SONNTAG, 3. JANUAR

1

Die Sonntage waren am schlimmsten. Nicht, dass sie im Grunde anders abgelaufen wären als die Montage oder Donnerstage. Aber an den Sonntagen senkte sich eine bleierne Ruhe über die Stadt, jedenfalls über dieses ziemlich seelenlose Neubaugebiet in Croydon, im Süden Londons gelegen, in dem Liza wohnte. Selbst da, wo man Menschen sah, Geräusche hörte, durchaus registrierte, dass man nicht allein auf der Welt war, schien eine dicke Decke erstickend über den Resten von Lebendigkeit zu liegen. Eine Atmosphäre der Reglosigkeit. Die Sonntage waren tote Tage.

Sie hatte einmal gelesen, dass sich die meisten Selbstmorde sonntagnachmittags ereigneten, und sie bezweifelte keine Sekunde lang den Wahrheitsgehalt dieser Information. Außerdem gab es eine Suizidhäufung in den Silvesternächten und jeweils am ersten Januar. Auch das glaubte sie sofort. Weihnachten, seltsamerweise, nahm keine Spitzenposition ein. Aber auch das verstand sie. Wer Kummer hatte, brachte das Fest der Besinnlichkeit und inneren Einkehr noch halbwegs standhaft hinter sich. Die aufdringliche Fröhlichkeit der Silvesternacht mit ihren knallenden Korken, ihren Luftschlangen und ihrer dröhnenden Musik hingegen verlieh jedem Schmerz erst wahrhaft grelle Umrisse. Zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr verdrängbar. Und der erste Januar tauchte ihn in ein blasses Winterlicht, das in den Augen schmerzte. Das neue Jahr begann so trostlos, wie das alte aufgehört hatte, und es würde genauso wieder enden.

Also beendete man es lieber gleich.

Liza hatte alle Klippen überstanden. Weihnachten, Silvester, den ersten Januar.

Sie würde ihr Leben nun nicht an diesem traurigen, leeren, toten Sonntagnachmittag wegwerfen.

Sie beschwor sich, auszuhalten. Irgendwo in einer der Wohnungen unter ihr spielte jemand Klavier. Das Stück kam ihr vage bekannt vor, aber sie vermochte es nicht einzuordnen. Es war eigentlich nur eine ziemlich kurze Passage. Am Ende machte der Klavierspieler jedes Mal einen Fehler und begann dann von vorn. Seit zwei Stunden jetzt schon. Er musste eine Engelsgeduld haben.

Oder er war einfach stumpfsinnig.

Bis auf das Klavier war nichts im Haus zu hören. Die meisten Familien gingen sicher spazieren. Draußen schien die Sonne, der Schnee glitzerte und funkelte, es war eisig kalt. Genau der Tag, an dem man einen ausgiebigen Fußmarsch unternahm, um sich hinterher im warmen Wohnzimmer mit einem Glühwein aufzuwärmen und sich ein schönes Abendessen zu kochen.

Das konnte sie zumindest auch tun: sich etwas Schönes kochen. Es war zwar nicht dasselbe, wenn man vorher nicht gelaufen war, aber es gab dann etwas, worauf sie sich freuen konnte.

Sie blickte auf die Uhr. Noch nicht ganz vier. Etwas früh, um über ein Abendessen nachzudenken. Trotzdem ging sie in die Küche, schaute in den Kühlschrank. Sie hatte einiges da, was sich verwenden ließ, Fleisch, Kartoffeln, Karotten. Sie könnte ein Irish Stew …

Ihr wurde auf einmal übel, sie schlug die Kühlschranktür zu, richtete sich auf. Ihr Hunger und ihre Vorfreude waren mit einem Schlag verflogen.

Sie verließ die Küche. Sie würde nichts essen. Über zwei Monate waren vergangen seit ihrem Zusammenbruch an jenem Abend im Waschraum des Kensington-Hotels, und nichts war mehr wie vorher. Ihr ganzes Leben hatte sich verändert, allerdings fragte sie sich, ob sie von Leben überhaupt noch sprechen konnte. Sie bewegte sich praktisch nicht mehr, streifte nur noch wie ein gefangenes Tier durch diese Wohnung in dem völlig anonymen Hochhaus. Sie hatte stark abgenommen, dabei war sie auch vorher – in dem anderen Leben – schon viel zu dünn gewesen. Es ging ihr zu oft so wie gerade eben: Sie hatte Hunger, sie verspürte Lust zu kochen. Und dann kam irgendeine Erinnerung in ihr hoch, Situationen, Bilder, Momente, und fast gleichzeitig schwappte die Übelkeit über sie hinweg und killte ihren Appetit, und sie ließ alles stehen und liegen und löste sich höchstens noch ein Aspirin in Wasser auf. Vorbeugend. Denn als Nächstes, das wusste sie schon, kamen die Kopfschmerzen und zwangen sie in ein abgedunkeltes Zimmer, wo sie stundenlang mit einem kalten Waschlappen auf der Stirn die Attacke auszuhalten versuchte. Manchmal gelang ihr die rechtzeitige Abwehr.

