KAPITEL ACHTZEHN
ORDENTLICH REINHAUEN
Als ich das Ukrainian Village verließ, hatte ich das Radio eingeschaltet und die Fenster geschlossen. Ich hatte die Heizung bis zum Anschlag hochgedreht und wurde leicht gebraten, aber ich genoss die Hitze auf dem Rückweg zum Haus kaum.
Ich wollte gerade schon mit der Faust auf das Armaturenbrett schlagen, weil das Radio plötzlich ein statisches Fiepen von sich gab, aber das Gerät war nicht das Problem.
Es war eine Warnung.
»Leute, es tut mir leid, die Sendung zu unterbrechen«, sagte der Sprecher, »aber wir schalten jetzt live zum Haus von Dan O’Brian, den sicherlich einige von euch als Mitglied der sogenannten ›South Side Four‹ kennen – die vier Polizisten des Chicago Police Department, die eine Gruppe von Vampiren und Menschen angegriffen haben sollen und vor Kurzem freigelassen wurden.«
Im Hintergrund heulten Sirenen auf. Da ich mir schon denken konnte, dass diese Nachricht nichts Gutes bedeutete, fuhr ich an die Seite, schaltete die Heizung aus und drehte das Radio lauter.
»Officer O’Brian wurde vor wenigen Augenblicken zusammen mit Officer Owen Moore und Officer Thomas Hill tot vor seinem Haus aufgefunden. An alle Eltern da draußen: Falls ihr irgendwelche Kinder vorm Radio habt – jetzt wird es blutig. Anscheinend starben alle drei durch massive Verletzungen am Hals. Officer Coy Daniels war bereits bei dem Angriff während ihrer Freilassung getötet worden. Wir haben erfahren, dass die verbliebenen Polizisten ein Angebot der Stadt, Schutzmaßnahmen zur Verfügung zu stellen, abgelehnt hatten –«
Ich schaltete das Radio aus, schloss die Augen und lehnte meinen Kopf an die Kopfstütze.
Wir hatten so viel unternommen, um diese drei zu schützen, und es war alles umsonst gewesen. Dominik hatte sie gefunden und einfach getötet. Welche Moral sollte diese Geschichte haben? Dass das Böse immer gewann? Dass Widerstand zwecklos war?
Diese Nacht brauchte dringend ihr Happy End, und zwar schnell.
Es gab nur wenige Orte in Chicago, an denen es garantiert zu keinem Happy End kommen würde. Einer dieser Orte war das Zuhause der Herrscher des Himmels, ein Turm im Potter Park. Dort lebte Claudia, die Feenkönigin.
Wie ich schon Ethan und Paige erzählt hatte, war mein letzter Besuch bei den Feen nicht sonderlich vielversprechend gewesen. Da Claudia mir aber zu verstehen gegeben hatte, dass es zwischen uns keinen Groll gab, hielt ich an der unwirklichen Hoffnung fest, dass sie sich an ihr Versprechen erinnerte und mich nicht sofort umbrachte, wenn ich meine Nase durch die Tür steckte.
Ich brauchte dringend mehr Informationen, und wenn es zwischen ihr und Dominik eine Verbindung gab, dann musste ich mehr darüber erfahren.
Der Park lag still und leer da. Ich parkte am Straßenrand und schritt über das absterbende Gras zum Turm. Er war aus Steinen errichtet worden, wirkte aber ziemlich baufällig. Dennoch hatte Claudia ihn zu ihrem Zuhause gemacht. Ich ging vorsichtig die Wendeltreppe hinauf, bis ich die Turmspitze erreicht hatte, und blieb vor einer kunstvoll gestalteten Tür stehen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und klopfte zweimal.
Die Tür wurde geöffnet, und ein Feensöldner starrte mich an. »Ja?«
Bei meinem letzten Besuch hatte Jonah auf Gälisch um Einlass gebeten. Da ich diese Sprache nicht beherrschte, musste mein Englisch herhalten.
»Ich würde gerne mit Claudia sprechen, wenn sie es erlaubt.«
Die Tür wurde mit einem dumpfen Krachen zugeschlagen. Eine Wolke aus Staub und verrottetem Holz flog mir ins Gesicht. Ich wischte mir gerade meine Wangen sauber, als sie wieder geöffnet wurde.
