FREITAG, 4. DEZEMBER

1

»Und? Was machst du jetzt so den ganzen Tag?«, fragte Bartek.

Es war laut in dem Pub. Jeder Tisch besetzt, und alle lachten, redeten, tranken. Grölten. Samson ging nicht so gern hierher, aber Bartek bestand immer darauf, und da Bartek sein einziger Freund war, wollte Samson ihn nicht verärgern. Sie trafen sich manchmal freitags, wenn Bartek frei hatte. Früh, meist gegen sechs oder halb sieben. Bartek bekam Stress mit seiner Freundin, wenn er seinen freien Abend ausschließlich mit einem Freund in einer Kneipe verbrachte, daher gingen sie meist spätestens um halb neun wieder nach Hause. Samson war mit dem Auto gekommen, obwohl das bedeutete, dass er nichts trinken konnte. Aber er war ohnehin nie besonders scharf auf Alkohol, und außerdem war es ihm zu umständlich, den Bus zu nehmen. Er hatte wenig Lust, in der Kälte an der Haltestelle zu warten, und nach einem Fußmarsch war ihm noch weniger zumute. Wie üblich hatte er sich den ganzen Tag im Freien herumgetrieben. Irgendwann reichte es.

Das Auto hatte ihm seine Mutter vererbt. Er wusste, dass Millie deswegen sauer war. Immer noch, nach all den Jahren. Sie konnte es nicht verwinden, wenn andere etwas bekamen, was sie selbst eigentlich haben wollte.

»Also, ich sitze nicht dauernd daheim, wenn du das meinst«, entgegnete Samson nun auf Barteks Frage. »Das wäre mir viel zu langweilig. Und außerdem hatte Millie diese Woche immer erst nachmittags Dienst und war den halben Tag zu Hause, und … na ja, du weißt ja. Auf ihre Gesellschaft kann ich gut verzichten.«

Millie arbeitete in einem Pflegeheim für alte Menschen. Samson wusste, dass sie ihren Beruf hasste. Manchmal hörte er, wie sie über ihre Patienten sprach, und dann gruselte es ihn bei der Vorstellung, einmal alt und jemandem wie ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.

»Dass dir das nicht stinkt«, sagte Bartek, »immer noch bei deinem Bruder und deiner Schwägerin zu wohnen! Dafür bist du doch viel zu alt!«

»Das Haus gehört mir aber auch!«

»Dann lass dir anteilig eine Miete zahlen, aber such dir etwas Eigenes. Du wirst doch da nur schlecht behandelt!«

»Ich habe Angst zu vereinsamen, wenn ich alleine lebe«, sagte Samson leise.

Bartek zog die Augenbrauen hoch. »Wie alt bist du jetzt? Vierunddreißig! Es wäre wirklich mal Zeit für eine Frau, mit der du zusammenlebst! Hast du nicht vor, irgendwann einmal zu heiraten und eine Familie zu gründen?«

Samson nahm einen Schluck von seinem alkoholfreien Bier.

Bartek hatte den heiklen Punkt erwischt. Sie hatten schon früher manchmal darüber gesprochen: heiraten, Kinder in die Welt setzen, ein normales Leben führen. Bartek, der seit Jahren eine feste Freundin hatte, tat sich schwer mit dem Thema. Seine Freundin wollte seit Langem schon heiraten, er selbst, obwohl fast vierzig Jahre alt, fürchtete die feste Bindung. Samson, der nie hatte zugeben wollen, dass seine Probleme ganz anders gelagert waren, hatte sich ebenfalls hinter einer gewissen Bindungsangst verschanzt, die er in Wahrheit gar nicht hegte. Im Gegenteil, nach nichts sehnte er sich so sehr wie nach einer Frau, die ihn heiraten würde. Ein Haus, ein Garten, Kinder, ein Hund … Er hatte das Bild deutlich vor Augen, und oft dachte er, dass er alles geben würde, es Wirklichkeit werden zu lassen. Aber die peinliche – und wie er fand: geradezu perverse – Tatsache war die, dass er überhaupt noch nie eine Freundin gehabt hatte. Weder in der Schulzeit noch danach. Überhaupt nie. Sodass er bislang nicht einmal in die Nähe des Themas Heiraten gelangt war.

»Na ja«, meinte er ausweichend, »es ist ja nicht so, dass man jeden Tag einer Frau begegnet, die man heiraten würde!«

»Also, meine Freundin hat mich jetzt so weit«, sagte Bartek, und er sah dabei nicht ganz unglücklich aus. »Sie hat mir nun wirklich das Messer auf die Brust gesetzt, und vielleicht war das ganz gut so. Im nächsten Sommer wagen wir es. Großes Fest, jeder kommt. Du bist natürlich auch eingeladen!«

»Wie schön«, sagte Samson und versuchte, nicht allzu neidisch zu klingen. Bartek war einfach ein Glückspilz. Immer, in jeder Hinsicht. Sie hatten einander kennengelernt, als Samson noch nicht Tiefkühlkost ausgefahren, sondern für einen Limousinenservice gearbeitet hatte. Bartek war dort ebenfalls angestellt gewesen, und im Unterschied zu Samson hatte er keine Kündigung bekommen. Einer wie Bartek wurde nicht entlassen. Ihn mochten die Menschen zu sehr, angefangen vom Chef über die Angestellten bis hin zu den Kunden. Bartek hatte immer viele gezielte Anfragen bekommen, wenn ein Wagen gebucht wurde. Können wir Bartek haben? Können wir diesen total netten Polen haben?

Bartek sprach perfekt Englisch, hatte aber einen charmanten osteuropäischen Akzent, der besonders bei Frauen gut ankam. Er verstand es, die Leute zu unterhalten, indem er einfach ein paar – zumeist wild erfundene – Geschichten aus seinem Leben berichtete und damit oft atemlose Spannung erzeugte.