Auch jetzt ging sie ins Bad, nahm eine Tablette aus dem Spiegelschrank, warf sie in ihren Zahnputzbecher und ließ Wasser darauf laufen. Aus dem Spiegel sah sie ein Wesen mit fahler Haut und grauen Lippen an. Sie drehte ein wenig den Kopf, betrachtete sich halb von der Seite. Sie sah aus wie ein Wrack, aber sie hatte immer noch wunderschöne Haare. Hellblond, lang und leicht gewellt. Es gab Momente, da hielt sie es für möglich, dass es ihr irgendwann gelingen konnte, die Normalität, wie sie sich für andere Menschen darstellte, zu finden. Aber natürlich würde das nicht der Fall sein, solange sie sich in dieser Wohnung verbarrikadiert hielt und kaum je einen Schritt hinaustat. Solange sie jeglichen Kontakt mit anderen Menschen vermied.

An einem Tag wie heute, an dem der Schnee in der Sonne funkelte und die kalte Luft auf der Haut brannte, hätte sie sonstwas dafür gegeben, hinauszukönnen. Einfach durch einen Park zu marschieren, den Schnee unter ihren Füßen knirschen zu hören, Kindern zuzusehen, die einen Schneemann bauten, Hunde zu beobachten, die wild hintereinander herjagten.

Aber es wäre unvernünftig gewesen, so etwas zu tun. Einfach nur des Vergnügens wegen die Wohnung zu verlassen. Zwei- oder dreimal in der Woche ging sie zum Einkaufen. Das machte immerhin einen Sinn. Und dann waren da die Expeditionen, die sie gelegentlich in ihren alten Stadtteil, in das Leben von früher, unternahm: um Finley zu sehen. Wenigstens einen Moment lang.

Anders hätte sie es überhaupt nicht ausgehalten. Sie hätte sich einfach in eine Ecke gesetzt und wäre gestorben.

In kleinen Schlucken trank sie das Wasser mit der aufgelösten Tablette darin. Zwang sich, die bösen, quälenden Gedanken, die sie in eine Panik stürzen konnten, nicht übermächtig werden zu lassen.

Denn das alles war so völlig ohne jede Perspektive. Das war das Schlimme daran. Die Dauer ihres Aufenthaltes hier in Croydon war unabsehbar. Es war ein Aufenthalt ohne Ziel, ohne Hoffnung. Vielleicht musste sie fünf Jahre in dieser Wohnung sitzen.

Es konnten auch zehn oder fünfzehn Jahre werden.

Sie stellte den Becher ab, ging ins Wohnzimmer hinüber. Sie ließ die Jalousien an dem großen Fenster, das nach Süden hinausging, hinunter.

Sie konnte die Sonne einfach nicht länger ertragen.

2

Samson sank das Herz in die Hose, als es an seiner Zimmertür klopfte. Seitdem Bartek am ersten Januar bei ihm aufgekreuzt war, hegte er die Furcht, der Freund werde ihn verpfeifen. Bartek hatte von seiner Angst gesprochen, in eine ganz und gar ungute Geschichte hineingezogen zu werden, und Samson hatte spüren können, wie echt und bedrängend diese Furcht war. Zudem hatte Bartek Zorn und Angst seiner Verlobten erwähnt. Samson konnte sich nur zu gut vorstellen, dass Helen Bartek heftig bearbeitete. Geh zur Polizei! Sag, was du weißt! Noch kommst du mit heiler Haut da heraus! Du bist doch verrückt, wenn du deinen Kopf für diesen Idioten hinhältst. Und wir wissen nicht einmal, ob er wirklich unschuldig ist!