»Kurz«, sagte die Fee in verächtlichem Tonfall. Dann trat sie beiseite, um mich hereinzulassen.
Das Turmzimmer, in dem Claudia lebte, war rund und magisch verändert, denn es erstreckte sich über eine wesentlich größere Fläche, als es das Äußere des Turms erahnen ließ. Es war schlicht eingerichtet und duftete wie ein Blumengarten.
Claudia saß an einem runden Tisch auf einer Seite des Zimmers. Sie trug ihre langen rotblonden Haare in einem schlichten Zopf, der ihr den Rücken hinabfiel, und ein Kleid in einem sanften Rosa. Sie sah über die Schulter, als ich hereinkam, auf ihrem Kopf eine Blätterkrone.
»Blutsaugerin«, sagte sie zur Begrüßung. Es hätte genauso gut auch ein Fauchen sein können.
»Madam«, sagte ich.
Sie stand auf und kam auf mich zu. Ihre blauen Augen betrachteten mich neugierig. »Du besuchst erneut unsere Wohnstätte. Warum?«
»Meines Wissens nach kennt Ihr Dominik, den Himmelsboten, und ich habe mich gefragt, ob Ihr mir von ihm erzählen könnt.«
Sie lachte, und ihr Lachen klang zugleich launenhaft und uralt. »Wer bist du, dass du solche Fragen stellst? Du bist ein Kind und eine Blutsaugerin dazu.«
»Er schadet den Menschen«, sagte ich. »Ich versuche einen Weg zu finden, wie ich ihn daran hindern kann.«
Ich hätte offensichtlich nichts Falscheres sagen können. Ihr Lächeln verschwand, und die Königin der Feen schritt entschlossen und mit finsterer Miene auf mich zu. Bevor ich ihr ausweichen konnte, hatte sie mir bereits ins Gesicht geschlagen.
»Wer bist du, dass du glaubst, das Schicksal eines Himmelsboten bestimmen zu können?«
Mit brennender Wange zwang ich mich, ihrem Blick standzuhalten – und sie nicht wegzustoßen. Sie war viel zu reizbar, und sie hatte mich schon einmal dazu verführt, gewalttätig zu werden.
»Ich bin Hüterin meines Hauses und eine Beschützerin dieser Stadt«, sagte ich. »Er bedroht alle, die hier leben. Das gibt mir das Recht, Fragen zu stellen und zu handeln, wenn es notwendig sein sollte.«
»Du weißt gar nichts«, blaffte sie, drehte sich auf dem Absatz um und brachte einige Schritte Abstand zwischen uns. Dann drehte sie sich wieder zu mir, die Schultern zurückgenommen und die Brust nach vorne gestreckt, als ob sie mir ihre Weiblichkeit beweisen wollte.
»Dominik untersteht meinem Schutz, und so wird es auch bleiben. Solltest du ihm Schaden zufügen wollen, dann käme das einem Angriff auf mich und meinesgleichen gleich. Dies werde ich nicht erlauben.« Sie sah mich verächtlich an. »Du bist keine Beschützerin. Du bist ein Püppchen mit einem spitzen Stock und der dazu passenden Arroganz. Verlass sofort diesen Raum. Wenn es an der Zeit ist, dich zu richten, dann wird er dich finden, und dann wirst du keine Kraft mehr haben, solch leere Drohungen auszustoßen.«
Die Schwertspitze, die ich plötzlich in meinem Kreuz spürte, verlieh ihrer Aussage den nötigen Nachdruck. Ich wurde hinausbegleitet, und die Tür schlug unter schwerem Krachen hinter mir zu.
Das war mit Sicherheit nicht das produktivste Gespräch meines Lebens, aber eine Sache war nun klar – Claudia kannte Dominik. Waren sie damals Geliebte gewesen? Das schien wahrscheinlich. Ein Paar? Durchaus möglich. Die Hinweise waren zwar nur spärlich gesät, aber ich hatte dieses unbestimmte Gefühl, dass dies nicht mein letztes tolles Gespräch mit der Feenkönigin war.