Samson, der nächtelang wach lag und sich mit der Frage herumschlug, weshalb er von den Frauen beharrlich übersehen und bei jeder Kündigungswelle als Erster erfasst wurde, hatte oft überlegt, ob es daran lag: an seiner eigenen geradezu grotesk langweiligen Biografie. Was hatte er Interessantes zu erzählen? Oder an seinem Namen. Wer hieß schon Samson? Wenn er seinen verstorbenen Eltern etwas nicht verzieh, dann den Umstand, dass sie ihm diesen Namen gegeben hatten. Seine Mutter hatte während der Schwangerschaft ein Buch gelesen, in dem ein Samson vorkam, und sie hatte den Namen toll gefunden. Samsons zwei Jahre älterer Bruder hatte mehr Glück gehabt. Gavin konnte man heißen, ohne dass man deswegen die ganze Schulzeit hindurch gehänselt wurde.

»Du musst mehr unter Menschen gehen«, sagte Bartek, »sonst findest du nie die Frau fürs Leben. Was machst du noch mal den ganzen Tag? Wenn du nicht daheim sitzt?«

Ich habe noch gar nicht erwähnt, was ich tagsüber mache, dachte Samson gereizt. Bartek hörte ihm manchmal nicht richtig zu. Na ja, es war ja auch nie sehr beeindruckend, was er zu berichten hatte.

Kurz überlegte er, ob es ratsam war, sich Bartek anzuvertrauen, aber er hätte so gerne mit jemandem gesprochen, und außer Bartek gab es niemanden. »In gewisser Weise«, sagte er geheimnisvoll, »gehe ich den ganzen Tag unter Menschen.«

»Ja? Was machst du?«

»Ich schaue mir das Leben anderer Menschen an.«

»Hä?«, machte Bartek.

»Ich laufe durch die Straßen. Immer zu bestimmten Zeiten. Und es ist sehr interessant… also, man findet eine Menge über die Menschen in der eigenen Umgebung heraus. Wie sie so leben. Ob sie allein sind oder eine Familie haben. Ob sie glücklich oder unglücklich sind. So etwas eben.«

Samson dachte plötzlich, dass er wahrscheinlich einen Fehler begangen hatte. Es war idiotisch gewesen, sich Bartek gegenüber zu öffnen. Er konnte es am Gesichtsausdruck des Freundes erkennen.

»Heißt das, du beschattest andere Leute regelrecht?«, fragte Bartek nach einer Weile, in der er offenbar versucht hatte, das Gehörte zu sortieren.

»Ich analysiere sie«, erklärte Samson.

»Wie – du analysierst sie? Was meinst du damit?«

»Ich versuche Dinge über sie herauszufinden. Warum jemand zum Beispiel alleine ist. Und wie er damit umgeht.«

»Und was bringt dir das?«

»Erkenntnisse.«

»Ja, aber wozu? Ich meine, was genau willst du eigentlich dabei herausfinden?«

Samson erkannte, dass es zwecklos war. Bartek würde ihn nicht verstehen. Vielleicht war das alles aber auch nicht zu verstehen.

»Also, ich bin zum Beispiel ja auch allein«, versuchte er es dennoch zu erklären, »und ich beschäftige mich viel mit der Frage, warum das so ist. Und da versuche ich herauszufinden, weshalb es anderen auch so geht wie mir.«

»Ja, aber sei mir nicht böse, das ist doch eine komplett … ja, irgendwie gestörte Methode! Warum gehst du nicht ins Internet? Da tummeln sich Tausende, die dasselbe Problem haben wie du. Da gibt es unzählige Foren, in denen du dich austauschen kannst.«

»Das mache ich ja auch«, gab Samson zu. »Aber es ist letztlich so anonym. Oft fühle ich mich doppelt einsam, wenn ich einen ganzen Nachmittag lang mit einem Typen gechattet habe, der fünfhundert Meilen von mir entfernt lebt und den ich gar nicht kenne, der aber zufällig auch keine Frau findet.«

»In der Hauptsache geht es bei dir aber schon um den Wunsch, eine Frau zu finden?«

»Ja. Auch darum.«

»Dann denkst du, du findest eine junge alleinstehende Frau, indem du durch die Straßen streunst und in fremde Häuser spähst?«, fragte Bartek, der sich offenbar bemühte, in eine ihn grotesk anmutende Situation eine gewisse Struktur und Logik zu bringen.

»Nicht direkt.«

»Ja, zum Teufel, was bringt es dir denn dann?«

Samson zuckte mit den Schultern. »Ist doch egal.«

»Nein, ist es nicht. Sei mir nicht böse, Samson, aber für mich klingt das ganz schön schräg. Wenn du mich fragst … dir bekommt es nicht, arbeitslos zu sein. Du fängst an, seltsame Marotten zu entwickeln.«

»Ich habe mir meine Arbeitslosigkeit nicht ausgesucht.«

»Nein, natürlich nicht. Aber bemühst du dich denn, etwas Neues zu finden? Du bist doch noch jung! Notfalls fährst du eben Taxi … irgendetwas. Aber den ganzen Tag lang hinter anderen Leuten herzuschleichen, also, das bringt doch nichts!«

»Es ist interessant.«

Bartek schüttelte den Kopf. »Gott, Samson, also wirklich … Hast du denn wenigstens schon eine Frau entdeckt, die zu dir passen könnte? Damit das alles irgendwann einmal zu irgendetwas führt?«

Samson musste zugeben, dass sich seine Ausbeute an jungen, alleinstehenden Frauen in Grenzen hielt. »Die meisten sind natürlich älter. Deutlich älter als ich. Eine gehört zu … zu meinem Programm. Sie hat mein Alter und lebt offensichtlich alleine. Arbeitet freiberuflich von zu Hause aus und hat einen großen Hund.«

»Ja und? Hast du sie mal angesprochen?«

Samson merkte, dass Bartek tatsächlich nichts verstand. Die Frauen, die er beschattete, würde er nicht ansprechen. »Nein.«

»Lade sie doch mal auf einen Kaffee ein.«

»Kann ich machen«, sagte Samson, aber er wollte nur, dass Bartek Ruhe gab.

