DONNERSTAG, 24. DEZEMBER

1

Millie blickte aus dem Fenster der Gästetoilette im Erdgeschoss, das zur Straße hinausführte. Sie sah Samson, der gerade das Haus verlassen hatte. Er hatte gesagt, er wolle in die Stadt, um letzte Geschenke zu besorgen, aber er werde nicht das Auto nehmen, da er fürchtete, im Chaos des 24. Dezember keinen Parkplatz zu finden. Wie üblich traute ihm Millie nicht. Inzwischen war sie vollkommen davon überzeugt, dass er nicht auf Arbeitssuche ging, wenn er morgens das Haus verließ, und was immer er in all den Stunden tat, die verstrichen, ehe er abends wieder aufkreuzte – es konnte nichts Gutes sein. Schließlich würde er sonst mit jemandem darüber reden, zumindest mit Gavin, zu dem er ja ein durchaus intaktes Verhältnis hatte. Sie hatte Gavin vor wenigen Tagen darauf angesprochen.

»Was tut Samson eigentlich den ganzen Tag über?«, fragte sie beiläufig. »Er ist nie daheim, und draußen ist es viel zu kalt, um immerzu spazieren zu gehen.«

»Er sucht Arbeit«, sagte Gavin. Es klang wie eine Antwort, die man automatisch abgibt, ohne wirklich nachzudenken.

»Aber Arbeit sucht man doch nicht, indem man durch die Straßen zieht. Man schreibt Bewerbungen!«

»Vielleicht tut er das. Er sitzt doch stundenlang an seinem Computer.«

Millie ließ nicht locker. »Aber er müsste dann Antworten per Post bekommen. Zu- oder Absagen …«

»Vielleicht macht er das alles per E-Mail. Das ist heutzutage doch vorstellbar, oder?«

»Ja, und wo ist er dann tagsüber?«

Gavin hatte die Autofachzeitschrift, in der er blätterte, sinken lassen und fast bittend gesagt: »Lass ihn doch einfach in Ruhe, Millie. Du kannst ihn nicht ausstehen, das weiß ich, aber er ist mein Bruder, und er hat dir nichts getan. Du suchst förmlich danach, etwas zu finden, das du ihm ankreiden kannst, und ich glaube, es macht dich verrückt, dass du nichts findest!«

Sie hatte die Lippen zusammengepresst und gedacht: Ich werde etwas finden. Weil da etwas ist. Verlass dich darauf!

Jetzt stand sie am Fenster und drückte sich die Nase platt, weil sie ihm schon wieder nicht glaubte, aber er bewegte sich tatsächlich mit einer gewissen Zielstrebigkeit von daheim weg. Geschenke kaufen! Hoffentlich besorgte er nichts für sie, denn sie hatte nichts für ihn. Gavin hatte ein Buch gekauft, das musste reichen.

Samson war jetzt um die Ecke verschwunden. Millie spürte heftiges Herzklopfen, sagte sich aber, dass die Gelegenheit günstig war. Samson für Stunden unterwegs – im Einkaufszentrum oder wo auch immer. Gavin hatte Dienst bis zum frühen Nachmittag. Ihr selbst war es gelungen, sich von heute an drei Tage Urlaub freizuschaufeln.

Ich versuche es jetzt einfach noch einmal, dachte sie.

Auf Zehenspitzen huschte sie die Treppe hinauf, fand sich selbst albern deswegen, denn schließlich war niemand im Haus, dessentwegen sie hätte leise sein müssen, aber aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, möglichst unauffällig und vorsichtig agieren zu müssen. Sie öffnete Samsons Zimmertür und trat ein. Aufgeräumt wie immer. Nirgends ein Staubkorn, die Überdecke des Bettes wieder einmal Kante auf Kante gefaltet.

Allein das, dachte sie, ist ja schon nicht normal!

Sie schaltete den Computer ein. Während er hochfuhr, sah sie aus dem Fenster. Sie bekamen nun wirklich eine weiße Weihnacht. Seit dem großen Wintereinbruch am vergangenen Donnerstag, der die ganze Region für Stunden in den Ausnahmezustand versetzt hatte, schneite es immer wieder, und Dächer, Zäune, Bäume und Straßen waren weiß bedeckt. Ein romantisches Bild. Millie mochte Weihnachten. Was sie wieder einmal störte, war die traute Dreisamkeit unter dem Tannenbaum.

Draußen war niemand zu sehen. Sie wandte sich dem Computer zu, gab das Passwort ein, hielt den Atem an. Wenn Gavin Samson einen Tipp gegeben hatte … Aber offensichtlich hatte er dichtgehalten. Mit dem Zauberwort Hannah öffnete sich der Bildschirm.