Im Grunde wartete Samson geradezu auf die Polizei. Er wusste, dass es geschickter gewesen wäre, schleunigst das Quartier zu wechseln, ohne Bartek Auskunft darüber zu geben, wo er sich aufhielt, aber ihm fehlte die Energie. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis er aufgeben musste. Sein Geld zerrann. Seine seelische Kraft sowieso. Wahrscheinlich dauerte es nicht mehr lange und er spazierte von selbst in das nächste Polizeirevier und stellte sich.

Trotzdem begann er am ganzen Körper zu zittern, als nun tatsächlich jemand Einlass begehrte. Es war etwas anderes, das Ende immer wieder in Gedanken durchzuspielen, dabei aber das Gefühl zu haben, Zeitpunkt und Ablauf noch halbwegs in der Hand zu haben, als plötzlich mehrere Polizisten vor der eigenen Zimmertür zu vermuten, Handschellen klicken zu hören, sich vorstellen zu müssen, dass man in wenigen Minuten verhaftet und abgeführt würde.

»Wer ist da?«, fragte er. Seine Stimme klang dünn und zittrig.

»John Burton. Ich bin ein Freund von Gillian Ward. Können Sie mich hereinlassen?«

Ein Freund von Gillian? Woher, zum Teufel, wusste Gillian, wo er war?

Vollkommen verwirrt schloss Samson die Tür auf. Der Mann, der vor ihm stand, kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte ihn nicht sofort einordnen.

»Darf ich reinkommen?«, fragte John.

Samson nickte und trat zur Seite. Er schloss die Tür hastig wieder und fragte: »Wer sind Sie?«

»Mein Gott, ist das kalt hier«, sagte John. Vorsichtshalber behielt er seine dicke Winterjacke an. Samson fiel in dieser Sekunde ein, wo er ihn schon einmal gesehen hatte: im Halfway House. Zusammen mit Gillian.

»Sie sind ein Freund von Gillian«, sagte er ziemlich lahm.

»Ja, wie ich ja gerade schon erwähnte«, bestätigte John. Unaufgefordert setzte er sich in den Sessel. »Sie wundern sich bestimmt, woher ich Ihren Aufenthaltsort kenne. Ich habe mit Ihrer Schwägerin gesprochen. Sie verwies mich an Ihren Freund. Diesen Polen. Bei dem auch die Polizei schon war.«

Millie natürlich. War wahrscheinlich zerflossen wie Butter in der Sonne, als der attraktive Burton plötzlich vor ihr stand. Und hatte sich förmlich überschlagen, ihm mit Rat und Tat behilflich zu sein.

»Ihr Freund hat mir dann diese Adresse genannt.«

Na großartig! Bartek schickte jeden vorbei, der nach ihm fragte! Warum setzte er die Adresse nicht gleich in die Zeitung?

»An Ihrer Stelle«, fuhr John fort, »würde ich hier möglichst schnell verschwinden. Dieser Bartek vergeht vor Angst, er könnte in etwas hineingezogen werden, was ihm die Abschiebung bringt, und seine Verlobte ist geradezu hysterisch. Dem nächsten Polizeibeamten, der bei ihnen vorbeischaut, erzählen die beiden alles, darauf würde ich wetten.«

»Ich weiß nicht, wohin«, flüsterte Samson.

John musterte ihn aufmerksam. »Sie sind in einer schwierigen Situation. Sie haben nicht zufällig für den Zeitpunkt des Mordes an Thomas Ward ein hieb- und stichfestes Alibi?«

»Wann war denn genau die Tatzeit?«

»Zwischen sieben Uhr und halb acht abends. Am 29. Dezember.«

Samson schüttelte hilflos den Kopf. »Ich war gegen neun Uhr wieder zu Hause. Aber selbst das hat, glaube ich, niemand gemerkt. Meine Schwägerin hatte Dienst und war nicht daheim, und mein Bruder schlief schon.«

»Wo waren Sie bis neun Uhr?«

Wahrscheinlich ist es egal, wenn er es erfährt, dachte Samson, vermutlich ist sowieso alles in meinem Leben egal.

»Ich bin hinter Gillian Ward hergefahren. Ich sah sie am frühen Nachmittag von daheim mit dem Auto aufbrechen. Ich saß auch gerade in meinem Auto. Fuhr so ein bisschen herum …«

Und hast Leute beobachtet, ergänzte John im Stillen. Segal war wirklich ein komischer Vogel.

»Sie sind also hinter Gillian hergefahren?«, fragte er. »Warum?«

Das eben war so schwierig zu erklären. Er verstand es vielleicht selbst nicht einmal wirklich. Jedenfalls konnte er es nicht rational erklären. Auf einer Ebene diffuser, nicht wirklich steuerbarer Gefühle wusste er, was mit ihm los war, aber wie sollte er das in Worte fassen?