»Man kann auch über das Internet Frauen finden«, sagte Bartek.

»Ich weiß, aber …«

»Nichts aber. Du darfst nicht immer nur reden. Und träumen. Du musst es machen!«

»Es gibt da eine Familie«, erzählte Samson zögernd. Eigentlich wollte er Bartek nicht noch tiefer ins Vertrauen ziehen, aber er hatte plötzlich das Gefühl, den Eindruck verwischen zu müssen, er habe es ausschließlich auf Frauen abgesehen. Bartek schien doch ziemlich schockiert, und das wollte er so nicht stehen lassen. Er mochte von seinem einzigen Freund nicht für eine Art Triebtäter gehalten werden. »Sie wohnt am anderen Ende unserer Straße … gleich an diesem Grünstreifen, gegenüber vom Golfclub.«

»Aha. Und was ist mit denen?«

»Er ist Wirtschaftsberater. Hat Gavin mal geholfen. Sie ist sehr attraktiv. Und dann haben sie noch eine bezaubernde Tochter. Etwa zwölf Jahre alt.«

Bartek sah nicht weniger perplex drein als zuvor. »Ja, und was willst du mit denen? Die attraktive Mummie für dich abstauben oder was?«

»Nein. Nein, natürlich nicht. Sie sind nur … sie sind so perfekt, weißt du. Eine Traumfamilie. Die Familie, die ich einmal haben möchte!«

Bartek wirkte nun ernsthaft beunruhigt. »Samson, ich habe den Eindruck, dass du dich zu sehr von der Realität entfernst. Du träumst dich in das Leben anderer Menschen hinein, aber so änderst du dein eigenes kein bisschen. Mir kommt das alles wie eine Flucht vor!«

Und wenn, dachte Samson, braucht man das nicht manchmal? Die Möglichkeit zu fliehen?

»Ich komme schon klar«, versicherte er. Warum hatte er bloß von all dem angefangen? Er hatte das sichere Gefühl, dass sich Bartek nun wie ein Terrier in das Thema verbeißen und immer wieder davon anfangen würde.

»Ich werde mal sehen, ob wir etwas für dich arrangieren können«, sagte Bartek. »Irgendwo muss es doch eine Frau für dich geben! Du siehst nicht schlecht aus, dir gehört ein Haus … na ja, immerhin zur Hälfte … du bist nicht dumm und hast keine abstoßenden Eigenschaften. Es wäre doch gelacht, wenn …«

»Ich bin arbeitslos.«

»Deswegen wäre es natürlich auch wichtig, dass du dich ernsthaft um Arbeit kümmerst.«

»Ich suche ja wie verrückt.« Was nicht stimmte. Samson hatte sich diesmal nicht einmal offiziell arbeitslos gemeldet, und er wusste, dass das ein Fehler war. Vor allem würde es nicht ewig so weitergehen können, denn er bekam auf diese Weise keine Unterstützung, und sein Erspartes würde bald aufgebraucht sein. Aber sowie er sich meldete, musste er Berge von Bewerbungen schreiben, musste ständig Nachweise über seine Bemühungen, Arbeit zu finden, bringen – und wie sollte er das mit seiner anderen Tätigkeit vereinbaren? An vielen Tagen schon hatte er gedacht: Morgen fange ich an, mich um meine Zukunft zu kümmern! Morgen melde ich mich arbeitslos, und dann packe ich das Problem an!

Aber nie hatte er es geschafft. Seine Sehnsucht, weiterhin die Menschen zu beobachten, an deren Leben er so intensiv, viel intensiver, als er es Bartek oder irgendjemandem sonst vermitteln konnte, Anteil nahm, war zu groß. Sein eigenes Leben ohne sie weiterzuführen erschien ihm sinnlos.

»Wenn du dich wirklich bemühst, wirst du auch etwas finden«, sagte Bartek optimistisch, und dann wechselte er zu Samsons tiefer Erleichterung das Thema und wandte sich wieder seinen eigenen Zukunftsplänen zu: der geplanten Hochzeit, seinem Wunsch, für sich und seine Braut eine Eigentumswohnung zu kaufen, dem Problem, dafür einen Kredit zu bekommen, und, und, und … Samson ließ das alles an sich vorbeirauschen. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und seine finanzielle Situation ließ es nicht zu, dass er sich auch nur einen Burger bestellte, das billigste Gericht auf der Karte des Pubs. Aber das machte nichts. Ihm war auf eine angenehme Art etwas schwindelig, und alles ringsum erschien ihm ein wenig gedämpft, konturenlos, angenehm verschwommen: die Stimmen der Menschen, ihr Lachen und Plaudern, das Klirren der Gläser, die kalte Luft, die von draußen in den Raum fegte, wenn jemand kam oder ging. Barteks Gelaber. Alles.

Er dachte an Gillian Ward.

2

Wenn ich nur unauffällig verschwinden könnte, dachte Gillian.

