DIENSTAG, 29. DEZEMBER
1
In der Nacht hatte es wieder geschneit, und am Morgen sah es aus, als wolle die Welt langsam im Schnee untergehen, aber bis zum Nachmittag waren zumindest die Hauptstraßen geräumt. Für den Abend waren weitere Schneefälle angekündigt.
Gillian hatte die Weihnachtstage als schwierig empfunden, jedoch versucht, das Beste daraus zu machen. Sie und Tom wollten eigentlich mit Becky zum Schlittenfahren und Eislaufen gehen, aber bereits am Weihnachtsmorgen hatte ihre Tochter über Halsschmerzen geklagt, und bis zum frühen Nachmittag hatte sie Fieber bekommen. Sie lag zwei Tage lang im Bett und musste auch danach noch im Haus bleiben. Die obligatorische Reise nach Norwich wurde abgesagt, und nachdem Becky zuvor herumgemeckert hatte, weil sie sich für Ferien bei den Großeltern eigentlich zu alt fühlte, fing sie nun an zu weinen wie ein kleines Kind. Ihre Laune sank anschließend auf den Nullpunkt, sodass sich niemand mehr besonders wohl fühlte. Gillian und Tom taten ihr Bestes, kochten abends mit ihr zusammen, entzündeten den Kamin im Wohnzimmer, spielten Karten mit ihr oder schauten sich gottergeben zum wiederholten Male – Tom dabei ständig kopfschüttelnd – Twilight auf DVD an. Die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum tauchten das Zimmer in ein warmes Licht, während draußen Schnee und Kälte und die tiefe Dunkelheit der Dezembernächte für die perfekte Weihnachtsstimmung sorgten. Es war das Bild einer kleinen, glücklichen Familie auf einer Insel der Wärme und Geborgenheit, und doch wusste Gillian die ganze Zeit über, dass es ein falsches Bild war und dass dies keineswegs nur mit Beckys Erkältung zusammenhing. Tom wollte eigentlich in sein Büro, weil dort noch Arbeit liegen geblieben war. Weihnachten mit seiner Feierlichkeit und seinem Anspruch auf Besinnlichkeit und Ruhe bedeutete für ihn beinahe unerträgliche Stagnation.
Und Gillian sehnte sich … nach John. Sie hatte sich geschworen, ihn nicht mehr wiederzusehen, aber sie vermisste schmerzlich die Gefühle, die er in ihr auslöste. Es lag an der Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte. An der Bewunderung. Die meisten Menschen wären dafür anfällig gewesen; das sagte sie sich, um ihr Gewissen zu beschwichtigen. Seit sie ihn getroffen hatte, fühlte sie sich stärker und sicherer. Und das war es, wonach sie sich vor allem anderen sehnte: nach der Sicherheit, die er ihr gab.
Sie hatte lange mit Tara telefoniert, gleich am Tag, nachdem sie bei John gewesen war. Tara hatte die Affäre mit keinem Wort verurteilt, aber Gillian konnte doch zwischen den Zeilen heraushören, dass die Freundin in der Beziehung zu einem anderen Mann nicht die Lösung von Gillians Problemen sah. Und vielleicht hatte sie damit recht.
Zwei Tage vor Silvester beschloss sie, John aufzusuchen. Sie würde nicht wieder mit ihm ins Bett gehen, aber sie wollte ihn sehen. Einfach nur sehen.
Sie sagte Tom, dass sie Tara besuchen wollte. Er reagierte etwas unwirsch. »Schon wieder! Du hast sie doch gerade erst vor Weihnachten gesehen.«
»Vor drei Wochen! Du kannst wirklich nicht behaupten, dass wir uns sehr oft treffen.«
»Ich wollte eigentlich für ein paar Stunden ins Büro …«
»Becky hat immer noch leichtes Fieber. Ich möchte nicht, dass sie allein bleibt.«
Tom seufzte. »Wenn nur nicht so viel Arbeit warten würde. Jetzt ist eine gute Zeit, Liegengebliebenes zu erledigen.«
»Nur heute, Tom. Schenk mir diesen Nachmittag. Bitte. Falls Becky kein Fieber mehr hat, fahren wir dann morgen gemeinsam nach London und arbeiten den ganzen Tag. Okay?«
»Meinetwegen. Aber sei bitte um sieben Uhr hier, du weißt …«
Sie unterbrach ihn. »Ich weiß. Glaub nicht, dass ich das jemals vergesse. Dienstag. Clubabend!«
Er schien etwas erwidern zu wollen, schluckte es dann aber hinunter. Presste stattdessen die Lippen zusammen. So sah sie ihn, als sie zur Garage ging: mit zusammengepressten Lippen in der Haustür stehend.
