«, sagte ich. Das war eine weitere Sache, die ich auf meine To-do-Liste setzen musste. »Wir können uns nicht mehr unter die Menschen mischen, wenn wir Ausweispapiere bei uns tragen müssen.«

»Traurig, aber wahr«, stimmte Jeff zu.

»Was werdet ihr mit ihr anstellen?«

Wir sahen alle zu Mallory hinüber.

»Sie kommt mit uns zurück nach Chicago«, sagte Ethan. »Danach wird sich der Orden um sie kümmern.«

»Beim letzten Mal machten sie keinen sehr guten Job. Sie brauchte keine vierundzwanzig Stunden, um zu entkommen.«

»Nein«, sagte Ethan, »das haben sie wirklich nicht.«

Gabriel sah zu Jeff hinüber. »Würdet ihr uns einen Augenblick entschuldigen?«

Als Ethan mit einer kurzen Handbewegung seine Zustimmung signalisierte, führte Gabriel Jeff einige Meter weg. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen zu flüstern.

»Worum geht’s?«, fragte ich leise.

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte Ethan, aber die Neugier in seinem Tonfall war nicht zu überhören.

Nach einer Weile kamen sie zu uns zurück. »Wir nehmen sie mit«, sagte Gabriel.

Schweigen trat ein.

»Ihr nehmt sie mit?«, fragte Ethan schließlich.

»Wir nehmen sie in Gewahrsam. Der Orden war nicht in der Lage, mit ihr fertigzuwerden. Du weißt, dass ich mich normalerweise aus derartigen politischen Angelegenheiten heraushalte, aber ich habe auch keine Lust, dass die Stadt um uns herum in Flammen aufgeht. Wir möchten dort nämlich bleiben.«

Ethan wirkte völlig verwirrt. »Es tut mir leid, aber ich habe gerade meine Schwierigkeiten, das zu verstehen. Wo wollt ihr sie denn hinbringen?«

»Wir haben eine Unterkunft.« Mehr verriet Gabriel nicht. »Ihr dürft sie selbstverständlich jederzeit besuchen. Catcher auch«, sagte er und sah zu Mallory hinüber. »Bei uns wird sie sich nicht trauen, so eine Scheiße wie beim Orden abzuziehen.«

Er warf ihr einen stechenden Blick zu, der sie hätte zu Tode erschrecken sollen. Ich bekam Angst und ich war nicht mal diejenige, die hier in Schwierigkeiten war.

»Sie braucht Betreuer«, sagte Ethan. »Sie glaubt, sie sei krank – dass sie unter einem magischen Ungleichgewicht leidet, das sie zu ihren Taten gezwungen hat.«

Gabriel zog eine verächtliche Grimasse. »Sie muss nicht verhätschelt werden. Sie hat sich wie eine gewissenlose Verbrecherin verhalten. Wenn sie eine von meinen Leuten wäre, dann hätte sich das Problem von alleine gelöst.«

Gabriel war von seinem jüngsten Bruder Adam verraten worden, und seitdem hatten wir von Adam nichts mehr gehört. »Bei uns wird sie keine Magie anwenden. Dafür können wir ziemlich leicht sorgen. So, wie ich das sehe, braucht sie keine Ausreden. Sie muss endlich ihren Scheiß geregelt kriegen.«

»Und ihr könnt ihr dabei helfen?«

»Nein«, sagte Gabriel und sah Mallory mit zusammengekniffenen Augen an. »Niemand kann ihr helfen. Sie tut es, oder sie tut es nicht. Eine andere Wahl wird sie bei uns nicht haben.«

Er würde es also mit liebevoller Strenge versuchen. Es hörte sich beileibe nicht einfach an, aber alles andere hatte auch nicht funktioniert. Der Orden hatte sie in einer medizinischen Einrichtung untergebracht – einschließlich Rund-um-die-Uhr-Betreuung –, und wir wissen ja, wo uns das hingeführt hat.

»Ich werde nach ihr sehen«, sagte Paige zu Gabriel, die offensichtlich geneigt war, die Aufgabe der Überwachung an die Formwandler abzugeben.

Er nickte. »Ich verstehe, dass Entscheidungen über ihre langfristige Zukunft getroffen werden müssen. Sie muss einiges wiedergutmachen. Bei Freunden und Familie.« Gabriel sah zu mir auf. »Ich werde ihr die Chance geben, dies zu tun. Ob sie es schafft oder versagt, liegt allein bei ihr.«

»Das ist eine große Verantwortung«, sagte Ethan.

Gabriel nickte. »Ich bin nicht auf der Suche nach noch mehr Verantwortung. Ich habe eine Frau, einen Sohn und meine eigenen Probleme. Aber wenn ich dabei helfen kann, dieses Problem hier jetzt zu lösen, dann muss ich mich nicht später darum kümmern. Außerdem«, sagte er und richtete seinen strahlend goldenen Blick auf mich, »habt ihr uns auch schon geholfen. Ich schulde euch noch etwas.«

Gabriel hatte eine Prophezeiung über mich und meine Zukunft – mit oder ohne Ethan – gemacht. Es handelte sich angeblich um einen Gefallen, den ich ihm tun würde, aber natürlich hatte er mir keine näheren Details anvertraut.