Aber natürlich ging das nicht. Sie konnte nicht aufbrechen ohne Becky, und damit entfiel zumindest jede Möglichkeit eines unauffälligen Abgangs. Die Kinder der verschiedenen Handballgruppen tobten unten auf dem Spielfeld herum, Becky in schwarzen Leggins und pinkfarbenem T-Shirt als eine der Wildesten mitten unter ihnen. Unmöglich, sie dort herauszulösen. Die Eltern, vorwiegend Mütter, saßen in dem von der eigentlichen Sporthalle durch eine Glasscheibe abgetrennten Restaurant, das zum Club gehörte und in dem Vereinssitzungen und Feiern stattfanden. Der Raum war weihnachtlich geschmückt, und von einem CD-Player erklangen Weihnachtslieder. An der Bar konnte man Kaffee, Tee oder Sekt bekommen. Das Essen hatten die Eltern selbst mitgebracht und auf einem langen Tisch ein Buffet aufgebaut. Es gab Unmengen an Weihnachtsplätzchen, Plumpudding und verschiedenen Kuchen, aber auch zahlreiche Salate, zwei Käseplatten, Schüsseln mit Knabbergebäck. Niemals würde das alles aufgegessen werden können. Gillian hatte einen Schokoladenkuchen gebacken und zu den anderen Sachen gestellt, aber noch niemand hatte sich etwas davon genommen, wie sie aus den Augenwinkeln erkennen konnte; ein Umstand, der sie zu ihrer eigenen Überraschung in einen fast kindlichen Kummer trieb. Ihr Kuchen sah nicht schlecht aus. Allerdings gab es noch zwei weitere, nahezu identisch anmutende Schokoladenkuchen, und vielleicht war das der Grund.

Diana hatte in letzter Sekunde abgesagt, weil sich Darcys Halsentzündung verschlimmert hatte, und da Gillian zu niemandem sonst hier je in Kontakt getreten war, hatte sie die erste halbe Stunde völlig allein herumgesessen, hatte sich an ihrer Kaffeetasse festgehalten und ohne jeden Appetit ein paar Kekse gegessen; irgendetwas musste sie schließlich tun, wenn sie nicht nur sinnlos an die Wand starren wollte. Alle anderen Mütter schienen miteinander befreundet zu sein, denn es herrschte ein schier undurchdringliches Gewirr aus Rufen, Lachen und Reden. Jeder fühlte sich aufgehoben, jeder war glücklich.

Jeder außer Gillian.

Schließlich hatte sich eine Mutter neben sie gesetzt, aber dies nur deshalb, weil sie später gekommen war und keinen anderen Platz fand. Sie stellte ein Tablett vor sich auf den Tisch, beladen mit verschiedenen Salatsorten, Käse und einem großen Glas Sekt.

»Gott, habe ich Hunger«, sagte sie und fügte mit einem Blick auf Gillians leere Kaffeetasse und den Unterteller mit zwei angenagten Weihnachtsplätzchen darauf hinzu: »Sie nicht?«

»Nicht so richtig«, sagte Gillian.

Die andere musterte sie. »Sie sind Gillian, stimmt’s? Die Mutter von Becky?«

Gillian nickte und fragte sich, weshalb die anderen Frauen das immer wussten. Wie man hieß und wer die Mutter von wem war. Sie selbst hatte keine Ahnung, wem sie welches Kind zuordnen sollte.

Die andere Mutter begann eifrig zu essen und dabei ausgiebig von ihrem Sohn zu erzählen, der sich seit frühester Kindheit mit Neurodermitis herumschlug und auch sonst mit Allergien und jeder Menge Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu kämpfen hatte. Sie war mit ihm bei allen nur denkbaren Ärzten gewesen, hatte alles ausprobiert, riet von Cortison aufgrund eigener schlechter Erfahrungen dringend ab, konnte aber Salben und Globuli empfehlen und kannte sich überhaupt auf dem ganzen Gebiet hervorragend aus.

»Hat Becky auch Allergien?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Gillian und schluckte die Antwort hinunter, die ihr eigentlich auf der Zunge lag: Mir scheint, sie ist allergisch gegen mich. In der letzten Zeit gibt es kaum noch ein gutes Wort zwischen uns. Ich wünschte, es wäre etwas anderes, eine Allergie gegen Gräserpollen, Hausstaubmilben oder Lactose. Ich wüsste dann einen Ansatz. So aber habe ich gar keinen.

Sie sagte es nicht, spürte aber, wie dicht sie davor gestanden hatte, den Worten freien Lauf zu lassen, und erschrak darüber. Das hier war eine wildfremde Frau, mit der sie nichts anderes verband als die Tatsache, dass ihre beiden Kinder in derselben Handballmannschaft spielten, und um ein Haar hätte sie ihr den Kummer anvertraut, von dem sie in den letzten Wochen das Gefühl hatte, er werde ihr das Herz brechen.

Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Sie beschloss, am späteren Abend ihre Freundin Tara Caine anzurufen. Tara war treu und zuverlässig, und Gillian wusste, dass sie nichts von dem, was sie erfuhr, weitertratschte.

Die andere Mutter – deren Namen Gillian noch immer nicht kannte – nahm einen tiefen Schluck von ihrem Sekt und wechselte endlich das Thema. »Sieht Burton nicht wieder fantastisch aus?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

Gillian suchte den Raum ab und entdeckte John Burton, den Trainer, der inmitten einer Traube von Müttern am Bartresen lehnte und vermutlich Rede und Antwort zu den Fortschritten der Kinder stehen musste. Wenn ihn die Situation stresste, so war ihm das nicht anzumerken. Allerdings war sie für ihn auch nicht ungewöhnlich. Gillian sah jedes Mal, wenn sie Becky zum Training brachte oder abholte, wie die Frauen ihn umlagerten. Das mochte damit zusammenhängen, dass sie tatsächlich über jedes noch so unbedeutende Vorkommnis in der Mannschaft informiert sein wollten. Zweifellos hatte es aber auch mit Burtons Wirkung auf Frauen zu tun. Er sah gut aus, aber vor allem umgab ihn die Aura einer geheimnisvollen Vergangenheit: Es hieß, er sei bei der Polizei gewesen und habe dort eine Blitzkarriere hingelegt, sei aber bereits im Alter von siebenunddreißig Jahren unter mysteriösen Umständen, deren Hintergrund niemand herausfand, dort ausgeschieden. Er hatte dann eine private Wachgesellschaft gegründet, beschäftigte gut zwei Dutzend Mitarbeiter und organisierte hauptsächlich Gebäudewachdienste und Personenschutz. Er lebte und arbeitete in London, kam jedoch zweimal in der Woche hinaus nach Southend, um zwei Jugendmannschaften im Handball zu trainieren; einige Spieler hatte er sich bewusst aus sozialen Brennpunkten der Stadt zusammengesucht. Er hielt Sport, insbesondere einen Mannschaftssport, für die effektivste präventive Maßnahme, das Abgleiten gefährdeter Jugendlicher in die Kriminalität zu unterbinden. Gillian hatte einmal zufällig gehört, wie er dies einigen Müttern erklärte, die atemlos an seinen Lippen hingen. Besonders für die Frauen aus gutbürgerlichem Milieu war er ein Held, ein Retter, ein Kämpfer. Gillian konnte sich vorstellen, wie sehr sie ihn romantisierten.