Sie kam gegen vier Uhr vor Johns Haus in Paddington an, fand sogar einen Parkplatz in annehmbarer Nähe. Sie klingelte an der Eingangstür, aber nichts rührte sich. Sie klingelte noch einmal, trat einen Schritt zurück, blickte an der Fassade hinauf. Hinter den Fenstern, die zu Johns Wohnung gehörten, lag Dunkelheit. Er schien tatsächlich nicht daheim zu sein.
Sie war ein Idiot. Hatte die Möglichkeit einfach nicht einkalkuliert, dass er vielleicht nicht zu Hause war. Was hatte sie geglaubt? Dass er seit ihrem letzten Besuch Mitte Dezember regungslos in der Wohnung saß, auf ihren Anruf oder ihren Besuch wartete und sich vorsichtshalber nicht fortbewegte, für den Fall, dass sie plötzlich aufkreuzte? Es musste an der Ferien- und Feiertagsstimmung liegen, die sich in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ausbreitete, die aber trügerisch war. Gebäude mussten auch in diesen Tagen, vielleicht gerade in diesen Tagen bewacht werden, und John führte einen Wachdienst. Er war ganz schlicht an diesem normalen Dienstagnachmittag bei seiner Arbeit. Und sie hatte sich die Stunden gestohlen, hatte Tom belogen und war hierhergefahren, alles umsonst.
Langsam ging sie zu ihrem Auto zurück. Es war ihr ein unerträglicher Gedanke, einfach zurückzufahren und den Rest des Tages einmal mehr im heimischen Wohnzimmer mit Christbaum zu verbringen. Ein wenig Zeit blieb ihr noch. Von ihrem Parkplatz aus hatte sie den Eingang zu Johns Haus im Blick.
Sie setzte sich ins Auto, vergrub sich tief in ihren Mantel, versuchte die Kälte, die ihr langsam in alle Knochen kroch, zu ignorieren. Es wurde rasch dunkel draußen, in vielen Wohnungen gingen die Lichter an, etliche Fenster waren mit Kerzen oder Leuchtsternen geschmückt. Selbst diese eher trostlose, graue Straße bekam eine heimelige Anmutung.
Sie fragte sich, ob sich ein Leben mit John anders anfühlen würde als das Leben mit Tom. Ob es sich dauerhaft anders anfühlen würde. In dieser Straße. In der kaum eingerichteten Wohnung. Warum legte ein Mann einfach eine Matratze zum Schlafen auf den Boden und nagelte im Flur einen Haken an die Wand, an den er seine Mäntel hängte? Warum diese völlig reduzierte Form? Und keine Frau in seinem Leben, keine Kinder. Nichts davon auch in seiner Vergangenheit. Affären, aber nichts Verbindliches.
Wieder schaute sie zu seinen dunklen Fenstern hoch. Er ließ sich auf nichts ein. Nicht auf eine Ehe, nicht auf eine Lebenspartnerschaft. Nicht einmal auf anständige Möbel, die ihm möglicherweise das Gefühl gegeben hätten, sich zumindest dauerhaft in einer Wohnung einzurichten. So, wie er lebte, konnte er zu jeder Sekunde aufstehen und gehen. Auf einem Schiff anheuern und um die Welt segeln. Nach Australien auswandern und eine Straußenfarm eröffnen. Touristen durch kanadische Naturschutzparks führen.
Sie lächelte, weil ihr aufging, welch verrückte Varianten sie sich für ihn ausdachte, aber ihr Lächeln war mühsam und nicht ganz echt, weil sie wusste, ihre Ideen waren nicht so weit hergeholt, wie es zunächst den Anschein hatte. Sie entsprangen dem Bild, das er abgab, der Empfindung, die er auslöste: sprunghaft zu sein, ungebunden, vielleicht sogar unfähig zur Bindung. Nicht greifbar, nicht berechenbar.