Meine Laune hatte sich keinen Deut gebessert. Als ich Haus Cadogan erreichte, stellte ich den Wagen ab und ging an den Feensöldnern vorbei ins Gebäude. Dort traf ich auf Lindsey, die gerade aus dem Kellergeschoss die Treppe heraufkam.
»Hi. Alles okay?« Sie runzelte die Stirn. »Du siehst seltsam aus.«
»Alles in Ordnung. Anstrengende Nacht.«
Sie nickte. »Hast du das von den Polizisten gehört?«
Ich nickte. »Im Radio.«
»Hört sich ziemlich schrecklich an.«
»Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen«, sagte ich. »Ich fühle mich ziemlich nutzlos.«
»Was hättest du auch tun können? Wenn sie nicht intelligent genug waren, sich schützen zu lassen, dann hätte niemand sie vor Dominik retten können.«
Ich zuckte mit den Achseln. Diese Argumentation war nachvollziehbar, aber ich fühlte mich deswegen nicht besser. Es fühlte sich immer noch so an, als ob ich die Stadt im Stich gelassen hätte, und das lastete schwer auf mir.
»Hast du bei Mallory was Nützliches herausfinden können?«
»Nicht wirklich. Catcher und Jeff werden sich Tates Vorgeschichte mal ansehen.« Dann erzählte ich ihr das, was ich von Claudia erfahren hatte, und das war nun wirklich nicht viel. »Was hast du gerade vor?«
»Schichtwechsel. Die Mädels warten oben mit einer Pizza. Hast du Hunger? Du siehst aus, als könntest du was zu essen vertragen.«
Wann sah ich nicht so aus? Ehrlich gesagt fühlte ich mich nicht in der Lage, mit Ethan zu reden, und ich hatte auch keine Lust auf einen weiteren Streit. Nicht, wenn ich die ganze Zeit über Hexenmeister, Polizisten und gefallene Engel nachdenken musste. Lindsey und ich hingegen hatten schon sehr oft bei Pizza und Filmen abends entspannen können.
»Okay«, sagte ich. »Hört sich gut an.«
»Super«, sagte sie und hakte sich bei mir unter. »Bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?«
»Ist es nicht«, sagte ich. »Aber das wird schon.«
Ihr Zimmer war bereits überfüllt mit Vampiren. Margot war dort, außerdem mehrere männliche Vampire, die ich zwar schon mal gesehen, mit denen ich aber noch kein Wort gewechselt hatte. Obwohl wir Blutsauger waren, roch es nach Käse, Tomatensoße und reichlich Knoblauch – drei meiner Lieblingslebensmittel, die in einer Pizzapfanne so dick und saftig miteinander verschmolzen waren, dass man sie mit einem Löffel essen musste.
Ich wurde unter lautem Jubel begrüßt (immer besser, als verhöhnt zu werden) und stieg auf Zehenspitzen über die Vampire hinweg, bis ich einen freien Platz auf dem Fußboden erreichte.
»Wir wollten gerade entscheiden, was wir uns anschauen«, sagte Margot, die mir ein Stück Pizza auf einem Papierteller reichte. »Da du ja Vorsitzende unseres Party-Ausschusses bist, solltest du diese Entscheidung treffen.«
Ethan hatte mich zur Vorsitzenden ernannt, was zum einen als Witz und zum anderen als Strafe gemeint gewesen war. Er glaubte, dass ich meine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner im Haus besser kennenlernen sollte. Eine vernünftige Entscheidung, aber ich hatte nicht sonderlich viel getan, um meiner Aufgabe gerecht zu werden. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir eine Kennenlernparty zwischen Cadogan, Grey und Navarre organisieren sollten, aber irgendwie schien das ständige magische Chaos sich dem in den Weg zu stellen.
»Was haben wir denn zur Auswahl?«, fragte ich.