Vermutlich, dachte sie, ist er in Wahrheit überhaupt nicht das, was sie in ihm sehen.

Aber sie musste zugeben, dass er attraktiv war. »Ja«, antwortete sie daher schließlich, »er sieht schon ziemlich gut aus.«

»Ziemlich gut? Ich muss immer aufpassen, keine unanständigen Fantasien zu entwickeln, wenn ich ihn sehe. Komisch, dass einer wie er keine Frau hat.«

»Vielleicht hat er jede Menge Verhältnisse.«

»Aber eines seiner Verhältnisse würde dann doch mal hier aufkreuzen. Mal zuschauen oder ihn abholen oder irgendetwas. Es ist schon merkwürdig. Ich habe ihn noch nie mit einer Frau zusammen gesehen.«

»Er will sein Privatleben eben hier nicht ausbreiten«, meinte Gillian. Sie konnte das gut verstehen. Die Weiber hier sind wie die Geier, dachte sie.

»Ich finde das trotzdem seltsam«, beharrte die andere. »Wie so manches an ihm.«

Gillian wollte nicht wissen, was sie damit meinte, und erwiderte nichts, was ihre Nachbarin natürlich nicht davon abhielt, dennoch ihre Ansichten darzulegen.

»Ich wüsste schon gerne, wieso er bei der Polizei gehen musste. Er war bei Scotland Yard! Das ist eine Karriere, die wirft man ja wohl kaum freiwillig hin! Und dann seine Trainerstunden hier bei uns. Er lebt in London. Warum also der Weg bis hierher nach Southend? Vielleicht wollte kein Londoner Sportclub ihn haben. Warum wohl?«

Gillian hatte den Eindruck, dass sie es nicht aushalten würde, nach der Krankengeschichte des Sohnes nun auch die detaillierte Meinung der fremden Frau zum Privatleben des Trainers anzuhören. Sie schaute in das selbstzufriedene Gesicht mit den groben Zügen und stand abrupt auf.

»Entschuldigung. Ich muss unbedingt eine Zigarette rauchen.« Sie versuchte, ihren Ausbruch aus dem Gespräch etwas weniger unhöflich wirken zu lassen. »Es ist ein Fluch mit dieser Sucht …«

Lieber Gott, lass sie bloß nicht auch Raucherin sein und mitkommen …

Die andere lächelte säuerlich. Sie war beleidigt, das war deutlich zu spüren.

Gillian dachte daran, was Tom jetzt sagen würde. Siehst du, deshalb bleibst du immer allein! Wenn mal jemand versucht, sich dir zu nähern, wird er sogleich abgeschmettert.

Sie drängte sich durch den Raum, atmete auf, als sie in der Garderobe stand. Ruhe. Gedämpft klangen die Stimmen durch die Tür. Gillian strich sich über die Stirn. Sie fühlte sich heiß an.

Es dauerte volle fünf Minuten, bis sie ihren Mantel unter den Bergen anderer Mäntel gefunden und angezogen hatte. Dann trat sie hinaus in den dunklen Abend, es war kalt, aber nicht mehr so windig wie in den letzten Tagen. Vom Fluss zog Nebel heran. Wie ein kaltes, feuchtes Tuch legte er sich um ihren Kopf. Sie kramte eine Zigarette hervor, zündete sie an, nahm die ersten Züge hastig hintereinander. Wie immer hatte das Nikotin eine entspannende Wirkung auf sie, obwohl sie natürlich sofort Schuldgefühle empfand. Tom hasste es, wenn sie rauchte, und mit jedem Argument, das er dagegen vorbrachte, hatte er recht. Wie immer würde sie sich zu Silvester vornehmen, endgültig damit aufzuhören.

Wie immer würde sie scheitern.

Mit dem linken Zeigefinger massierte sie sich sanft die Schläfe. Die Luft in dem Raum war fürchterlich gewesen, das fiel ihr jetzt erst richtig auf. Undenkbar, zurückzugehen.

Ich drücke mich eine halbe Stunde hier draußen herum, dann sage ich Becky, dass wir gehen müssen, beschloss sie. Ein weiterer Minuspunkt natürlich für sie. Vielleicht sollte sie sich gar nicht so sehr darüber wundern, dass ihre Tochter nicht mit ihr klarkam. Vielleicht quälte sie Becky mit ihrer seltsamen Art viel mehr, als es ihr bewusst war.

Gerade als sie ihre Zigarette in einem leeren Blumenkübel ausdrückte, sah sie John Burton aus der Tür treten. Er hatte sich eine schwarze Jacke angezogen und einen Schal um den Hals geschlungen. Er lächelte, als er sie sah.

»Tun Sie dasselbe wie ich?«, fragte er. »Ihre Lungen malträtieren?«

Sie nickte. »Ich fürchte, ja. Außerdem …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, weil sie ihn nicht kränken wollte, aber er schien zu verstehen, was sie sagen wollte.

»Außerdem ist es eine gute Gelegenheit, dem allen«, er machte eine Kopfbewegung zu der Sporthalle hin, »zu entkommen. Unerträglich.«

»Das finden Sie auch?«, fragte sie überrascht.