»Ich wollte sie nie bedrängen«, begann er. »Ich habe sie auch nie bedrängt. Ich wollte nur … ich wollte an ihrem Leben teilnehmen. Nein, nicht teilnehmen. Aber etwas von ihrem Leben mitbekommen. Innerlich teilnehmen. Ja, das vielleicht. Nur innerlich teilnehmen.« Er hielt inne und sah John unglücklich an. »Ich kann das einfach nicht erklären.«

»Ich denke schon, dass ich verstehe, was Sie meinen«, sagte John. »Unglücklicherweise klingt das alles ein wenig … neurotisch. Besessen sogar.« Er machte eine Pause. »Mr. Segal, es geht leider inzwischen um mehr als den Mord an Thomas Ward. Sie haben sicher in der Zeitung von den Verbrechen an zwei alleinstehenden Frauen gelesen? In Hackney und in Tunbridge Wells?«

»Ja.«

»Das Problem ist … die Waffe, mit der Thomas Ward erschossen wurde, ist dieselbe, die auch in den beiden anderen Fällen eingesetzt wurde. Verstehen Sie, was das bedeutet?«

In Samsons ungläubig dreinblickenden Augen dämmerte Begreifen. »Es war derselbe Täter? In allen drei Fällen?«

»Davon muss die Polizei ausgehen.«

»Und das soll ich gewesen sein?« Samson sah John entsetzt an. »Ich s…soll drei Menschen erschossen haben?«

John schüttelte den Kopf. »So direkt würde das im Moment noch niemand sagen. Vieles bleibt da recht ungereimt. Aber ich weiß, dass man bei der Polizei aufgrund der Tatumstände davon ausgeht, es bei dem Täter mit einem Mann zu tun zu haben, der ein schwer gestörtes Verhältnis zu Frauen hat. Und Ihre Aufzeichnungen, die der Polizei ja nun bekannt sind, lassen darauf schließen, dass Sie zumindest … na ja, ein gewisses … Problem mit Frauen haben.«

Samson nickte. Dem ließ sich nicht widersprechen.

»Sind Sie den ganzen Tag an Gillian drangeblieben?«, fragte John sachlich. »An jenem 29. Dezember?«

»Nein. Ich habe sie verloren. Auf der A127. Sie fuhr sehr zügig, es herrschte recht viel Verkehr … Und auf einmal war sie weg.«

John nickte. Die vierspurige A127, die Southend mit London verband, war häufig recht unübersichtlich.

»Und dann? Es fehlen ja noch etliche Stunden bis neun Uhr abends.«

»Ich wollte nicht nach Hause. Ich bin nicht gerne dort, wissen Sie.«

»Weshalb nicht?«

Er überlegte. »Die Unruhe«, sagte er dann. »Ich bin so unruhig. Und ich weiß nicht, wohin mit mir. Ich habe keine Arbeit. Ich finde keine Frau. Ich habe nichts. Mein Leben ist absolut leer.«

John schwieg abwartend. Samson starrte ihn an. Würde ich aussehen wie er. Hätte ich diese Ausstrahlung.

Mit fast physisch empfundener Gewalt drängte sich ihm die Erkenntnis auf, dass dieser Mann eine intime Beziehung zu Gillian unterhielt. Er war nicht einfach ein Freund. Er war ihr Liebhaber, sie hatten eine Affäre, und sie hatten sie schon gehabt, als Thomas Ward noch am Leben gewesen war. Im Grunde hatte er das schon gespürt, als er sie an jenem Abend vor Weihnachten im Pub zusammen gesehen hatte. Er hatte es sich nur nicht klargemacht, hatte vermutlich verdrängt, was er eigentlich deutlich empfand: die unglaubliche Spannung zwischen den beiden, die sexuell aufgeladene Atmosphäre.

Du begehrst sie, dachte er, und das Gefühl der Feindseligkeit, das ihn überschwemmte, nahm ihm sekundenlang fast den Atem, du schläfst mit ihr, und es ist dir vollkommen egal, dass sie eine Familie hat, einen Mann, ein Kind, und dass du alles kaputt machst. Allerdings, na ja, der Ehemann ist ja nun praktischerweise tot, und damit hast du freie Bahn und …

Die Frage kam ihm sehr plötzlich: Wie interessant war unter diesen Umständen eigentlich John Burton selbst für die Polizei? Schließlich hatte er ein Verhältnis mit einer Frau, deren Mann erschossen wurde.

