MITTWOCH, 13. JANUAR

1

Das schöne Wetter war schon wieder vorbei. Es schneite seit dem frühen Morgen. In großen, dichten Flocken, die manchmal wie eine fast undurchdringliche Wand vom Himmel kamen.

John war den Vormittag über in der Firma gewesen, hatte wenigstens ein paar liegengebliebene Schreibtischarbeiten erledigen können. Sein Kopf schmerzte, obwohl er inzwischen drei Aspirin genommen hatte. Nach seinem Besuch bei Gillian war er im Halfway House abgetaucht und hatte sich hemmungslos mit Alkohol zugeknallt. Er hatte Schutz vor den Gedankenspiralen gesucht, die ihn bedrängten.

Was, zum Teufel, war eigentlich in ihn gefahren?

Ihm hatte noch nie eine Frau wehgetan. Ihm hatte vor allem noch nie die Trennung von einer Frau wehgetan. Sein ganzes bisheriges Leben lang hatte er es nur andersherum erlebt: Er hatte sich halbherzig auf Beziehungen eingelassen, irgendwann hatten die Frauen mehr verlangt, als er bereit war zu geben, Zusammenleben, Heirat, Kinder, und dann hatte er sich verabschiedet, jedes Mal mit dem unguten Gefühl, einen Menschen zu verletzen, der ihm schließlich nichts getan hatte, und doch erleichtert, dass er der Gefahr entgangen war, festgehalten, eingeengt, angebunden zu werden. Er hatte seine Freiheit genossen, gelegentliche Affären als sehr erfrischend empfunden und sich darüber hinaus mit seinem eigenen Wesen arrangiert: Er war wahrscheinlich bindungsunfähig, weshalb auch immer. Er war nicht der Typ, der seine eigene Kindheit und Jugend nun vorwärts und rückwärts reflektiert hätte, schon überhaupt nicht mit Hilfe eines Psychologen, um herauszufinden, worin die Gründe für seine Wesensstruktur liegen mochten. Seiner Ansicht nach war es völlig gleichgültig, ob sein Vater oder seine Mutter vor langen Jahren irgendetwas mit ihm falsch gemacht hatten oder ob während seiner Pubertät die Dinge aus geheimnisvollen Gründen aus dem Ruder gelaufen waren. Wirklich ändern konnte man nichts. Es war, wie es war.

Zum ersten Mal sah er sich plötzlich mit der Möglichkeit konfrontiert, dass es doch nicht war, wie es war. Dass alles ganz anders sein konnte.

John Burton stand vor einer erschütternden Erkenntnis: Er hatte sich in eine Frau verliebt. Er hatte sich so sehr verliebt, dass ihm der Gedanke, diese Frau zu verlieren, fast unerträglich schien. Er hatte sie angefleht, bei ihm zu bleiben, und war abgeblitzt. Fassungslos stand er der unglaublichen Tatsache gegenüber, dass seine Gefühle nicht erwidert, zumindest offenbar nicht mehr erwidert wurden. Es sah so aus, als werde er diese Frau nicht für sich gewinnen können. Als würde es abermals eine Trennung in seinem Leben geben, und diesmal eine, die nicht von ihm ausging. Und bei der er es sein würde, der litt wie ein Hund.

Er hatte absolut keine Erfahrung im Umgang mit einer solchen Situation, und so reagierte er zunächst, indem er sich ihr entzog: Er ließ sich volllaufen, um den quälenden Gedanken, die ihn bedrängten, wenigstens die äußerste Schärfe zu nehmen.

Gegen halb zehn hatte er sich auf den Heimweg gemacht, mit dem Auto und eigentlich vollkommen fahruntüchtig. Er wusste, es grenzte an ein Wunder, dass er nicht von einer Streife angehalten worden war, zumal er besonders aggressiv und geradezu herausfordernd rücksichtslos gefahren war; er hatte die ganze Wut, die er plötzlich gegen Gillian hegte, in seine Fahrweise gelegt. Weil er mehr Glück als Verstand hatte, wie er sich später sagte, war er tatsächlich unbehelligt vor seiner Haustür gelandet, war die Treppe hinaufgeschwankt und hatte sich auf seine Matratze geworfen, ohne überhaupt seine Kleidung auszuziehen. Dass er nicht den halben darauffolgenden Tag verschlafen hatte, war seinem Wecker zu verdanken, dessen nervtötendes und ziemlich lautes Piepen pünktlich um halb sieben selbst in Johns alkoholumnebelte Träume drang und ihn zwang, sich trotz stechender Kopfschmerzen und einem völlig ausgetrockneten Mund zu erheben. Seine Kleidung und das ganze Bett stanken nach Kneipe, nach Bratfett und Alkohol. Angewidert von sich selbst, war er ins Bad geschlichen und hatte eine lange Dusche genommen, sich sodann mit drei Tassen starkem Kaffee und mehreren Aspirintabletten in einen halbwegs arbeitsfähigen Zustand versetzt. Als er im Büro saß, ging es ihm schon besser. Er hatte noch nie so viel Alkohol getrunken wie am Vorabend, und er schwor sich, das auch nie mehr zu tun. Er könnte jetzt seinen Führerschein los sein und ein Strafverfahren am Hals haben, und das alles wegen Gillian. Weil sie ihn abgewiesen hatte.

Nie wieder. Nie wieder würde er sich wegen einer Frau so sehr zum Idioten machen.

Um die Mittagszeit wurde er unruhig. Es gab genug Arbeit, um den ganzen Tag am Schreibtisch zu verbringen, aber sein eigentliches Vorhaben war gewesen, ab drei Uhr Position vor der William Ellis School in Highgate zu beziehen in der Hoffnung, Finley Stanfords Mutter treibe sich vielleicht dort herum, um heimlich einen Blick auf ihren Sohn zu werfen, wenn er zu seinem Sportkurs ging. Die Frage war, ob er, John, an der ganzen Geschichte überhaupt noch dranbleiben wollte. Sein Motiv war Gillian gewesen, die Tatsache, dass sie Teil der mysteriösen Geschehnisse war und womöglich in Gefahr schwebte. Sollte er sich angesichts der Entwicklung der Ereignisse ausgerechnet wegen Gillian noch für etwas engagieren, das ihn kaum etwas anging?

Schließlich entschied er jedoch, es trotzdem zu tun. Es passte nicht zu ihm, sich beleidigt zurückzuziehen, wie er fand.

