FREITAG, 1. JANUAR 2010

1

Detective Inspector Peter Fielder wusste, dass er seiner Frau ein Höchstmaß an Toleranz abverlangte, aber der Fall um die grausame Mordserie hatte ausgerechnet am 31. Dezember eine brisante Wendung genommen, sodass es für ihn ausgeschlossen war, den ersten Januar, dem dann auch noch ein Wochenende folgen würde, daheim am Kamin zu verbringen. Auch wenn das seiner Ehe zuträglicher gewesen wäre.

Daher hatte er für den Vormittag eine Sonderkonferenz im Yard anberaumt, hatte mit einem erheblichen Aufwand an Zeit und Mühe sein völlig zugeeistes Auto freigekratzt und war durch einen bitterkalten, dunklen Morgen zu seinem Büro gefahren. Er war müde, weil er in der Nacht mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar in das neue Jahr hineingefeiert hatte, aber er wusste, dass ihm Christy einen Kaffee kochen würde, der ihm seine Lebensgeister zurückbrachte. Er kannte niemanden, der einen so perfekten Kaffee machte wie Detective Sergeant McMarrow. Abgesehen davon gehörte sie zu seinen intelligentesten und scharfsinnigsten Mitarbeitern. Peter Fielder wusste, dass Christy ihm gefährlich werden konnte. Er selbst war in diesen Dingen schüchtern und würde von sich aus nie einen Schritt auf sie zugehen, das war ihm klar. Aber es konnte heikel werden, falls sie sich je von sich aus auf ihn zubewegte.

Die Konferenz hatte sich als mühsam erwiesen, da alle übernächtigt, verkatert und nicht sonderlich motiviert waren. Eine Beamtin, Detective Constable Kate Linville, hatte die Bemerkung in die Runde geworfen, man habe doch jetzt den Täter, man müsse ihn nur noch finden und festnehmen.

»Ach ja?«, hatte Fielder gefragt. »Und wer ist der Täter?«

Die junge Frau hatte verunsichert um sich geblickt. »Samson Segal. Ich denke, dass …«

»Ich denke, dass wir da vorsichtig sein sollten«, hatte Fielder sie unterbrochen. »Ich gebe zu, dass man, wenn man Segals Aufzeichnungen liest, zu dem Schluss kommen muss, dass er eine Schraube locker hat. Aber zunächst nicht mehr und nicht weniger.«

»Er äußert sich ausgesprochen aggressiv über Thomas Ward«, beharrte Kate.

»Er äußert sich hingegen überhaupt nicht über Carla Roberts und Dr. Anne Westley.«

»Er treibt sich tagelang in der Gegend herum und spioniert wildfremden Menschen hinterher. Vor allem Frauen. Es würde mich absolut nicht wundern, wenn er derjenige war, der in dem Hochhaus in Hackney mit dem Fahrstuhl hinauf- und hinuntergefahren ist!«

»Genau das werden wir überprüfen«, sagte Peter Fielder, »aber solange wir keine Ergebnisse haben, sollten wir uns mit wilden Spekulationen zurückhalten, Constable Linville!«

Kate Linville wurde rot. Sie war nicht mehr ganz jung, hätte längst befördert werden müssen, verharrte aber wie ein vergessener Koffer auf dem Rang eines Constable. Sie war eine zuverlässige und sehr pflichtbewusste Mitarbeiterin, aber sie verfügte nicht über den geringsten kriminalistischen Spürsinn, hatte wenig Menschenkenntnis und tat sich kaum je mit einem wirklich konstruktiven eigenen Vorschlag hervor. Umso typischer waren für sie Auftritte wie dieser, in denen sie sich voreilig auf einen Täter festlegte; wahrscheinlich, wie Fielder mutmaßte, um während einer Konferenz überhaupt etwas zu sagen.

Man musste nun schrittweise vorgehen. Ein Team der Spurensicherung war draußen in Thorpe Bay gewesen und hatte im Haus von Samson Segal jede Menge Fingerabdrücke gesichert, die nun mit den wenigen bislang nicht identifizierten Abdrücken aus Carla Roberts’ Wohnung in Hackney sowie mit den unzähligen aus dem Fahrstuhl verglichen wurden. Ebenso wurden Abgleiche mit Spuren aus Anne Westleys Haus vorgenommen. Sollte sich eine Übereinstimmung ergeben, wäre man einen großen Schritt weiter.

Peter Fielder hatte am Ende der Konferenz Constable Linville losgeschickt, noch einmal mit Millie Segal zu sprechen, der Frau, die am Vortag mit den Computereinträgen ihres Schwagers auf einer Polizeiwache in Southend-on-Sea aufgekreuzt war und behauptet hatte, einen gefährlichen Killer enttarnt zu haben.

»Er war es! Er hat Thomas Ward umgebracht. Und was weiß ich, wen sonst noch. Lesen Sie das, dann wissen Sie, dass Sie es mit einem Psychopathen zu tun haben!«

Fielder betrachtete angestrengt die vielen Notizen, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen und die er nach einem System, das außer ihm niemand erkennen oder gar durchdringen konnte, auf verschiedene Zettel gekritzelt hatte. Die ganze Geschichte wurde immer verworrener, und er fühlte sich Lichtjahre von einer Lösung des Falles entfernt. Niemand hatte ihn heute während des Gesprächs entscheidend weiterbringen können, aber vielleicht erwartete er wirklich ausgerechnet am ersten Januar zu viel von seinen Leuten. Christy war jetzt im Nebenzimmer und telefonierte. Die anderen waren entweder nach Hause gegangen oder arbeiteten die Aufgaben ab, die er verteilt hatte.

Er hatte Zeit zu grübeln. Den ganzen langen, kalten Tag über.

Der Name Thomas Ward sprang ihn aus seinen Notizen an. Er hatte ihn immer wieder mit einem roten Stift umkreist und mit Fragezeichen versehen. Wie passte Thomas Ward in die Mordserie, in der es um ältere, alleinstehende Frauen ging und an der sich die Beamten von Scotland Yard die Zähne auszubeißen drohten? Auf den ersten Blick – und ebenso auf den zweiten oder dritten – gehörte er absolut nicht dazu: Thomas Ward war ein Mann. Er war alles andere als einsam. Er war umgebracht worden, obwohl sich seine kleine Tochter im Haus befand, und er war wenige Stunden später von seiner Ehefrau gefunden worden. Er war nicht an einem Tuch erstickt, das man ihm in den Rachen geschoben hatte.

Er war erschossen worden. Zwei Schüsse hatte sein Mörder auf ihn abgefeuert. Eine Kugel hatte ihn an der Schläfe gestreift und für einen großen Blutverlust gesorgt, aber daran war er nicht gestorben. Der zweite Schuss hatte seine Halsschlagader zerfetzt. Er hatte keine Chance gehabt, hätte sie nicht einmal dann gehabt, wenn er früher gefunden worden wäre.

Es war Routine gewesen, dass nach der Analyse des Projektils per Computer ein Abgleich mit anderen kürzlich untersuchten Tatwaffen und deren Munition erfolgte, und dabei hatten die Beamten in Southend einen unerwarteten Treffer gelandet, der durch eine daraufhin sofort erfolgte gründliche Überprüfung bestätigt wurde: Thomas Ward war mit derselben Waffe erschossen worden, mit der sich der Mörder von Anne Westley seinen Weg in deren Badezimmer freigeschossen hatte.