Er kramte ein Zigarettenpäckchen hervor, hielt es ihr hin, und sie nahm sich eine Zigarette. Während er sich selbst eine Zigarette in den Mundwinkel klemmte, versuchte er sein Feuerzeug in Gang zu bringen, aber die winzige Flamme verlosch immer wieder zitternd, noch ehe man mit ihr etwas hätte anfangen können. Burton fluchte. Gillian zog ihr Feuerzeug hervor, gab ihm und sich Feuer.

»Danke«, sagte er.

Sie rauchten schweigend. Schließlich sagte er: »Ich habe Sie hinausgehen sehen. Sie wirkten wie jemand, der auf der Flucht ist.«

»Ich hatte gehofft, dass man das nicht bemerkt«, sagte Gillian.

»Außer mir hat es wahrscheinlich auch niemand bemerkt. Die achten nicht auf andere, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Aber ich hatte die ganze Zeit über den Eindruck, dass Sie sich nicht besonders wohl fühlen.«

Gillian schluckte. Es war erstaunlich, was eine verständnisvolle Bemerkung, ein mitfühlender Tonfall auslösen konnten. Sie hatte das Gefühl, dass plötzlich Tränen in ihr aufstiegen. Was natürlich schrecklich wäre. Sie hätte es furchtbar peinlich gefunden, an diesem nebligen Winterabend neben dem Handballtrainer ihrer Tochter vor der Sporthalle zu stehen und zu heulen.

»Ich bekam die ganze Krankengeschichte eines Jungen erzählt«, sagte sie, »in allen Details. Jede Menge Allergien. Die Frau war sehr eindringlich. Irgendwann hämmerte es nur noch in meinem Kopf. Vielleicht habe ich deshalb einen etwas gequälten Eindruck gemacht.«

»Ja, das war die Mutter von Philip«, erklärte John, »ein sehr netter, aufgeweckter Junge. Meiner Ansicht nach hat er überhaupt keine Allergien. Er hat diese Mutter, und das ist sein ganzes Problem.«

Er sagte das so trocken und sachlich, dass Gillian plötzlich lachen musste. Sie war über sich selbst erstaunt. So komisch waren seine Worte nun auch nicht gewesen. Aber das Lachen kam tief aus ihrem Inneren, entstand irgendwo in ihrem Bauch und drängte sprudelnd nach oben. Sie lachte befreit und lebhaft und dachte, dass sie ewig nicht mehr wirklich gelacht hatte, so ganz aus der Tiefe heraus, aber zugleich war ihr klar, dass etwas nicht stimmte, weil sie heftiger lachte, als es der Situation angemessen war, dass sie dicht davor war, hysterisch zu werden, und es schien ihr auch, als blicke John Burton sie erstaunt an.

»Aber nicht doch, was ist denn?«, fragte er und legte die Hand auf ihren Arm, und da erkannte sie, dass sie nicht mehr lachte, sondern weinte, und dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, wie das eine in das andere übergegangen war. Die Tränen strömten ihr über das Gesicht, dessen Haut sich schon vorher feucht angefühlt hatte vom Nebel und die nun nass und salzig wurde.

»Ich weiß nicht«, stieß sie hervor, »Entschuldigung … ich weiß nicht …«

Entsetzt stellte sie fest, dass sie nicht aufhören konnte zu weinen.

»Oh Gott«, stöhnte sie.

Kurz entschlossen drückte Burton seine Zigarette aus, nahm auch Gillian die Zigarette aus der Hand und versenkte sie im Blumenkübel. Dann umfasste er ihren Arm.

»Kommen Sie. Bevor andere Sie hier draußen sehen … Sie möchten denen sicher nicht das Futter für einen monatelangen Tratsch liefern.«

Sie konnte nichts sagen, nur den Kopf schütteln. Willenlos ließ sie sich von ihm über den Parkplatz führen, stieg in ein Auto, dessen Tür er für sie geöffnet hatte. Sie registrierte, dass er von der anderen Seite einstieg und neben ihr saß. Sie weinte noch immer, aber es gelang ihr zumindest, ihre Handtasche zu öffnen und nach einem Taschentuch zu kramen.

»Es tut mir so leid«, schluchzte sie.

Burton schüttelte den Kopf. »Hören Sie auf, sich zu entschuldigen. Ich habe Sie den Abend über beobachtet und gesehen, wie unglücklich Sie waren, und wissen Sie, was ich dachte?«

»Nein.«

»Ich dachte: Irgendwann fängt sie an zu weinen. Und ich hatte gehofft, dass Ihnen das nicht da drinnen passiert. Letztlich ist es mir jetzt hier in meinem Auto lieber.«

Sie fand endlich ein Taschentuch, schnäuzte sich die Nase. Die Tränen liefen noch, aber der Ausbruch wilder, ungebremster Verzweiflung war vorüber.

»Mir ist das, ehrlich gesagt, auch lieber«, sagte sie, »vielen Dank.«

»Geht’s wieder?«

»So einigermaßen. Aber ich kann da jetzt nicht rein.«

Burton überlegte. »Es gibt hier in der Nähe ein Pub. Wenn Sie mögen, können wir dort einen Schnaps trinken. Das hilft manchmal.«

»Gute Idee. Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu lästig.«

Er ließ den Motor an und steuerte den Wagen aus der Parklücke. »Glauben Sie, ich habe große Lust auf die Gesellschaft da drinnen?«

»Schwer vorstellbar.«

»Eben.«

Ein paar Minuten später erreichten sie das Halfway House. Es lag an der Eastern Esplanade, gleich am Strand und mit direktem Blick auf den Fluss, den man jetzt in Dunkelheit und Nebel jedoch nur ahnen konnte. Die Fenster waren hell erleuchtet, und es klang Musik nach draußen.

