MITTWOCH, 9. DEZEMBER
1
Auch die längste Nacht, dachte Anne, geht irgendwann zu Ende.
Es war sechs Uhr morgens, als ihre Anspannung endlich nachließ. Noch immer herrschte tiefschwarze Finsternis draußen, und das würde auch für die nächsten zwei Stunden noch so sein, aber Anne war schon immer um sechs Uhr aufgestanden; an den Wochentagen, um in die Praxis zu gehen, an den Wochenenden, um ungestört zwei Stunden lang zu malen, ehe sie das Frühstück zubereitete. Ganz gleich, ob es hell oder dunkel war, für sie begann der Tag um sechs Uhr. Sie war gern wach, während andere noch schliefen. Wobei jetzt, da sie mutterseelenallein in diesem Haus im Wald lebte, das Gefühl, sich in einer wohligen Stille durch eine schlafende Welt zu bewegen, kaum mehr vorhanden war. Die Geräusche, die Stimmen, das Flüstern des Waldes hörten sich in der Nacht anders an als am Tag, und dennoch war es nicht dasselbe, wie auf schweigende, dunkle Häuser zu blicken. In der Einsamkeit hier draußen bestand die Gefahr, dass Tag und Nacht, Schlafen und Wachen miteinander verschmolzen. Besonders in dieser dunklen Zeit vor Weihnachten.
Die vergangene Nacht hatte Anne im Wohnzimmer verbracht. In eine warme Decke eingewickelt, hatte sie in kleinen Schlucken eine heiße Milch getrunken und versucht, ihre aufgewühlten Nerven zu beruhigen. Sie war am Vorabend gegen halb elf ins Bett gegangen, hatte noch eine halbe Stunde lang gelesen und war dann rasch eingeschlafen, aber irgendwann war sie hochgeschreckt und hatte noch für den Bruchteil einer Sekunde einen Lichtschein über die Wände ihres Schlafzimmers gleiten sehen und das Brummen eines Automotors gehört; im nächsten Augenblick erstarb der Motor, verlosch das Licht.
Irgendwo da draußen in der kalten Winternacht stand ein Auto. Saß ein Mensch und … ja, was? Was sollte jemand tun auf dieser Lichtung weitab jeder menschlichen Siedlung? Ein einziges, in einer völligen Einöde befindliches Haus in einem Garten voller kahler Obstbäume beobachten? Warum?
Sie lag herzklopfend im Bett und hoffte, sie habe nur geträumt, aber sie wusste, dass es kein Traum gewesen war. Und auch keine Einbildung. Es war zu oft in der letzten Zeit geschehen. Sie musste anfangen, es ernst zu nehmen. Ohne die geringste Ahnung zu haben, worum es sich bei diesem Es handelte.
Die Leuchtziffern auf ihrem Radiowecker neben dem Bett hatten ihr gezeigt, dass es fast halb eins war.
Sie hatte sich schließlich aufgerafft und war ans Fenster getreten. Auch hier oben gab es Läden, aber die verschloss sie nie. Sie bewegte sich vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, spähte hinaus. Ein schwacher Mondschein hinter den Wolken. Sie konnte nichts erkennen, kein Auto, keinen Menschen. Aber sie wusste, dass da jemand war. Atmete, wartete.
Für einen Moment hatte sie überlegt, die Polizei anzurufen. Ich wohne mitten im Wald. In einem ehemaligen Forsthaus. Mit dem Wagen vielleicht zehn Minuten entfernt von Tunbridge Wells. Draußen steht ein Auto. Ich glaube, dass jemand mein Haus beobachtet. Das geht seit einigen Wochen so. Ich sehe den Lichtschein, wenn sich das Auto nähert. Über einen holprigen Waldweg, denn etwas anderes gibt es hier nicht. Dann geht das Licht aus. Das Auto muss irgendwo stehen. Und ich weiß nicht, was der Fahrer will. Was er von mir will.
Ihre Hand hatte zweimal zum Telefonhörer gegriffen, war zweimal wieder zurückgezuckt. Sie fand, dass sich das alles wie die Spinnereien einer schrulligen alten Frau anhörte. Sie konnte sich den Eindruck vorstellen, den sie vermittelte: ältere Frau, kurz vor siebzig, wunderlich genug, um sich in eine gottverlassene Einöde zurückzuziehen. Verwitwet. Menschenscheu. Malt wilde, bunte Bilder. Und nun bildet sie sich Lichter ein. Und Motorengeräusche.
Sie hatte sich schließlich einen Jogginganzug angezogen und war nach unten gegangen. Im Erdgeschoss waren alle Läden fest verschlossen. Früher hatte Anne sie meist offen gelassen. Aber seitdem sich diese seltsamen Dinge ereigneten, wagte sie es nicht mehr.
Zumindest konnte sie von draußen niemand sehen. Sie knipste alle Lichter an, schaltete den Fernseher ein. Stimmen. Jemanden hören. Sich vergewissern, dass sie nicht allein war auf der Welt.
Sie machte sich die Milch heiß, wunderte sich, dass sie so heftig fror, und wickelte sich in eine Wolldecke. Schlafen würde sie nicht mehr können in dieser Nacht, das war ihr klar. Sie war wach und schaute abwechselnd an die Wand und in den Fernseher, während da draußen jemand saß und vermutlich ihr Haus anstarrte. Sie wusste, dass Lichtstreifen durch die Ritzen der Läden nach draußen fielen. Wer immer der geheimnisvolle Fremde war, er konnte sehen, dass sie wach war. Ob diese Tatsache allerdings irgendeine Bedeutung für ihn hatte, vermochte sie nicht zu sagen.
Am Morgen verlor der Albtraum seine scharfen Konturen. Anne hatte vor, in die Stadt zu fahren und ein paar Weihnachtspäckchen für alte Freunde zur Post zu bringen, und sie wusste, dass spätestens dann die tägliche Normalität die Schrecken der Nacht aufheben, sie fast irreal erscheinen lassen würde. Sie war jetzt froh, dass sie nicht die Polizei angerufen und sich lächerlich gemacht hatte. Und sie war sogar froh, dass es diese endlose Nacht gegeben hatte, denn sie hatte zu einer Entscheidung geführt: Anne würde das Haus verkaufen und nach London zurückkehren. Dorthin, wo sie fast ihr ganzes Leben verbracht hatte. Und wo die Menschen lebten, die sie noch von früher kannte.
Sie hatte hin und her überlegt, in diesen Stunden, die nicht verstreichen wollten. Den ganzen Schmerz noch einmal durchlebt, in den sie unmittelbar nach Seans Tod gestürzt war. Die Entschlossenheit, mit der sie Einsamkeit und Angst niedergekämpft hatte. Sie hatte sich auch und vor allem des Versprechens entsonnen, das sie ihm und sich gegeben hatte in den ersten Minuten, nachdem er im Krankenhaus für immer eingeschlafen war: Ich mache weiter mit deinem Traum. Mit dem Haus, das du so geliebt hast. Mit den Obstbäumen und den verwunschenen Sommerabenden auf der Veranda und den schweigenden Nächten im Winter, wenn sich der ganze Wald mit Raureif überzieht. Ich lebe das alles für dich mit.