Daher war der Fall Ward nun ebenfalls bei DI Fielder und seinem Team gelandet. Und als, um die ganze Geschichte noch zu verkomplizieren, die befremdlich anmutenden Notizen eines Samson Segal aus Thorpe Bay, der in der Nachbarschaft von Thomas Ward lebte und offenbar ein Problem mit ihm hatte, aufgetaucht waren, hatte man auch diese sofort an Scotland Yard weitergereicht.

Das war der Grund für die Sonderkonferenz am ersten Januar gewesen.

An deren Ende alle eigentlich noch ratloser waren als zuvor.

Was hatten Thomas Ward und die beiden ermordeten Frauen gemeinsam?

Christy McMarrow hatte den entscheidenden Gedanken ausgesprochen: »Und wenn Ward gar nicht gemeint war? Wenn der Täter eigentlich seine Frau im Visier hatte? Und nicht wusste, dass sie nicht daheim war?«

Fielder nickte nachdenklich, während er langsam den nächsten Kreis um den Namen Thomas Ward malte. Er hatte am 30. Dezember, einen Tag nach Wards Ermordung, mit der Ehefrau gesprochen, die ihm recht sachlich hatte Auskunft geben können. Danach war es tatsächlich so, dass Ward an jedem Dienstagabend zu einem Stammtisch in seinem Tennisclub ging. Normalerweise war er nie vor zehn oder halb elf daheim. Wer auch nur ein wenig über die Gewohnheiten der Familie Bescheid wusste, hätte annehmen müssen, Gillian Ward zu Hause vorzufinden, nicht ihren Mann.

Wenn diese nicht an jenem Abend versucht hätte, ihren Liebhaber zu treffen. Auch davon hatte sie ihm erzählt. Es war ihr schwergefallen, aber er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass sie Details zurückhielt.

Gillian Ward.

Auch diesen Namen hatte er notiert, ebenfalls schon ein paar Mal umrandet. Und er hatte von dort einen Pfeil gezeichnet, der zu einem weiteren Namen führte, den er in Schwarz geschrieben und dick unterstrichen hatte: John Burton.

Das hatte ihn nun wirklich frappiert. Unverhofft auf Burton zu stoßen. Im Zusammenhang mit einer Mordermittlung.

Detective Inspector Burton, der Kollege von früher. Der sich auf so unfassbar idiotische Weise seine Karriere bei der Met ruiniert hatte. Burton, den Fielder nie hatte leiden können, wobei es ihm immer schwergefallen war, seine Abneigung zu begründen. Manchmal hegte er den Verdacht, dass er diesen Mann einfach deshalb nicht mochte, weil er genauso unbekümmert und rücksichtslos durchs Leben ging, wie auch Peter Fielder es sich ab und zu erträumte – ohne es jedoch zu wagen. Burton hatte die junge Frau seinerzeit attraktiv und anziehend gefunden und sich Hals über Kopf in eine Affäre gestürzt, ohne sich dabei um die möglichen Folgen zu scheren. Als dann alles eskalierte und ihm praktisch keine andere Wahl blieb, als seinen Hut zu nehmen, hatte er auch das mit größter Gelassenheit getan und dabei den Kollegen noch das ungute Gefühl vermittelt, dass sie alle im grauen Polizeialltag und in ihrem verbissenen Karrierestreben zurückblieben, während er selbst in die Freiheit und Unabhängigkeit hinausging. In einem Moment, der faktisch die bisher größte Niederlage seines Lebens darstellte, hatte er wie ein Sieger gewirkt, nicht wie ein Verlierer.

Vielleicht ist es das, was ich ihm am allermeisten übel genommen habe, dachte Fielder nun und rief sich gleich darauf zur Ordnung: Sei vorsichtig und bleib objektiv! Du würdest Burton gern eins auswischen, keine Frage, aber lass dir davon jetzt nicht den Blick verstellen.

Und nun hatte Burton also etwas mit dieser Gillian Ward angefangen, deren Mann jetzt erschossen aufgefunden worden war, und Fielder fand das alles mehr als merkwürdig. Burton, der mit dem Makel der sexuellen Nötigung herumlaufen musste, auch wenn ihn sämtliche Gutachten damals entlasteten und die Staatsanwaltschaft von einer Anklage abgesehen hatte.

Christy kam ins Zimmer. »Eine Neuigkeit: Das Auto von Samson Segal wurde gefunden. Gunners Park, draußen in Shoeburyness. Von Segal selbst keine Spur. Und dann habe ich mit der Spurensicherung gesprochen. Bislang kein Treffer. Die Fingerabdrücke aus Samson Segals Zimmer daheim finden sich weder in Roberts’ Wohnung noch im Fahrstuhl des Hauses in Hackney. Tunbridge Wells läuft noch.«

»Ich bin ohnehin der Ansicht, dass wir es uns mit diesem Segal als Täter zu leicht machen und dass …«, begann Fielder, aber Christy unterbrach ihn: »Sir, Entschuldigung, aber ich weiß genau, was bei Ihnen gerade los ist. Sie schießen sich auf Burton ein, und Samson Segal und seine mehr als eigenartigen Aufzeichnungen wie auch sein seltsames Verhalten kommen Ihnen keineswegs gelegen. Aber weshalb sollte John Burton …«

»… Thomas Ward umbringen? Er hat immerhin eine Affäre mit dessen Frau.«

»Und deshalb ermordet er den Ehemann? Wieso? Wenn er eine Zukunft mit Gillian Ward anstrebt, hätte sie sich doch einfach scheiden lassen können!«

»Vielleicht wollte er Gillian töten. Laut ihrer Aussage wusste er ja nicht, dass sie ihn an diesem Abend besuchen wollte und dass sie in diesem Pub in Paddington herumsaß. Er wähnte sie allein zu Hause.«

»Und glaubte, die Tochter sei nicht da?«

»Er trainiert sie im Handball. Durchaus denkbar, dass sie ihm von den geplanten Ferien bei den Großeltern erzählt hat, oder?«

»Und warum wollte er Gillian töten?«

Fielder stand auf, trat ans Fenster. Tiefe Wolken hingen über der Stadt. »Vergessen Sie nicht, Sergeant, dass Burton schon einmal wegen eines Sexualdeliktes auffällig geworden ist. Was wissen wir denn genau über ihn? Vielleicht ist der Kerl hochgradig gefährlich. Gestört, pervers, was weiß ich. Er ist damals relativ unbescholten davongekommen, trotzdem ist er dann sehr schnell auf eigenen Wunsch aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Weshalb? Um zu verhindern, dass noch genauer nachgeforscht wird? Dass Dinge herauskommen, die verdammt ungemütlich für ihn hätten werden können?«

»Welche Dinge?«, fragte Christy.

