KAPITEL ZWANZIG

DAS MÄRCHEN

Wir zogen uns schnell etwas an und rannten nach unten. Polizisten in schwarzen Hemden, Cargohosen und dem gelben Schriftzug SPECIAL UNIT auf dem Rücken rannten durch das Erdgeschoss des Hauses. Auf dem Hof flogen Papiere und andere Gegenstände durch die Gegend, denn die Polizisten hatten Möbel umgeworfen und Schubladen herausgerissen, als ob die Geheimnisse der Übernatürlichen Chicagos in einem Notizbuch in einer Kommode aus der Eingangshalle aufbewahrt würden.

Die Anführerin schien eine Frau in einem schwarzen Hosenanzug zu sein. Sie war groß gewachsen, schlank, mit dunkler Haut und noch dunkleren Haaren, die sie mit roher Gewalt zu einem Haarknoten hochgesteckt hatte, der ihre Augenwinkel glatt zog. Sie hätte gut aussehen können, wenn ihre Gesichtszüge nicht den Eindruck von »Ha, ich habe sie auf frischer Tat ertappt!« vermittelt hätten.

»Lieutenant Tamara Hays«, sagte sie, ließ ihre Dienstmarke vor Ethan aufblitzen und steckte sie dann zurück in ihre Tasche.

»Wir haben den berechtigten Verdacht, dass Sie einen Flüchtling beherbergen«, sagte sie. »Bürgermeister Seth Tate. Er wird im Zusammenhang mit mehreren Morden gesucht.«

Die Stadt mochte vielleicht wissen, dass es Übernatürliche gab, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, was wirklich vorging.

»Bürgermeister Tate ist nicht hier«, sagte Ethan. Ich hoffte, er würde mit dieser Aussage recht behalten und Juliet könnte Seth rechtzeitig die Flucht ermöglichen. Ich hatte meine Zweifel, dass die Polizisten in den Himmel starren würden, um einen Seth Tate mit weißen Flügeln zu entdecken. Allerdings hatten sie bereits Dominik fliegen sehen.

Hays winkte einen ihrer Polizisten herbei, der Ethan mehrere gefaltete Blatt Papier überreichte. Er überflog sie und gab sie dann an Malik weiter. »Ruf bei Fitzhugh und Meyers an«, sagte er. Das waren dann vermutlich unsere Anwälte. Hays wurde bleich bei den Namen; sie schien offensichtlich schon von ihnen gehört zu haben.

»Prominente Anwälte werden Ihnen nicht helfen, Mr Sullivan. Wir haben die Befugnis, das Anwesen zu durchsuchen.«

Ethan machte eine einladende Handbewegung. »Dann tun Sie das.«

Insgesamt waren wohl ein Dutzend Polizeibeamte beteiligt. Sie rannten die Treppe hinauf, um Beweismittel zu finden, die uns in die Verbrechen verwickelten, egal in welche. Die Vampire Cadogans in ihren schwarzen Anzügen sahen ihnen schweigend dabei zu.

»Sorg dafür, dass die Vampire ruhig bleiben«, sagte Ethan zu Luc. »Lass die Wachen so viele wie möglich in das Erdgeschoss bringen, sollten wir das Haus verlassen müssen. Sag ihnen auch, dass sie ihre Zimmertüren nicht abschließen – es hat wenig Sinn, der Polizei eine Ausrede dafür zu liefern, Teile unseres Hauses zu zerstören.«

Ethan stand neben der offenen Tür, die Arme in die Hüften gestemmt, und sah zu, wie Fremde sein Zuhause auseinandernahmen und seine Familie terrorisierten. Doch sein Blick war berechnend, und er merkte sich jeden noch so geringen Fehler, denn die Anwälte des Hauses würden sich später bestimmt darum kümmern.

Die Stadt würde auf die eine oder andere Weise dafür bezahlen.

Magie erhob sich in die Luft, als die Vampire sich langsam im Erdgeschoss sammelten. Ich setzte ein fröhliches Lächeln auf und brachte sie alle in das Empfangszimmer.