Auf keinen Fall, dachte sie, darf man sich als Frau gefühlsmäßig auf diesen Mann einlassen. Jedenfalls nicht, wenn man nicht ausgesprochen schmerzhaft am Ende auf die Nase fallen möchte.
Um zwanzig nach sechs wusste sie, dass sie dringend eine Entscheidung treffen musste. Sie brauchte mindestens eine Dreiviertelstunde für den Heimweg. Tom verließ sich darauf, dass sie um sieben Uhr die kranke Becky übernahm. Außerdem war sie inzwischen so durchgefroren, dass sie eine schwere Erkältung bekommen würde, wenn sie noch länger im Auto sitzen blieb.
Sie stieg aus, ging langsam und unschlüssig die Straße entlang. Sie hoffte immer noch, er werde plötzlich auftauchen, wie aus dem Nichts vor ihr stehen, diesem langen, tristen Warten noch einen Sinn geben.
Ihr kamen fast die Tränen bei der Vorstellung, nach Hause fahren zu müssen. Sie blieb stehen. Sie war am Ende der Straße angelangt, und direkt neben ihr befand sich ein Lokal. Indisch. Paddington war inzwischen von Indern und Pakistanis förmlich überschwemmt, und an jeder Ecke gab es ein Geschäft oder eine Gaststätte, die Spezialitäten aus diesen Teilen der Welt anboten. Dieser Laden wirkte ziemlich heruntergekommen, aber das Licht hinter den schlecht geputzten Fensterscheiben verhieß zumindest Wärme. Und sich dort hineinzusetzen bedeutete, nicht sofort den Heimweg antreten zu müssen.
Soll Tom eben eine Stunde später in den Club gehen, dachte sie und stieß entschlossen die Tür auf.
Es herrschte fast kein Betrieb. Hinter dem Tresen stand ein Mann und fummelte an einer altersschwach wirkenden Kaffeemaschine herum, die eine Reparatur dringend nötig zu haben schien. An einem Ecktisch saß ein junges Paar, schwieg und starrte vor sich hin. Es gab ein paar Tannenzweige, die schon reichlich Nadeln verloren hatten, an den Fenstern, und von dem Leuchter in der Mitte des Raumes baumelten silberne Kugeln.
»Haben Sie geöffnet?«, fragte Gillian.
Der Mann, eindeutig indischer Herkunft, blickte von seiner Kaffeemaschine auf und nickte. »Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, ja. Ist ziemlich ruhig zu dieser Zeit. Na ja, kann man nichts machen. An Silvester habe ich dann dafür das Chaos hier.« Er musterte sie. »Sie sehen aber ganz schön verfroren aus, liebe Güte! Ist ein ziemlich frostiger Winter dieses Jahr!«
»Ja.« Sie schälte sich aus ihrem Mantel. Ihr war so kalt, dass sie kaum ihre Arme bewegen konnte.
»Also«, meinte der Wirt, »ich würde Ihnen erst einmal zu einem kräftigen Schnaps raten. Und ich habe heute eine schöne heiße Suppe. Würde Ihnen guttun.«
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm erleichtert wahr, wie ihre Füße kribbelnd auftauten. Es war überraschend angenehm, allein in einem fast leeren Restaurant zu sitzen, wie sie feststellte. Sie konnte ein bisschen Smalltalk mit dem Wirt machen, musste sich aber mit niemandem tiefgründig unterhalten. Sie konnte sich der Wärme hingeben, essen, trinken oder einfach nur die Wand anschauen. Wie das Pärchen in der anderen Ecke, das auch nichts anderes tat. Es wurde nichts von ihr erwartet. Vielleicht lag darin das gute Gefühl.