Lindsey stöberte durch einige Filme. »Zeichentrick, moralisch aufbauend. Drei Mädels, die ziemlich frech mit ihren Kerlen und ihren Jobs umgehen. Aber mein persönlicher Favorit ist die Geschichte dieses armen Mädchens, das bei einem Tanzwettbewerb an seiner Highschool beweist, dass es die Beste ist, und die Hauptrolle in einem Broadway-Musical bekommt.« Sie warf mir einen Blick von der Seite zu. »Die Jungs werden das nicht zu schätzen wissen, aber es wird gesungen. Sehr viel sogar, und man kann den Text als Untertitel einblenden.«
Sie kannte mich besser als jeder andere. Ich liebte es zu tanzen, und in der Highschool wollte ich unbedingt Musical-Sängerin werden – doch leider mangelte es mir an Talent. Zum Glück hatte ich mich auf gute Noten verlassen können.
»Ich kann mich gegenüber Mitsingtexten ja wohl kaum verweigern«, sagte ich und biss in die Pizza. Sie schmeckte unverschämt gut.
Als Doktorandin entwickelte ich die ziemlich schlechte Angewohnheit, meine Arbeit so ernst zu nehmen, dass ich alles und jeden darüber vergaß. Ich hörte auf, mich mit Freunden zu treffen. Ich tat praktisch nichts mehr, was nicht mit dieser Arbeit zu tun hatte. Ich wurde zum Einsiedler – nicht, weil ich nicht gerne andere Leute um mich hatte, sondern weil ich die Balance zwischen Arbeit und Freizeit einfach nicht hinbekam. Die Arbeit allein war viel leichter zu organisieren.
Es waren solche Augenblicke, die mir bewiesen, dass beides möglich war. Ich konnte ausgelastet sein und damit viel erreichen und trotzdem ein Sozialleben haben. Ich konnte mit anderen Leuten Zeit verbringen. Ich konnte die große, weite Welt sehen, anstatt mich vor ihr zu verbergen. Bei solchen Gelegenheiten fühlte ich mich wie ein normaler Mensch, nicht nur wie ein Konfliktmanager für ein Haus voller Vampire.
Freundschaften sind keine Last, dachte ich mir, während ich mein Stück Pizza verputzte. Sie sind ein Geschenk. Nur durch sie wurde uns immer wieder klar, warum wir uns überhaupt in den täglichen Kampf stürzten. Warum wir uns mit aller Kraft bemühten, das Haus zu beschützen – und was wir damit beschützten.
Also lehnte ich mich mit Lindsey und den anderen zurück und krähte und krächzte furchtbar schlechte Texte, die mir vor Augen führten, wofür ich jeden Tag kämpfte.
Als der Film zu Ende war, half ich der Mannschaft beim Aufräumen und freute mich darüber, das letzte Stück Pizza mit in mein Zimmer nehmen zu dürfen.
Aber als ich gerade gehen wollte, hielt mich Lindsey auf.
»Oh nein«, sagte sie. »Wir haben dir was zu sagen.« Sie sah sich im Zimmer um. »Alle Jungs auf der Stelle raus.«
Es waren zwar nur noch ein paar männliche Vampire da, aber sie trabten unter lautem Gejohle und lauten Pfiffen aus dem Zimmer, unter lautstarken Anspielungen darauf, was gleich zwischen mir, Margot und Lindsey passieren würde.
Lindsey schloss die Tür hinter ihnen und sah mich dann an.
»Raus damit.«
»Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht«, sagte ich, aber Margot und Lindsey tauschten einen kurzen Blick aus, der besagte, dass sie es besser wussten.
»Du und Ethan, ihr solltet es regelmäßig und mit wachsender Begeisterung tun«, sagte Lindsey. »Stattdessen redet ihr kaum miteinander, und Luc und ich müssen Nachrichten zwischen euch austauschen. Wenn die sexuelle Spannung im Haus weiter zunimmt, können wir Autobatterien damit aufladen. Was zur Hölle ist los?«
Ich schloss die Augen. Ein großer Teil dieses Themas war furchtbar demütigend, und ich hatte wirklich keine Lust, mich auch noch mit dem Rest zu beschäftigen.
Allerdings brauchte ich dringend Hilfe. Im Gegensatz zu gewissen überheblichen Meistervampiren wusste ich auch, wann ich darum bitten musste.