Er rief im Handballclub an, behauptete, eine schwere Erkältung zu haben und daher sowohl am heutigen Tag als auch für die ganze Woche seine Trainerstunden nicht wahrnehmen zu können. Dann zog er seine Jacke an, griff sich den Autoschlüssel und verließ das Büro. Das Schneetreiben raubte ihm fast die Sicht.

Dennoch parkte er pünktlich um drei Uhr vor Finleys Schule.

Und wartete. Spähte. Der dichte Schneefall machte die Sache nicht leichter.

Irgendwann, irgendwo musste Finleys Mutter auftauchen.

2

»Ja, also«, sagte Luke Palm, »das Haus ist in einem wirklich guten Zustand. Gepflegt und freundlich … Ich sehe da keine allzu großen Probleme.«

Sie standen im Esszimmer. Draußen brach die Dunkelheit herein. Es schneite. Ohne Unterlass, seit dem frühen Morgen.

Palm hatte sich alles angesehen, einige Notizen gemacht. Nun nickte er zufrieden. »Kein Problem«, wiederholte er.

Gillian merkte, wie angespannt sie war. Palms positive Bemerkungen vermochten daran nichts zu ändern. Sie hatte das Entscheidende noch nicht gesagt und war nicht sicher, ob Palm es bereits wusste. Er hatte nichts durchblicken lassen.

»Es gibt da noch etwas«, sagte sie zögernd.

»Ja?«

»Sie wollten wissen, weshalb ich verkaufe, und mögliche Käufer werden das auch fragen. Ich sagte Ihnen ja, dass mein Mann gestorben ist und ich daher in die Nähe meiner Eltern ziehen will. Die Wahrheit ist – er ist nicht einfach gestorben. Er …« Sie sprach nicht weiter.

Palm nickte. »Ich weiß. Ich hatte das bei Ihrem Anruf nicht sofort begriffen, aber es wurde mir klar, als ich überlegte, weshalb mir Ihr Name bekannt vorkommt. Es stand in irgendeiner Zeitung. Ich weiß, Ihr Mann …«

»Er wurde ermordet. Ich habe ihn hier, in diesem Zimmer, gefunden.«

Palm sah sich beklommen um. »Verstehe.«

»Es wird manchen möglichen Käufer sicher abschrecken.«

»Wir müssen es nicht sagen«, meinte Palm, »und wenn es jemand von selbst herausfindet und dann abspringt, können wir es nicht ändern. Keinesfalls müssen wir es gleich erwähnen.«

Gillian nickte. »Danke. Das war der Grund, weshalb ich Sie als Makler wollte. Ich dachte, Sie verstehen das alles besser. Weil Sie ja irgendwie auch … ein gebranntes Kind sind.«

Beide schwiegen sie, hingen ihren Gedanken nach, die sich um die absurden Konstellationen drehten, in die Menschen in ihrem Leben geraten konnten. Palm sagte sich, dass es schon seltsam war, auf welchem Weg er plötzlich zu einem Makler geworden war, der auf Häuser, in denen Gewaltverbrechen verübt wurden, spezialisiert zu sein schien. Und Gillian dachte, dass sie jeden für verrückt erklärt hätte, der ihr noch vor wenigen Wochen diese Situation prophezeit hätte: Dass sie ihr Haus verkaufen und nach East Anglia zurückgehen würde und dass sie für all dies einen Makler aussuchen würde, dem sie ihre spezielle Situation nicht erklären musste, da er bereits selber ein Mordopfer gefunden hatte und durch das gesamte sich anschließende seelische Chaos gegangen war.

Sie begleitete ihn zur Tür, sie verabschiedeten sich voneinander, und sie sah Palm nach, der noch bevor er die Straße erreicht hatte, wo sein Wagen parkte, vom Schneetreiben verschluckt wurde.

Wie ein Vorhang, dachte sie schaudernd.

Ihr Blick fiel auf den Eimer mit Vogelfutter, der neben der Tür stand. Sie hatte heute völlig vergessen, das Vogelhaus aufzufüllen, und sie wusste auch nicht, ob die Vögel nach Einbruch der Dunkelheit überhaupt noch zum Essen kommen würden, aber die Chance, etwas zu finden, wollte sie ihnen jedenfalls geben. Seufzend schlüpfte sie in ihre Stiefel, zog ihre Jacke über, nahm den Eimer und stapfte um das Haus herum. Es war inzwischen völlig dunkel.

Es war nicht einfach, sich vorwärtszukämpfen. Gillian sank bis über die Knie in den Schnee. Die Stiefel nützten praktisch nichts, ihre Hose war schnell patschnass, und sie würde sie später wechseln müssen. Außerdem sah sie fast nichts. Als sie das Vogelhaus erreicht hatte und sich umdrehte, konnte sie kaum mehr ihr eigenes Haus erkennen. Diffus nahm sie nur den Lichtschein aus der Küche wahr.

Sie schaufelte mehrere Hände voller Futter unter die Überdachung und war froh, dass sie sich überwunden hatte: Der gestrige Vorrat war völlig aufgebraucht, es gab kein einziges übrig gebliebenes Korn mehr.

Den Griff des Eimers in den klammen Fingern trat sie den Rückweg an. Schnee taute in ihren Haaren und lief ihr über das Gesicht. Der wilde Tanz der Flocken ließ sie fast schwindelig werden. Sie tastete sich den Weg am Haus entlang und atmete erleichtert auf, als sie die Tür erreichte, aus der ein freundlicher Lichtschein nach draußen fiel. Helligkeit, Wärme, Trockenheit. Sie kam sich vor wie nach einer Wanderung durch die Arktis, dabei war sie nur in ihrem Garten gewesen. Sie schloss die Tür, sperrte den Schnee, die Kälte, die einfallende Nacht aus.

Im Spiegel, der hier im Eingang hing, konnte sie ihren seltsamen Aufzug bewundern: eine Schneemütze auf dem Kopf, klatschnasse Haare darunter, Schnee auf ihren Armen und Schultern, durchweichte Jeans. Sie schälte sich aus ihrer Jacke, bückte sich dann und zog sich die Stiefel von den Beinen. Alles war nass. Als sie sich wieder aufrichtete und dabei mit ihrem Blick den Spiegel erneut streifte, meinte sie, im Hintergrund eine Bewegung wahrzunehmen.