»Keine Ahnung. Am Ende hat Burton eine gewaltige Störung, wenn es um Sex geht.«

»Sir, ich will ihn wirklich nicht verteidigen. John und ich waren damals ein Team, und wir haben toll zusammengearbeitet. Ich kenne seine Stärken – und seine Schwächen. Er kann die Finger nicht von hübschen Frauen lassen, aber das heißt ja noch nicht, dass er eine gewaltige sexuelle Störung hat, wie Sie es nennen. Keiner von uns hat doch damals auch nur einen Moment lang geglaubt, dass er dieses ziemlich hysterische Mädchen tatsächlich vergewaltigt hat. Der Staatsanwalt hat es nicht geglaubt. Mehrere Gutachter haben es unabhängig voneinander auch nicht geglaubt. Trotzdem konnte er nicht bleiben. Weil zumindest jeder männliche Kollege hier im Yard ihm das ganze Drama von Herzen gegönnt und ihm das auch gezeigt hat. Und weil klar war, dass ihn die Geschichte sein Leben lang begleiten würde. Ein hochrangiger Ermittler macht keine besonders gute Figur, wenn ihn jeder von ihm erwischte Kriminelle oder dessen Anwalt als Erstes grinsend fragen kann, ob er nicht der Bulle ist, gegen den schon mal wegen Vergewaltigung ermittelt wurde. Das wollte er sich nicht antun, und ich kann ihn absolut verstehen.«

»Christy, Sie sind vielleicht nicht ganz objektiv, wenn es um Burton geht. Ich weiß, dass Sie ihn als Polizisten sehr geschätzt haben. Aber das ändert nichts daran, dass er nun im Umfeld einer Mordermittlung aufgetaucht ist und dass wir ihn und seine Rolle in sämtlichen Fällen überprüfen müssen.«

»Gut. Schauen wir uns sämtliche Fälle an. Weshalb Carla Roberts und Anne Westley? Nicht gerade Burtons klassisches Beuteschema, oder? Die eine Mitte sechzig, die andere fast siebzig. Affären hatte er mit denen bestimmt nicht.«

»Was Thomas Ward angeht«, beharrte Fielder, »so hat Burton jedenfalls kein Alibi für den Tatzeitpunkt.«

Er hatte einen Beamten abgestellt, mit John Burton zu sprechen. John hatte angegeben, am Dienstagnachmittag in seinem Büro gewesen zu sein. Er hatte einen Kunden gehabt, der seine Villa mit einem umfangreichen Sicherungssystem schützen und sich daher beraten lassen wollte. Das Gespräch hatte bis achtzehn Uhr gedauert und konnte von dem Kunden bestätigt werden. Dann jedoch war John allein geblieben, hatte begonnen, das Konzept für den Kunden zu erstellen und die Kosten zu berechnen, und hatte zudem die Telefonbereitschaft bis zweiundzwanzig Uhr übernommen. Danach war er von einem Mitarbeiter abgelöst worden und eigenen Angaben zufolge direkt nach Hause gegangen. Unglücklicherweise hatte es an jenem Abend nicht einen einzigen Anruf, nicht das geringste Vorkommnis gegeben. Was bedeutete: John hätte zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Uhr nach Thorpe Bay hinaus- und nach London zurückfahren können, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommen hätte.

»Nicht jeder, der kein Alibi hat, ist ein Täter«, gab Christy zu bedenken. »Außerdem wäre Burton nicht so dumm, seinen Bereitschaftsdienst zu verlassen. Das birgt viel zu viele Risiken.«

Fielder wandte sich vom Fenster ab. »Ich schieße mich nicht auf Burton ein«, sagte er, »ich versuche nur, mich nicht zu sehr an diesem Samson Segal festzuhalten. Es ist so ein Gefühl … Alles, was diesen Mann betrifft, oder zumindest das, was wir wissen, kommt mir zu … offensichtlich vor. Vielleicht ist es einfach dieser Eindruck, hier einen möglichen Täter auf dem Silbertablett serviert zu bekommen. Da kreuzt auf einmal diese Frau auf, behauptet gelassen, dass ihr Schwager das Leben eines Nachbarn auf dem Gewissen hat, und präsentiert auch gleich noch einen Stapel Papiere, die diese These praktisch schwarz auf weiß untermauern. Bei mir springen fast reflexartig sämtliche Warnlichter an, ich kann gar nichts dagegen tun.«

»Er ist abgehauen. Das spricht nicht unbedingt für ihn. Und nicht für seine Unschuld«, sagte Christy. Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe, was Sie meinen, Chef. Aber manchmal funktioniert es genau so. Man erwischt einen Täter deshalb, weil jemand, der ihn kennt und ihn vielleicht schon lange verdächtigt, den Mund nicht mehr hält. Und Sie müssen zugeben, dass Segal geradezu lehrbuchhaft auf unser Täterprofil passt. Er hat ein riesiges Problem mit Frauen, das sagt seine Schwägerin, und das kommt auch in seinen Notizen zum Ausdruck. Seit Jahren wünscht er sich sehnlichst eine Beziehung und wird ständig abgewiesen. Teilweise schreibt er hasserfüllt über Frauen. Er beschattet Frauen, notiert sich jede Kleinigkeit über ihr Leben. Auch über das ihrer Familien. Er wusste, dass Thomas Ward Dienstagabend nie zu Hause ist. Er wusste, dass Becky Ward eigentlich bei ihren Großeltern hätte sein sollen. Er hatte jede Information, die er brauchte.«

»Nicht jede. Er hatte offensichtlich keine Ahnung von Gillian Wards Affäre mit einem anderen Mann. Zumindest wusste er nichts Konkretes darüber.«

»Diese Geschichten verbirgt man ja naturgemäß auch nach besten Kräften.«

»Zugegeben. Aber trotz seiner intensiven Überwachung ist es ihm entgangen, dass die Tochter daheim geblieben war?«

»Sie ist wegen ihrer Halsentzündung nicht rausgegangen. Er hat sie nicht mehr gesehen und musste annehmen, dass sie abgereist ist«, mutmaßte Christy.

»Sie fährt seit Jahren zwischen Weihnachten und Silvester zu den Großeltern. Jeder im Umfeld der Wards wusste davon.«

»Aber nicht auf jeden treffen all die anderen Merkwürdigkeiten zu, die wir bei Samson Segal finden.«

»Er glaubt also, dass Gillian Ward alleine in dem Haus ist? Dringt ein und will sie töten? Die Frau, die er anhimmelt?«

»Die ihn aber nicht erhört«, erklärte Christy. »Nicht einmal bemerkt. Und sie hat sich nicht an seine Seite gestellt, als ihr Mann ihn anblaffte. Er fühlte sich von ihr wie Dreck behandelt, das hat er geschrieben. Er bringt den Hass zum Ausdruck, den er empfindet. Er hat sie verehrt, aber das war inzwischen gekippt. Er war bitter enttäuscht von ihr.«

Fielder strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er war müde und ungeduldig, und der Sekt aus der vergangenen Nacht machte ihm auch noch zu schaffen. »Und wie bringen wir Westley und Roberts in dieser Theorie unter? Die eine in Hackney? Die andere in Tunbridge?«

»Er hat ein Auto. Das waren keine unüberwindlichen Strecken für ihn.«

»Er hätte die beiden dann doch auch in seinen Notizen erwähnt. Nein, Sergeant«, Fielder schüttelte den Kopf, »da passt noch zu vieles nicht zusammen. Und sogar die wackeligen Theorien, die wir bereits hatten, brechen zusammen. Immerhin hatten wir wenigstens eine Gemeinsamkeit bei Westley und Roberts gefunden: Beide waren sie alleinstehend und seit ihrem Renteneintritt ziemlich vereinsamt. Gillian Ward hingegen ist verheiratet, hat eine Tochter, ist berufstätig.«