Ich setzte mich wieder auf den Fußboden. »Er treibt mich in den Wahnsinn.«
Lindsey und Margot setzten sich neben mich. »Was ist passiert?«
»Es hat in Nebraska angefangen. Er hat festgestellt, dass er und Mallory wegen ihres Zauberspruchs irgendeine Verbindung miteinander haben. Er ist nicht ihr Schutzgeist, nicht einmal annähernd, aber wenn sie emotional durchdreht, dann reagiert er genauso.«
»Das ist ziemlich unheimlich«, sagte Margot.
»Ist es«, stimmte ich ihr zu. »Aber er hat es unter Kontrolle – in Nebraska war das jedenfalls so. Na ja, auf jeden Fall hat er während eines ihrer Zaubersprüche meinen Arm gepackt, und jetzt ist er davon überzeugt, dass er mir wehtun wird, solange Mallory in seinem Kopf steckt. Das heißt, unsere Beziehung liegt jetzt auf Eis.«
Lindsey sah mich ausdruckslos an. »Er ist ein Idiot.«
»Oh, das weiß ich schon.«
»Nach all dem Mist, den ihr zusammen durchgestanden habt – all die Kämpfe, dass ihr uns alle in den Wahnsinn getrieben habt –, regt er sich über so etwas auf? Dass er dich zu fest am Arm gepackt hat?«
»Genau das.«
Lindsey ließ sich theatralisch auf den Teppich fallen. »Ich wusste ja, dass er stur ist, aber das schießt wirklich den Vogel ab.« Sie stützte sich auf ihre Ellbogen. »Er weiß, dass du unsterblich bist, oder? Und dass du dir schon früher Rippen gebrochen hast? Und angeschossen worden bist?«
»Das mag er vielleicht wissen«, sagte Margot, »aber betrachte es doch mal aus seiner Sicht – der Kerl ist nun mal Meister dieses Hauses oder war es zumindest. Sein Leben dreht sich nur um Kontrolle und Ordnung und um den Kampf gegen das Chaos. Und jetzt, auf einmal, nistet sich in seinem Kopf jemand ein, der sein Verhalten beeinflussen kann – und ihn dazu bringt, einen seiner Vampire zu verletzen? Das wird für ihn ein ganz großes Problem sein.«
»Das verstehe ich«, sagte ich. »Aber genau darum geht es mir – Ethan hat sich nicht plötzlich in ein Arschloch verwandelt. In seinem Kopf hockt eine Hexenmeisterin und sorgt dafür, dass mit seinen Gefühlen irgendwas nicht in Ordnung ist. Ich nehme bestimmt keine Leute in Schutz, die sich schlecht benehmen, aber in diesem Fall ist es nicht seine Schuld. Und außerdem geht es um mich. Er weiß, dass ich selbst auf mich aufpassen kann. Aber anstatt es zuzulassen, dass ich ihm helfe, wächst zwischen uns diese Spannung, wie ihr das nennt, und die macht mich wahnsinnig.«
»Weißt du, was das Problem ist?«, fragte Lindsey. »Ihr seid beide noch in der Vor-Liebe.«
»Wie bitte?«, fragten ich und Margot im Chor.
»Das ist die Phase, wenn ihr aufeinander scharf seid, euch aber noch nicht darauf einigen konntet, tatsächlich zusammen zu sein. Das ist die Vor-Liebe-Stufe. Er hat sich selbst eingeredet, dass er die Beziehung nicht aus irgendeinem dämlichen Grund beendet, denn ihr seid ja noch in der Vor-Liebe-Stufe, also scheint das ›auf Eis legen‹ für ihn nicht sonderlich schlimm zu sein.«
Ich seufzte. »Das ergibt einen Sinn. Aber wie kann ich das ändern? Ich will, dass Mallory aus seinem Kopf verschwindet, aber das könnte noch eine Zeit lang dauern. Was, wenn es Jahre dauert? Soll ich bloß rumsitzen und warten? Ich meine, als er seine Zimmertür aufgemacht hat, war er halb nackt.«
»Er will dich«, sagte Lindsey. »In körperlicher und auch in jeder anderen Hinsicht. Vielleicht musst du ihn einfach noch mal daran erinnern, dass du auf dich selbst aufpassen kannst.«
»Wie?«
»Mädchen, du bist die Hüterin dieses Hauses, und du wurdest von Catcher und Luc und Ethan ausgebildet. Er ist jetzt im Sparringsraum. Geh runter und tritt ihm in den Arsch.«
Ich lächelte verschmitzt. Das war ein Plan, der Hand und Fuß hatte.