An diesem Morgen gab sie sich die Erlaubnis, ihr Versprechen zurückzuziehen.
Nicht nur, weil irgendein Irrer hier im Wald herumzog und für sie vielleicht zur Gefahr werden würde. Wer immer das war und was immer ihn umtrieb, er war nur der Auslöser für ihre Entscheidung.
Sie hatte eines begriffen in dieser Nacht: Sie lebte tatsächlich Seans Traum. Aber der hatte mit ihr nichts zu tun, nichts mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Lebensvorstellungen. Zu zweit hatte das Leben in diesem Haus seinen Reiz gehabt. Für einen alleinstehenden Menschen konnte es zu einem Albtraum werden.
Sie war müde, aber zugleich elektrisiert. Freudig. Erlöst.
Sie ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein, setzte ein Ei in den Eierkocher, nahm Toastbrot aus der Packung. Sie summte leise vor sich hin. Wenn sie in der Post gewesen war, würde sie einen Makler aufsuchen. Vielleicht konnte er sich schon in den nächsten Tagen alles hier ansehen und ihr sagen, mit welchem Kaufpreis sie etwa rechnen durfte. Und dann würde sie sich selbst in die Suche stürzen. Eine hübsche Drei-Zimmer-Wohnung mit einem großen Balkon, den sie bepflanzen konnte. In einem Haus mit anderen Menschen, mit denen man sich vielleicht anfreunden würde. Abends die Lichter der Stadt um sie herum. Sie merkte, dass ihr fast die Tränen kamen bei dem Gedanken daran, und ihr ging auf, wie schwer es ihr in Wahrheit geworden war, die Isolation, in der sie lebte, zu ertragen. Jetzt, da sie diesen Gedanken zum ersten Mal zuließ, begriff sie, wie unglücklich sie gewesen war. Wie sehr sie entgegen ihrer Träume gelebt hatte.
Sie summte leise vor sich hin.
Das Schönste war: Sie hatte den festen Eindruck, dass Sean ihr wohlwollend zunickte.
2
»Und?«, fragte Peter Fielder, als Christy in sein Zimmer trat. Es war noch früh am Morgen, und in den Büros und auf den Fluren der Met war noch nichts los. Peter kam gern vor Tau und Tag in das Präsidium. Er wurde dann nicht andauernd angesprochen und gestört und konnte eine Menge erledigen, ehe die übliche Hektik losging, die aus hin und her eilenden Mitarbeitern, pausenlos klingelnden Telefonen und unvermittelt angesetzten Konferenzen entstand.
Christy McMarrow war ähnlich gelagert, und wahrscheinlich, dachte Peter, machte sie diese Übereinstimmung in beruflichen Fragen zu einem so gut funktionierenden Team.
Sein »Und?« bezog sich auf die Gewissheit, dass Christy mit neuen Informationen zu ihm kam. Sie schaute niemals bloß auf einen Kaffee oder einen gemütlichen Plausch bei ihm vorbei.
Allerdings wirkte sie nicht gerade erfreut. Was immer sie herausgefunden hatte, es schien sie nicht in die Nähe eines Durchbruchs gebracht zu haben.
»Ich habe gestern mit zwei ehemaligen Kolleginnen von Carla Roberts gesprochen, die mit ihr in der Drogerie gearbeitet haben«, berichtete Christy. »Beide schildern Carla als eine nette, freundliche, allerdings auch äußerst zurückhaltende Frau. Sie soll ein eher verschlossener Mensch gewesen sein, jedoch immer hilfsbereit und warmherzig. Die beiden schließen aus, dass sie Feinde am Arbeitsplatz gehabt haben könnte. Ich werde trotzdem noch einmal mit dem Filialleiter sprechen, aber mein Instinkt sagt mir, dass wir an dieser Stelle nichts finden werden.«
»Hm«, machte Peter. »Noch etwas?«
»Ich bin das Adressbuch von Carla Roberts durchgegangen, aber es gibt kaum Einträge darin. Hauptsächlich sind die Kolleginnen aus der Drogerie notiert. Nach ihrem Fortgang dort scheint sie niemanden mehr aufgeschrieben zu haben. Entweder gab es keine neuen Bekanntschaften, oder sie hat sie zumindest nicht festgehalten. Ich habe noch eine Bekannte von früher ausfindig gemacht, aus der Zeit, als Carla noch verheiratet war. Eleanor Sullivan. Sie war mit den Roberts’ locker befreundet. Ich habe auch sie aufgesucht.«
»Und wie reagierte dabei Ihr Instinkt?« Peter fragte das keineswegs spöttisch. Er hatte während der letzten Jahre gelernt, eine Menge auf Christys Instinkt zu geben. Was damit zusammenhängen mochte, dass er sie als Frau bewunderte und verehrte.
»Er schlug nicht wirklich in den hellsten Tönen an«, musste Christy bedauernd zugeben. »Eher gar nicht. Unwahrscheinlich, nach meiner Ansicht, dass der Mörder aus Carlas früherem Leben kommt – es sei denn, es gab Abgründe, die niemandem bekannt waren. Mrs. Sullivan erinnert sich noch gut an Carla und beschreibt sie genauso wie jeder andere: schüchtern, zurückhaltend, sympathisch, sehr freundlich. Sie sagt, Carla habe ihres Wissens nie mit anderen Menschen Probleme gehabt. Sie formulierte es so: Carla sei viel zu still und zu unauffällig gewesen, als dass sie mit jemandem habe in Streit geraten können. Sie muss ein ausgesprochen bescheidener Mensch gewesen sein, der Konflikten aus dem Weg ging und wohl kaum jemanden je provozierte.«
»Hm«, machte Peter erneut. »Es ist zum Verzweifeln: Sie besaß nicht einmal einen Computer. Es gibt keine E-Mail-Kontakte, keine Foren, keine Websites, die uns Aufschluss geben könnten. Wir tappen so jämmerlich im Dunkeln!«
Was Carla Roberts das Leben schwer gemacht hatte, ihre Scheu und ihre Unscheinbarkeit, erschwerte nun auch die Aufklärung der Umstände ihres gewaltsamen Todes. Eine Frau ohne Ecken und Kanten, die nie mit einem anderen Menschen zusammengestoßen war. Die dann trotzdem auf grausame Weise sterben musste. In irgendjemandem musste dieser Ausbund an Unauffälligkeit entsetzliche Aggressionen ausgelöst haben.