»Das bedeutet«, sagte Christy, »dass wir um den falschen gemeinsamen Nenner gekreist sind. Die Tatsache, dass sie alleine sind, scheint nicht die entscheidende Verbindung zwischen den Opfern zu sein. Es muss einen anderen Punkt geben. Einen, der uns bislang entgangen ist.«

»Wir müssen noch einmal die Vergangenheit von Anne Westley auseinandernehmen«, sagte Fielder, »ebenso die von Carla Roberts. Und von Gillian Ward, was einfacher sein wird, weil sie zumindest noch lebt. Ja, bei der Ward müssen wir ansetzen.«

»Und wir sollten zusehen, dass wir Samson Segal finden«, meinte Christy. »Er ist wichtig, Sir! Entweder hat er selbst Dreck am Stecken. Oder er entpuppt sich als ein interessanter Zeuge. Er hat das Haus der Wards observiert und in ihrem Leben herumgeschnüffelt. Ihm könnte etwas aufgefallen sein, was sich als entscheidend herausstellt.«

»Die Schwägerin wird gerade noch einmal befragt«, sagte Fielder, »und vielleicht ergibt sich daraus ein Hinweis. Es ist teuflisch kalt draußen. Segal muss irgendwo untergekrochen sein.«

»Wir kriegen ihn«, versicherte Christy.

Er sah sie an. Er spürte förmlich ihre Überzeugung, in diesem Moment auch den Täter zu haben.

Aber er glaubte es noch immer nicht.

2

Sie hatte das Gefühl, seit drei Tagen nur auf dem Sofa zu sitzen, an die Wände zu starren und nicht zu begreifen, was in ihrem Leben passiert war. Was nicht stimmte. Sie kochte Essen, vor allem für Becky, sie räumte die Wohnung auf, sie duschte morgens und zog frische Wäsche an, sie füllte die Spülmaschine und leerte sie dann wieder. Abends nahm sie ein starkes Schlafmittel, legte sich auf das Sofa und versank in eine betäubte, schwarze Tiefe, aus der sie morgens erwachte, ohne sich erfrischt zu fühlen. Sie bereitete das Frühstück zu, toastete Brot, schnitt Obst, briet Eier. Ohne selbst etwas davon anzurühren.

Tara hatte schon protestiert. »Gillian, ich kann ja gar nichts mehr tun! Ich möchte dich umsorgen, und ich habe das Gefühl, es läuft umgekehrt!«

Sie hatte die Freundin bittend angesehen. »Lass mich irgendetwas tun, Tara. Ich werde sonst wahnsinnig.«

Tara gab sofort nach. »Natürlich. Ich verstehe dich ja.«

Gillian und Becky waren in jener furchtbaren Nacht zu Tara übergesiedelt, zusammen mit Chuck, dem Kater, den Gillian nach einer verzweifelten, hektischen Suche zu später Stunde völlig verstört und zitternd ein paar Gärten weiter aufgegriffen hatte. Er musste in Panik durch die offene Küchentür hinausgelaufen sein, als Schrecken und Gewalt über das Haus hereingebrochen waren. Eine freundliche und sehr sensible Polizeibeamtin hatte Gillian erklärt, das Haus müsse als Tatort nun erst einmal gesichert werden. »Es dürfen keinerlei Spuren vernichtet werden. Kennen Sie jemanden, bei dem Sie vorübergehend wohnen können?«

Gillian hatte zuerst an ihre Eltern gedacht, aber die wohnten viel zu weit weg, und als Nächstes war ihr Tara eingefallen. Sie hatte die Freundin angerufen und ihr erklärt, was geschehen war, und zunächst nichts als Schweigen aus dem Telefonhörer vernommen. Schließlich hatte Tara fassungslos gefragt: »Was ist passiert?«, um sich im nächsten Moment als die Frau zu beweisen, die mit Fällen dieser Art beruflich öfter zu tun hatte; sie hatte sachlich und tatkräftig agiert. »Ich bin gleich da«, hatte sie gesagt, »ich hole dich und Becky. Natürlich könnt ihr bei mir wohnen, so lange ihr mögt.«

Seitdem waren sie hier. In Taras schicker Altbauwohnung in Kensington. Ein Detective Inspector von Scotland Yard war inzwischen erschienen, um mit Gillian zu sprechen, und sie hatte ihm alles gesagt, was sie wusste, hatte ihm auch reinen Wein eingeschenkt, was ihre Geschichte mit John anging. Eine Beamtin hatte sich im Beisein von Gillian und einer Psychologin mit Becky unterhalten. Becky, das wusste Gillian, galt als wichtige Zeugin. Sie hatte den Täter nicht gesehen, war aber die Treppe hinuntergeschlichen, als sie von unten plötzlich ein lautes Poltern und Rumpeln vernahm und ihren Vater rufen hörte: »Was, um Himmels willen, soll das?«

Dann waren zwei Schüsse gefallen. Durch die Esszimmertür hatte Becky von der Treppe aus gesehen, wie ihr Vater über einem der Stühle zusammenbrach.

»Hast du überlegt, sofort zu ihm hinzulaufen?«, fragte die Beamtin.

Becky schüttelte den Kopf. »Nein.« Es klang entschuldigend. »Ich wusste, dass da noch jemand war. Ich hatte ja gehört, dass mein Vater mit jemandem sprach. Ich hörte, dass jemand schoss. Ich … hatte solche Angst. Ich wollte weg. Nur weg!« Sie war blass geworden. »Ich hätte ihm helfen sollen. Ich hätte hingehen müssen. Ich hätte …«

Die Psychologin schaltete sich schnell ein. »Absolut nicht, Becky. Du konntest nichts für ihn tun. Es war richtig, dass du dich in Sicherheit gebracht hast.«

»Ich wollte nur herausfinden, was genau bei Becky diesen raschen Reflex ausgelöst hat, sich zu verstecken«, erklärte die Beamtin. Es klang wie eine Rechtfertigung. »Leider ist alles, was sie gesehen, gehört und empfunden hat an jenem Abend, für uns bedeutsam.«

Doch nichts, was Becky berichtete, half wirklich weiter. Sie hatte gemalt, war so vertieft gewesen, dass sie den Umstand, dass sich ein Fremder im Haus aufhielt und ihren Vater bedrohte, erst realisierte, als Tom laut geworden war.

»Als ich sah, wie Daddy zusammenbrach, bin ich furchtbar erschrocken. Ich stand ja auf der Treppe und bin mit dem Fuß abgerutscht. Es gab ein ziemlich lautes Geräusch, und ich wusste in dem Moment … Ich wusste irgendwie, dass der, der das getan hat, jetzt weiß, dass ich im Haus bin. Ich bin fast verrückt geworden vor Angst. Ich bin hinaufgerannt und habe ein Versteck gesucht.«

Der Koffer in der Gerümpelkammer unter dem Dach war ihr eingefallen, weil sie sich früher darin versteckt hatte, wenn sie mit ihren Freunden im Haus spielte. Sie hatte dort gelegen, in völlig verkrampfter Haltung, mit stechenden Schmerzen in Armen und Beinen und mit angehaltenem Atem, und sie hatte gehört, wie der Täter das ganze Haus nach ihr absuchte. Durch alle Zimmer jagte, Schränke aufriss, Möbel beiseiterückte.