Ich war eine Frau mit einem Ziel, und Halbherzigkeit würde mich nicht weiterbringen. Daher würde ich all meine Fähigkeiten zum Einsatz bringen – und außerdem die meisten meiner Klamotten ablegen. Die offizielle Sportkleidung des Hauses Cadogan war ziemlich bieder – ein Oberteil, das wie ein schwarzer Sport-BH aussah, und eine Yogahose. Ein solches Outfit garantierte Bequemlichkeit bei maximaler Beweglichkeit.
Catcher Bells Sportkleidung hingegen war dazu gedacht, dass ich meinen Körper in der Bewegung betrachten konnte – und daher war viel weniger Stoff im Spiel. Eine sehr knappe Sporthose und ein Bandeau-Top.
Ich schlängelte mich in das Ensemble, richtete meinen Pferdeschwanz und ging hinunter in den Sparringsraum. Ethan schien eine Pause von den Sitzungen und politischen Machenschaften gebraucht zu haben; er trug einen weißen Kampfsportanzug und brachte einer Handvoll Novizen eine Kata bei, einen zentralen Baustein des Vampirkampfstils.
Doch als er mich erblickte – und meine spärliche Bekleidung –, hielt er inne, und seine Augen funkelten. Ohne seine Novizen vorzuwarnen, kam er zu mir herüber.
»Ja?«
»Wir haben unser vorheriges Gespräch noch nicht beendet.«
»Und du hast vor, es noch einmal zu versuchen?«
»Ich habe vor, dich zur Vernunft zu bringen.«
»Pass auf, was du sagst, Hüterin.«
Ich ging einen Schritt auf ihn zu, sodass sich unsere Nasen fast schon berührten. Er hatte sich für mich pfählen lassen; ich hatte keine Angst vor ihm. Ich würde ihm das heute Nacht beweisen, egal, auf welche Art.
»Du hast mich im Kampf gesehen«, sagte ich leise zu ihm, »und du weißt, dass ich selbst auf mich aufpassen kann. Du weißt, dass ich es niemals zuließe, dass du mir wehtust. Ich bin kein Mensch. Ich bin eine Unsterbliche, praktisch unzerstörbar, eine erstklassig ausgebildete Novizin und Hüterin dieses Hauses. Aber wenn du glaubst, du könntest mir etwas anhaben, dann zeig’s mir doch.«
Entsetzen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Wie bitte?«
»Du und ich, hier und jetzt. Du gibst dein Bestes, mich zu verletzen.« Ich bedachte ihn mit dem herausforderndsten Blick, den ich zu bieten hatte. »Ich garantiere dir, dass du es nicht schaffst.«
Ich hatte das zwar leise, aber deutlich gesagt, und meine Worte schienen endlich zu ihm durchzudringen.
Er ging in die Raummitte und unterbrach ein halbes Dutzend Vampire, die sich auf den Tatami-Matten im Freikampf übten.
»Raus«, brüllte er, und niemand fragte nach dem Grund. Sie schnappten sich wortlos ihre Sachen und eilten zur Tür.
»Schließ sie ab«, befahl mir Ethan, und ich verriegelte die Tür hinter ihnen. Mein Herz raste vor Vorfreude.
Als ich mich zu ihm umdrehte, bedeutete er mir, näher zu kommen. »Ich bin so weit, Hüterin.«
Und ich erst. Er war so unerträglich gewesen, dass ich kein schlechtes Gewissen haben würde, ihn zu schlagen, und ich wartete nicht darauf, dass er als Erster zuschlug. Ich rannte auf ihn zu und griff ihn mit einem Scherentritt an, aber er war schnell genug, um ihn abzuwehren.
Ich trat ihm in die Kniekehle, was ihn nach vorne stolpern ließ. Er fing sich aber wieder und schaffte es, seine Vorwärtsbewegung in einen Rückwärtstritt umzuwandeln.