»Es muss etwas gegeben haben in ihrem Leben«, sagte er, »es muss etwas gegeben haben, was den Täter zu dieser Brutalität getrieben hat. Es ist eine Sache, ob man jemanden aus sicherer Entfernung einfach abknallt. Eine andere ist es, jemanden zu fesseln und ihm ein Tuch so tief in den Rachen zu stoßen, dass er erbrechen muss. Es dann noch tiefer zu drücken und es auszuhalten, dass der andere in einem grauenhaften Todeskampf an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Meiner Ansicht nach gehört eine Menge Hass dazu. Wodurch hat Carla Roberts ihn ausgelöst? Sie kann nicht nur wie ein freundlicher, kaum wahrnehmbarer Schatten durch den Alltag gehuscht sein.«
»Es sei denn, ihre Ermordung hat überhaupt nichts mit ihr als Person zu tun«, gab Christy zu bedenken, »sondern hängt ausschließlich damit zusammen, dass sie in ihrer Einsamkeit ein passendes Opfer abgab. Für einen Mann, der grundsätzlich ein Problem mit Frauen hat. Immerhin war das gleich der erste Gedanke, der uns allen durch den Kopf schoss, als wir sahen, was man ihr angetan hatte.«
»Trotzdem, wir müssen uns an ihr Leben halten, weil wir keine sonstigen Anhaltspunkte haben.« Er unterdrückte ein Gähnen. Er war so müde. »Hat diese Mrs. Sullivan etwas über die Ehe der Roberts’ gesagt?«
»Ja. Es war wohl eine ziemlich normale Ehe. Ohne Höhen und Tiefen. Der Mann hat viel gearbeitet, war ständig in seiner Firma. Carla fiel aus allen Wolken, als sie von dem finanziellen Desaster erfuhr und von der Tatsache, dass er sie jahrelang betrogen hatte. Am meisten erschütterte es sie wohl, dass sie nie etwas mitbekommen hatte. Mrs. Sullivan telefonierte damals mit ihr, und sie soll am Telefon geradezu stereotyp nur immer wieder den Satz wiederholt haben: Wieso habe ich es nicht gemerkt? Wieso habe ich es nicht gemerkt? Damit kam sie nicht klar.«
»Ist ihr Mann ihr gegenüber jemals gewalttätig gewesen? Oder überhaupt durch einen Hang zu Gewalt auffällig geworden?«
»Nein. Es muss auf eine etwas langweilige, unspektakuläre Art durchaus eine glückliche Ehe gewesen sein. Auch sonst galt er als ruhiger, eher biederer Zeitgenosse. Die Scheidung ging laut Eleanor Sullivan glatt über die Bühne. Finanziell ausgenommen hat sie ihn dabei nicht, es war ja auch absolut nichts mehr zu holen. Außerdem verschwand er dann sehr schnell auf Nimmerwiedersehen.«
Fielder hätte bei sich selbst nicht von einem Instinkt gesprochen, wenn es um die Arbeit ging, aber er hatte doch das deutliche Gefühl, dass sie ihre Zeit verschwendeten, wenn sie dem verschollenen Exehemann hinterherspürten. Er glaubte nicht, dass dieser etwas mit dem Mord an Carla zu tun hatte.
Er wechselte das Thema. »Was ist mit der Eingangstür des Hochhauses? Gibt es dazu etwas Neues?«
Diesmal hatte Christy zumindest ein Ergebnis vorzuweisen.
»Ja. Unser Techniker sagt, sie wurde eindeutig manipuliert. Die Feder, die dafür sorgt, dass die Tür automatisch wieder zufällt, wurde wohl mit einer Zange aus ihrer Verankerung gezogen. Damit konnte jeder kommen und gehen, wann er wollte, ohne einen Schlüssel zu besitzen.«
»Könnte der Mörder gewesen sein.«
»Ja. Muss aber nicht. Der Hausmeister sagt, sie haben immer mal wieder mit Vandalismus zu tun. Hackney ist nicht gerade der bürgerlichste Stadtteil. Es kann sich auch irgendein Jugendlicher einen Spaß erlaubt haben, und unserem Täter kam das dann höchst gelegen.«
Peter Fielder rieb sich die müden Augen. Er hätte jetzt irgendetwas gebraucht, einen winzig kleinen roten Faden, der aus dem Nebel dieses undurchsichtigen Falles hervorblitzte. Den Hauch eines Anhaltspunktes. Irgendetwas, das ihm einen Adrenalinstoß versetzte, die Müdigkeit schlagartig verfliegen ließ. Aber da war nichts. Nichts als das Gefühl, durch wabernden Dunst zu schleichen und dabei nicht einen Schritt wirklich voranzukommen.
Christy bemerkte seine Niedergeschlagenheit. »He, Chef! Nicht so traurig! Bald ist Weihnachten!«
Er machte sich nicht einmal die Mühe zu lächeln.
»Ja. Bald ist Weihnachten. Aber da draußen läuft ein Irrer herum. Daran ändert auch Weihnachten nichts.«
»Meinen Sie, er tut es wieder?«
»Möglich. Unter Umständen hat er ein Problem, das allein mit Carla Roberts’ Ermordung noch nicht gelöst ist.«
»Ein Typ, der Frauen hasst? Und einfach auf günstige Gelegenheiten lauert, seinen Hass auszuleben? Das würde die Theorie des Zufallsopfers stärken.«
»Bedingt. Nichts ist nur Zufall. Irgendwo in Carla Roberts’ Leben muss es einen Schnittpunkt mit dem Leben ihres Mörders gegeben haben. Er mag winzig sein und so unbedeutend erscheinen, dass wir die größten Schwierigkeiten haben werden, ihn zu entdecken. Aber ich glaube nicht, dass jemand einfach in den obersten Stock eines Hochhauses hinauffährt, dort an der nächstbesten Wohnungstür klingelt und die Frau, die dort zufällig alleine lebt, ermordet, ohne vorher von ihrer Existenz und ihren Lebensumständen Kenntnis gehabt zu haben.« Fielder stand auf, entschlossen, sich von seiner Erschöpfung und seiner deprimierten Stimmung nicht niederringen zu lassen. »Nein, ich denke, der Mörder kannte Carla Roberts. Wusste ganz gut über sie Bescheid. Und deswegen müssen wir ihr Leben auseinandernehmen. Bis in die kleinste Verästelung. Wahrscheinlich müssen wir an Stellen suchen, die sich uns keineswegs als Erstes aufdrängen. Und wir sollten uns dabei klarmachen, dass wir vielleicht nicht viel Zeit haben.«
Christy schwieg.
Sie wusste, er dachte an das nächste Opfer.
3
Im Halfway House war es nicht so voll wie am Freitag zuvor. Dennoch herrschte ein reges Stimmengewirr, und an der Bar stand eine Traube von Menschen. Der Fußboden war nass und schmutzig, weil jeder das feuchte Schmuddelwetter an den Schuhen mit hereinbrachte. Irgendwo im Hintergrund dudelte ein Radio Weihnachtsmusik.
Noch in der Tür stehend, vergewisserte sich Gillian, dass der Typ aus ihrer Straße, Samson Segal, diesmal nicht anwesend war. Sonst hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht. Er brauchte sie nicht zum zweiten Mal in trauter Zweisamkeit mit einem Fremden zu beobachten. Er schien jedoch nicht da zu sein, soweit sie das auf den ersten Blick zu erkennen vermochte, und sie konnte nicht länger herumspähen, denn die Ersten begannen sich schon zu beschweren.