Der Wirt brachte den Schnaps und einen Teller mit dampfender Suppe. Einer Eingebung folgend fragte Gillian: »Kennen Sie zufällig John Burton? Kommt er manchmal hierher?«
Der Wirt nickte. »Klar kenne ich John. Wohnt hier in der Straße. Kommt oft mal auf die Schnelle vorbei, um einen Happen zu essen.« Er musterte sie neugierig. »Sind Sie eine Freundin von ihm?«
Kurz kam Gillian der ungute Gedanke, dass vielleicht öfter Freundinnen von John in dieser Kaschemme aufkreuzten. Frauen, die vergeblich auf ihn warteten. Sie fragte sich, welches Bild der Wirt in diesem Fall von ihr hatte: mittelalte Frau, in den gut aussehenden Burton verknallt, halb erfroren vom Warten vor seinem Haus und nun hoffend, dass es ihn irgendwann in dieses Pub ziehen würde.
Sie mochte diesen Eindruck nicht erwecken, daher sagte sie: »Er trainiert meine Tochter im Handball. Daher kenne ich ihn.«
»Ach so!« Es war dem Wirt anzumerken, dass er gern mehr erfahren hätte, aber er traute sich glücklicherweise nicht, weitere Fragen zu stellen.
»Dann lassen Sie es sich mal schmecken«, sagte er nur und zog sich wieder hinter seinen Tresen zurück.
Die Suppe war scharf und sehr heiß und weckte Gillians Lebensgeister. Als sie fertig war, bestellte sie eine Flasche Mineralwasser und nahm sich eine Zeitung von einem zur Selbstbedienung ausliegenden Stapel. Die Zeitung war drei Wochen alt, dennoch las sie sie konzentriert, ohne eine einzige Zeile auszulassen. Das Paar in der Ecke schwieg noch immer. Der Wirt schwieg. Er hatte das Radio eingeschaltet. Es wurden Witze erzählt.
Sieben Uhr vorbei.
Halb acht vorbei.
Acht Uhr vorbei.
Seltsam, wie leicht sie sich fühlte. Einfach nur dadurch, dass sie sich die Freiheit nahm, die Erwartungen, die andere an sie richteten, zu ignorieren.
Die Uhr ging auf halb neun. Gillian hatte drei Zeitungen durchgelesen, nach der Suppe noch etwas Fladenbrot gegessen und noch eine zweite Flasche Mineralwasser getrunken. Sie fühlte sich gut, obwohl sie wusste, dass ein wahrscheinlich ziemlich wütender Tom daheim auf sie wartete und dass es mit ihm unweigerlich zu einem Streit kommen würde. Sie begriff inzwischen, dass dies einer der Gründe war, weshalb sie in dieses Lokal gegangen war und etwas tat, was nicht zu ihr passte und was sie sich selbst nie zugetraut hätte: Sie hielt ein Versprechen bewusst nicht ein. Sie agierte unzuverlässig und egoistisch. Sie stürzte einen anderen Menschen – ihren Mann – in Ungewissheit und Sorgen. Sie legte ein Verhalten an den Tag, das sie eigentlich verabscheute und ablehnte. Aber diesmal wollte sie unter allen Umständen den Streit. Wollte eine Eskalation. Sie war sogar entschlossen, Tom von John zu erzählen.
Wie würde er reagieren? Fassungslos? Aggressiv?
Vielleicht wollte sie das Ende ihrer Ehe.
Obwohl sie mit sich im Einklang war, keine Furcht empfand und das Gefühl hatte, das Richtige zu tun, wurde sie doch die ganze Zeit über das Empfinden nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Etwas an der Situation irritierte sie, aber sie wusste nicht, was es war.
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, dachte sie.
Um zwanzig vor neun stand sie auf, zog ihren Mantel an, ging zum Tresen und bezahlte ihre Rechnung. Das Pärchen war verschwunden, sie war der letzte und einzige Gast.
»Na? Geht’s nach Hause?«, fragte der Wirt. Sie spürte, dass er sie nicht einordnen konnte. Frauen, die so lange völlig allein in einer Kneipe saßen, betranken sich für gewöhnlich, ersäuften ihren Kummer, den Frust um irgendeinen Typen in jeder Menge Wein und Schnaps. Sie schwankten, wenn sie sich schließlich auf den Heimweg zurück in eine leere Wohnung und in ein kaltes Bett machten. Gillian hatte bis auf den ersten Schnaps nur literweise Wasser getrunken und offenkundig interessiert gelesen.
Soll er sich seine Gedanken machen, dachte sie.