Millie setzte sich, legte die Hand um die Maus. Sekunden später erst merkte sie, dass sie den Atem anhielt. Konzentriert navigierte sie sich durch die Programme.

»Komm schon, komm schon«, murmelte sie.

Es gab hier etwas von Belang. Es musste etwas geben. Und sie wollte es unter allen Umständen finden.

Zehn Minuten später hatte sie es. Die Datei trug den Namen Tagebuch.

Sie öffnete sie, war geistesgegenwärtig genug, noch einmal zum Fenster zu eilen und hinauszuschauen. Es war niemand zu sehen. Vor unangenehmen Überraschungen konnte sie erst einmal sicher sein.

Gleich darauf saß sie wieder am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm. Und las und las.

Und wusste kurz darauf, dass sich ihre Suche gelohnt hatte.

Samson war verrückt. Er war wahrscheinlich sogar gefährlich. Dafür hatte sie jetzt den Beweis, und nicht einmal Gavin würde die Tatsachen leugnen können.

2

Das Haus war kalt und roch bereits modrig. Seit einer Woche stand es leer. Davor hatte seine Bewohnerin eine Woche lang tot im Badezimmer gelegen. Durch die offene Küchentür waren Kälte und Feuchtigkeit eingedrungen.

Er geht so schnell, dachte Fielder, der Verfall. Warum geht er immer so schnell?

Er und Christy waren noch einmal hinaus nach Tunbridge Wells und in die stillen, tiefverschneiten Wälder ringsum gefahren. Sie hatten das Auto auf dem wie immer leeren Parkplatz abgestellt und waren durch den Wald gestapft.

»Man sollte Weihnachten im Wald feiern«, hatte Peter Fielder gesagt und einem Eichhörnchen nachgeblickt, das den Stamm einer Fichte hinaufsauste. »Es ist so ruhig hier. So feierlich.«

»Und verdammt kalt«, hatte Christy erwidert.

Gegen zwei Uhr erreichten sie das Haus. Die Beamten hatten alle Fensterläden verschlossen, die Türen sorgfältig verriegelt. Fielder hatte Düsternis und klamme Luft erwartet, war aber trotzdem von der bedrückenden Atmosphäre überrascht worden. Auch von der Traurigkeit, mit der er auf sie reagierte. Er war seit Jahrzehnten bei der Polizei, er hatte gelernt, sich vor den Gefühlen, die einen Fall begleiten konnten, vor Schmerz, Wut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, zu schützen. Er wollte sich von dem desolaten Zustand, in dem sich die Welt befand, psychisch nicht niederringen lassen, denn wenn das passierte, konnte er seinen Beruf aufgeben.

Im Allgemeinen hatte er sich gut im Griff. Dennoch, an diesem Tag, in dieser Abgeschiedenheit, in diesem Haus …

Liegt an Weihnachten, hoffte er, das ist einfach so eine Zeit …

»Sir?«, riss ihn Christy aus seinen Gedanken.

Er nahm sich zusammen. »Okay«, sagte er, »ich wollte mir das Atelier noch einmal ansehen.«

Sie stiegen die Treppe hinauf. Noch immer gab es keinen greifbaren Anhaltspunkt, nichts, was sie einer Erkenntnis hätte näher kommen lassen.

Christy war in der Praxis gewesen, in der Anne Westley bis vor dreieinhalb Jahren gearbeitet hatte, hatte jedoch nichts in Erfahrung bringen können, was darauf hindeutete, dass es irgendwann einmal einen Skandal um eine falsche Diagnose oder einen Kunstfehler gegeben hatte.

»Anne war bei allen ihren kleinen Patienten äußerst beliebt«, hatte eine Kollegin, die wegen der Nachricht von dem Mord noch vollkommen fassungslos schien, gesagt, »auch bei deren Eltern und bei allen Mitarbeitern. Mir ist absolut nicht bekannt, dass sie sich jemals irgendetwas hat zuschulden kommen lassen oder dass man ihr etwas angehängt hätte.«

»In früheren Zeiten vielleicht?«, hatte Christy nachgehakt. »Sie hat ja über dreißig Jahre lang hier praktiziert.«

»Was vor meiner Zeit war, weiß ich natürlich nicht so genau. Aber wahrscheinlich hätte es Gerede gegeben, und das wäre mir zu Ohren gekommen. Nein, ich glaube, da war nichts.«

Christy hatte akribisch die alten Patientenkarteien durchsucht. Eine Keira Roberts gab es dort nicht. Sicherheitshalber hatte sie erneut bei der heutigen Keira Jones angerufen und nach Dr. Westley gefragt.