»Tür zu! Ist nicht gerade eine laue Sommernacht draußen, junge Frau!«
John Burton kam auf sie zu, als sie schon glaubte, ihr Mut werde sie verlassen. Sie hatte fast gehofft, er sei bereits wieder gegangen, denn sie war beinahe eine Dreiviertelstunde zu spät. Es schmeichelte ihr, dass er gewartet hatte, aber zugleich zog sich ihr Magen nervös zusammen.
»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte er. Er nahm ihr den Mantel ab und legte seine Hand auf ihren Arm, während er sie zu einem kleinen Ecktischchen führte, auf dem eine Karaffe mit Wein und zwei Gläser standen. »Ich hoffe, der Tisch hier ist in Ordnung?«
»Ja, natürlich. Es tut mir leid, dass ich so spät bin. Wir lassen Becky abends noch nicht allein, und deshalb musste ich warten, bis mein Mann nach Hause kam.«
In Wahrheit war Tom recht früh an diesem Tag zu Hause gewesen. Sie hatte ihm am Morgen gesagt, dass sie abends mit Tara verabredet war, und er hatte sich ohne Murren an die Abmachung gehalten, die für derartige Fälle zwischen ihnen bestand: Er kam so früh wie möglich nach Hause, damit Gillian rechtzeitig weg konnte.
Aber sie hatte gezögert und gezaudert. Und sich dabei immer wieder gefragt, weshalb sie sich eigentlich so unsicher fühlte. John Burton war der Handballtrainer ihrer Tochter. Er hatte sie auf ein Glas Wein eingeladen. Nicht zu sich nach Hause, sondern in ein öffentliches Pub. Es war nichts dabei. Es war lächerlich, deswegen so durcheinanderzugeraten.
Tara, mit der sie während der Mittagspause telefoniert hatte, um ihr Alibi abzusichern, brachte die Angelegenheit allerdings auf den Punkt. »Wenn überhaupt nichts dabei ist, warum sagst du dann deinem Mann nicht einfach die Wahrheit? Warum brauchst du dann mich?«
»Tom könnte auf falsche Gedanken kommen.«
»Welche Gedanken hast du denn?«
»Tara …«
Tara hatte gelacht. »Hör mal, Schatz, du musst dich vor mir kein bisschen rechtfertigen. Und du kannst mich gern bei Tom vorschieben. Ich habe auch keinerlei Probleme damit, wenn du gleich heute Abend mit diesem aufregenden Traummann ins Bett gehst. Nur erwarte dir davon nicht die Lösung deiner Probleme. Von einer Affäre. Es könnte ein schöner Kick sein. Mehr nicht.«
»Ich gehe doch nicht mit ihm ins Bett!«
Tara hatte nichts darauf erwidert, aber Gillian bekam eine deutliche Vorstellung davon, was der Begriff beredtes Schweigen zu bedeuten hatte.
Sie war schließlich doch losgezogen, sie wollte nicht als Feigling dastehen. Sie hatte sich für Jeans und Pullover entschieden, die Haare sorgfältig gebürstet und etwas Lippenstift aufgelegt, aber ansonsten blieb sie ungeschminkt. Burton sollte bloß nicht denken, dass sie sich seinetwegen besonders ins Zeug legte. Abgesehen davon musste sie vor Tom glaubwürdig bleiben: Sie takelte sich ja auch sonst nicht auf, wenn sie sich mit Tara traf.
Als sie saßen, schenkte John den Rotwein aus. »Sie haben hier erstaunlich guten Wein. Und wenn Sie Hunger haben, könnten wir …«
Sie unterbrach ihn sofort. An Essen konnte sie im Moment nicht einmal denken. »Nein danke. Ich möchte nur etwas trinken.«
Sie nahm einen Schluck. Der Wein schmeckte ihr, vor allem aber hatte er eine entspannende Wirkung auf ihre Nerven. Sie fühlte sich gleich ein wenig gelassener.
»Wie geht es mit Becky?«, erkundigte sich John.
Gillian schüttelte den Kopf. »Nichts Neues. Sie kommt mit mir im Moment einfach nicht besonders gut zurecht. Als ich ihr heute früh sagte, dass ich abends weg sein würde, hat sie ausgesprochen gut gelaunt reagiert. Sie liebt es, mit ihrem Vater allein zu Abend zu essen und noch ein wenig fernzusehen. Ich versuche mir nichts daraus zu machen, aber es tut schon weh.«
»Ich glaube, dass viele Mädchen das in bestimmten Lebensphasen haben: eine sehr starke Vaterbeziehung. Die Mutter stört dann. Aber das ändert sich wieder. Auf einmal sind Sie ihre engste Vertraute, und der Vater weiß überhaupt nicht mehr, was eigentlich vor sich geht. Er stößt dann irgendwann morgens im Bad auf den Jungen, der gerade bei seiner Tochter übernachtet hat, und fragt sich, was ihm wohl sonst noch alles entgangen ist.«
»Bei Ihnen klingt das sehr unkompliziert. «
John zuckte mit den Schultern. »Meiner Ansicht nach wird heutzutage gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen vieles viel zu dramatisch gesehen. Manchmal muss man sie einfach nur in Ruhe lassen.«
»Manchmal kann genau das aber fatal sein.«
»Es gibt kein Patentrezept«, räumte John ein.
Gillian wechselte das Thema. »Offiziell«, sagte sie, »bin ich übrigens gerade mit meiner Freundin Tara zusammen. Ich habe meinem Mann gesagt, dass ich mich mit ihr treffe.«
»Sie haben ihn angeschwindelt?«
»Ja.«
»Sie sehen nicht so aus, als ob Sie das oft tun.«
Gillian nahm rasch noch einen Schluck Rotwein und fragte sich, wieso sie sich so weit vorgewagt hatte. Fang bloß nicht wieder an, ihn herauszufordern. Oder mit ihm zu flirten oder etwas ähnlich Blödes zu tun. Das ist nicht deine Art!
»Nein. Natürlich nicht. Aber ich … wollte einfach keine Probleme.«
»Er hätte etwas dagegen gehabt, dass Sie sich mit mir treffen, das ist klar.«
»Hätten Sie an seiner Stelle nichts dagegen?«
»Ich bin nicht verheiratet. Absichtlich nicht. Um mich mit solchen Schwierigkeiten gar nicht erst abgeben zu müssen.«
»Es war jedenfalls einfacher zu sagen, ich gehe mit Tara weg«, sagte Gillian.
Er nickte, so als sei er plötzlich von ihrer schlichten Antwort überzeugt. »Ich verstehe.«
Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas, und schließlich fragte Gillian: »Weshalb wollten Sie mich treffen? Ich meine … unsere letzte Begegnung kann nicht besonders anregend für Sie gewesen sein.«
»Wieso nicht?«
»Im Wesentlichen habe ich Ihnen etwas vorgeheult. Und Ihnen ein paar gewöhnliche und banale Sorgen geschildert. Nicht gerade aufregend.«
Er sah sie nachdenklich an. »Ich habe Sie nicht als eine Frau mit banalen Sorgen empfunden.«
»Als was dann?«
»Als eine sehr attraktive Frau, die ein paar Probleme hat. Und wer hat die nicht?«
»Ich hatte am Ende den Eindruck, dass Sie verärgert waren.«
»Ich war nicht verärgert. Abweisend vielleicht. Sie haben ein Thema angesprochen, über das ich nicht reden wollte.«
»Ihr Ausscheiden aus dem Polizeidienst.«
»Richtig«, sagte er, und seine Miene verschloss sich.