Sie trat auf die Straße. Es war kalt, neuer Schneefall hatte eingesetzt. Die frische Luft tat gut nach dem stickigen Geruch, der drinnen geherrscht hatte. Auch war es angenehm, keine hektischen Radiostimmen mehr zu hören. Gillian atmete tief durch.
Während sie zu ihrem Auto ging, suchte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Dabei stieß sie plötzlich gegen ihr Handy, blieb stehen. Schlagartig wusste sie, was sie untergründig die ganze Zeit über gestört hatte: das Handy. Es hatte nicht ein einziges Mal geklingelt. Dabei wäre zu erwarten gewesen, dass spätestens ab Viertel nach sieben Tom im Fünf-Minuten-Takt bei ihr anrief, um zu fragen, wo sie blieb. Weil er weg wollte. Aber auch, weil er sich Sorgen machte.
Sie nahm es aus der Tasche, vergewisserte sich im Schein einer Straßenlaterne, dass es eingeschaltet war. Sie schaute auf das Display. Nicht ein einziger Anruf in Abwesenheit.
Plötzlich sehr unruhig beschleunigte sie ihren Schritt. War Tom so wütend, dass er nicht einmal anrief?
Es passte nicht zu ihm.
Sie schloss ihr Auto auf. Es war zehn vor neun, als sie losfuhr.
2
Sie bog um Viertel vor zehn in die Einfahrt zu Hause ein. Im Erkerfenster des Wohnzimmers, das zum Vorgarten hinausging, brannte Licht. Die Vorhänge waren nicht vorgezogen, was sehr irritierend war: Tom hasste es, auf dem Präsentierteller zu sitzen, wie er es nannte. Es sah ihm absolut nicht ähnlich, das Licht anzuschalten und die Gardinen offen zu lassen.
Sie stieg aus, verschloss das Auto. Ihr war sehr beklommen zumute. Sie hatte sich so stark gefühlt, als sie in London in der Gaststätte gesessen und ihr Leben mit Tom infrage gestellt hatte, aber nun, da sie ihrem Mann gleich würde gegenübertreten müssen, hatte sie weiche Knie bekommen. Auf der Heimfahrt war ihr der Gedanke gekommen, dass er vielleicht bei Tara angerufen und dabei bereits herausgefunden hatte, dass er belogen worden war. Gillian hatte sich diesmal nicht abgesichert, und möglicherweise war Tara in Verlegenheit geraten. Hol mir doch mal Gillian ans Telefon, hatte Tom wahrscheinlich gesagt, und genau diesem Wunsch hatte Tara nicht nachkommen können.
Aber sie hätte mich angerufen und gewarnt, dachte Gillian. Irgendetwas passt dabei auch nicht zusammen.
Und würde Tom bei Tara anrufen? Hatte er überhaupt ihre Nummer? Wäre es nicht naheliegender, es über das Handy seiner Frau zu versuchen?
Sie beschleunigte ihre Schritte. Das ungute Gefühl verstärkte sich. Es schneite in dicken Flocken.
Sie schloss die Haustür auf. Auch der Eingangsflur war hell erleuchtet.
»Hallo?«, rief sie halblaut.
Niemand antwortete.
Er sitzt im Wohnzimmer, hat sich ein paar Schnäpse reingekippt und macht mir jetzt gleich eine furchtbare Szene, dachte sie unbehaglich.
»Tom? Bist du da?«
Immer noch erhielt sie keine Antwort. Sie spähte ins Wohnzimmer. Es war leer. Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe, zog ihre Stiefel aus. Auf Strümpfen ging sie in die Küche. Die Gartentür stand offen. Es war eiskalt im Raum. Auf der Arbeitsplatte stand ein Teller mit belegten Broten, daneben lagen ein Messer und eine aufgeschnittene Tomate. Eine noch verschlossene Flasche Weißwein wartete neben der Spüle, der Öffner befand sich in griffbereiter Nähe. Es sah aus, als sei Tom dabei gewesen, für sich und Becky ein Abendessen vorzubereiten und als sei er dabei völlig unerwartet unterbrochen worden. Und dann hatte niemand etwas gegessen und getrunken. Hatte er plötzlich beschlossen, alles stehen und liegen zu lassen und im Club zu essen? Und Becky mitzunehmen? Die dafür eigentlich noch zu krank war.