»Alles ist unter Kontrolle«, sagte ich, kümmerte mich darum, dass sie versorgt waren und sich in dieser angespannten Atmosphäre nicht dazu hinreißen ließen, etwas Dummes zu tun.

Eine Stunde später stürmte Lieutenant Hays wütend aus dem Haus.

Ethan folgte ihr, blieb aber auf der Türschwelle stehen. »Wie ich schon sagte, freuen sich unsere Anwälte auf Ihren Anruf und Ihre Erklärung dafür, warum Sie ohne erkennbaren Grund eine Hausdurchsuchung durchgeführt haben.«

»Das ist noch nicht vorbei«, sagte Hays. »Wir wissen, dass Sie dahinterstecken, und wir werden es früher oder später beweisen.«

»Bedeutet ›wir‹ Bürgermeisterin Kowalcyzks inkompetentes Team, oder bedeutet ›wir‹, dass Sie und andere Mitglieder Ihrer Behörde davon ausgehen, durch die Belästigung unschuldiger Bürger auf eine Beförderung hoffen zu dürfen?«

Sie knurrte. »Passen Sie auf, was Sie sagen.« Dann marschierte sie zur Straße, gefolgt von ihren Beamten.

Wir atmeten alle tief durch.

»Es scheint mir, dass wir uns einen weiteren Feind gemacht haben«, sagte Ethan trocken.

»Ich werde sie auf die Liste setzen«, sagte Malik, der hinter Ethan getreten war. »Aber erst sollten wir mal aufräumen.«

Ich meldete mich freiwillig für die Säuberung des Hofs. Ich harkte zerschnippeltes Strauchwerk zusammen und trug die Möbel zurück ins Haus. Die Arbeit verhieß weder Ruhm noch Reichtum, und die Nacht war recht kühl, aber die körperliche Anstrengung war eine nette Abwechslung. Ich ging ganz darin auf, ohne ständig an Probleme denken zu müssen, die ich ohnehin nicht lösen konnte.

Ich hatte gerade die letzten Äste zusammengekehrt, als sich mir einer der Feensöldner vom Tor näherte. Ich hielt mit meiner Arbeit kurz inne, behielt die Harke aber sicherheitshalber griffbereit.

»Was willst du?«

Er sah mich mit zusammengekniffenen und wild funkelnden Augen an. »Komm mit.«

Ich hob eine Augenbraue, wie sonst nur Ethan es konnte. »Du kannst mich darum bitten, und ich werde der Bitte nachkommen oder sie ablehnen. Aber du hast mir nicht zu sagen, wohin ich gehe oder nicht gehe.«

Er schürzte verächtlich die Lippen. »Sie will dich erneut treffen.«

Claudia wollte mit mir sprechen. »Warum?«

»Ihre Beweggründe teilt sie uns nicht mit«, sagte er. »Doch soweit wir es verstanden haben, hat es wohl eine Art Zerwürfnis gegeben.«

»Zwischen ihr und Dominik?«

Er nickte. »Triff dich mit ihr. Ich bin mir sicher, du wirst es … aufschlussreich finden.«

Er deutete auf einen schwarzen Geländewagen, der gerade vor dem Haus anhielt. Zwei Feen saßen bereits auf den Vordersitzen. Es wirkte seltsam, einen der Feensöldner ein Auto fahren zu sehen – vermutlich stellte ich sie mir als Wesen aus einer anderen Zeit vor, die in einer uralten Festung Wache hielten, Pfeil und Bogen stets schussbereit.