Konnte er damit nicht auch in Schwierigkeiten geraten?

»Wer sind Sie?«, fragte er noch einmal. »Ich meine, außer ein Freund von Gillian

John lächelte. Es schien, dass er die Aggression, die plötzlich von Samson ausging, durchaus spürte.

Er stand auf. »Samson, ich habe selbst einmal bei Scotland Yard gearbeitet, und ich verfüge noch über ein paar gute Kontakte. Die ich in den letzten beiden Tagen reaktiviert habe. Daher weiß ich manches über den Fall, was sonst in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist.«

»Ich verstehe«, sagte Samson, bereits wieder eingeschüchtert und unterwürfig. Eigentlich verstand er gar nichts. Ein Exbulle. Wieso war er nicht mehr bei der Polizei?

»Unter anderem kenne ich zumindest in groben Zügen den Inhalt Ihres … Tagebuches, wenn man es so nennen will«, fuhr John fort, »und daher kann ich mir durchaus vorstellen, dass Sie bei der Polizei auf der Liste der Verdächtigen recht weit oben rangieren. Sie haben Frauen, und zwar in erster Linie alleinstehende Frauen, monatelang beschattet und sich jedes Detail über ihren Tagesablauf notiert. Unter anderem gibt es da eine ziemlich bizarre Geschichte über eine junge Frau, deren Hund Sie entführt haben, um dann über die Rückgabe des Tieres die Sympathie der Frau zu erringen.«

Samson merkte, dass seine Wangen glühten. Er hatte den Plan so genial gefunden. Nun hörte sich das alles nur krank an.

»Es war einfach ein Versuch, sie näher kennenzulernen«, murmelte er.

»Ja, aber ein derartiger Versuch ist zumindest etwas ungewöhnlich«, sagte John. »Zudem funktionierte er dann nicht einmal, und Sie scheinen sich ziemlich hasserfüllt über die betreffende Frau geäußert zu haben. Sie ist bis Mitte Januar verreist, sonst hätte man sie jetzt unter Polizeischutz gestellt. So ernst nimmt man das!«

Samson blickte ihn verzweifelt an. »Aber ich würde doch nie … ja, ich war wütend auf sie. Aber ich würde sie niemals angreifen. Ich habe auch noch nie jemanden angegriffen. Oder bedroht. Sie werden niemanden finden, der mich jemals aggressiv erlebt hat!«

Das ist eines deiner Probleme, dachte John, deine lebenslang verschluckten Aggressionen. Jeder Profiler würde genau diesen Umstand auf die Liste der Charakterpunkte setzen.

Er sagte es nicht. Samson kam ihm vor wie ein in die Enge getriebenes Tier. Er musste es nicht noch schlimmer machen.

»Sie haben eine ziemlich starke Verehrung für Gillian Ward zum Ausdruck gebracht, Samson. Sie haben sich in sehr intensive Gefühle für sie hineingesteigert …«

Ach ja?, dachte Samson feindselig. Da können wir uns doch die Hand geben, oder?

»Bei der Polizei glaubt man, dass Gillian in Gefahr sein könnte. Und auch ich habe diese Befürchtung. Und deshalb lag mir daran, Sie kennenzulernen. Und mir liegt daran, zu wissen, was Sie gemacht haben, als Thomas Ward ermordet wurde. Also?« John kehrte zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurück. »Was taten Sie, nachdem Sie Gillians Fährte verloren hatten?«

»Nichts«, sagte Samson, »nichts, was sich beweisen lässt. Ich bin in der Gegend herumgefahren. Saß in zwei oder drei Pubs. Trank Tee. Es war kalt.«

»In welchen Pubs?«

»Keine Ahnung. Irgendwo in Wickford. In Raleigh. Ich war traurig und verwirrt. Ließ mich treiben. Ich würde die Orte, an denen ich mich aufhielt, gar nicht mehr wiederfinden. Geschweige denn Zeugen auftreiben können, die mich gesehen haben. Ich dachte nur an Gillian, fragte mich, wohin sie fährt. Überlegte, weshalb mir mein Leben nicht gelingen will. Und irgendwann fuhr ich nach Hause.«