Wieso ließ er dann alle Lichter brennen? Wieso ließ er die Tür zum Garten offen?
Gillian verließ die Küche und betrat das daneben liegende Esszimmer.
Sie sah die Gestalt, die zusammengebrochen halb auf einem der Stühle am Tisch und halb auf dem Fußboden lag.
Sie sah, dass es Tom war. Es war Tom, der über dem Stuhl lag, das Gesicht auf das Sitzkissen gedrückt, die Beine auf eine unnatürliche Art von sich gespreizt.
Sie bewegte sich wie in Zeitlupe auf ihn zu.
Ein Infarkt. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten. Während er das Abendessen zubereitete. War gerade im Esszimmer gewesen, vielleicht um Feuer im Kamin zu machen oder ein Tischtuch aufzulegen, und war zusammengebrochen.
Sie hatte es immer gewusst. In geradezu selbstmörderischer Gradlinigkeit war er auf genau dieses Schicksal zugesteuert, und mit ihren Warnungen und Vorhaltungen hatte sie ihn nicht erreichen können.
Ein würgender Laut kam aus ihrer Kehle. Großer Gott, warum gerade so? Sie fuhr los, um sich mit ihrem Liebhaber zu treffen, und Tom erlitt ein schreckliches Schicksal. Alleine. Ohne Hilfe. Auf sich gestellt und doch nicht mehr fähig, sich selbst zu helfen.
Wo war Becky?
Sie schob sich am Tisch vorbei und beugte sich über Tom.
Lieber Gott, lass ihn noch leben.
Vorsichtig versuchte sie, ihn umzudrehen und ihn dabei sacht auf den Teppich hinuntergleiten zu lassen. Er war erstaunlich schwer, fast zu schwer für sie.
»Tom«, wisperte sie, verzweifelt und entsetzt, fassungslos. »Tom, bitte sag etwas. Tom! Ich bin es. Gillian. Tom, bitte dreh dich um!«
Sie legte die Hand auf seinen Kopf, tastete mit den Fingern zum Gesicht hin. Hatte plötzlich nasse Finger, zog sie zurück und betrachtete sie ungläubig. Sank auf die Knie.
Ihre ganze Hand war voller Blut.
Ihr Gehirn bemühte sich krampfhaft, eine Abfolge logischer Gedanken zu produzieren, aber es bewegte sich dabei mit einer Schwerfälligkeit, die Gillian noch nie zuvor erlebt hatte. Als wollte ihr Kopf nicht zu der Schlussfolgerung gelangen, die sich am Ende ergeben musste.
Er konnte sich den Kopf kaum an dem Kissen verletzt haben, in das sich sein Gesicht presste. Er war vorher aufgeschlagen, hatte sich wieder hochgerappelt, hatte es bis zum Tisch geschafft, dort hatten seine Beine versagt … Irgendwo musste Blut im Zimmer sein, am Kaminsims vielleicht oder am Türpfosten. Sie sah sich hektisch um. Konnte die Stelle, an der er aufgeschlagen sein musste, nicht entdecken.
Wo war Becky?
Becky musste doch gemerkt haben, dass etwas nicht stimmte. Irgendwann musste sie hinuntergegangen sein und nachgesehen haben, weshalb ihr Vater sie nicht zum Abendessen rief. Sie musste ihn gefunden haben. Was tat ein zwölfjähriges Mädchen dann? Es lief los, holte Hilfe. Klingelte Sturm bei den Nachbarn. Längst hätte ein Notarzt da sein müssen, ein Krankenwagen. Wie konnte Tom hier einfach so liegen? Vielleicht seit Stunden.
Wieso stand die Tür zum Garten in der Küche sperrangelweit offen?
Ihr kam ein neuer Gedanke, einer, der die Szenerie in ein völlig anderes Licht tauchte.
Sie sprang auf.
Wo war Becky?
Sie lief aus dem Zimmer, jagte die Treppe hinauf. Auch hier oben brannten alle Lichter.