»Ich weiß, wo sie wohnt. Ich kann selbst fahren.«

»Sie ist nicht dort.«

»Was? Ich dachte, sie könnte den Turm nicht verlassen.«

»Das kann sie auch nicht – nicht, ohne dafür zu bezahlen«, sagte er. »Doch sie wollte frische Luft und hielt diese Sache für wichtig genug, um die Gefahr auf sich zu nehmen.«

Ich sah ihn an. »Wie heißt du?«

Er wirkte verwirrt. »Warum fragst du das?«

»Du willst, dass ich dich begleite. Ich würde gerne deinen Namen wissen.«

Das schien ihm leicht unangenehm zu sein. »Mein Name ist Aeren.«

»Ich bin Merit.«

»Lass uns bitte einsteigen, Merit.«

Aber ich schüttelte den Kopf. Ich hatte meine Lektion gelernt, was ich zu tun hatte, bevor ich mit Übernatürlichen einfach durchbrannte. »Ich weiß die Einladung zu schätzen, aber ihr habt eure Vorgehensweise und wir haben unsere. Ich brauche einen Augenblick.«

Das schien ihm nicht zu gefallen, aber er willigte ein. Ich rannte ins Haus, wo ich Ethans Büro verlassen vorfand. Zum Glück war Malik in seinem und ordnete Akten, die die Polizei durcheinandergebracht hatte. Er sah auf, als ich im Türrahmen stand. »Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja. Claudia, die Feenkönigin, will mit mir über Dominik sprechen. Offensichtlich haben sie sich zerstritten. Ich glaube, ich muss hingehen. Es gibt zwischen ihr und Tate eine Verbindung, über die ich mehr erfahren muss, und sie hat nicht viel Geduld.«

»Wie immer könnte dies eine Falle sein«, sagte er.

»Das ist nicht anders zu erwarten«, stimmte ich ihm zu. »Deswegen sage ich es dir ja.«

»Ist es dein Instinkt, der dich das durchziehen lässt?«

Ich wusste die Frage zu schätzen. »Ja. Sag aber auch den anderen Bescheid. Im Notfall könnt ihr ja eine Befreiungsaktion planen.«

»Hast du dein Handy dabei?«

Ich zeigte es ihm kurz. Da ich meinen Pflichten nachgekommen war, rannte ich zum Auto und warf einen letzten Blick auf das Haus hinter mir.

Der Wagen roch nach Blumen und Gras, und ich fragte mich, ob Claudia wohl mitgefahren war. Wir fuhren nicht zum Park, sondern in Richtung See. Der Fahrer lenkte den Wagen auf einen öffentlichen Parkplatz, und sein Beifahrer stieg aus und öffnete mir die Tür.

»Geh diesen Weg entlang«, sagte er und deutete auf einen Weg, der zum See führte. »Sie wartet dort auf dich. Allein.«

Claudia wartete auf mich, und das ohne Wachen. Gefahr hin oder her, das musste ich mir genauer anschauen.

Ich ging in Richtung Ufer und kuschelte mich in meine Jacke, als der Wind in Seenähe auffrischte.

Am Ufer zog sich ein langer Fußweg entlang. An schönen Tagen fanden sich hier viele Läufer und Fahrradfahrer ein, aber heute, in der Finsternis und Kälte, lag er verlassen da. Entlang des Fußwegs befanden sich kreisförmig angeordnete niedrige Steinsitze, und in der Mitte eines dieser Kreise stand eine einsame Gestalt.

Es war Claudia. Sie trug ein langes Brokatkleid mit spitz zulaufenden Ärmeln, und ihr wallender Samtumhang war lang genug, um zu ihren Füßen ein Stoffknäuel zu bilden. Der Saum war verschmutzt, und sie hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen. Einige Strähnen rotblonden Haars lugten unter ihr hervor.

»Ihr wolltet mich sehen?«, fragte ich und betrat den Kreis, wie es Hunderte irische und schottische Frauen in längst vergangenen Tagen getan haben mussten, um eine Audienz mit der Feenkönigin zu erbitten.

Sie schlug die Kapuze zurück, und ihre Haare glänzten im Mondlicht. »Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen«, erklärte sie.

Ich dankte dem Herrn, dass ich mich auf meine Instinkte verlassen konnte.