In der Küche.

Ein paar Sekunden lang verharrte sie völlig reglos. Es war wie ein Schatten gewesen, der im Bruchteil eines Moments vorüberglitt, und sie war nicht sicher, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Es war so schnell gegangen. Vielleicht hatte sie aus ihrer eigenen Bewegung heraus gemeint, etwas anderes habe sich bewegt.

Ihr Herz schlug plötzlich hart und schnell und so, dass sie es überdeutlich wahrnehmen konnte.

Wie lange war sie draußen gewesen? Es konnten nicht mehr als fünf Minuten gewesen sein. Die Haustür hatte weit offen gestanden in dieser Zeit. Sollte sich jemand dort draußen herumgedrückt und auf eine Gelegenheit gewartet haben, so hätte er sie zweifellos gefunden: Fünf Minuten reichten, in ein Haus mit einladend geöffneter Tür zu huschen und sich dort zu verstecken. Und auf die Frau zu warten, die dort lebte.

Auf einmal war sie sicher, dass jemand da war. Sie spürte es. Sie war nicht allein.

Ihr erster Impuls war, die Polizei anzurufen, aber als sie sich hastig umblickte, sah sie, dass das Telefon nicht in der Ladestation im Flur steckte. Es lag wahrscheinlich in der Küche, und wenn sich dort jemand versteckt hielt, war es wahnsinnig, sich hineinzuwagen. Sollte sie zu den Nachbarn laufen? Hallo, kann ich bitte von euch aus die Polizei anrufen? Ich habe einen Schatten in meiner Küche gesehen.

Sie wäre bis auf die Knochen blamiert, wenn sich nachher herausstellte, dass überhaupt niemand hier gewesen war.

Aber es ist jemand hier! Ich höre ihn atmen!

Sie konnte kaum ein hysterisches Aufschluchzen unterdrücken, als ihr aufging, dass es ihr eigenes Atmen war, was sie hörte.

Ich drehe komplett durch. Und, verdammt noch mal, ich traue mich nicht, in meine Küche zu gehen!

Sie verharrte, paralysiert fast und vollkommen unschlüssig, was sie tun sollte. Sie hatte nichts, um sich im Notfall zu verteidigen.

Auf keinen Fall durfte sie von der Haustür weg, von ihrem Fluchtweg ins Freie. Aber sollte sie die ganze Nacht über hier stehen? Was, wenn der andere eiserne Nerven hatte und ebenfalls wartete – so lange, bis sie einen Fehler machte?

Vielleicht spinne ich einfach, dachte sie.

Und genau in diesem Moment erlosch das Licht. Überall. Im ganzen Haus. Es war von einer Sekunde zur nächsten stockdunkel.

Gillian schrie auf, und nun hielt sie nichts mehr. Sie riss die Haustür auf und jagte ins Freie, hinein in die Dunkelheit und den Schneefall, obwohl sie auf Strümpfen war und keinen Mantel trug. Sie wäre auch barfuß losgerannt. Nur weg. Fort aus der tödlichen Falle, in die sich ihr Haus während weniger Minuten verwandelt hatte.

Sie hatte fast das Ende des Gartenweges erreicht, als ein Schatten vor ihr auftauchte. Er schien aus dem Nichts zu kommen, so als habe er auf sie gewartet. Er versperrte ihr den Weg, sie prallte gegen ihn und begann zu schreien, begann mit erhobenen Fäusten auf das Wesen einzuschlagen. Die Angst machte sie fast wahnsinnig. Sie hörte ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen, hörte sich nach Luft ringen und schreien. Auf einmal wurden ihre Handgelenke mit eisernem Griff festgehalten und nach unten gedrückt.

»Was ist denn los, Herrgott noch mal?« Es war eine Männerstimme.

»Lass mich los!«, keuchte sie.

»Ich bin es. Luke Palm. Was ist denn passiert?«

Sie hörte auf, sich zu wehren.

»Luke Palm?« Sie schrie den Namen mit hoher, schriller Stimme. Er schien aus einer anderen Zeit zu stammen.

»Ich glaube, ich habe mein Notizbuch bei Ihnen liegen gelassen. Deshalb bin ich zurückgekommen. Sie zittern ja am ganzen Körper!«

Ihre Arme fühlten sich weich wie Pudding an. »Bitte lassen Sie mich los.«

Vorsichtig ließ er ihre Handgelenke los, abwartend, ob sie erneut nach ihm schlagen würde. Aber sie konnte sich überhaupt nicht mehr bewegen. Den winzigen Rest an Energie, über den sie noch verfügte, brauchte sie, um nicht einfach in den Schnee zu sinken und liegen zu bleiben.

»Bei mir im Haus ist jemand«, flüsterte sie. Sie fühlte sich plötzlich sogar zu kraftlos, um laut zu sprechen.

»In Ihrem Haus? Wer?«

»Ich weiß nicht. Da ist jemand. Und das Licht ist plötzlich ausgegangen.«

»Wir sind doch gerade noch in jedem einzelnen Raum gewesen. Da war niemand.«

»Ich habe die Vögel gefüttert. Und die Tür war offen. Als ich zurückkam … war da ein Schatten in der Küche …« Sie merkte selbst, dass sie sich ziemlich überspannt anhörte. Ganz allmählich beruhigten sich ihr Herzschlag und ihr Atem. Sie nahm die bittere Kälte wahr, spürte, dass ihre Füße wie zwei nasse Eisklumpen tief im Schnee steckten. Dass sie am ganzen Körper bebte vor Kälte.

Auch Palm erkannte das offenbar. »Sie haben ja fast nichts an. Kommen Sie, Sie müssen ins Haus zurück.«

»Aber da ist jemand«, beharrte sie.

»Ich komme mit«, sagte Palm kühn.

Sie stolperte neben ihm her zur Haustür. Der Flur lag in vollkommener Dunkelheit. Palm tastete nach dem Lichtschalter, aber es tat sich nichts. »Wahrscheinlich eine Sicherung. Haben Sie hier irgendwo eine Taschenlampe?«

Nachdem sie aufgehört hatte, vor Angst zu schlottern, begannen nun ihre Zähne vor Kälte zu klappern. »Ja … in der … Kommodenschublade … unter dem Spiegel … ganz oben …«

Ihrer beider Augen hatten sich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, und selbst durch den Flockenwirbel hindurch fiel ein wenig Licht von den Straßenlaternen herein. Luke Palm zog die Schublade auf, fand die Taschenlampe und schaltete sie an.