Ethan sah zu Mallory. »Seid ihr sicher, ihr schafft es nach Chicago zurück, ohne dass sie Ärger macht?«

Gabriel lachte leise. »Für ein solches Problem gibt es immer eine Lösung.« Er ging hinüber zu Mallory und hockte sich vor sie.

»Wie geht es dir?«

Sie sah auf, um ihm zu antworten, doch bevor sie sprechen konnte, hatte er ihr eine Hand auf die Wange gelegt und ihr einen leichten Klaps gegeben. Als ihr Kopf leblos auf die Schultern sank, stand Gabriel wieder auf. »Und damit hätten wir auch das erledigt.«

»Ist sie in Ordnung?«, fragte ich.

»Alles gut. Nur eine sanfte Berührung. Es ist wie bei einem Hai, den man verkehrt herum hält – das beruhigt ihn. Eine ziemlich praktische Technik, mit der man verwirrte Hexenmeisterinnen beruhigen kann. Wir haben jetzt vier bis fünf Stunden Zeit, bevor sie wieder aufwacht. Und sobald sie wieder aufgewacht ist, können wir ein nettes Gespräch führen.«

Ich starrte ihn ausdruckslos an. »Hättest du das nicht schon vor drei Tagen machen können?«

Gabriel zuckte mit den Achseln. »Mich hat ja niemand gefragt.«

Und das war vermutlich die prägnanteste Lektion dahingehend, dass man während einer Krise alle verfügbaren Agenten einsetzen sollte.

»Wie bekommt ihr sie nach Chicago zurück?«, fragte Ethan.

»Beiwagen«, sagte Jeff und deutete mit dem Daumen auf die Zufahrt.

»Du hast einen Beiwagen?« Ich hielt eine Hand hoch. »Moment. Lass mich das umformulieren. Du bist im Beiwagen nach Nebraska gefahren?«

Jeff war wirklich süß, und ich bekam das Bild, wie er völlig begeistert in einem altmodischen Beiwagen durch den Mittleren Westen fuhr – braune Locken, die im Fahrtwind flatterten, glücklich wie ein Welpe –, einfach nicht aus meinem Kopf.

»Ich bin meine eigene Maschine gefahren«, sagte er. »Der Beiwagen war für das Buch. Und jetzt ist er für das Mädchen, das das Buch zerstört hat.«

Wir sahen wieder zu ihr hinüber, wie sie reglos auf dem Boden lag, während ohne ihr Zutun über ihre Zukunft entschieden wurde, denn sie hatte das Recht des Einspruchs verwirkt.

In der Ferne war das dumpfe Dröhnen eines sich schnell nähernden Feuerwehrfahrzeugs zu hören. Die Nachbarn hatten anscheinend eine Zeit lang gebraucht, bis sie bemerkt hatten, dass etwas nicht stimmte. Das bedeutete, dass wir uns auf den Weg machen mussten. Der Orden konnte sich darum kümmern, den Rest dieses Chaos zu beseitigen.

»Wie kommt ihr nach Hause?«, fragte Gabriel.

»Ich habe einen Transporter«, sagte Paige. »Zum Glück stecken die Schlüssel drinnen.«

»Wenn du uns zum Flughafen mitnehmen kannst, nehmen wir den Jet«, sagte Ethan.

Ich starrte ihn an. »Wie bitte – den Jet?«

»Das Haus verfügt über einen Jet«, sagte Ethan. »Nun ja, das Haus mietet gelegentlich einen Jet. Und ich würde behaupten, dass dies eine passende Gelegenheit ist.«

»Hattest du vorgehabt, mir gegenüber den Jet zu erwähnen, bevor wir acht Stunden durch Nebraska gefahren sind und dabei deinen Mercedes geschrottet haben?«

Er sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Wenn ich das getan hätte, hätten wir nicht all diese Stunden miteinander verbringen können, Hüterin.«

Das könnte natürlich ein unbeabsichtigter Nutzen gewesen sein, aber er hätte uns nicht mit einer Autofahrt aufgehalten, wenn es eine schnellere Alternative gegeben hätte. »So kurzfristig keinen Piloten gefunden?«, riet ich.

»Vielleicht. Aber zerstör doch nicht die Illusion.«

Ich verdrehte die Augen.

»Wir bringen sie erst mal unter und machen sie mit den neuen Regeln vertraut«, sagte Gabriel, »und dann könnt ihr vorbeikommen und Hallo sagen. Damit habt ihr die Chance, ihre Situation zu beurteilen. Allerdings glaube ich, dass ihr mit dem Arrangement zufrieden sein werdet; ihr habt die Betreuerin, die ich mir für sie vorstelle, schon kennengelernt.«

Ich hatte keinen Grund, das Angebot auszuschlagen, also nickte ich. »Übrigens, auf der I-29 ist ein Abschnitt, den wir umfahren müssen.«

Gabriel runzelte die Stirn. »Wir sind problemlos hierhergekommen.«

»Das war vor Tate.«

Gabriel seufzte, und ich sah Ethan an. »Na gut«, sagte ich, »dann lasst uns eben den Jet nehmen.«