»Als er hinaufkam, bin ich beinahe gestorben vor Angst. Ich dachte, er findet mich gleich. Er hat einen furchtbaren Lärm veranstaltet und in der Abstellkammer mit Kisten und Kartons um sich geworfen. Ich dachte, ich bin jeden Moment tot.«

»Aber du hast absolut nichts gesehen?«

Becky schüttelte den Kopf. »Der Kofferdeckel war ja geschlossen. Es war schwarz um mich. Vollkommen schwarz.«

Die Beamtin wollte wissen, ob Becky irgendwann zuvor die Haustürklingel gehört hatte, aber das Mädchen konnte sich nicht erinnern. »Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ich wäre hinuntergegangen, wenn ich sie gehört hätte.«

An diesem Neujahrstag war eine noch sehr betäubt und willenlos wirkende Becky mit Tara zum Schlittschuhlaufen in den Hyde Park gegangen. Tara hatte Gillian überreden wollen, sie zu begleiten, aber sie hatte abgewehrt. »Nein. Geht alleine. Ich bin ganz froh, wenn ich für mich sein kann.«

Kurz nachdem die beiden gegangen waren, hatte Detective Inspector Fielder angerufen und gefragt, ob er vorbeikommen könnte. Sie hätte ihn am liebsten abgewimmelt, weil sie sich so müde, ausgebrannt und leer fühlte, aber sie wusste, dass sie sich zusammenreißen musste. Der Mann tat seine Arbeit, und er brauchte ihre Unterstützung. Es war wichtig, dass Toms Mörder gefunden wurde.

Nun saß Fielder ihr gegenüber auf einem Sessel in Taras Wohnzimmer. Sie hatte Kaffee gekocht, und er ließ sich dankbar eine Tasse einschenken. Er sah sehr müde aus, hatte wahrscheinlich in der Nacht gefeiert.

Was für ein schrecklicher erster Januar, dachte Gillian. Sie konnte von ihrem Platz aus hinaus auf den Balkon und in den grauen Himmel sehen. Vor dem Fenster saß Chuck. Er starrte ebenfalls hinaus, verfolgte mit den Augen die Vögel, die hin und wieder auf der Brüstung landeten und ihn frech musterten.

Detective Inspector Fielder führte soeben seine Theorie darüber aus, wie der Täter in das Haus hineingekommen sein könnte. »Wenn wir annehmen, dass er tatsächlich nicht geklingelt hat, dass ihm also auch nicht geöffnet wurde, so könnte es sein, dass sich ihm ein viel einfacherer, bequemer Weg geboten hat. Wir haben das überprüft. Von der Straße aus kann man durch das kleine Fenster in Ihrer Haustür bis in die Küche blicken, und man sieht auch die Tür dort, die in den Garten führt. Das funktioniert umso besser am Abend, wenn alles hell erleuchtet ist. Wir vermuten, dass Ihr Mann die Gartentür geöffnet hatte. Er wollte einfach ein bisschen frische Luft reinlassen. Es gibt nämlich keinerlei Hinweise an der Tür, dass sie gewaltsam aufgebrochen wurde. Der Täter, der womöglich zunächst vorhatte, zu klingeln, erkennt seine Chance, läuft um das Haus herum und betritt die Küche durch den Garten. Deshalb hat auch Becky überhaupt nichts mitbekommen.«

»Gibt es Fußspuren?«

Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Bis die Polizei eintraf, hatte es ja schon wieder stundenlang geschneit.«

»Warum nur?«, fragte Gillian. »Warum? Warum sollte jemand Tom töten?«

Er stellte eine Gegenfrage. »Sagen Ihnen die Namen Carla Roberts und Anne Westley etwas?«

Gillian brauchte ein paar Sekunden, um die Frage in ihrer ganzen Konsequenz zu begreifen. »Glauben Sie, es besteht ein Zusammenhang …?«

»Sie wissen also, wer diese beiden Frauen sind?«

»Aus den Zeitungen, ja. Ich kenne sie aber nicht.«

»Sie haben vorher nie von ihnen gehört? Ihr Mann hat sie nie erwähnt?«

»Nein. Nie.«

»Dr. Anne Westley war Kinderärztin in London. Sie waren aber nicht mit Becky …?«

»Nein. Wie ich sagte: Ich kenne sie nicht.«

Peter Fielder nahm einen Schluck Kaffee, stellte dann seine Tasse vorsichtig auf den Tisch zurück und sah Gillian ernst an. »Die Tatwaffe. Die Pistole, mit der Ihr Mann erschossen wurde. Mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit handelt es sich um dieselbe Waffe, die auch gegen die beiden von mir genannten Frauen eingesetzt wurde.«

»Sie wurden auch erschossen?«, fragte Gillian. In den Zeitungen war über die Todesursache nur spekuliert worden, da die Polizei dazu keinerlei Angaben gemacht hatte. Fielder wollte es Gillian gegenüber dabei auch vorerst belassen.

»Allem Anschein nach wurden sie jedenfalls mit dieser Waffe bedroht«, entgegnete er daher ausweichend. »Im Falle Dr. Westley hat der Täter das Schloss einer Tür, hinter der sich die alte Dame verbarrikadiert hatte, zerschossen. Daher konnten wir die Projektile vergleichen.«

Gillian erschien das mehr als seltsam. »Aber wieso sollte jemand, der zwei ältere Frauen ermordet, einen Mann in mittleren Jahren umbringen? Es wurde ja nicht einmal irgendetwas bei uns gestohlen. Das ergibt doch keinen Sinn!«

»Bislang ergibt in der ganzen Geschichte noch gar nichts einen Sinn«, sagte Fielder resigniert, »zumindest sehen wir den Sinn nicht. Es drängt sich allerdings die Vermutung auf, dass …« Er suchte nach Worten. Er wollte Gillian seinen Verdacht nicht in aller Härte entgegenschleudern.

Sie erriet jedoch, was er sagen wollte. Sie sah es ihm an. »Sie denken, dass Tom gar nicht das Opfer sein sollte? Sie denken, ich war eigentlich gemeint?«

Er schien erleichtert, dass sie es selbst ausgesprochen hatte. »Es ist wirklich nur eine Vermutung. Aber tatsächlich ist es ja so, dass Ihr Mann normalerweise an jenem Abend nicht daheim gewesen wäre. Genauso übrigens wie Ihre Tochter. Wer Ihre Familie auch nur ein bisschen kannte oder ein wenig Recherche betrieben hatte, konnte davon ausgehen, Sie allein anzutreffen.«

»Er schaute in die Küche …«

»Ja. Sah aber niemanden, denn Ihr Mann war ja offenkundig gerade im Esszimmer. Der Täter sah einfach die helle Küche, die geöffnete Tür. Dringt in das Haus ein und steht plötzlich einem Mann statt, wie erwartet, einer Frau gegenüber. Hat aber wohl kaum eine überzeugend harmlose Erklärung bereit, weshalb er, bewaffnet mit einer Pistole, soeben ins Esszimmer geschlichen kommt. Er kann Thomas nur noch umbringen – schon um später nicht von ihm identifiziert zu werden. Und zu seinem Entsetzen hört er dann plötzlich noch von der Treppe her ein Geräusch. Es ist noch jemand im Haus. Jemand, der ihn vielleicht auch gesehen hat. Deshalb sucht er wie ein Wilder, wird aber Gott sei Dank nicht fündig.«

Gillian stöhnte leise und vergrub das Gesicht in beiden Händen. »Hätte er Becky gefunden …«