Diesmal war Gillian klug genug, nicht zu insistieren. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte sie. »Weshalb dieses Treffen heute?«
Er lächelte. »Doch. Eigentlich habe ich geantwortet.«
Sie wartete.
»Ich habe gerade gesagt, dass Sie eine sehr attraktive Frau sind«, erklärte er.
»Das ist der Grund?«
»Um ehrlich zu sein – ja.«
Seine Direktheit hatte etwas Entwaffnendes. Gillian musste lachen. »Ich bin verheiratet.«
»Ich weiß.«
»Und wohin soll das alles führen?«
»Das entscheiden Sie«, sagte John. »Schließlich sind Sie diejenige, die verheiratet ist. Sie haben eine Familie. Sie müssen einen Besuch bei Ihrer Freundin vortäuschen, wenn Sie mich treffen wollen. Sie müssen wissen, wie weit Sie gehen möchten.«
»Vielleicht will ich jetzt bloß meinen Wein zu Ende trinken und dann nach Hause gehen.«
»Vielleicht«, sagte John und lächelte wieder.
Sein Lächeln wirkte von oben herab, und er schien nicht zu glauben, dass sie das wirklich tun würde: nach Hause gehen. Sie merkte, dass sie ärgerlich wurde. John Burton wirkte auf einmal ausgesprochen routiniert und vermittelte ihr das Gefühl, manipuliert zu werden. Wahrscheinlich zog er gerade eine vielfach erprobte Masche ab, die aus einer geschickten Abfolge von Entgegenkommen und Rückzügen bestand, von gleichmütig hervorgebrachten Statements und der Verlockung eines im richtigen Moment aufgesetzten, etwas zynischen Lächelns. Sie dachte an die Weihnachtsfeier im Handballclub, als die andere Mutter neben ihr über das Liebesleben des gut aussehenden Trainers gerätselt hatte. Wahrscheinlich gab es tatsächlich keine beständige Partnerin in seinem Leben, und es war auch nicht das, was er anstrebte. Er verführte, was ihm gefiel und was ihm über den Weg lief, lebte kurze Affären und wandte sich dann dem nächsten Objekt seiner Begierde zu.
Gillian war sich bewusst, dass sie manchmal keine genaue Vorstellung davon hatte, was sie wollte, aber für den Moment war ihr zumindest klar, was sie nicht wollte: eine weitere Trophäe inmitten der langen Kette von Eroberungen eines attraktiven Frauenhelden zu sein. Sie trank den letzten Schluck in ihrem Glas und wehrte ab, als John nach der Karaffe griff.
»Für mich nichts mehr, danke. Es war nett mit Ihnen, John. Ich denke, ich fahre jetzt nach Hause.«
Er wirkte überrascht. »Jetzt schon?«
Sie stand auf. »Ja. Ich habe mich entschieden, wissen Sie.«
Er erhob sich ebenfalls, aber sie lief bereits zur Garderobe, schnappte sich ihren Mantel und war durch die Tür, noch ehe sie ihn angezogen hatte. Nach der verbrauchten, stickigen Luft drinnen war es wunderbar, den feuchtkalten Abend draußen zu spüren. Gillian genoss die Kühle und die Stille. Direkt vor ihr lagen der Strand und der Fluss. Sie sah die abgrundtiefe nächtliche Dunkelheit des Wassers, hörte das leise Gurgeln der Wellen. Roch Salzwasser und Tang. Sie schlüpfte in ihren Mantel. Ihr fiel plötzlich ein riesiges Gewicht von der Seele. Was hatte sie sich bloß gedacht, als sie beschloss, hierherzukommen?
Sie hatte ihr Auto, das an der Straße parkte, fast erreicht, als John Burton hinter ihr auftauchte. Er war ein wenig außer Atem. »Nun warten Sie doch«, sagte er. »Meine Güte, haben Sie ein Tempo drauf! Ich musste schließlich noch bezahlen …«
»Mir lag ja auch nicht daran, auf Sie zu warten«, sagte Gillian und öffnete mit der Fernbedienung ihre Wagentüren. Sie wollte einsteigen, aber John hielt sie am Arm fest.
»Was habe ich falsch gemacht?«, fragte er.
»Im Prinzip wahrscheinlich gar nichts«, erklärte Gillian. »Nur – ich will einfach nicht.«
»Was wollen Sie nicht? Mit mir etwas trinken? Mit mir reden?«
»Ich will meinen Mann und meine Tochter nicht belügen. Ich will mich in nichts verstricken, was das notwendig machen würde.«
»Sie haben Ihren Mann heute bereits belogen.«
»Schlimm genug. Ich muss das ja nicht wiederholen.«
»Warten Sie«, bat er, »bitte. Steigen Sie jetzt nicht einfach ein und fahren davon. Es tut mir leid, wenn ich gerade eben ein ziemlich blasiertes und dummes Verhalten an den Tag gelegt habe.« Er wehrte ab, als sie etwas erwidern wollte. »Nein, es war so. Ich wollte als der große Verführer auftreten, und wahrscheinlich hat Sie genau das verärgert, und ich kann das verstehen. Es tut mir leid. Mehr kann ich nicht sagen. Wirklich. Es tut mir leid.«
»Es ist schon in Ordnung. Nur …«
»… nur Sie geben mir keine zweite Chance.«
»John, verstehen Sie doch …«
»Können wir uns nicht kurz in Ihr Auto setzen?«, fragte er. »Es ist ziemlich kalt, und man weiß hier auf der Straße nie, wer zuhört.«
»Okay«, willigte Gillian ein. Sie setzte sich hinter das Steuer, John rutschte auf den Beifahrersitz.
»Sie faszinieren mich«, sagte er. »Und ich möchte Sie wiedersehen. Ich nehme an, das haben Sie schon begriffen. Ich weiß, die Umstände sind äußerst ungünstig. Trotzdem. Ich kann Sie mir nicht einfach aus dem Kopf schlagen. Ich habe es über das Wochenende versucht. Es gelingt mir nicht.«
»Es gibt bestimmt genügend Frauen, mit denen Sie sich trösten können«, sagte Gillian.