»Wo haben Sie den Schatten gesehen?«

»In der Küche.«

Palm schien plötzlich selbst nicht mehr erpicht darauf zu sein, sich in den dunklen Raum zu wagen. »Der Sicherungskasten ist im Keller?«

»Ja – aber wollen Sie jetzt wirklich in den Keller gehen?«

»Das Ganze wird einfacher, wenn wir Licht haben.«

Sie stiegen hintereinander die Kellertreppe hinunter. Am Sicherungskasten stellten sie fest, dass tatsächlich der Hauptschalter herausgesprungen war. Palm legte ihn um. Sofort drang helles Licht vom oberen Flur hinunter in den Keller.

»Wie konnte das passieren?«, fragte Gillian verwirrt.

»Keine Ahnung. Irgendetwas hat das System überlastet. Kommen Sie, wir gehen wieder nach oben.«

Oben empfing sie Lampenschein in allen Räumen. Sie spähten in die Küche. Der Raum war leer.

»Ich glaube, hier ist niemand«, sagte Palm. Probeweise rüttelte er an der Tür, die in den Garten führte, und gab einen überraschten Laut von sich, als sie aufschwang. »Die Tür ist nicht verschlossen! Wissen Sie, ob Sie sie vorhin verschlossen hatten?«

»Ich weiß es nicht«, bekannte Gillian. »Ich meine, ich schließe sie immer ab, aber ich könnte es nicht beschwören.«

Palm schaute hinaus. Es gab etliche Fußspuren auf der Terrasse, die allerdings bereits wieder zuschneiten. Das war jedoch kein Wunder: Im Zuge der Hausbesichtigung waren er und Gillian auch draußen gewesen.

Er war jetzt mutiger geworden. Gillian kam sich plötzlich ziemlich albern vor. Sie schauten in das Esszimmer und in das Wohnzimmer, durchsuchten dann den ersten Stock und den Speicher, aber sie stießen auf keine Menschenseele.

»Ich glaube, ich habe mich völlig idiotisch aufgeführt«, sagte Gillian, als sie schließlich wieder im Wohnzimmer ankamen. »Ich dachte wirklich, eine Bewegung gesehen zu haben, aber das war offenbar reine Einbildung. Ich fürchte, meine Nerven sind ziemlich angespannt.«

»Das ist doch kein Wunder. Bei allem, was in diesem Haus passiert ist. Was Sie erleben mussten … Jeder würde da gelegentlich durchdrehen. Machen Sie sich bloß keine Vorwürfe.«

Sie standen einander gegenüber. Gillian musterte Luke Palms aufgeplatzte Lippe. »War ich das?«, fragte sie schuldbewusst.

Palm strich sich mit dem Zeigefinger über den Mund, zuckte kurz zusammen und grinste dann. »Sie sind nicht schlecht im Boxen.«

»Es tut mir sehr leid.«

»Kein Problem, ich werde es überleben. Hören Sie, finden Sie nicht doch, dass Sie die Polizei verständigen sollten? Die könnten jemand vorbeischicken, der sich noch einmal genau umsieht.«

Gillian schüttelte den Kopf. »Ich mache mich ja lächerlich. Es reicht, dass ich mich vor Ihnen blamiert habe.«

Er sah sie sehr ernst an. »Ich glaube, das ist die falsche Denkweise. Sie sind nicht einfach eine Frau, die aus unerfindlichen Gründen plötzlich hysterisch geworden ist. Es gibt hier einen Killer, den die Polizei noch immer nicht gefasst hat, und er ist bereits einmal in diesem Haus gewesen. Weiß man bei der Polizei überhaupt, dass Sie hier völlig allein sind?«

»Nein. Das wissen sie dort noch nicht.«

»Mir gefällt das nicht besonders.«

»Mr. Palm …«

Er unterbrach sie. »Sie meinen wahrscheinlich, mich geht das nichts an, aber nachdem ich hier gerade als eine Art Retter in der Not aufkreuzen und mit Ihnen das Haus nach einem Schatten absuchen durfte, fühle ich mich auch verantwortlich. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, jetzt nach Hause zu fahren und Sie hier sich selbst zu überlassen.«

»Ich verriegele alle Türen.«

»Sie haben offensichtlich auch die Küchentür unverschlossen gelassen. Das macht mir Sorgen. Sie sollten nicht allein sein.«

Sie wusste, dass er recht hatte. Ob der Schatten, den sie gesehen hatte, ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war oder nicht – es war nicht gut, wenn sie allein war. Sie ahnte, wie ihre Nacht aussehen würde und alle folgenden Nächte: Sie würde nicht schlafen können. Das Licht brennen lassen. Mit angehaltenem Atem auf jedes Geräusch im Haus lauschen. Bei jedem Knarren aufrecht im Bett sitzen.

Sie hatte es gerade erlebt: Ihre Nerven hielten die Situation nicht aus.

»Ich überlege mir etwas«, versprach sie.

3

Er war völlig durchfroren, als er nach Hause kam, obwohl er während der Rückfahrt die Heizung im Auto in voller Stärke hatte laufen lassen. Er war zu lange durch den Schnee gestapft, hatte sich zu lange bei eisiger Kälte im Freien herumgetrieben. Nichts schien mehr gegen den Zustand der völligen Auskühlung helfen zu können. Eine lange, heiße Dusche vielleicht. Er hoffte es.