»Nicht das Beste, was die Stadt zu bieten hat«, sagte Burton, als sie ausstiegen, »aber dafür gleich in der Nähe. Und Sie treffen vermutlich niemanden, den Sie kennen.«

Stimmengewirr und lautes Gelächter schlugen ihnen entgegen. Gillian gewahrte einen Raum voller Menschen, eine Bar, etliche Tische und Stühle. Es gab keine Bilder an den weißgekalkten Wänden, keine Pflanzen vor den Fenstern. An Nüchternheit war dieser Ort kaum zu überbieten, was seiner Beliebtheit keinen Abbruch zu tun schien. Im Publikum mischten sich alle Altersgruppen, allerdings erkannte Gillian, dass John recht gehabt hatte: Es war nicht der Ort, den Tom aufgesucht hätte. Oder sonst jemand aus ihrem Bekanntenkreis.

Burton entdeckte einen freien Tisch mit zwei Stühlen und bahnte den Weg durch die Menge. »Was möchten Sie trinken?«

»Irgendeinen Schnaps. Am besten einen doppelten.«

Er nickte und drängte sich in Richtung Bar, während Gillian ihren Mantel auszog, ihn über die Stuhllehne hängte und sich setzte. Es tat gut, hier zu sein. Gut, sich ausgeheult zu haben. Sie nahm ihren Handspiegel aus der Tasche und begutachtete ihr Gesicht. Sie sah ziemlich verweint aus, hatte eine fleckige Haut, geschwollene Augenlider. Eine rote Nase.Das hatte sie wieder einmal gut hinbekommen. Typisch Gillian. Schaffte es, mit einem wirklich begehrenswerten Mann in einer Kneipe zu landen, aber sah dabei aus wie ein verheultes Schulmädchen. Genau genommen wäre das Schulmädchen noch die bessere Variante gewesen.

Ich sehe mindestens zehn Jahre älter aus, als ich bin, dachte sie resigniert, und wirklich nur wie eine Frau, mit der man Mitleid haben kann.

Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen in der Hoffnung, den Eingang zur Toilette zu entdecken. Vielleicht würde ihr ein wenig kaltes Wasser im Gesicht helfen. Wegen der vielen Menschen, die zumeist in Gruppen beieinanderstanden, war es schwierig, die örtlichen Gegebenheiten genau zu erkunden. Ihre Augen blieben plötzlich an einem Mann hängen, der ihr bekannt vorkam. Jünger als sie, höchstens Mitte dreißig. Er saß mit einem anderen Mann vor einem Bierglas und starrte zu ihr hinüber. Gillian war sicher, dass sie ihn kannte, brauchte aber einige Sekunden, um ihn einordnen zu können. Dann fiel es ihr ein: Er wohnte in derselben Straße wie sie, nur ganz am anderen Ende. Zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwägerin. Den Bruder hatte Tom einmal in einer Nachlassgeschichte beraten und nachher gesagt, es handele sich um etwas eigenartige Leute. Unsicher lächelte sie zu ihm hinüber. Na wunderbar! So viel zu dem Thema, dass sie hier bestimmt keine Bekannten treffen würde. So konnte man sich irren. Nun saß sie völlig verweint mit einem Mann, der nicht ihr eigener war, an einem Freitagabend in einer Kneipe und traf prompt auf einen Nachbarn. Manchmal waren die Dinge wirklich wie verhext.

Der junge Mann lächelte schüchtern zurück. Er wirkte erstaunt. Wahrscheinlich konnte man ihm das nicht verdenken.

John Burton kehrte an den Tisch zurück, bewaffnet mit zwei großen Schnapsgläsern. »Ging nicht schneller«, sagte er bedauernd und nahm ihr gegenüber Platz. »Haben Sie sich schon akklimatisiert?«

»Ja. Und festgestellt, dass ich wirklich furchtbar aussehe. Tut mir leid.«

»Wir hatten uns doch geeinigt, dass Sie sich nicht mehr entschuldigen.« Er hob das Glas. »Auf Ihr Wohl!«

Sie nahm einen tiefen Schluck. Und dann gleich noch einen. Der Schnaps brannte in ihrer Kehle, sandte Hitzewellen durch ihren Magen. Wahrscheinlich war es falsch, ihn zu trinken. Vor allem in dieser Menge. Das war kein doppelter Schnaps, das war mindestens ein vierfacher. Und sie hatte den Tag über wenig gegessen. Sie würde nachher ihre Tochter abholen und mit ihr im Auto nach Hause fahren und dabei angetrunken sein, aber sie schob ihre Bedenken zur Seite und nahm den nächsten Schluck. Für den Augenblick wollte sie nur die Entspannung, die der Alkohol ihr gab. Den Abstand zu allen Dingen. Zu den Sorgen und Ängsten und zu ihrer Traurigkeit.

»Möchten Sie… möchten Sie über Ihren Kummer reden?«, fragte John nach einer Weile.

Warum eigentlich nicht?

»In wenigen Worten«, sagte sie, »meine Tochter lehnt mich ab, weil sie sich von mir gegängelt und bevormundet fühlt, und mein Mann nimmt mich nicht mehr wahr. Wahrscheinlich also einfach das Übliche.« Sie versuchte zu lachen.

John Burton stimmte nicht ein, sondern blickte sie nachdenklich an. »Über Ihren Mann kann ich nichts sagen. Aber Ihre Tochter kenne ich zumindest ganz gut. Ich mag Becky. Sie ist sportlich, ehrgeizig und hat Teamgeist. Sie ist stark und unabhängig im Wesen. Klar, sie ist auch eigenwillig und manchmal schwierig. Aber möglicherweise macht sie gerade eine problematische Phase durch und verletzt dabei vor allem den Menschen, der ihr am nächsten steht. Sie sollten sich nicht zu viele Sorgen machen: Das kommt alles wieder in Ordnung.«

Überrascht von der Klarheit, mit der er das sagte, fragte sie: »Sicher?«

Er nickte. »Darauf würde ich wetten.«

»Danke«, sagte sie, fasziniert davon, dass er es tatsächlich geschafft hatte, ihr mit wenigen Sätzen ein Gefühl größerer Leichtigkeit zu verschaffen. Es war nicht so, dass alles schlagartig in Ordnung gekommen wäre, aber es ging ihr zweifellos besser. Er hatte sie ernst genommen und dennoch versucht, sie zu trösten. Anders als Tom, der meistens behauptete, sie bilde sich etwas nur ein. Anders als Tara, die sofort so komplizierte psychologische Zusammenhänge entwarf, dass einem ganz schwindelig wurde. Anders als Diana, die jedes Mal, wenn Gillian klagte, nur beteuerte, wie glücklich sie mit ihren eigenen pflegeleichten Töchtern war.