»Becky!« Sie brüllte den Namen ihrer Tochter. »Becky! Wo bist du?«
Beckys Zimmer war leer. Die Barbiepuppen, mit denen sie nur noch selten und wenn auch bloß heimlich spielte, waren auf dem Teppich verstreut, auf dem Schreibtisch lagen der Malblock und etliche Pinsel, daneben standen der geöffnete Farbkasten und ein Einweckglas mit Wasser. Die Schranktür war offen, die meisten Pullover, Röcke und Jeans waren auf dem Boden ausgebreitet, in wilder Hast, wie es schien, aus ihren Fächern gerissen. Gillian schlug die Bettdecke zurück, spähte dann unter das Bett, anschließend hinter die große Kiste mit Spielsachen. Nichts. Keine Spur von Becky.
Sie schluchzte, ohne es zu merken. Ihr Mann lag tot unten im Wohnzimmer, er war möglicherweise von einem Einbrecher ermordet worden, und ihr Kind war wie vom Erdboden verschluckt, hatte ganz offensichtlich auch in Panik alles stehen und liegen gelassen. Was immer geschehen war, es hatte Tom und Becky ohne jede Vorankündigung überrascht. Sie hatten sich inmitten des Ablaufs eines völlig normalen Abends befunden, und plötzlich hatte jemand den Frieden gestört, war in das Haus eingedrungen, gewaltbereit und zu allem entschlossen. Gillian kam sich vor wie in einem furchtbaren Albtraum, den sie zu allem Überfluss nicht begriff und von dem sie nur dachte, dass er grausam und irreal war und eigentlich jeden Moment enden müsste – doch wenn ihr eines in all der Verworrenheit klar war, dann die Tatsache, dass es kein gnädiges Erwachen geben würde. Der Schrecken würde sich nur noch vertiefen.
Sie lief in das Nebenzimmer, das Schlafzimmer von Tom und ihr. Auch hier brannten alle Lichter, standen die Türen des Kleiderschrankes offen, aber der Raum war leer. Wieso war überall Licht? Wieso hatte jemand alle Schränke durchsucht? Becky war in ihrem Zimmer gewesen, offensichtlich mit Malen beschäftigt, und Tom hatte realisiert, dass sich seine Frau verspäten würde, und hatte, wahrscheinlich zähneknirschend, begonnen, das Abendessen vorzubereiten. Wieso war Licht im Elternschlafzimmer? Wieso im Bad daneben? Wieso im Gästezimmer? Sie rannte in jeden dieser Räume, alles war hell, aber alles war leer. Keine Spur von Becky.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürzte sie die Treppe zum Dachboden hinauf. Hier gab es einen kleinen Raum, der als Abstellkammer diente, und ein größeres Zimmer, in dem Tom eine Schaukel an den Dachbalken befestigt und Turnmatten auf den Boden gelegt hatte. Früher hatte Becky hier mit ihren Freunden getobt und gespielt, wenn das Wetter draußen zu schlecht und der Garten zu matschig gewesen war. Selbst hier brannte die Deckenleuchte.
Gillian atmete schwer. »Becky! Becky, bitte, wo bist du?«
Sie wollte schon wieder hinunterlaufen, denn der Keller war ihr in den Sinn gekommen, und dort hatte sie noch nicht nachgesehen, aber in diesem Moment vernahm sie ein Geräusch. Es schien aus der nebenan gelegenen Abstellkammer zu kommen.
Sie fuhr herum. »Becky?«
Deutlich vernahm sie jetzt ein Schluchzen. »Mummie!«
Sie war wie der Blitz in dem Gerümpelraum. Hier herrschte ein furchtbares Durcheinander, das sie schon lange hatte aufräumen wollen; letztlich hatte sie aber nie die Zeit oder die Energie gefunden. Koffer und Reisetaschen stapelten sich hier, alte Kisten und Kartons, ausrangiertes Spielzeug von Becky, Zeitschriften, von denen irgendjemand einmal geglaubt hatte, er werde sie noch brauchen, ein paar alte Möbelstücke und zusammengerollte Teppiche. Die Kammer war völlig unüberschaubar.
»Becky?«, fragte Gillian ängstlich.