»Er war mächtig«, sagte sie, und ich ging davon aus, dass sie von Dominik sprach. »Ein Himmelsbote. Ein rechtschaffener Mann, der der Gerechtigkeit mit seiner Willenskraft zum Sieg verhalf. Ich war eine Königin, die wahre Heerscharen befehligte. Unsere Verbindung war eine Verbindung von unglaublicher Macht. Sie war rechtschaffen.«

»Wart Ihr in ihn verliebt?«

»Die Feen interessieren sich nicht für die Liebe«, lautete ihre ausweichende Antwort. »Wir verstehen Verlangen.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Wir sind keine Feiglinge, aber wir mischen uns auch nicht in die Verurteilung anderer ein. Wir sind mutig, aber wir führen keine Kämpfe um des Kämpfens willen. Dominik begann immer häufiger zu töten. Immer häufiger zu kämpfen. Die Menschen waren erzürnt. Die Magier glaubten, sie könnten die Himmelsboten einfach wegsperren. Die Himmelsboten hatten natürlich kein Interesse daran, in alle Ewigkeit weggesperrt zu sein.«

»Was ist passiert?«

»Viele Monde waren vergangen, und wir hatten uns lange nicht gesehen, doch eines Nachts kam er wieder zu mir. Wir gaben uns einander hin, und danach bat er mich um eine Gunst. Er vertraute den Magiern nicht, und er fürchtete, er und die anderen würden sich als nicht stark genug erweisen, um ihrer Zauberei zu entgehen.«

»Er wollte von Euch die Gewährleistung seiner Sicherheit. Ihr solltet ihn davor schützen, im Maleficium eingesperrt zu werden.«

Sie nickte. »Und das war ich für ihn zu tun bereit, obwohl er nicht zu den Feen gehörte.«

Ich war der Antwort ganz nahe; ich konnte es spüren. »Wie habt Ihr ihm geholfen?«

»Ich entbot ihm die einzige Gunst, die mir zur Verfügung stand. Wir können Magie nicht erschaffen; sie ist Teil von uns. Wir sind Teil einer Magie, die uns mit dieser und der nächsten Welt verbindet. Du weißt, dass er ein Zwilling ist?«

Ich nickte. »Seth und Dominik. Der Himmelsbote des Friedens und der Himmelsbote der Gerechtigkeit.«

»In einfachen Worten ausgedrückt, ja. Sie wurden gemeinsam in diese Welt entsandt, doch bei der Geburt getrennt. Er glaubte, er hoffte, dass er sich dieser Verbindung erneut bedienen konnte. Diese Magie konnte ihn vielleicht, wenn sie mächtig genug war, mit seinem Bruder erneut vereinen und an diese Welt binden, anstatt im Maleficium eingesperrt zu sein.«

Eine Erinnerung meldete sich vehement – das Bild von Celina und Ethan in einem Park am See, und wie sie darauf bestand, dass sich die Dinge in Chicago änderten. Das war noch bevor Mallory sich darangemacht hatte, gute und schwarze Magie miteinander zu verknüpfen. Sie hatte gesagt, dass sich die Verbindung zwischen Engeln und Dämonen in Auflösung befinde.

Sie war ihrer Zeit voraus, aber sie hatte recht behalten.

»Und Ihr habt ihm Hilfe angeboten, ihn wieder mit Seth zu vereinen?«

»Ich habe sie ihm angeboten, und ich habe ihm geholfen. Es gab einen Magier, der an seine Sache glaubte. Sein Name war Endayel. Die einzige Magie, die ich im Tausch anzubieten hatte, war die, die mich an die lebende Welt band, und Endayel nutzte sie, um Dominik zu retten. Er verband ihn mit seinem Bruder, damit er eine Chance hätte, später ein neues Leben zu beginnen. Und so wurde ich in meinen Turm verbannt, jenseits der Zeit, fern von grünen Auen und fern des grenzenlosen Himmels.«

»Ein Gefängnis«, murmelte ich. »Haben andere Himmelsboten es mit derselben Methode versucht?«

»Das weiß ich nicht, aber die Himmelsboten waren mächtige Wesen. Ich bezweifle, dass sie sich ohne Gegenwehr in Gefangenschaft begaben.«