Zum ersten Mal hatte Gillian den Eindruck, dass ihr jemand wirklich geholfen hatte.

»Sie verstehen eine Menge von Kindern«, meinte sie.

»Ich verstehe etwas von Sport. Und man erfährt viel über Menschen, die man in Ausübung eines Mannschaftssports beobachtet. Egal, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. Im Grunde verhalten sie sich alle dabei wie im richtigen Leben.«

Sie sah ihn interessiert an. »Stimmt es eigentlich, dass Sie bei Scotland Yard waren?«

Sein Gesicht verschloss sich. »Ja.«

Es war klar, dass er über seinen Beruf und vor allem über die Umstände, die zu seinem Ausstieg geführt hatten, nicht reden würde. Daher gab Gillian dem Thema eine andere Richtung. »Was sagen Sie zu diesem schrecklichen Verbrechen? Das an der älteren Frau in Hackney?«

»Ich kann wenig dazu sagen. Ich weiß nicht mehr als das, was in den Zeitungen steht.«

»Aber Sie hatten mit so etwas beruflich zu tun.«

»Ja. Aber ich kann diesen Fall nicht beurteilen. Die Polizei lässt nichts darüber verlauten, wie das Opfer umgebracht wurde. Vermutlich also auf eine ungewöhnliche Weise, die man bewusst zurückhält, um es bei der Überführung des Täters leichter zu haben. Ich habe nur gelesen, dass sie weder beraubt noch vergewaltigt wurde. Es ging also nicht um Geld, und es ging, zumindest vordergründig, nicht um Sex.«

»Vordergründig?«

»Sollte sie auf eine besonders sadistische Art getötet worden sein, könnten sexuelle Motive eine Rolle gespielt haben.«

»Glauben Sie, dass es wieder passieren wird? Dass es ein nächstes Opfer gibt?«

»Möglich. Es ist ja nicht klar, worin das Motiv besteht. Vielleicht war es ein persönliches Problem zwischen Täter und Opfer, aber auch dann ist ein Mensch, der so etwas anrichtet, natürlich eine tickende Zeitbombe. Denn es ist zweifellos nicht der übliche Weg, Zerwürfnisse oder Streitigkeiten zu bereinigen.«

»Es macht einem Angst«, sagte Gillian. »Immer, wenn ich solche Dinge lese, denke ich, es ist ein Wunder, wenn man halbwegs unbeschadet durchs Leben kommt.«

»Es wird sich aufklären. Die meisten Verbrechen werden irgendwann aufgeklärt.«

»Aber nicht alle.«

»Nicht alle«, gab er zu.

Sie wagte einen Vorstoß. »Sind Sie deshalb weggegangen? Von der Polizei, meine ich? Weil es unerträglich war, pausenlos mit schrecklichster Gewalt konfrontiert zu werden und hinterher nicht immer für Gerechtigkeit sorgen zu können?«

Wieder bekam sein Gesicht den verschlossenen Ausdruck. »Es gab eine Menge Gründe«, sagte er ausweichend, dann trank er sein Glas leer und blickte auf die Uhr. »Ich fürchte, wir müssen in den Club zurück. Nicht, dass es mich allzu sehr dorthin zieht, aber wenn die merken, dass wir beide fehlen, kommen sie noch auf dumme Gedanken.«

Ihr wurde klar, dass sie ihn anstarrte. Nicht einfach nur anschaute, wie man einen Gesprächspartner anschaut, sondern sich fast an ihm festsaugte. Die vielen Menschen ringsum, die Geräuschkulisse schienen in den Hintergrund getreten; sie waren noch da, aber etwas hatte sich wie eine dünne Wand zwischen Gillian und John und den Rest der Welt geschoben.

Es muss am Schnaps liegen, dachte sie, ich wusste ja, es ist zu viel.

»Welche Gedanken denn?«, fragte sie und erschrak selbst im nächsten Augenblick über den herausfordernden Klang in ihrer Stimme. Es war nicht ihre Art zu flirten. Sie tat das nicht, und sie hatte es nie getan. Sie fand, dass man zu leicht dümmlich dabei wirkte.

»Ich denke, das wissen Sie«, sagte John und stand auf. Er war auf ihren Ton nicht eingegangen, und sie hatte das deutliche Gefühl, dass er verärgert war. Zumindest genervt. Vielleicht empfand er sie als plump. Vielleicht war sie ihm auch zu nahegetreten, als sie ihn nach seinem früheren Beruf gefragt hatte. Auf jeden Fall gab es die Wand nicht mehr, die Wand, die sie beide für kurze Zeit ganz allein hatte sein lassen. Sie waren wieder Teil der überfüllten Kneipe, der gedrängt stehenden Menschen, der unzähligen Stimmen; Teil des Gelächters, des Gläserklirrens, des Geruches nach Alkohol, Schweiß und feuchten Mänteln.

Als sie hinausdrängten, kamen sie dicht an dem Tisch vorbei, an dem der Mann aus Gillians Straße saß, und jetzt fiel ihr sein Name wieder ein: Segal. Samson Segal.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie.

Er nickte ihr zu, fixierte sie mit seinem Blick. Genauso wie zu Anfang, als sie ihn entdeckt hatte.

Beklommen fragte sie sich, ob das die ganze Zeit über so gewesen war.

Ob er sie die ganze Zeit über so angestarrt hatte.