»Becky hatte großes Glück. Sie hatte auch Glück, dass es dem Täter offenbar irgendwann zu heikel wurde, noch weiterzusuchen und sich damit viel zu lange am Tatort aufzuhalten. Er gab auf. Die Schutzengel Ihrer Tochter haben gut funktioniert, Gillian!«

Sie hob den Kopf. »Aber warum ich? Wer sollte mich töten wollen?«

»Die gleiche Frage stellen wir uns seit Wochen in den Fällen Roberts und Westley«, sagte Fielder, »und wenn wir Sie nun in eine Reihe mit diesen Morden stellen – und den Mord an Ihrem Mann als ein nicht geplantes dramatisches Unglück werten –, ergibt das zwei vollendete Tötungsdelikte sowie ein versuchtes, für die uns das Motiv völlig schleierhaft ist. Die Person, die hier mordet, scheint von einem gewaltigen Hass getrieben zu sein, das war die einzige echte Information, die uns die beiden anderen Tatorte gaben. Mrs. Roberts und Dr. Westley mussten auf ausgesprochen grausame Weise sterben. Wir dachten erst, dass es sich um einen Täter handelt, der von einem ungeheuren Aggressionspotenzial gegen Frauen im Allgemeinen getrieben wird und der Roberts und Westley vielleicht nur deshalb auswählte, weil sie beide so allein und verlassen lebten, dass sie eine leichte Beute darstellten. Jede von ihnen wurde erst eine Woche nach ihrer Ermordung aufgefunden, und auch das nur durch Zufall. Aber in dieses Raster passen Sie nicht. Also muss es etwas anderes sein, das Sie mit den beiden Frauen verbindet.«

»Aber ich kenne sie ja überhaupt nicht!«

»Trotzdem kann es Schnittpunkte geben.«

»Oh Gott«, murmelte Gillian, »wie furchtbar!«

»Was wissen Sie über Samson Segal?«, fragte Fielder, und er bekam genau die Antwort, die er aufgrund der Aufzeichnungen Samson Segals erwartet hatte.

»Segal? Der Typ, der immer vor unserem Haus herumlungert?«

Vielleicht hat Christy doch recht, dachte er plötzlich, aber ehe er einhaken konnte, klingelte es an der Wohnungstür und Gillian stand mit einer leise gemurmelten Entschuldigung auf. Als sie zurückkehrte, war sie nicht allein.

John Burton folgte ihr auf dem Fuß.

3

Samson Segal erschrak fast zu Tode, als jemand an seine Zimmertür klopfte. Da die Absteige, in der er sich einquartiert hatte, mit Sicherheit nicht über einen Zimmerservice verfügte, nahm er nicht an, dass es sich um jemanden vom Personal handelte.

Vorsichtig fragte er: »Wer ist da?«

»Ich. Bartek. Mach auf!«

Erleichtert entriegelte Samson die Tür. Er hatte Bartek am frühen Morgen angerufen, war aber nur auf der Mailbox seines Handys gelandet. Er hatte ihm erklärt, wo er sich aufhielt, und ihn dringend gebeten, ihm mit Geld auszuhelfen. Von da an hatte er auf dem durchgelegenen Bett gesessen, auf den rechteckigen Fleck Himmel im Fenster gestarrt und verzweifelt gehofft, dass sein Freund irgendwann im Laufe des Tages die Nachricht abhören würde. Mit seinen lächerlichen hundert Pfund würde er nicht weit kommen. Als er irgendwann tief in der Nacht in dieser versifften Bude, die man kaum als Hotel bezeichnen konnte, um ein Zimmer gebeten hatte, wurden ihm sofort dreißig Pfund abgenommen, und die nach Zigaretten und Schnaps stinkende Wirtin an der Rezeption hatte bereits angekündigt, dass sie für die nächste Nacht ebenfalls dreißig im Voraus wollte. Das bedeutete, nach drei Nächten war Schluss.

»Dreißig Pfund?«, hatte er entsetzt gefragt, und die Wirtin war sofort giftig geworden.

»In welcher Welt leben Sie denn, junger Mann? In einer, in der es die Dinge umsonst gibt? Dann wachen Sie mal auf! Außerdem ist in dem Geld sogar noch ein Frühstück inklusive, also beschweren Sie sich mal nicht!«

Die Qualität dieses Frühstücks hatte er allerdings noch nicht ausprobiert. Er fühlte sich wie paralysiert. Es war ihm nicht möglich, das muffige, kalte Zimmer mit den scheußlichen Möbeln auch nur für einen Moment zu verlassen. Er wusste, dass ihm die vier blassgrün verkleisterten Wände nur eine höchst trügerische Sicherheit vermittelten, aber die Welt draußen erschien ihm in seiner Situation als ein wahres Haifischbecken, und er wagte es nicht, den Kopf hinauszustrecken.

Bartek sah schrecklich aus, das fiel Samson sofort auf, als der Freund ins Zimmer stolperte. Braune Ringe unter den Augen, graue Lippen. Wahrscheinlich hatte er bis in die frühen Morgenstunden gefeiert, war übernächtigt und verkatert. Normalerweise wäre er vermutlich bis zum Abend im Bett geblieben. Stattdessen musste er sich um einen Freund kümmern, der in riesigen Schwierigkeiten steckte.

Samson fühlte sich sofort schuldig.

»Bartek! Danke, dass du da bist!«

Bartek sah sich in dem engen Zimmer um. Das Hotel lag in unmittelbarer Nähe der Bahnstation Southend, ein altes, heruntergekommenes Gebäude, dessen Räume niedrige Decken und knarrende Fußböden hatten. Kleine Fenster, scheußliche Tapeten. Dem Bett in Samsons Zimmer war anzusehen, dass man bis zum Boden hinuntersank, wenn man sich darauflegte. Es gab einen Sessel. Einen schmalen Kleiderschrank aus Billigholz. Ein Waschbecken an der Wand. Zur Toilette musste man den Gang draußen überqueren.

Es war die perfekte Trostlosigkeit.

»Oh Gott«, sagte Bartek. Dann hob er fröstelnd die Schultern. »Kalt hast du es hier!«

»Die Heizung funktioniert nicht richtig«, erklärte Samson.

»Mannomann«, sagte Bartek und ließ sich in den Sessel fallen, »Samson, das alles ist eine riesige Scheiße! Die Polizei war vorhin bei mir!«

»Was?«

»Und zwar nicht irgendein Polizist hier aus Southend. Sondern Scotland Yard, verstehst du?«

»Um Gottes willen!«

»Eine Beamtin. Detective Constable Linville. Sie war vorher bei deiner reizenden Schwägerin, und die hat ihr den Tipp gegeben, es doch mal bei mir zu versuchen. Hat erzählt, dass wir dicke Freunde sind und uns jede Woche im Pub treffen und was-weiß-ich-noch! Und schon kam sie angerauscht. Helen und ich lagen noch im Bett …«

»Hat Helen erzählt, dass ich letzte Nacht bei euch war?«

Bartek schüttelte den Kopf. »Gott sei Dank, nein. Obwohl wir nichts abgesprochen hatten. Sie war total erschrocken, dass plötzlich eine Polizistin in unserer Wohnung stand und nach dir fragte, aber sie ist schlau, sie hat einfach erst einmal den Mund gehalten.«

»Was hast du gesagt?«

»Dass ich dich zuletzt vor Weihnachten gesehen habe. Und dass ich keine Ahnung habe, wo du steckst.«