John betrachtete ihn forschend. »Ich will Ihnen etwas sagen, Samson, es gibt die Vermutung, dass es Thomas Wards Mörder eigentlich auf Gillian abgesehen hatte. Als Frau passt Gillian in die Reihe der anderen ermordeten Frauen, jedenfalls passt sie besser als ein Mann. Zudem wusste offenbar jeder in ihrem näheren und weiteren Umfeld, dass Ward jeden Dienstagabend in seinen Tennisclub ging und dass es von dieser Regel praktisch nie eine Ausnahme gab. Wer die Familie auch nur ein kleines bisschen kannte, musste davon ausgehen, Gillian daheim anzutreffen. Und Sie kannten die Familie ziemlich gut. Sie hatten monatelang recherchiert.«

»Aber«, sagte Samson und ein Anflug von Hoffnung durchströmte ihn, »aber ich wusste, dass Gillian nicht daheim war! Ich war ihr schließlich gefolgt!«

»Das entlastet Sie nicht hundertprozentig, Segal. Denn natürlich könnten Sie davon ausgegangen sein, dass Gillian inzwischen wieder zurück war. Spätestens als Sie sahen, dass Licht im Haus brannte. Und außerdem ist es natürlich nur eine Theorie, dass Thomas das falsche Opfer war. Genauso gut könnten Sie ihn bewusst getötet haben, weil Sie sich in einen krankhaften Wahn, was seine Frau betraf, hineingesteigert hatten.«

Samson sank in sich zusammen. »Aber wieso sollte ich die beiden anderen Frauen umgebracht haben?«

John zuckte die Schultern. »Ablehnung. Ihr Grundproblem.«

»Die waren doch viel zu alt für mich!«

»In der Not frisst der Teufel Fliegen. Ich sage ja nicht, dass es so war. Ich erkläre Ihnen nur, wie viele Szenarien denkbar sind.«

»Was wollen Sie?«, fragte Samson leise. »Mich jetzt zur Polizei bringen?«

»Vor allem wollte ich mir einen Eindruck von Ihnen verschaffen. Ich werde Sie nicht denunzieren, Segal. Ich wollte Sie nur kennenlernen.«

»Heißt das, Sie halten mich für unschuldig?«

»Ich würde es so formulieren«, sagte John. »Wenn ich Sie ganz klar für schuldig hielte, dann würde ich jetzt zur Polizei gehen. Verstehen Sie?«

Samson nickte beklommen. Aber war er nun in Burtons Augen der Täter oder nicht?

»Ich fürchte Folgendes«, fuhr John fort, »die Polizei nimmt Sie fest, und die Verdachtsmomente gegen Sie sind doch so erheblich, dass es zur Anklage kommt. Das ist zumindest nicht auszuschließen. Möglicherweise reicht es am Ende nicht zu einer Verurteilung, aber in jedem Fall zieht sich die ganze Geschichte in die Länge. In dieser Zeit läuft der Täter frei herum, ohne dass überhaupt noch nach ihm gesucht wird. Diese Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht, und zwar im Hinblick auf Gillian, die möglicherweise auf der Abschussliste dieses Verrückten steht. Es liegt nicht in meinem Interesse, der Polizei nun zu der einfachsten und naheliegendsten Lösung des Falles zu verhelfen und damit am Ende die Ergreifung des wahren Schuldigen zu verzögern.«

»Ich war es wirklich nicht«, sagte Samson. Wie oft hatte er diesen Satz nun schon gesagt? Wie oft würde er ihn sagen müssen, ehe er ihn beweisen konnte?

John nickte. »Das sagen sie alle. Und ich war eine ganze Zeit lang bei der Polizei. Ich habe Mörder erlebt, die wirkten so harmlos und sympathisch wie Sie und haben grauenhafte Taten begangen. Und dann gab es Menschen, denen hätte man alles zugetraut, und in Wahrheit taten sie keiner Fliege etwas zuleide. Es ist schwierig. Wir alle tragen unsere Gesinnung nicht auf der Stirn geschrieben.«

»Und was soll ich jetzt tun? Bartek hat Ihnen sofort gesagt, wo ich bin. Sie sind selbst überzeugt, dass er das auch tun wird, wenn die Polizei noch einmal bei ihm aufkreuzt. Ich bin hier nicht sicher. Außerdem habe ich bald kein Geld mehr.«

»Bleiben Sie vorerst in diesem Zimmer«, sagte John, »ich überlege mir etwas.«

»Kann ich Sie irgendwie erreichen?«, fragte Samson.

John ging zur Tür, öffnete sie. »Nein. Warten Sie, bis ich mich melde.«

»Bitte … kommen Sie wieder?«

»Sie hören von mir«, versprach John.