Liza Stanford war nicht zu sehen gewesen. John hatte die Schule und die ihr angeschlossene Sporthalle zunächst im Auto sitzend beobachtet, aber schließlich war ihm der Radius, den er damit abdecken konnte, zu klein erschienen. Er war ausgestiegen, hatte sich den Nachmittag über auf dem gesamten Schulgelände und vor allem um die Sportanlagen herumgetrieben, ständig natürlich auf der Hut, nicht übermäßig dabei aufzufallen. Ein erwachsener Mann, der scheinbar ziellos in der Nähe minderjähriger Schüler herumlungerte, konnte in schlimmsten Verdacht geraten. Das bedeutete, dass er ständig seinen Beobachtungsposten wechseln musste, was ihm immerhin ein wenig Bewegung brachte. Dennoch waren schließlich Kälte und Feuchtigkeit die Stiefel hindurch seine Beine hinaufgekrochen, hatten sich über den ganzen Körper ausgebreitet und sich in seinen Knochen eingenistet, und irgendwann hatte er es nur noch satt gehabt. Er begann, seinem eigenen Plan zutiefst zu misstrauen – wer sagte ihm denn, dass Liza überhaupt irgendein Interesse an ihrem Sohn hatte? Und wenn ja, dass sie es auf diese Weise befriedigen würde, indem sie versuchte, im Zusammenhang mit seinen außerschulischen Aktivitäten einen Blick auf ihn zu werfen? Wer sagte ihm, dass sie noch lebte? Vielleicht wartete er auf ein Phantom, während er wie ein pädophiler Triebtäter um eine Schule herumschlich und vor Kälte schlotterte.

Nachdem er irgendwann zu fortgeschrittener Stunde Finley Stanford aus der Turnhalle hatte kommen und in Richtung Bushaltestelle verschwinden sehen, ohne dass auch nur ein Schatten seiner Mutter irgendwo zu erspähen gewesen wäre, beschloss er, aufzugeben. Für immer. Das Ganze war nicht seine Angelegenheit. Sollte die Polizei die Geschichte aufklären. Für ihn war mit dem heutigen Nachmittag Schluss.

Er fühlte sich fast von einer Last befreit, als er daheim die Haustür aufschloss und die Treppen zu seiner Wohnung hinauflief. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, um warm zu werden. Sich von dem Fall zu verabschieden hieß auch, sich von Gillian zu lösen. Was ihm unbedingt gelingen musste. Er war nicht der Mann, der über Jahre von einer unerreichbaren Frau träumte, so wie Peter Fielder, der sich mit seiner Sehnsucht nach Christy McMarrow lächerlich machte.

Aus. Schluss. Vorbei.

Er blieb abrupt stehen, als er eine Gestalt bemerkte, die auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung kauerte. Samson Segal blickte ihn aus weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an.

»Endlich«, sagte er.

Er war der Letzte, den John hier anzutreffen erwartet hätte, im Grunde auch der Letzte, den er jetzt am Hals haben wollte. Wobei er eigentlich niemanden an diesem Abend um sich haben mochte. Er sehnte sich nach einer heißen Dusche, einem doppelten Whisky und nach völliger Ruhe.

»Samson!«, sagte er überrascht. »Wie sind Sie hier reingekommen?«

Samson erhob sich unsicher. John fiel auf, wie ausgemergelt seine Gestalt wirkte. Er hatte seit ihrer ersten Begegnung in jener Pension, die noch nicht lange zurücklag, rapide an Gewicht verloren. Es schien ihm richtig dreckig zu gehen.

»Ein Nachbar von Ihnen hier aus dem Haus hat mich reingelassen. Ich saß im Hauseingang unten und habe mich fast zu Tode gezittert, und er hatte Mitleid. Ich habe gesagt, ich sei einer Ihrer Mitarbeiter und müsse mit Ihnen reden.«

»Verstehe.« John begriff, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als Segal in die Wohnung zu bitten. »Kommen Sie. Das Treppenhaus ist ja auch ganz schön kalt. Sie müssen fast erfroren sein.«

Samson nickte. »Es … geht mir nicht gut«, brachte er mühsam heraus.

John schloss die Tür auf und führte Samson in sein Wohnzimmer, wo er ihn auf den einzigen Sessel drückte, der ziemlich verloren mitten in dem großen Raum auf dem glänzenden Parkettboden stand. Immerhin war das Zimmer gut geheizt. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Am liebsten einen heißen Tee«, bat Samson.

John verschwand in der Küche, setzte Wasser auf, suchte in den Schränken herum. Er trank selten Tee und war daher nicht gerade gut bestückt, aber schließlich fand er zwei Beutel Pfefferminztee und hängte sie in die Kanne. Er stellte zwei Becher und eine Zuckerdose auf ein Tablett, wartete, bis das Wasser kochte, und überlegte währenddessen. Was hatte Segal bewogen, sein sicheres Versteck auf der Baustelle aufzugeben und sich hierherzuwagen? Im Grunde kannte er die Antwort: Samson hatte sich schon neulich in einem psychisch desolaten Zustand befunden, und vermutlich war sein Gefühl völliger Verlorenheit schlimmer geworden. Er hatte es nicht mehr ausgehalten.

Ich hätte öfter nach ihm sehen sollen. Aber ich kann mich nicht zerreißen.

Er ahnte plötzlich, dass sich sein Wunsch, mit der ganzen Geschichte abzuschließen und in das normale Leben zurückzukehren, nicht so einfach würde bewerkstelligen lassen. Er hatte Segal an sich kleben, und indem er ihn, einen Mann, nach dem die Polizei seit zwei Wochen fahndete, versteckt hatte, hing er tief in allem mit drin.

Er fluchte, während er das kochende Wasser in die Kanne goss. Wie hatte er nur so blöd sein können! Einem Mann Unterschlupf zu bieten, der im Zusammenhang mit drei Mordfällen gesucht wurde und sich mit seinem Verhalten hochgradig verdächtig gemacht hatte.

Du wirst es nie lernen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, Burton!

Mit dem Tablett kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Samson saß genau so da, wie er ihn zurückgelassen hatte. John stellte das Tablett in Ermangelung eines Tisches auf den Boden, setzte sich selbst mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf das Parkett. Die heiße Dusche schien warten zu müssen.

»Warum sind Sie hier, Samson?«

Samson sah unglücklich und schuldbewusst aus. »Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Gestern Mittag bin ich los. Ich habe den Wohnwagen gut abgeschlossen. Hier sind die Schlüssel.« Er holte die Schlüssel aus seiner Jackentasche, legte sie ebenfalls auf den Fußboden.

»Gestern Mittag? Wo haben Sie denn die letzte Nacht verbracht?«

»Ich war gestern Abend hier. Ihre Adresse habe ich aus einem Telefonbuch. Ich habe eine Irrfahrt mit verschiedenen Bussen hinter mich gebracht, bis ich endlich hier war. Dann habe ich ewig vor dem Haus gewartet. Aber … Sie kamen nicht …«

Klar. Gestern Abend hatte er sich stundenlang in einer Kneipe zulaufen lassen, um mit dem Frust zurechtzukommen, von der Frau seines Herzens abgewiesen worden zu sein.