Er sah ihr direkt in die Augen. Sein Gesichtsausdruck wirkte sehr ernsthaft. Und aufrichtig. »Nein«, sagte er, »die gibt es nicht. Vielleicht passt das nicht zu den Gerüchten, die sich um mich gebildet haben, aber es ist tatsächlich so: Es gibt sie nicht.«
»Unter den Müttern im Club gelten Sie als pausenloser Verführer.«
»Großartig. Aber es stimmt nicht. Das Ende meiner letzten Beziehung liegt über ein Jahr zurück. In der Zwischenzeit habe ich wie ein Mönch gelebt.«
»Dafür legen Sie ein ziemlich geübtes Verhalten an den Tag, wenn es darum geht, eine Frau für sich zu gewinnen.«
»Wäre ich wirklich geübt, hätte ich rechtzeitig gemerkt, dass ich bei Ihnen mit meinem Verhalten völlig auf dem Holzweg bin. Ich habe mich entschuldigt, Gillian. Ich wollte einfach besonders cool rüberkommen. Es war idiotisch.«
»Sie versuchen, sehr geheimnisvoll zu wirken.«
»Was wollen Sie wissen? Ich erzähle es Ihnen!« Er sah sie fast flehentlich an. »Ich möchte nichts vor Ihnen verbergen, Gillian!«
»Weshalb sind Sie aus dem Polizeidienst ausgeschieden?«
Er schien förmlich in sich zusammenzufallen. Er hob beide Hände, eine Geste der Hilflosigkeit. »Oh Gott. In der Frage lassen Sie nicht locker, oder?«
»Es interessiert mich eben«, sagte Gillian.
»In Ordnung«, sagte er resigniert, »obwohl Sie mich wahrscheinlich jetzt gleich aus dem Auto werfen, wenn ich es Ihnen sage. Und Ihre Tochter im Club abmelden.«
»Klingt nicht gut.«
»Nein. Vor acht Jahren bekam ich eine Anzeige wegen sexueller Nötigung. Die junge Frau war Praktikantin bei mir. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren mangels Beweisen eingestellt, es kam nicht zur Anklageerhebung. Dennoch konnte ich danach nicht bleiben, es ging einfach nicht mehr. Zufrieden?«
Sie sah ihn erschrocken an.
4
Als sie daheim in die Garageneinfahrt bog, bewegte sich ein Schatten auf dem Weg, der zur Haustür führte. Tom.
»Ich habe dein Auto gehört«, erklärte er, »und da dachte ich …«
Sie schloss den Wagen ab. »Was dachtest du?«
»Ich dachte, ich gehe dir einfach entgegen«, sagte er und lächelte.
Toms Fürsorge rührte Gillian. Sie hatte oft den Eindruck, er sei eher mit ihrer beider Firma verheiratet als mit ihr und in zweiter Linie mit seinem Tennisclub, aber es gab Augenblicke, da spürte sie die Wärme, die es vor Jahren zwischen ihnen gegeben hatte und die verborgen und vom Alltag überlagert noch immer da war. Gerade heute Abend hätte sie allerdings lieber darauf verzichtet.
Sie spürte, dass Tom sie von der Seite musterte.
Was sieht er?, fragte sie sich beklommen. Was denkt er?
Tom gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Er sah Gillian mit ihren langen, immer etwas chaotischen Haaren und dem feinen Profil. Er sah die Frau, die er seit über zwanzig Jahren kannte, die er als Student kennengelernt hatte und ohne die er sich schon nach kürzester Zeit sein Leben nicht mehr hätte vorstellen können. Er hatte sie lange nicht mehr so intensiv wahrgenommen wie an diesem Abend. Es war eine plötzliche Unruhe gewesen, die ihn hinausgetrieben hatte, die ihn dazu gebracht hatte, das warme Wohnzimmer zu verlassen und sich in die Kälte zu stellen, als er meinte, in der Ferne den Motor ihres Wagens zu vernehmen.
Besorgt fragte er sich nun, worin der Grund für seine Unruhe bestand.
Gillian war neunzehn gewesen, als sie an die Uni kam, und sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert. Sie war anders als die anderen Studentinnen, und das hing nicht nur mit ihren auffälligen wilden Haaren zusammen. Es lag etwas Altmodisches in ihrem Wesen, das sie von den anderen abhob. Gillian war das einzige Kind übermäßig besorgter, fürsorglicher Eltern, die sie von klein auf praktisch bei jedem Schritt, den sie tat, vor den Gefahren einer bösartigen, gefährlichen Welt gewarnt hatten, und der Besuch der Universität verlieh ihr zum ersten Mal ein Gefühl von Freiheit. Sie hatte Glasgow gewählt, obwohl sie aus Norwich in East Anglia stammte, und dabei hatte ein einziger Gedanke den Ausschlag gegeben, wie sie Tom später einmal anvertraute: genügend räumlichen Abstand zwischen sich und ihren Eltern zu schaffen, sodass ihre Mutter nicht an jedem Wochenende anrauschen und nach ihr sehen konnte.
Gillian hatte unsicher gewirkt, oft zögernd und unerfahren, aber ihre Lebensfreude war hinter dieser Scheu spürbar gewesen. Ihre Mutter hatte es bis zu jenem Zeitpunkt geschafft, sie so lückenlos zu bewachen, dass es keinem Mann geglückt war, jemals mit ihr allein zu sein, und auch dieser Umstand hatte dazu beigetragen, Gillians Selbstsicherheit zu untergraben. Die meisten Mädchen hatten seit ihrem sechzehnten Lebensjahr einen festen Freund. Sie selbst hatte keine Ahnung, ob und wie sie überhaupt auf Männer wirkte.
Aber dann war Tom gekommen, hatte sie geradezu belagert, und im Handumdrehen waren sie ein Liebespaar gewesen, und plötzlich war Gillian aufgeblüht, nicht nur wegen dieses gut aussehenden jungen Mannes, der als der Tennisstar der Universität galt, sondern auch deshalb, weil sie ihre Kraft und ihre Fähigkeiten entdeckte und feststellte, dass das Leben entgegen den Warnungen ihrer Mutter nicht in erster Linie bedrohlich, sondern vor allem aufregend und herausfordernd war. Sie war bei Kommilitonen und Professoren beliebt, schrieb gute Noten und durchtanzte die Nächte an den Wochenenden. Als sie nach ihrem Abschluss für ein paar Monate bei einer Filmproduktion jobbte, um sich etwas Geld zu verdienen, hatte man sie dort überhaupt nicht mehr gehen lassen, sondern ihr sogleich eine feste Stelle angeboten und erste Kompetenzen übertragen. Schon nach kurzer Zeit hatte sie völlig selbstständig die finanziellen Kalkulationen für die Projekte erstellt. Gillian schien in dieser Zeit von innen heraus zu leuchten.
Das hat sich geändert, dachte Tom nun, und vielleicht macht mir das plötzlich Sorgen. Sie leuchtet nicht mehr. Sie strahlt nicht mehr.