Der Deckel eines großen Koffers hob sich ein Stück. Beckys Gesicht tauchte auf. Die Haare fielen ihr wirr in die Stirn, die Augen waren rot und geschwollen vom Weinen, die Haut bleich und mit roten Flecken übersät.
»Mummie!« Ihre Stimme klang krächzend von der noch kaum überstandenen Halsentzündung.
Gillian stolperte über das Chaos zu ihren Füßen hin zu ihrer Tochter, kniete neben dem Koffer nieder, klappte den Deckel zurück und schlang beide Arme um Becky.
»Becky! Um Himmels willen … was ist passiert? Was ist denn nur passiert?«
Becky versuchte sich aufzurichten, fiel aber mit einem Aufstöhnen in sich zusammen.
»Mummie, meine Beine! Meine Beine tun so schrecklich weh!«
Gillian massierte mit hektischen Bewegungen die Beine ihres Kindes. Becky musste in einer völlig verkrampften und verdrehten Haltung in dem Koffer gelegen haben, und das möglicherweise über mehrere Stunden. Es war kein Wunder, dass ihr alle Knochen schmerzten.
»Das wird wieder, Schatz, das ist bald vorbei. Was ist passiert?«
Becky sah sich aus riesigen, grauenerfüllten Augen um. »Ist er noch da?«
»Wer?«
»Der Mann. Er hat irgendetwas Schlimmes mit Papa gemacht, und dann hat er das ganze Haus nach mir abgesucht. Vielleicht ist er noch irgendwo.«
»Ich glaube nicht. Wer war das?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht!«
Gillian erkannte, dass die Pupillen in Beckys Augen unnatürlich groß und völlig starr waren. Sie brauchten sofort einen Arzt. Sie brauchten die Polizei.
Sie zog Becky in die Höhe. »Geht es? Kannst du laufen?«
Becky unterdrückte einen Jammerlaut. »Ja. Nein. Es … geht schon …« Mit schmerzverzerrtem Gesicht stützte sie sich auf Gillian, die versuchte, mit dem Fuß das Gerümpel beiseitezuschieben und eine Art Gasse für sich und Becky zu bauen. Irgendwie erreichten sie die Tür.
Becky schrak vor dem gleißend hellen Licht im Treppenhaus zurück. »Bist du sicher, dass er nicht mehr da ist?«, flüsterte sie.
Gillian nickte, äußerlich ruhiger, als sie sich eigentlich fühlte. »Ich bin ja durch das ganze Haus gelaufen. Da ist niemand.«
Sie war nicht im Keller gewesen. Ausgerechnet ihr Haus gehörte zu den in England nicht unbedingt üblichen Häusern mit Unterkellerung. Was Gillian immer sehr gut gefunden hatte, weil es ihnen zusätzlichen Platz bot. Jetzt wünschte sie, es wäre anders.
Aber weshalb sollte sich jemand dort verborgen halten?
Ein Killer, der wartet, dass Becky aus ihrem Versteck auftaucht. Becky, die ihm gefährlich werden kann. Die in der Lage ist, den Täter zu identifizieren?
Sie humpelten die Treppe hinunter. Dort schob Gillian Becky in ihr Zimmer. »Du schließt dich dort jetzt ein! Und du machst nicht auf, bis ich es sage, verstanden?«
Becky krallte sich sofort an ihrer Mutter fest. »Mummie! Geh nicht weg, bitte! Lass mich nicht alleine!«
»Ich muss die Polizei anrufen, Becky. Und den Notarzt. Bitte warte in deinem Zimmer! Und schließ ab!«
»Mum …«
»Bitte!« Gillian merkte, wie die Nervosität Schärfe in ihre Stimme legte. »Tu, was ich sage, Becky!«
Sie machte sich von ihrer Tochter los. Es war klar, dass Becky drauf und dran war, jeden Moment hysterisch zu werden, und vorher musste Gillian sie in Sicherheit bringen und die Polizei verständigen.
»Geh in dein Zimmer, Becky! Sofort!«
Becky schaute ihre Mutter an. Immer noch ein kalkweißes Gesicht mit fiebrigen Flecken. Immer noch die starren Pupillen.
»Wo warst du, Mummie? Wo warst du denn bloß den ganzen Abend?«
Gillian gab ihr keine Antwort.