»Schließlich habe ich die Kälte nicht mehr ausgehalten«, fuhr Samson fort. »Ich bin zum Bahnhof gegangen. Dort habe ich mich die ganze Nacht über herumgedrückt, ständig meine Plätze gewechselt, um nicht zu sehr aufzufallen. Ich hatte furchtbare Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden.«

»Das war verdammt riskant, Segal. Sie haben wirklich Glück gehabt.«

»Ich weiß, aber was hätte ich tun sollen? In Ihrem Hauseingang erfrieren?«

»Sie hätten in dem Wohnwagen bleiben müssen.«

»Ich kann das nicht mehr. Bitte, verstehen Sie mich doch. Ich sitze dort und werde verrückt. Ich weiß ja auch gar nicht, was geschieht. Bin ich immer noch verdächtig? Oder haben die jemand anderen inzwischen? Muss ich mich Jahre verstecken, oder ist alles absehbar? Das macht einen Menschen wahnsinnig, John, ehrlich!«

»Kann ich schon verstehen.«

»Ich bin dann heute Vormittag wieder hierhergekommen«, sagte Samson. »Sie waren immer noch nicht da. Aber zum Glück hat mich der ältere Herr dann ziemlich bald reingelassen.«

»Dann sitzen Sie seit sechs oder sieben Stunden vor meiner Tür?«

Samson nickte.

John überlegte. »Wo wollen Sie jetzt hin?«

Auf Samsons Gesicht malte sich helles Erschrecken. »Kann ich nicht hierbleiben?«

»Ein ganz schön hohes Risiko für mich.«

»Ich weiß. Aber ich habe sonst niemanden.«

»Ich setze Sie nicht einfach vor die Tür, keine Angst. Irgendetwas wird uns einfallen.« John trank von seinem Tee, während er überlegte. Das heiße Getränk tat ihm gut, obwohl er den Pfefferminzgeschmack hasste. Das Problem war, dass ihm, egal wie lange er nachdachte, vermutlich nichts anderes einfallen würde, als Samson bei sich zu behalten und zu hoffen, dass man bei der Polizei nicht auf die Idee kam, ihm einen Besuch abzustatten. Samson konnte nicht nach Hause zu Bruder und Schwägerin zurück, und in den Wohnwagen würden ihn keine zehn Pferde mehr bringen, das war spürbar.

Er klebt an mir, bis die den Täter haben.

Er fragte sich, ob das irgendwann der Fall sein würde. Wie er von Kate Linville wusste, waren Fielder und sein Team ebenfalls an Liza Stanford dran – aber würde es ihnen gelingen, sie aufzustöbern? Und wie lange würde es dauern?

Sein Entschluss, sich aus der ganzen Geschichte herauszuziehen, geriet schon wieder ins Wanken. Vielleicht litt er an maßloser Selbstüberschätzung, vielleicht hing es auch mit seiner Abneigung gegenüber Inspector Fielder zusammen, aber er hatte das Gefühl, dass es ihm eher gelingen würde, das hoffnungslos wuchernde Dickicht dieses Falls zu durchdringen als der Polizei. Die Frage war nur, ob er Lust dazu hatte.

Vielleicht spielte seine Lust aber auch schon gar keine Rolle mehr. Vielleicht zwang ihn einfach die Tatsache, dass er sich auf Samson Segal eingelassen hatte, zum nächsten Zug.

»Ich habe schon überlegt, ob ich mich der Polizei stelle«, sagte Samson. »Dann wäre wenigstens alles vorbei. Es ist furchtbar, auf der Flucht zu sein. Sich verstecken zu müssen. Ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Manchmal möchte ich nur noch aufgeben.«

»Bitte tun Sie das vorerst nicht. Ich hänge mit drin, vergessen Sie das nicht!«

»Ich würde niemandem sagen, dass Sie mir geholfen haben«, beteuerte Samson sofort.

John schüttelte den Kopf. Samson Segal hatte keinen blassen Schimmer von der Raffinesse und Hartnäckigkeit, mit der Verhöre geführt wurden, wenn der Beamte einigermaßen geschickt und erfahren war. Samson würde sich in Windeseile in Widersprüche verwickeln und letztlich alles haarklein und genau erzählen.

»Ich bin unter Umständen an etwas dran …«, begann John.

Sofort erwachte ein Ausdruck der Hoffnung in Samsons Augen. »Ja?«

John winkte ab. »Freuen Sie sich nicht zu früh. Keine Ahnung, wohin das führt. Auf jeden Fall ist Bewegung in die ganze Geschichte gekommen. Auch auf Seiten der Polizei. Man hat sich dort längst nicht mehr nur auf Sie als einzig möglichen Täter eingeschossen.«

»Aber dann …«

»Ich würde an Ihrer Stelle noch nicht aus der Deckung kommen. Wie gesagt, jene neue Spur kann sich als völlig irrelevant erweisen. Außerdem haben Sie sich so oder so strafbar gemacht, indem Sie sich einer Vernehmung durch die Polizei entzogen haben.«

»Aber das ist nicht dasselbe, als wenn man wegen dreifachen Mordes angeklagt wird«, sagte Samson.

Dem konnte John nicht widersprechen. »Stimmt.«

Ihm wurde klar, dass er morgen nun doch noch einen Versuch starten würde. Finley Stanford hatte Klavierstunde. Irgendwo in der Nähe der Hampstead-Tube-Station. Die Gegend würde zumindest leichter und unauffälliger zu bewachen sein als das weitläufige und unübersichtliche Schulgelände.

»Also, heute Nacht bleiben Sie jedenfalls hier«, sagte er. »Irgendwo muss ich noch einen Schlafsack haben, den können Sie bekommen. Und dann sehen wir, wie sich die Dinge entwickeln.«

Intensiver denn je sagte ihm seine Intuition, dass die gesuchte Liza Stanford der Schlüssel sein würde. Dass ein Zusammentreffen mit ihr Licht ins Dunkel bringen und alles verändern würde. Auch für den unglückseligen Samson Segal.

John trank den letzten Schluck Tee. Es ging ihm besser. Er fror nicht mehr so entsetzlich. Es war erstaunlich, wie viel das ausmachte.

»Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht«, sagte er, »aber ich habe fürchterlichen Hunger. Da wir die Öffentlichkeit meiden sollten, scheidet mein Stammlokal am Ende der Straße aus. Ich werde jedem von uns eine Pizza bestellen. Einverstanden?«

»Ich habe auch furchtbaren Hunger«, bekannte Samson. »Ich habe seit gestern Mittag nichts mehr gegessen.«

»Dann wird es Zeit.« John sprang auf die Füße. »Welche Pizza mögen Sie am liebsten?«

Zum ersten Mal, seit er Samson kennengelernt hatte, lächelte dieser freudig.

»Hawaii«, sagte er.

4

Als der Pizzabote klingelte, war es nach elf Uhr. Er brachte Kälte und den Geruch von Schnee ins Treppenhaus. Tara nahm die beiden heißen Pappschachteln in Empfang, zahlte und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Gillian auf dem Sofa saß, in Schlafanzug und Bademantel und mit dicken Wollsocken an den Füßen. Ihre Haare waren noch nass, sie hatte eine halbe Stunde lang in der Badewanne gelegen, um sich zu entspannen und wieder warm zu werden. Tara hatte eine Essenz in das Wasser gegeben, die nach Eukalyptus roch und vorbeugend gegen Erkältungen helfen sollte. Nachdem sie gehört hatte, dass ihre Freundin auf Strümpfen im Tiefschnee herumgelaufen war, hatte sie darauf bestanden.

»Kalte Füße sind gefährlich. Und eine Erkältung kannst du jetzt überhaupt nicht brauchen!«

Sie hatte geradezu erleichtert auf Gillians Anruf reagiert. Gillian hatte eine ganze Weile mit sich gerungen, aber ihr war niemand sonst eingefallen, zu dem sie flüchten konnte – außer John, und das würde neue Probleme mit sich bringen. Sie hatte noch stundenlang mit Luke Palm in ihrer Küche gesessen, verängstigt, fast panisch, zugleich vollkommen unsicher, ob sie nicht hysterisch auf etwas reagierte, das es nur in ihrer Einbildung gegeben hatte. Gegen neun Uhr hatte Palm schließlich gesagt, dass er nach Hause müsse, dass er aber nur gehen könne, wenn sich Gillian endlich entschließe, die Nacht nicht allein zu verbringen. Sie hatte begriffen, wie groß ihre Angst war und dass sie keine Minute mehr in ihrem Haus aushalten würde. Daher hatte sie Tara angerufen. Luke Palm hatte sie im Auto mit nach London genommen und direkt vor Taras Haustür abgesetzt. Seine Erleichterung war spürbar gewesen, aber gerade das verschärfte Gillians Angst. Hätte er sie behandelt wie eine überspannte Neurotikerin, die sich in verrückte Fantasien hineinsteigerte, wäre ihr leichter zumute gewesen. Aber Palm nahm die Geschehnisse des Abends ernst.

Vielleicht aber, dachte sie, ist das normal bei einem Mann, der eine grausam ermordete Frau in einem abgelegenen Haus im Wald aufgefunden hat. Luke Palms Blick auf die Realität war sicher inzwischen eine andere als in der Zeit, die vor all den Schrecken lag.

Tara hatte ihr Vorwürfe gemacht, weil sie nicht sofort die Polizei gerufen hatte. »Das wäre das einzig Richtige gewesen! Die müssen doch wissen, wenn so etwas passiert!«

»Tara, ich bin mir doch überhaupt nicht sicher, ob irgendetwas passiert ist. Ich dachte, ich hätte einen Schatten in der Küche gesehen. Aber ich kann mich auch getäuscht haben. Dieser Makler und ich haben das ganze Haus abgesucht. Da war niemand.«

»Und bei eurer Suche habt ihr vermutlich noch alle Spuren, die ein Experte von der Polizei vielleicht hätte finden können, gründlich zertrampelt. Das war nicht besonders schlau von dir, Gillian.«

»Ich kam mir so lächerlich vor«, sagte Gillian leise.

Gillian hatte auch abgewehrt, zumindest nachträglich die Polizei zu verständigen, wie es Tara vorschlug. »Nein. Die machen mir dann noch dieselben Vorwürfe wie du, Tara. Ich bin todmüde und total kaputt. Ich will mich jetzt nicht mit einem Beamten unterhalten und mir Vorhaltungen machen lassen. Ich kann einfach nicht mehr.«

Tara hatte nachgegeben. Sie hatte das Wasser in die Wanne gelassen und ihre Freundin hineinverfrachtet, dann Pizza bestellt und zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank geholt. Gillian war ihr dankbar, dass sie so unkompliziert reagierte. Es hatte kein echtes Zerwürfnis zwischen ihnen gegeben, aber ihre Affäre mit John hatte einen Missklang erzeugt, den sie beide noch nicht aus dem Weg geräumt hatten. Als sie nun im Wohnzimmer saßen und ihre Pizzas verzehrten, sagte Tara unvermittelt: »Gillian, ich wollte dir das die ganze Zeit schon sagen: Es tut mir leid, wie ich reagiert habe. Es war zu heftig, und ich habe mich viel zu sehr in deine Angelegenheiten gemischt. Ich war einfach erschrocken. Sexuelle Nötigung … das ist so ein Begriff, da zuckt man zusammen, und ich habe in dem Moment nicht verstanden, wieso du … egal. Ich habe dich damit vertrieben, und die ganze Zeit schon wollte ich dich anrufen und dir sagen, dass ich das wirklich bereue!«

»Na ja, jetzt hast du mich ja schon wieder bei dir«, sagte Gillian. »Du siehst, wirklich losgeworden bist du mich nicht.«

»Gott sei Dank. Meine Wohnung steht dir immer offen.«

»Ich hatte solche Angst plötzlich. Ich meine, einerseits komme ich mir albern vor. Andererseits hat mich auch die Polizei gewarnt. Wer immer Tom ermordet hat – er könnte mich gemeint haben und es wieder versuchen. Hältst du das für absurd?«

Tara ließ das Pizzastück, in das sie gerade beißen wollte, sinken. »Nein. Ich wünschte, ich hielte es für absurd. Mir wäre dann wesentlich wohler.«

»Aber …«

Tara schob ihren Pizzakarton zur Seite, neigte sich vor. Sie wirkte sehr ernst – beängstigend ernst, wie Gillian fand.