»Und wie war es mit Tara?«, fragte er, als sie die Haustür erreicht hatten und eintraten. »Ihr wart in einer Kneipe, oder?«
»Ja. Wieso?«
»Du riechst danach. Übrigens bist du ganz schön früh zurück!«
Sie war nach ihrem überstürzten Abschied von John Burton auf einen Parkplatz in der Nähe von Beckys Schule gefahren und hatte dort eine ganze Weile gewartet, um nicht allzu rasch nach ihrem Aufbruch wieder daheim aufzukreuzen. Einen Moment war sie versucht gewesen, tatsächlich noch zu Tara zu fahren und die verstörenden Neuigkeiten mit ihr zu diskutieren, obwohl sie dafür bis nach London hinein gemusst hätte, aber sie hatte sich klargemacht, dass die Freundin dafür der falsche Gesprächspartner war. John Burton wäre für alle Zeiten bei ihr erledigt gewesen, und sie hätte keine Ruhe gegeben, ehe Gillian nicht Becky im Handballclub abgemeldet hätte. Sie war Juristin. Die Tatsache, dass das Verfahren gegen John eingestellt und keine Anklage erhoben worden war, hätte sie vermutlich wenig beeindruckt. Dafür kannte sie die Situation Aus Mangel an Beweisen nur zu gut.
Irgendwann war es Gillian auf dem Parkplatz zu kalt geworden und sie hatte den Heimweg angetreten, aber für einen Abend mit Tara war sie noch immer ungewöhnlich zeitig zurück.
»Tara hatte noch einen Termin«, erklärte sie nun rasch auf Toms Bemerkung hin. »Du weißt ja, im Prinzip hat sie eigentlich nie wirklich Zeit. Wir konnten uns nur ziemlich kurz auf halbem Weg zwischen hier und London sehen.«
»Ich verstehe«, sagte Tom. Er betrachtete Gillian im hellen Licht des Eingangsflures. »Du wirkst so angespannt. Ist alles in Ordnung?«
»Natürlich. Aber … na ja, Taras berufliche Geschichten gehen einem manchmal ein bisschen an die Nieren.«
»Ich verstehe ja auch nicht, weshalb du dich ausgerechnet mit …«, setzte Tom an, aber sie unterbrach ihn, ehe er sich wieder auf ihre Freundschaft mit Tara einschießen konnte:
»Becky schläft schon?«
»Sie ist vor zwanzig Minuten ins Bett gegangen, und als ich eben nach ihr gesehen habe, schlief sie bereits. Mit Chuck im Arm natürlich. Es gab keinerlei Probleme mit ihr.«
Klar. Die gab es nie zwischen ihm und Becky. Die Probleme schienen alle für Gillian reserviert zu sein.
»Wir haben Pizza bestellt«, fuhr Tom fort, »und sie dann vor dem Fernseher gegessen. Du weißt ja, wie sie das liebt – direkt aus der Pappschachtel und auf dem Fußboden sitzend.«
»Ich kann das nur nicht jeden Abend machen«, sagte Gillian. »Sie muss auch gesunde Dinge essen und gelegentlich Messer und Gabel benutzen. Und ich muss sie früher ins Bett schicken, als du das offenbar tust, sonst schläft sie am nächsten Tag in der Schule ein!«
Sie merkte, dass sie viel schärfer als beabsichtigt geklungen hatte. Tom wirkte betroffen. »Das war doch keine Kritik an dir, Gillian! Natürlich muss so etwas eine Ausnahme bleiben. Aber ich bin nicht allzu oft mit Becky allein, und da können wir ja dann irgendetwas Besonderes veranstalten.«
Sie wusste selbst nicht, was sie geritten hatte. Tom hatte recht, und es war auch nicht so, dass sie ihm und Becky einen ausgedehnten Fernseh- und Pizzaabend nicht jederzeit von Herzen gegönnt hätte. Sie war eine erwachsene Frau, und vermutlich war es lächerlich, dass sie Eifersucht empfand und sich schlecht behandelt fühlte. Es war ungerecht und doch wahrscheinlich die Normalität in vielen Familien: Tom war der Vater, der kaum Zeit hatte, der aber, wenn er dann doch einmal mit seiner Tochter zusammen war, fünf gerade sein ließ und irgendetwas Unvernünftiges mit ihr anstellte, was ihr einen Riesenspaß machte. Gillian als Mutter, die sich viel häufiger um das Kind kümmerte, musste sich unbeliebt machen, indem sie Salat und Gemüse auf den Tisch brachte, auf das Erledigen der Hausaufgaben bestand und schimpfte, weil sich das Zimmer langsam in ein undurchdringliches Chaos verwandelte. Sie zog sich den Ärger ihrer Tochter zu, Tom die heillose Bewunderung.
»Ich sollte vielleicht jeden Tag nach London kommen«, sagte sie unvermittelt. »Und wieder mehr arbeiten. Vielleicht täte mir das gut.«
Tom sah sie überrascht an. »Ich habe bestimmt nichts dagegen. Du machst einen ausgezeichneten Job, und es wäre wunderbar, dich öfter in der Firma zu haben. Allerdings wird es mit Becky …«
»Becky könnte ruhig etwas öfter allein bleiben. Sie fühlt sich ohnehin von mir zu sehr bemuttert. Ich sollte sie etwas mehr loslassen. Ich habe es meinen Eltern immer vorgeworfen, dass sie mich mit ihrer beschützenden Art so eingeengt haben, und vielleicht bin ich längst dabei, ihre Fehler zu wiederholen.«
»Becky ist erst zwölf«, erinnerte Tom. »In dem Alter überschätzen sie sich auch gern.«
Er ging ins Wohnzimmer, blieb am Fenster stehen und blickte in die Dunkelheit, in der er im Wesentlichen nur das gespiegelte Zimmer sehen konnte. »Vielleicht sollten wir es einfach ausprobieren«, meinte er.
Sie folgte ihm, nachdem sie ihre Stiefel abgestreift hatte. »Sie wünscht sich mehr Vertrauen von mir. Und ich will das nicht einfach ignorieren.«
Er drehte sich zu ihr um. Sie konnte sehen, wie müde er war, wie abgekämpft. Zugleich vibrierte er vor Tatendrang, und wahrscheinlich wäre er am liebsten schon wieder durch die Tennishalle getobt und hätte seinem Gegner unhaltbare Bälle über das Netz geschmettert. Es war sein zunehmendes Problem in den letzten Jahren, dass er seinen auf zu hohen Touren laufenden inneren Motor auch nach Büroschluss nicht hinunterfahren konnte. Er schien rund um die Uhr unter Adrenalin zu stehen. Die Selbstständigkeit hatte diese Entwicklung in ihm ausgelöst. Er bekam seine Drehzahl nicht in den Griff, er wirkte wie jemand, der beständig Aufputschmittel nahm – was er nicht tat, wie Gillian wusste. Er geriet ganz von selbst immer wieder in diesen Zustand. In regelmäßigen Abständen beschwor Gillian ihn, einen Arzt aufzusuchen. Sie hatte Angst, dass er direkt auf einen Infarkt zusteuerte, denn er erfüllte auf geradezu klassische Weise sämtliche Voraussetzungen.
»Mein Herz ist völlig in Ordnung«, sagte er dann.
Als ob er das wissen konnte – schließlich machte er, seit sie ihn kannte, einen riesigen Bogen um alles, was auch nur entfernt an eine Arztpraxis erinnerte.