Samson entspannte sich ein wenig. »Ich bin dir wirklich dankbar, Bartek.«

Bartek schüttelte erneut den Kopf, so als wolle er Samsons Dankbarkeit um jeden Preis abwehren, als wolle er sich den ganzen Samson am liebsten so fern wie möglich halten. »Dann habe ich deine Nachricht auf meinem Handy abgehört. Das ist leichtsinnig, Samson! Mach das nicht mehr! Sprich mir nicht mehr auf die Mailbox. Auch nicht auf den Anrufbeantworter vom Festnetz. Ruf mich von jetzt an überhaupt nicht mehr an!«

Samson merkte, wie seine Knie weich wurden. In Ermangelung einer anderen Sitzgelegenheit sank er auf das Bett, das seufzend zu Boden ging. »Aber ich brauche deine Hilfe, Bartek! Ich kann das allein nicht schaffen!«

»Du kannst das auch mit mir nicht schaffen«, sagte Bartek, »das ist eine Tatsache, und der musst du dich stellen. Hier«, er kramte in seiner Hosentasche, zog ein paar zerknitterte Scheine hervor, »zweihundert Pfund. Mehr kann ich dir nicht geben. Mehr kann ich überhaupt nicht für dich tun.«

Samson beugte sich vor, nahm das Geld. Er würde damit insgesamt fast eineinhalb Wochen in dieser Unterkunft bleiben können. Vorausgesetzt, sein Bild erschien nicht in der Presse. Dann wurde es gefährlich, sich länger als ein paar Stunden an einem Ort aufzuhalten.

»Danke, Bartek. Ich weiß, für dich ist das …«

»Für mich ist das total gefährlich«, sagte Bartek, und er klang wütend. »Ich bin kein englischer Staatsbürger, verstehst du? Ich bin dabei, mir hier eine Existenz aufzubauen. Ich arbeite hart. Ich will heiraten. Helen und ich wollen eine Wohnung kaufen. Wir möchten ein Kind haben. Weißt du, was es bedeutet, wenn ich jetzt in einer Mordermittlung lande? Wenn sie offiziell nach dir fahnden und ich dir helfe, dich zu verstecken? Du wanderst vielleicht ein paar Jahre in den Knast, aber mir droht die Abschiebung. Ich finde mich plötzlich in Polen wieder, und alles, wofür ich mich angestrengt habe, ist mit einem Schlag kaputt! Mir verbaust du unter Umständen die ganze Zukunft!«

»Aber ich war es nicht, Bartek. Ich habe niemandem ein Haar gekrümmt!«

»Dann lauf nicht weg! Stell dich der Polizei!«

»Das ist doch jetzt zu spät! Nachdem ich erst einmal abgehauen bin!«

»Das kannst du erklären. Panik, Verwirrung. Dir war ja sofort klar, wie verdächtig du wirken musstest, also bist du im ersten Schrecken davongerannt.«

»Die werden mir nicht glauben.«

»Sie werden dir aber auch nichts beweisen können, wenn du nichts getan hast!«

»Aber du weißt doch, wie das ist. Die brauchen einen Täter, und ich biete mich an. Denen ist das doch am Ende ganz egal, ob ich wirklich …«

»Ach, hör auf«, unterbrach ihn Bartek, »einfach so stecken die dich nicht in den Knast. Die müssen dir die Tat nachweisen, und wenn du es nicht warst, haben sie damit ein Problem.« Er stand auf. »Ich lasse mich da nicht hineinziehen, Samson. Das war eben das Letzte, was ich für dich getan habe, und ich kann nur beten, dass mich das nicht um Kopf und Kragen bringt. Von jetzt an musst du allein sehen, wie du durchkommst. Ich habe das auch Helen versprochen. Sie ist absolut außer sich. Ich habe sie selten so wütend erlebt.«

Auch Samson erhob sich. »Ich war es nicht«, wiederholte er und kam sich schon wie eine Gebetsmühle vor.

»Dann hast du nichts zu befürchten«, sagte Bartek.

»Aber du auch nicht«, sagte Samson. »Denn du hilfst keinem Killer. Du hilfst einem Unschuldigen.«

In den Augen seines Freundes gewahrte er den Zweifel.

Traurig dachte er: Er ist sich keineswegs sicher.

4

Die beiden Männer standen einander gegenüber und musterten sich sekundenlang schweigend, beide überrascht und für Momente nicht sicher, wie mit der Situation umzugehen war.

Dann sagte Fielder: »Hallo, John. Ich hätte nicht gedacht …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, aber natürlich hakte John ein.

»Hallo, Peter. Was hättest du nicht gedacht? Dass wir uns im Leben noch einmal wiedersehen?«

»Dass wir uns innerhalb einer Mordermittlung wiedersehen. Das hätte ich nicht gedacht«, sagte Fielder.

»Mich haben deine Leute ja bereits überprüft«, sagte John.

Fielder lächelte freundlich. »Richtig. Und dabei festgestellt, dass du kein Alibi für die Tatzeit hast. Was den Mord an Thomas Ward angeht.«

Die Betonung, die Fielder auf den letzten Satz legte, ließ John die Augen zusammenkneifen. »Für welchen Mord sollte ich mich außerdem noch nach einem Alibi umsehen?«

»Niemand verdächtigt dich«, sagte Gillian. Fielder fiel auf, dass ihre Hände ganz leicht zitterten. »Mich haben sie auch überprüft. Das ist normal, oder?«

»Natürlich«, sagte Fielder.

»Welcher Mord noch?«, wiederholte John.

»Tom ist mit derselben Waffe umgebracht worden, die auch bei der Ermordung der beiden älteren Frauen eine Rolle gespielt hat«, erläuterte Gillian. »Du weißt schon, die gerade durch die Zeitungen gingen. Deshalb handelt es sich in allen drei Fällen wahrscheinlich um denselben Täter.«

John zog die Brauen hoch. »Dieselbe Waffe?«

»Richtig«, sagte Fielder. Er beobachtete John genau und sah, dass ihm bei der Erwähnung der beiden Frauen fast schlagartig derselbe Gedanke kam, der auch bei der Polizei längst offen ausgesprochen wurde: Dass Tom ein zufälliges Opfer geworden war. Dass der Täter seine Frau gemeint hatte. Fielder konnte diese Erkenntnis in Johns Augen förmlich lesen, und bei sich dachte er: Er ist entweder ein verdammt guter Schauspieler, oder er hat tatsächlich nichts damit zu tun.

John wandte sich an Gillian. »Gillian …«

»Ich weiß«, sagte Gillian. »Möglicherweise war ich gemeint. Ich bin eine Frau, und normalerweise wäre ich an jenem Abend allein zu Hause gewesen. Ich passe besser in die Reihe als Tom.«

»Mit aller Sicherheit wissen wir das natürlich nicht«, sagte Peter Fielder, »aber es ist schon besser, wenn Sie eine Zeit lang hierbleiben. Auch dann, wenn Ihr Haus freigegeben ist.« Abrupt wandte er sich wieder an John: »Woher wusstest du, dass sich Mrs. Ward hier bei ihrer Freundin aufhält?«

»Ich habe ihm heute Morgen eine SMS geschickt«, erklärte Gillian, noch ehe John antworten konnte, »und ihn gebeten zu kommen. Direkt nach Toms … Tod wollte ich ihn nicht sehen, aber inzwischen …« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Es geht mir nicht besonders gut«, fügte sie leise hinzu, »und ich muss mich ständig zusammenreißen wegen Becky. Tara, meine Freundin, kümmert sich sehr fürsorglich um mich, aber ich denke immer, dass sie wahrscheinlich ein Problem damit hat, dass ich mich an jenem Abend mit John treffen wollte. Sie spricht das nicht aus, aber … in ihren Augen wäre es sicher besser gewesen, ich hätte Tom konsequent verlassen, wenn ich mit ihm nicht mehr glücklich war. Dauernd denke ich, dass sie insgeheim meint, dass eben nur Unglück und Schrecken dabei entstehen, wenn Menschen einander hintergehen und unehrlich zueinander sind.«

Sie schluckte. Ihr Gesicht zitterte in dem Bemühen, die Tränen zurückzuhalten.