»Gillian, ich bin Staatsanwältin, und ich komme mit dieser Welt, die dir im Augenblick so absurd erscheint, wesentlich häufiger in Berührung als du. Du bist zum ersten Mal mit Gewalt und Irrsinn und Schrecken konfrontiert, und ich habe den Eindruck, du bemühst dich, damit fertigzuwerden, indem du das alles in den Bereich der Hirngespinste abzuschieben versuchst. Was, wie du im Grunde weißt, nicht funktionieren kann, denn dein Mann, den du erschossen in eurem Haus gefunden hast, war höchst real. Spiel die ganze Sache nicht herunter, auch wenn ich gut nachvollziehen kann, dass du meinst, sie nur so überhaupt aushalten zu können. Aber wenn du die Gefahr leugnest, wirst du leichtsinnig. Es war schon nicht in Ordnung, dass du in euer Haus zurückgekehrt bist, und es tut mir bitter leid, dass mich daran eine Mitschuld trifft. Noch einmal lasse ich so etwas nicht zu.«

»Ich bin ja jetzt in Sicherheit.«

Tara verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob du hier sicher bist.«

»Wieso denn nicht?«

»Gillian, wir wissen nicht, wer hinter dir her ist. Aber noch immer gibt es diese Figur des Samson Segal, und er ist noch nicht gefasst. Genauer gesagt: Die Polizei scheint keinen Schimmer zu haben, wohin er abgetaucht sein könnte. Er hat offensichtlich monatelang hinter dir herspioniert. Glaubst du ernsthaft, dass er mich nicht kennt? Als deine Freundin? Und dass er sich in diesem Fall nicht relativ schnell ausrechnen könnte, wo du dich versteckt hältst?«

»Wir haben keine Ahnung, ob er etwas mit all dem zu tun hat«, sagte Gillian, aber sie merkte selbst, dass sie nicht allzu überzeugend klang. Denn es ging um das Risiko. Und das blieb bestehen, gerade weil niemand von irgendetwas eine Ahnung hatte.

»Damals, Ende Dezember und Anfang Januar, als du mit Becky hier warst, konnte ich mir ziemlich einfach frei nehmen«, sagte Tara, »aber jetzt im Moment geht das nicht. Du bist hier den ganzen Tag allein, während ich im Büro bin. Und dieser Gedanke stimmt mich nicht besonders glücklich.«

»Ich mache niemandem die Tür auf.«

»Und wie lange hältst du das durch? Hier von morgens bis abends herumzusitzen, ohne eine Menschenseele zu treffen, und eigentlich auch nicht hinausgehen zu dürfen, weil auch das eine Gefahr birgt?«

»Das klingt sehr anstrengend«, gab Gillian zu. Sie hatte plötzlich keinen Hunger mehr, schob ihren Pizzakarton ebenfalls zur Seite. Sie spürte, dass Tara sie loswerden wollte, und sie glaubte auch den Grund zu kennen: Tara hatte selber Angst. Wenn ein Verbrecher hinter Gillian her war, geriet die Person, die sie vor ihm zu verstecken suchte, zwangsläufig ebenfalls in sein Fadenkreuz.

Sie konnte die Freundin verstehen. Aber sie fühlte sich auf einmal sehr verlassen.

»Was schlägst du vor?«, fragte sie.

»Du bist mir hier absolut willkommen«, sagte Tara, »und zwar solange du willst. Aber du bist hier nicht sicher. Du hast Becky zu deinen Eltern geschickt, und ich finde, das war eine sehr vernünftige Entscheidung. Es wäre vielleicht gut, wenn du auch …«

»Nein!«, sagte Gillian. Sie sah, dass Tara zusammenzuckte, und begriff, wie heftig ihr Nein geklungen haben musste.

»Nein«, wiederholte sie ruhiger, »nicht nach Norwich. Nicht zu meinen Eltern. Wenn sich deine Befürchtungen als richtig erweisen und der Täter vermutet mich bei dir, weil er dich als meine Freundin kennt, dann weiß er auch, dass ich Eltern habe. Er weiß vielleicht sogar, dass Becky dort ist. Ich kann sie nicht in Gefahr bringen, Tara. Indem ich mich dorthin flüchte und ihn damit in ihre Nähe locke. Das ist viel zu riskant.«

»Da hast du recht«, meinte Tara resigniert.

»Ich finde schon etwas«, versicherte Gillian, aber tatsächlich hatte sie keine Ahnung, an wen sie sich wenden könnte. Natürlich hatte sie Freunde und Bekannte in der Stadt. Aber es war eine Sache, sich hin und wieder auf einen Kaffee zu treffen oder abends gemeinsam essen zu gehen. Etwas anderes war es, sich bei einer anderen Familie über Wochen einzuquartieren, weil man auf der Flucht vor einem Killer war.

Keine Ahnung, wie man mit einer solchen Situation umgeht, dachte sie mutlos.

Tara schien hin und her zu überlegen. »Ein Hotel?«, schlug sie zögernd vor. »Irgendwo weiter im Norden. Oder auch im Süden. Auf dem Land. Ein Bed & Breakfast vielleicht.«

»Hm. Was mache ich da den ganzen Tag?«

»Na ja, zunächst einmal wärest du einfach in Sicherheit. Das ist die Hauptsache.«

Gillian dachte nach. Ein Hotel, eine Pension … irgendwo in der Abgeschiedenheit. In Cornwall vielleicht oder in Devon. Sie sah sich über verschneite Klippen wandern, das Gesicht gerötet vom eisigen Wind. Tara hatte recht: Zunächst einmal wäre sie einfach in Sicherheit.

»Ich weiß nicht … Vernünftig wäre es bestimmt …«

Vernünftig. Aber nicht allzu verlockend. Gillian fragte sich jedoch, ob sie überhaupt die Wahl hatte.

Auf jeden Fall durfte es nur eine kurzfristige Lösung sein. Sie wollte nicht monatelang untertauchen. Aber vielleicht konnte sie von dort aus ihr neues Leben in Norwich vorbereiten. Einen Laptop mitnehmen und Stellenangebote durchsuchen. Den Immobilienmarkt erkunden. Das würde ihr das Gefühl nehmen, völlig auf der Stelle zu treten.

»Wir dürften zu niemandem ein Sterbenswort sagen«, sagte sie.

»Nein«, sagte Tara.

Was für ein Albtraum, dachte Gillian.