Sie trat an ihn heran, legte ihm sacht ihre Hand auf den Arm. »Es kommt schon alles wieder in Ordnung«, sagte sie.
»Natürlich«, sagte Tom.
Er wusste nicht genau, wovon sie sprach, hatte aber den Eindruck, dass sie das Thema Becky verlassen hatte, dass es um etwas anderes ging. Es hatte etwas mit ihrer beider Distanz zu tun, damit, dass das Strahlen aus Gillians Augen verschwunden war. Damit, dass er zu viel arbeitete und fanatisch Tennis spielte und viel zu wenig Zeit mit seiner Frau verbrachte. Gillian machte ihm nie Vorwürfe wegen seiner zahllosen Überstunden, sein Unternehmen war auch ihr Unternehmen, sie sah die Schwierigkeiten, in denen sie alle steckten, seitdem die Welt in die härteste Rezession seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gerauscht war. Sie war nicht die Frau, die lamentierte, weil ihr Mann mit aller Kraft um das kämpfte, was sie gemeinsam aufgebaut hatten. Auf irgendeiner Ebene verstand sie vielleicht sogar, weshalb er so exzessiv Sport trieb, begriff, dass hier ein Ventil für ihn lag, ohne das er seine mörderische Überlastung nicht hätte aushalten können.
Aber sie verstand nicht, weshalb er nicht mehr wirklich bei ihr war. Auch dann nicht bei ihr war, wenn er nachts neben ihr im Bett lag. Und sie litt darunter.
Er verstand es selbst nicht. Er liebte Gillian. Er wusste noch genau, wann ihm klar geworden war, dass er sie heiraten wollte und dass es nie wieder eine andere für ihn geben konnte: Während ihres Studiums hatten sie an einem Herbstwochenende eine Wanderung in den schottischen Highlands unternommen, mit Zelt und Kochgeschirr, bei wunderbarem, sonnigem Wetter. Um sie herum war die überwältigende Einsamkeit und Weite der Hochmoore gewesen, und die Hügel hatten im satten Lila des Heidekrauts geleuchtet. Abends hatten sie ein Lagerfeuer angezündet und sich später im Zelt zusammen in einen Schlafsack gekuschelt und einander in der plötzlich hereinbrechenden Kälte gewärmt. Als sie am nächsten Morgen hinauskrochen, war das Wetter umgeschlagen: Vor lauter Nebel konnten sie kaum noch die eigene Hand vor den Augen sehen. Sie traten den Rückweg an, aber an einem felsigen Steilhang, den sie hinaufklettern mussten, war Tom plötzlich ausgerutscht und so unglücklich gestürzt, dass er sich, wie sich später herausstellte, den Fuß gebrochen hatte. Er lag zwischen den Steinen im nasskalten Nebel, halb ohnmächtig vor Schmerzen, er musste sich übergeben und ihm war schwindelig, er hatte keine Ahnung, wie sie nun aus dieser verdammten Weltabgeschiedenheit hinauskommen und zu dem Parkplatz gelangen sollten, an dem er seine altersschwache Rostlaube von einem Auto abgestellt hatte. Gillian war zu Tode erschrocken gewesen, aber sie hatte sich schnell gefangen, war weder in Tränen ausgebrochen noch in entsetzte Hilflosigkeit versunken. Aus Zweigen und Mullbinden baute sie eine Schiene, die seinen Knöchel fixierte, sie schulterte das schwere Zelt und half Tom beim Aufstehen, und dann stützte sie ihn, den ein Meter neunzig großen Mann, über schmale Trampelpfade, durch Täler, in denen die Feuchtigkeit waberte, über felsige Höhen, auf denen die Kälte ihnen durch Mark und Bein ging. Sie munterte ihn auf, wenn ihn die Schmerzen quälten, sprach ihm Mut zu, und obwohl sie sich irgendwann vor Erschöpfung und unter dem Gewicht, das sie zu tragen hatte, kaum mehr auf den Beinen halten konnte, war sie unbeirrt weitergegangen, mit zusammengebissenen Zähnen und auf unerschütterliche Weise entschlossen.
Damals dachte er: Ich lasse sie nie wieder los.
Es hing nicht nur damit zusammen, dass er sie in diesen Momenten als seine Retterin empfand. Sie hatte ihm auch ihr ganzes Wesen offenbart: ihre Kraft. Ihren Willen, die Dinge zu tun, die getan werden mussten.
Sie hatten noch während des Studiums geheiratet.
An seinen Gefühlen hatte sich bis heute nichts geändert, jedenfalls nicht in seinem tiefsten Inneren, das wusste er. Noch immer war Gillian die Frau, die er liebte, die Frau, auf die er sich blind verließ. Seine Stütze, seine Kameradin. Aber um ihr das zu zeigen, hätte er innehalten müssen, und das gelang ihm nicht mehr. Er konnte nicht stehenbleiben und Luft holen und der Thomas von früher sein. Das Leben hatte einen Getriebenen aus ihm gemacht. Er schaffte es nicht, sein eigenes Tempo zu verringern.
Er wusste buchstäblich nicht, wie er das hätte anstellen sollen.
»Ich liebe dich, Gillian«, sagte er leise.
Die Verwunderung, mit der sie ihn ansah, tat fast weh. War es wirklich so lange her, dass er diesen Satz über die Lippen gebracht hatte?
»Ich liebe dich auch«, sagte sie.
Er forschte in ihrem Gesicht. Sie schien ihm verändert. Irgendetwas geschah in ihr, geschah in ihrem Leben, und er wusste nicht, was es war.
»Ich muss dir etwas sagen«, begann sie unvermittelt. »Ich war heute …«
Sie stockte.
Tom sah sie fragend an. »Ja?«
»Ach nichts«, sagte Gillian. »Es spielt eigentlich keine Rolle.«
Anderthalb Stunden zuvor, im Auto mit John Burton, war ihr nach seinem Geständnis zunächst einmal nichts mehr eingefallen, es hatte ihr minutenlang die Sprache verschlagen. John hatte einen alten Kassenzettel, der zusammengerollt in der Ablage lag, gegriffen, einen Bleistift aus seiner Jackentasche gezogen und eine Nummer auf den Papierfetzen gekritzelt.
»Hier. Meine Handynummer. Ich werde dich nicht weiter belästigen, aber falls du mich sprechen möchtest, kannst du mich jederzeit anrufen. Ich habe dir jetzt gesagt, was du wissen wolltest, und vielleicht möchtest du manches genauer erfahren oder vielleicht auch über etwas anderes reden, egal, melde dich einfach, wenn dir danach ist!«
Mit diesen Worten war er ausgestiegen und in der Dunkelheit verschwunden, und erst später hatte Gillian realisiert, dass sie es jetzt war, die die Fäden in der Hand hielt. Sie konnte ihn anrufen. Sie konnte auch versuchen, die ganze Episode zu vergessen.
»Sicher?«, fragte Tom. »Bist du sicher, dass es keine Rolle spielt?«
Sie nickte.
»Lass uns schlafen gehen«, sagte sie.