»Nein«, hatte Keira gesagt, »ich war als Kind definitiv nicht bei einer Ärztin dieses Namens. Wir hatten einen Kinderarzt, der ganz in unserer Nähe wohnte, zwei Häuser weiter oder so.«

»Aber fiel der Name Westley irgendwann einmal bei Ihren Eltern? Kann es da eine – egal wie weitläufige – Bekanntschaft gegeben haben?«

Keira hatte sich alle Mühe gegeben und ihr Gedächtnis durchforscht, aber schließlich resigniert gesagt: »Nein. Es tut mir leid, Sergeant. Soviel ich weiß, gab es niemanden dieses Namens, den meine Eltern kannten.«

Sie kamen an dem Badezimmer vorbei, in dem Anne Westley getötet worden war. Fielder musste sich abwenden, trotz seiner langjährigen Berufserfahrung. Der Gedanke an den Albtraum, den die alte Frau durchlebt hatte, wühlte ihn auf.

Das Atelier unter dem Dach war der hellste Raum im ganzen Haus, und selbst an diesem dämmrigen Dezembermittag herrschte hier noch ein schönes Licht. Die Wände waren mit Holz getäfelt, die Fenster in drei großen Dachgauben nach Süden hin ausgerichtet. Es standen mehrere Staffeleien im Zimmer verteilt, und überall lehnten fertige oder halb fertige Bilder. Es roch nach Farbe und Terpentin. Ein bunt gesprenkelter Malkittel hing an der Tür. Es dominierten helle, leuchtende Farben und Bilder, die Blumen und Landschaften zeigten.

»Ausgesprochen fröhliche Bilder«, stellte Christy nach einem ersten Blick in die Runde fest, »allerdings nicht so ganz mein Geschmack.«

»Hm«, machte Fielder. Langsam ging er von Bild zu Bild.

»Meinen Sie, wir finden hier etwas?«, fragte Christy zweifelnd.

»Ich weiß nicht. Aber ich denke, ich kann Anne Westley so etwas näherkommen. Die Bilder sind ein Teil von ihr. Sie erzählen etwas über sie, aber natürlich muss man sie auch richtig entschlüsseln.«

»Meine Interpretation mag ja naiv sein«, sagte Christy, »aber wenn ich Anne Westley zu beschreiben hätte, würde ich den Bildern nach sagen: eine lebensfrohe, ausgeglichene, glückliche Frau. Wobei mir klar ist, dass keine dieser Eigenschaften einen Menschen davor schützt, ermordet zu werden.«

Fielder blieb stehen. Er zog eine Decke von einer Staffelei und betrachtete das Bild, das sich darunter verbarg. »Hier ist etwas«, sagte er, »das nicht ganz so lebenslustig wirkt!«

Christy trat näher.

Das Bild sah tatsächlich völlig anders aus als alles, was sich sonst in diesem Atelier befand. Ein schwarzer Hintergrund. Zwei Lichtkegel. Ein flirrender Strahl aus Lampen oder Scheinwerfern. Nicht sorgfältig und plakativ gemalt, nicht liebevoll bis ins kleinste Detail ausgeführt, wie es sonst die Gewohnheit der Künstlerin zu sein schien. Das Bild wirkte hingefetzt, die Leinwand schien geradezu zornig mit dem Pinsel bearbeitet worden zu sein. Ein Bild, das trotz des eher neutralen Motivs Wut auszudrücken schien.

Und Angst.

Christy schien die Zeichnung eine Menge Begabung zu verraten, mehr als die Blumen und Bäume und friedlichen Sommerlandschaften ringsum. Sie fragte sich, wie ein Bild, das nichts weiter zeigte als zwei Lichter in der Dunkelheit, gleichzeitig so starke Emotionen ausdrücken konnte.

»Was stellt das hier dar, Sergeant – ganz spontan gesagt?«, fragte Fielder.

Christy überlegte nicht lange. »Autoscheinwerfer. In der Nacht.«

Er nickte, kniff dann die Augen zusammen. »Haben Sie den Eindruck, auf die Lichtquelle selbst zu blicken?«

»Auf die Lichtquelle selbst? Wie meinen Sie das?«

»Na ja, ich habe nämlich nicht diesen Eindruck. Ich finde, es wirkt eher so, als schaue man auf ein Spiegelbild. Also nicht in das Licht selbst, sondern auf das Abbild des Lichtes.«

»Kann sein. Und was sagt uns das?«

»Das weiß ich noch nicht. Das Licht von Autoscheinwerfern, das über eine Wand gleitet?«

»Ich verstehe nicht, was …«

»Ich auch nicht. Es kann auch alles ganz unerheblich sein. Aber das Bild unterscheidet sich sehr deutlich von allem, was wir hier sonst sehen. Und es war noch dazu abgedeckt. So, als habe Anne Westley es selbst nicht gern betrachtet. Trotzdem hat sie es gemalt. Und zwar mit ziemlich starken Gefühlen, wie es scheint.«

Christy gab ihm recht, fand jedoch nicht, dass sie damit auch nur einen Schritt näher an einem Durchbruch in diesem Fall waren.