»Warum erzählt Ihr mir das jetzt?«

»Bei Tagesanbruch rief ich ihn in meinen Turm. Jahrhunderte waren vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er ist so gut aussehend. So mächtig. Selbst seine Schwingen – so besudelt sie auch sind – konnten mich nicht abbringen. Ich wollte mich ihm hingeben.« Sie sah mich zornentbrannt an, und ihre Wut ließ Magie um uns herumwirbeln. »Ich gab ihm alles. Jetzt endlich ist er seiner Gefangenschaft entkommen, und wie hat er mir meine Gunst vergolten? Er hat mein Opfer zurückgewiesen. Er hat mich zurückgewiesen.«

Sie mochte die Feenkönigin und Hunderte Jahre alt sein, aber die Niedergeschlagenheit in ihrem Gesicht war dieselbe, die jede zurückgewiesene Frau im Lauf der Geschichte empfunden hatte. Es war egal, welchem Volk wir angehörten, ob nun Menschen oder Übernatürlichen, wir alle durchlebten dieselben Gefühle.

»Wie halten wir ihn auf?«

Entschlossenheit zeichnete sich nun auf ihren Gesichtszügen ab, und sie erschien mir wie eine moderne Boudicca, die ihre Truppen in die Schlacht führte. »Du bestimmst die Bedingungen für den Kampf. Nur so kann man seinesgleichen vernichten.«

»Wie tue ich das?«

»Beschwöre ihn. Jeder Dämon hat ein Sigill – ein Symbol –, einen geheimen Namen, der ihn ausmacht. Wenn du dieses Sigill korrekt aufzeichnest, muss Dominik erscheinen.« Sie griff in die Tasche ihres Umhangs, zog etwas hervor und reichte es mir.

Es handelte sich um eine kreisrunde Holzscheibe mit einem Durchmesser von etwa fünf Zentimetern. Darauf war ein Symbol eingebrannt – ein Dreieck, in dem kleinere Figuren zu erkennen waren. »Das ist sein Sigill?«

Sie nickte. »Sein Bruder wird wissen, wie es zur Beschwörung genutzt werden kann. Wenn er erscheint, brauchst du nur noch ein Schwert.«

Das besaß ich auf jeden Fall. Ich verstaute das Sigill in meiner Tasche. »Vielen Dank, Claudia.«

Sie nickte, machte einen Schritt und stürzte fast. Ich griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen, und erhaschte einen Hauch ihrer blumigen Duftnote. Doch darunter lag ein feiner, unmerklicher Geruch, geradezu unerträglich süß. Fäulnis, dachte ich. Weil sie hier war, befand sie sich im Sterben; sie hatte ihr sicheres Zuhause hinter sich gelassen.

Deswegen hatte sie sich mit mir hier treffen wollen. Sie wollte mich wissen lassen – mir verständlich machen –, was sie für ihn aufgegeben hatte. Ihre gesamte Freiheit, und das alles nur für die Chance, dass er die Erschaffung des Maleficium überlebte und sich seiner Fesseln entledigen konnte.

Das hatte er, und obwohl dieser Sieg nur durch Claudias Hilfe möglich geworden war, hatte er sie zurückgewiesen.

»Ich werde ihn seiner Strafe zuführen«, sagte ich und versuchte es mit Worten, die von ihr hätten stammen können. »Ich werde dafür sorgen, dass Eure Gunst nicht umsonst gewesen ist.«

»So sei es«, sagte sie, ging zu einem der Steinsitze und nahm Platz. Der Stoff ihres Kleids und ihres Umhangs umhüllte ihre schlanke Gestalt, und hinter ihr ging der Mond auf.

Ich ging schweigend zum Wagen zurück, und die Feen fuhren mich schweigend zum Haus.

Als sich die Wagentür öffnete, sprang ich heraus und rannte ins Haus. Ich fand Ethan und Malik in Ethans Büro.