Ich kreischte überrascht, sprang aber über seinen Fuß. Wir hatten in weniger als einer Sekunde wieder Haltung angenommen und starrten uns an.
Erster Durchgang: Unentschieden.
»Du gibst dir nicht gerade viel Mühe«, sagte ich.
»Ich werde dich nicht wirklich verletzen.«
Ich lachte leise. »Das würde ja voraussetzen, dass du es könntest. Kannst du aber nicht. Versuch’s ruhig noch mal.«
Ethan schlug ein paarmal halbherzig nach mir. Ich antwortete mit einem Schlag, einem Kinnhaken und einer doppelten Schlagfolge. Er wich allen aus und schaffte es, einen Seitentritt auszuführen, der meine rechte Niere streifte. Seine Augen wurden groß, aber ich schnaubte nur sarkastisch.
»Da musst du dich schon ein wenig mehr bemühen, Sullivan. Oder wie Morpheus sagen würde: Hör auf, es zu versuchen, mach es.«
Ich musste seinen Stolz verletzt haben, denn er drehte sich nach hinten und entschied sich für einen halbkreisförmigen Tritt, einen seiner Spezialangriffe. Er besaß die ausdauernde Kraft eines Fußballspielers und die Beweglichkeit eines Tänzers. Seine Ferse streifte meinen Oberschenkel, und ich ließ einen schnellen Seitentritt folgen, der seinen Hintern kurz berührte, als er sich mit einer Drehung in Sicherheit brachte.
Aber Ethan reichte der halbkreisförmige Tritt nicht. Er drehte sich weiter und erwischte mit der Ferse meine Kniekehle. Mein Bein gab nach, ich ging zu Boden und krachte auf den Rücken. Bevor ich wieder auf die Beine kommen konnte, machte er einen Satz, warf sich auf mich und hielt meine Arme nieder.
Meine Augen wurden mit einem Schlag silbern, und dieser schnelle Übergang war mir zutiefst peinlich. Es war nervtötend, dass er die Macht besaß, mich so schnell zu beeinflussen – dass das Gefühl seines Körpers auf mir mich sofort in ein hilfloses Opfer verwandelte.
»Ein Punkt für mich«, sagte er.
Ich ging meine Möglichkeiten durch – ein Scherenangriff, der unsere Positionen vertauschen und ihn auf seinen Rücken bringen würde, oder meine Kapitulation, die ihn genau an derselben Stelle lassen würde, sein langer und warmer Körper auf mir.
»Ein Punkt für dich«, sagte ich, »aber ich bin immer noch in bester Verfassung.«
»Es wird nicht immer so einfach sein«, sagte er, und in seinem Blick lag weiterhin Angst.
Ich verstand ihn nur zu gut. Ich verstand sehr gut, welche Gefahren er zu vermeiden versuchte. Doch er hatte mein Leben bereits zweimal gerettet. Ich vertraute ihm blind, und das nicht, weil ich Angst vor ihm oder seinen möglichen Taten hatte. »Ich habe keine Angst vor dir.«
Seine Augen wurden silbern. »Das solltest du aber.«
»Niemals. Du hast dich für mich einem Pflock in den Weg geworfen.«
»Da war ich ein anderer Mann.«
»Schwachsinn. Du bist derselbe Mann, der du zu dem Zeitpunkt auch warst. Vielleicht ein wenig draufgängerischer und vielleicht ein wenig launischer, seitdem sich Mallory eingemischt hat. Aber derselbe Mann.« Ich strich mit einem Finger über die Narbe auf seiner Brust. »Du hast dein Leben für mich gegeben. Du hast eine Narbe, die dein Leben lang beweisen wird, was du für mich geopfert hast. Würdest du es noch einmal tun?«
»Jederzeit.«
Und das war mir Antwort genug. Er mochte vielleicht Angst gehabt haben, dass er mir Schmerzen bereiten könnte, aber er wusste auch, was er zu tun bereit war, um mich zu beschützen.