»Sir – wir bewegen uns vollkommen im Bereich des Spekulativen. Wir wissen nicht, ob …«

Er unterbrach sie ungeduldig. »Stimmt. Wir wissen nichts. Aber wir müssen irgendwo ansetzen. Ich bin weder Psychologe noch kreativer Künstler, aber bei diesem Bild springt mich etwas an, und zwar das Gefühl von Angst. Mehr noch als Wut oder Aggression. Anne Westley hatte Angst vor irgendetwas oder irgendjemandem. Und das erinnert mich an Carla Roberts. Sie hatte auch Angst. Das hat sie ihrer Tochter in jenem letzten Telefonat gesagt. Hier sehe ich eine Gemeinsamkeit, und deshalb ist es wichtig.«

»Aber bringt es uns weiter?«

Er musterte noch immer das Bild. »Keine Ahnung. Aber wenn Sie mich fragen, Anne Westley hat gewusst, dass sie in Gefahr war. Deshalb wollte sie auch Hals über Kopf zwei Wochen vor Weihnachten ihr Haus verkaufen. Der Täter bewegte sich vielleicht bereits über einen langen Zeitraum in ihrer Nähe. Und sie hatte ihn bemerkt.«

»Und jetzt?«, fragte Christy.

Er antwortete nicht. Er riss sich von dem Bild los. Für den Moment brachte es nichts, noch länger darauf zu starren. Es war so intensiv in seiner Wirkung, besonders im Zusammenhang mit der ermordeten Frau, dass es sich ohnehin fast gewaltsam auf seine Netzhaut gebrannt hatte. Er würde es mit sich tragen. Es betrachten und hoffen, dass ihm eine Erleuchtung kam.

Sie gingen wieder hinunter. Christy ließ ihren Blick über die Zeichnungen an den Wänden, die schönen Teppiche auf dem Fußboden, die Gardinen an den Fenstern schweifen. Alles war so liebevoll, mit viel Geschmack und großer Sorgfalt zusammengestellt worden. Nach dem, was das Haus über Anne Westley erzählte, schien es kaum vorstellbar, dass sie in irgendeinem Menschen so viel Hass erzeugt haben sollte, dass sich ein solches Sterben erklären ließ.

»Ich werde ein oder zwei Leute abstellen, die sich im Umfeld des verstorbenen Professor Westley umsehen«, sagte Fielder, als sie unten angekommen waren. »Obwohl ich mir nicht viel davon verspreche. Denn wenn es ein konkreter, persönlicher Racheakt war, der hier verübt wurde, passt Carla Roberts nicht dazu. Wie auch umgekehrt. Es muss uns gelingen, eine Verbindung zwischen den beiden Frauen herzustellen, das ist die einzige Chance.«

Christy berührte ihn leicht am Arm. »Trotzdem, Chef. Jetzt feiern Sie erst einmal schön Weihnachten. Sie haben es verdient.«

Er sah sie an. Fragte sich, wie sie wohl feierte. Sie lebte alleine, in Gesellschaft zweier Katzen, wie er wusste. Hängte sie Strümpfe am Kamin auf? Und wenn ja – wer füllte sie ihr?

Als könnte sie seine Gedanken lesen, fuhr sie fort: »Ich mache es mir jedenfalls morgen gemütlich. Ich glaube, ich bleibe den halben Tag im Bett und stehe immer nur auf, um mir einen neuen Cappuccino zu holen. So richtig schön, mit Schokostreuseln auf dem Milchschaum. Dabei zappe ich mich durch die Fernsehprogramme, lasse mich davon einlullen und denke nicht an irgendwelche abscheulichen Verbrechen!«

Er lächelte und ertappte sich bei der Vorstellung, dass es schön wäre, einen solchen Tag mit ihr zu teilen. Mit Fernsehen und Cappuccino. Im Bett vor allem.

Er flüchtete sich in ein Hüsteln. Er durfte so etwas nicht denken.

»Bei uns ist meine Schwiegermutter zu Besuch«, erklärte er dann deprimiert. »Wie jedes Jahr an Weihnachten.«

»Ist sie schlimm?«

»Ziemlich verwirrt. Und streitsüchtig.«

Christy lachte. »Halten Sie die Ohren steif, Sir. Irgendwie ist Weihnachten ja dann doch immer schnell vorbei.«

»Gehen wir«, sagte Fielder. Das immerhin hatte er in diesem Jahr: eine Wanderung mit Christy durch den Winterwald.

Das war besser als gar nichts.