Er sprang sofort auf, als ich hereinkam. »Gott sei Dank.«

»Alles okay. Sie haben die Wahrheit gesagt, und ich glaube, ich weiß, wie wir Dominik aufhalten können.«

Mit überraschtem Blick setzte sich Ethan wieder hin. »Ich bin ganz Ohr.«

Ich ließ ihn warten, bis sich Seth, Luc und Paige uns angeschlossen und wir Jeff und Catcher per Telefon dazugeschaltet hatten. Wenn wir einen Schlachtplan entwickeln wollten, dann brauchten wir das gesamte Team.

Sie waren zu nervös, um sich hinzusetzen. Also standen sie alle um Ethans Schreibtisch herum und warteten auf den Rest des Märchens. Ich saß auf dem Tischrand und begann zu erzählen.

»Dominik und Claudia, die Feenkönigin, hatten eine Affäre. Mit der Beziehung ging es ziemlich schnell bergab, als er zu gewalttätig wurde, aber sie liebte ihn immer noch. Als er herausfand, was die Hexenmeister vorhatten, hat er Claudia um Hilfe gebeten.« Ich sah Seth an. »Claudia wurde klar, dass Dominik das Band zwischen euch benutzen konnte, um auf dieser Welt zu bleiben. Daher verwendete sie die ihr zur Verfügung stehende Macht – ihre Verbindung in die Feenwelt –, um damit den Zauberspruch zu wirken, der Dominik und dich wieder vereinte.«

»Deswegen kann sie ihren Turm nicht verlassen«, sagte Ethan.

Ich nickte. »Und Seth war der Anker, mit dem sich Dominik vor dem Maleficium retten konnte. Deswegen hat es wehgetan. Er wurde im wahrsten Sinne des Wortes herausgerissen.«

»Das klingt auf ziemlich perverse Weise logisch«, sagte Luc. »Ihr seid vorher Zwillinge gewesen. Vermutlich war es gar nicht so schwer, den entsprechenden Zauberspruch zu wirken, um euch wieder zu vereinen.«

»Hast du irgendetwas gespürt, als es passiert ist?«, fragte Paige. »Als das Maleficium fertiggestellt wurde und Dominik versucht haben muss, wieder mit dir eins zu werden?«

»Ich litt unter großen Schmerzen«, bestätigte Seth. »Ich war sehr schwach. Aber wir dachten alle, es läge an der Trennung der Magie. Der Trennung von Gute und Böse. Es handelte sich um eine künstlich herbeigeführte Trennung, und alle übernatürlichen Wesen spürten sie.«

»Dominik hat sich zweifellos ruhig verhalten«, sagte ich. »Wenn er zu häufig auftauchte oder sogar versuchte, dich komplett zu kontrollieren, dann hättest du etwas bemerkt.«

Seth nickte. »Dann hätte ich sofort einen Hexenmeister gefunden, der ihn wieder herausgerissen und in das Maleficium gesperrt hätte.«

»Und damit wäre Dominik wieder ganz am Anfang gewesen«, sagte ich. »Es gab für ihn also keinen Grund, sich zu erkennen zu geben.« Das erklärte auch, warum Dominik Mallory in ihrem Bestreben so begeistert unterstützt hatte. Sie war seine erste echte Chance seit Jahrhunderten, wieder in die Freiheit zu gelangen.

»Aber Dominik ist der Einzige, der sich bei der Aktivierung des Buchs von seinem Zwilling abspaltete. Warum nur er?«, fragte Paige. »Sicherlich haben doch andere genau dasselbe versucht. Warum hat das Maleficium nicht alle freigegeben?«

»Es mag schon andere gegeben haben«, pflichtete ich ihr bei. »Aber Dominik war der Einzige, der das Buch in genau diesem Augenblick berührt hat.«

Seth nickte. »Alle anderen Dämonen, die nicht die Verbindung zu ihrem Zwilling gesucht hatten, waren im Maleficium eingesperrt und wurden vernichtet, als es zerstört wurde. Oder sie haben sich ihren Zwillingen angeschlossen und konnten nicht wie Dominik die Flucht antreten, weil ihnen der Kontakt zum Maleficium fehlte.«

»Wie lautet unser Plan?«, fragte Jeff.