»Du hast mir in Nebraska gesagt, dass du mich Mallory vorziehen würdest.« Ich strich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. »Ich bitte dich, das jetzt wieder zu tun, Ethan. Zieh mich Mallory vor. Gib ein wenig von deiner Kontrolle auf und lass mich dir helfen.«
Als er sich zur Seite rollte und neben mich setzte, rutschte mir das Herz in die Hose. Tränen traten mir in die Augen, denn alle Hoffnung schien verloren.
»Ich habe dir nie erzählt, warum Malik und ich in dieser Nacht auf dem Universitätsgelände waren.«
Er sprach von der Nacht, als er mir zum ersten Mal das Leben gerettet und mich zur Vampirin gemacht hatte. Mein Herz setzte für einen Augenblick aus, denn mir schwanten Informationen, die mich entweder ohnmächtig werden ließen oder unendlich wütend machen würden. »Nein, das hast du nicht«, sagte ich vorsichtig.
»Nachdem dein Vater zu mir gekommen war und ich ihn abgewiesen hatte, machten Malik und ich uns Sorgen, dass er sich möglicherweise, nun ja, umsehen und Angebote vergleichen könnte.«
Er war sehr ruhig und betrachtete mich, während ich überlegte, wie ich seine Beichte zu verstehen hatte. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wie ich sie verstehen sollte. »Du bist mir gefolgt?«
»Wir waren nicht in die Gespräche deines Vaters mit anderen eingeweiht, aber Malik hielt es für sinnvoll, auf dich zu achten, und ich stimmte ihm zu.« Er räusperte sich. »Ich war zu dem Entschluss gelangt, dass du die Wahrheit verdient hättest.«
»Du wolltest mir sagen, was er getan hat?«
»Wir wussten, dass du an der University of Chicago eingeschrieben warst, und wir hatten herausgefunden, dass du dich in dieser Nacht an deiner Fakultät aufhalten würdest. Wir waren gerade erst aus dem Wagen ausgestiegen, als wir sahen, dass du angegriffen worden warst.«
Dass er genau in dieser Nacht mit mir zu sprechen versucht hatte.
Und ich hatte ihn gehasst. Ich hatte ihn verabscheut, als ich feststellte, dass ich verwandelt worden war. Ich war so wütend darüber, dass ich nicht die Wahl gehabt hatte, Vampirin zu werden oder nicht, und ich hatte es alles an ihm ausgelassen. Natürlich war er unglaublich arrogant gewesen, und er hatte meine Exmatrikulation von der Universität ziemlich schlecht gehandhabt. Aber trotz allem – er hatte mein Leben gerettet. Nicht, weil er in dieser Nacht zufällig auf dem Universitätsgelände über mich gestolpert war, sondern weil er sich in dieser Nacht dazu entschlossen hatte, in mein Leben zu treten, und das aus den richtigen Gründen.
Mein Vater hatte ihm dreißig Silberlinge angeboten, und Ethan hatte den Judaslohn abgelehnt. Nicht nur das – er hatte versucht, das wiedergutzumachen, was mein Vater angerichtet hatte.
Mir standen die Tränen in den Augen, und ich schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel, dass er ihn mir geschickt hatte. »Ich habe dir doch gesagt, dass du mein Leben gerettet hast.«
Ohne Vorwarnung küsste er mich, gierig, verlangend und mit nur einem Ziel. Seine Hände fuhren durch mein Haar, zogen mich an ihn heran, und seine Erregung hinterließ ihre unauslöschliche Spur auf meinem Körper.
Seine freie Hand ergriff meine Brust, und ich stöhnte unter seinen Küssen auf, jetzt, wo meine Leidenschaft geweckt war und meine Seele in Flammen stand.
Nach nur wenigen Sekunden, als sich mein Brustkorb erregt hob und senkte und mein Körper willig und bereit zu allem war, wich er zurück.
»Wenn du irgendwas von ›auf Eis legen‹ sagst, werde ich dich schlagen.«
»Nichts mit Eis«, sagte er atemlos. »Nach oben. Sofort.«
Ich bedankte mich innerlich dafür, dass er die Kraft gefunden hatte, diese Worte auszusprechen. Diesmal würde ich ihm nicht widersprechen.