»Wir kämpfen gegen ihn«, sagte ich. »Etwas anderes können wir nicht tun.«

Ich zog das hölzerne Symbol hervor, das mir Claudia gegeben hatte, und überreichte es Seth. »Das ist sein Sigill. Wir können ihn damit auf ein Schlachtfeld unserer Wahl beschwören. Wenn wir ihn rufen, muss er erscheinen.«

»Das stimmt«, sagte Seth und betrachtete das Sigill. »Aber wir brauchen einiges an Zubehör.«

»Ich kann dabei helfen«, sagte Paige. »Ich verstehe mich ein wenig auf Beschwörungen, und je nach verwendetem Hilfsmittel gibt es große Unterschiede bei der Anwendung dieser Art von Magie.«

Seth nickte. »Wir können ihn sicherlich beschwören, aber was dann.«

»Dann kämpfen wir mit ihm.«

Wir alle sahen Ethan an.

»Er schuldet mir etwas«, sagte er. Doch bevor ich widersprechen konnte, hielt er eine Hand hoch. »Ich weiß bereits, welche Gegenargumente du vorbringen wirst, Hüterin, und obwohl ich weiß, dass sie durchaus vernünftig sind, so ist dies doch mein Kampf. Es wird keine Diskussion geben. Es gibt keine Debatte.« Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Er hat sich diesen Kampf selbst eingebrockt, und ich werde ihn zu Ende bringen.«

»Bei allem Respekt, Lehnsherr«, sagte Luc, »aber selbst zu zweit konnten Jonah und Merit ihn nicht besiegen. Mit einigen oberflächlichen Verletzungen kommen wir nicht weiter. Verdammt noch mal, selbst wenn du ihn mit dem Schwert ordentlich erwischst, wird das nicht reichen. Der Mann kann fliegen, und er hat Merit durch eine Berührung einfach verschwinden lassen. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass du dies zu deinem Kampf machst, aber wir sollten versuchen, dir eine bessere Gewinnchance zu verschaffen.«

Ethan und ich sahen uns an. Ich musste ihm widersprechen, und er wusste das auch, auch wenn ich schwieg. Es war aber auch offensichtlich, dass er diesen Kampf brauchte. Und wenn er ihn brauchte, dann würde ich ihm ganz bestimmt nicht im Weg stehen.

Aber ich würde an seiner Seite sein.

Ich sah Ethan an. »Wenn die Gewinnchancen schlecht stehen, müssen wir sie verbessern.«

Er schenkte mir ein Lächeln, das mein Herz kurz flattern ließ. »Und was schlägst du vor, Hüterin?«

Ich hielt eine Hand hoch. »Wir könnten besser mit ihm kämpfen, wenn er ein Zwergpudel wäre. Oder ein grässlicher Dachs«, fügte ich scherzhaft hinzu und sah dann zu Paige hinüber. »Habt ihr dafür einen Zauberspruch?«

»Ja, haben wir«, sagte sie.

Ich runzelte die Stirn. »Ehrlich? Ihr könnt ihn zu einem Zwergpudel machen?«

»Nein, ich meinte das eher allgemein. Wenn wir ihn so, wie er ist, nicht bekämpfen können – weil er zu stark ist –, dann müssen wir ihn schwächen. Wir können ihm seine Zauberkraft nehmen. Ihn zu einem Menschen machen. Oder zumindest menschlicher.«

Ethan wirkte nun wesentlich zuversichtlicher. »Ist das möglich?«

Bevor Paige antworten konnte, schlug die Uhr in Ethans Büro plötzlich die zwölfte Stunde.

Es war Mitternacht – Geisterstunde und der von Darius festgelegte Versammlungszeitpunkt.

»Wir haben alle nur wenig Zeit«, sagte Ethan und stand auf. »Paige, Seth, Catcher, redet mit Mallory und findet heraus, ob dieser Vorschlag uns irgendwie weiterbringt. Wir treffen uns in zwei Stunden wieder. So Gott will, werden wir dann einen Plan haben.«

Vielleicht würden wir wirklich einen Plan haben. Die Frage war nur – würden wir dann noch ein Haus haben?