John trat neben sie, legte den Arm um ihre Schultern. Über ihren Kopf hinweg sahen die beiden Männer sich an. Sie dachten beide dasselbe. Man musste kein Psychologe sein, um zu begreifen, dass Gillian genau die Gedanken in ihre Freundin projizierte, von denen in Wahrheit sie selbst rund um die Uhr gequält wurde: ihre fast unerträglichen Schuldgefühle.

»So dürfen Sie nicht denken«, bat Fielder. »Es geht hier absolut nicht darum, ob Sie sich Ihrem Mann gegenüber moralisch korrekt verhalten haben oder nicht. Es geht hier um einen skrupellosen Mörder, der es aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, auch auf Ihre Familie abgesehen hatte, und wenn wir hier eine Schuldfrage klären, dann ausschließlich die, die diesen Menschen betrifft. Er wird hoffentlich irgendwann vor einem Richter stehen, Mrs. Ward, nicht Sie!«

Sie hatte sich ein paar Tränen von den Wangen gewischt, nun ließ sie die Hände sinken. Sie hatte die Kontrolle über sich zurückgewonnen. »Und Sie meinen, das könnte Samson Segal sein?«, fragte sie, auf das Thema zurückkommend, bei dem Johns Erscheinen sie unterbrochen hatte.

»Wer ist Samson Segal?«, fragte John sofort.

»Er wohnt bei uns in der Straße«, sagte Gillian, »und er … hat sich ein wenig merkwürdig verhalten. Tom war ziemlich wütend auf ihn.« Sie sah Peter Fielder an. »Wie sind Sie auf ihn gekommen?«

»Wir haben einen Hinweis bekommen«, sagte Fielder, »aber ich muss dazu sagen, dass wir absolut keine Ahnung haben, ob da irgendetwas dran ist. Was meinen Sie mit merkwürdig, Mrs. Ward? Und was meinten Sie vorhin genau, als Sie sagten, er habe vor Ihrem Haus herumgelungert

»Irgendwann fiel uns auf, dass wir ihn praktisch jedes Mal sahen, wenn wir das Haus verließen oder nach vorne auf die Straße schauten. Er ging entweder gerade vorbei oder stand herum … Tom registrierte das noch vor mir. Auch Tara fiel es einmal auf, als sie mich besuchte. Nachdem die beiden mich darauf aufmerksam gemacht hatten, stellte auch ich fest, dass ich ziemlich häufig über ihn stolperte.« Sie zuckte die Schultern. »Aber ich empfand ihn nicht als Bedrohung. Er schien mir ein netter, schüchterner Mann zu sein. Ein harmloser Eigenbrötler.«

»Der Eindruck von Harmlosigkeit mag täuschen«, erklärte Fielder. »Ich habe schon Schwerverbrecher vor mir gehabt, die so harmlos wirkten, dass jede alte Großmutter ihnen ohne Vorbehalt ihr Sparbuch anvertraut hätte.«

»Kurz vor Weihnachten kam es zu einem Zwischenfall«, sagte Gillian. Sie berichtete von ihrem Treffen mit John, davon, dass sie und Tom spät nach Hause gekommen waren, dass Becky die Übernachtungsparty ihrer Freundin abgebrochen hatte und von Samson Segal mit zu ihm nach Hause genommen worden war. Davon, dass Tom dem Nachbarn gegenüber aggressiv aufgetreten war, während sie Dankbarkeit empfunden hatte. Peter Fielder kannte die Geschichte bereits aus Segals Aufzeichnungen, hörte jedoch interessiert zu. Es war in seinen Augen durchaus von Bedeutung zu erfahren, dass sich Thomas Ward tatsächlich unangemessen gegenüber dem Nachbarn verhalten hatte. Segal hatte sich in diesem Punkt offensichtlich nichts eingebildet oder sich in etwas hineingesteigert. Er hatte der Tochter der Wards in einer Notlage geholfen und war von deren Vater dafür alles andere als dankbar behandelt worden.

»Wissen Sie, warum Ihr Mann so reagierte?«, fragte er. »Was hatte er gegen Segal?«

Sie überlegte, versuchte sich den Abend und die Gespräche ins Gedächtnis zu rufen. Seltsamerweise schien alles so weit zurückzuliegen. Als wären Jahre seitdem vergangen, nicht gerade zwei Wochen.

»Ich glaube, er konnte das selbst nicht richtig begründen«, meinte sie schließlich. »Er mochte Samson Segal einfach nicht. Er war erschrocken, als er erfuhr, dass dieser uns fast fremde Mann unsere Tochter mitgenommen hatte. Er vermutete gleich das Schlimmste, aber tatsächlich war die Situation dann völlig harmlos. Der Bruder und die Schwägerin waren ebenfalls da, und Becky saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und war eingeschlafen. Mir war es peinlich, wie ruppig sich Tom aufführte. Aber er sagte mir an diesem Abend, dass er Samson Segal schon öfter vor unserem Haus gesehen habe und dass es deswegen natürlich auch kein Zufall sei, dass gerade er da war, als Becky daheim aufkreuzte und vergeblich klingelte. Ihm erschien das alles höchst suspekt.«

»Wir wissen, dass Becky Segal an jenem Abend von den geplanten Ferien in Norwich bei den Großeltern erzählte. Er ging also davon aus, dass sie verreist sein würde«, sagte Fielder.

»Habt ihr diesen Mr. Segal schon vernommen?«, erkundigte sich John.

»Nein«, sagte Fielder, »das ist eben das Problem. Er ist verschwunden.«

»Verschwunden? Er ist flüchtig?«

»Ja.«

John pfiff leise durch die Zähne. »Verstehe. Das macht ihn nicht unbedingt unverdächtig.«

»Sollte er unschuldig sein, so ist das nicht sein klügster Schachzug«, pflichtete Fielder ihm bei.

»Er ist um das Haus der Wards herumgestrichen«, sagte John, »er hatte Grund, auf Thomas Ward richtig wütend zu sein. Ist er auch in einen Zusammenhang mit den beiden ermordeten Frauen zu bringen?«

Peter Fielder schüttelte den Kopf. »Soweit wir bislang wissen – nein.«

Er hatte den Eindruck, dass John die Tatsache, dass nicht alle Karten auf den Tisch gelegt wurden, durchschaute, aber offenbar war ihm auch klar, dass Nachfragen ihm im Moment nichts bringen würde. Der Mann war mal ein richtig guter Ermittler gewesen. Sehr intuitiv und fähig, das Ungesagte spüren zu können.

Konnte er ein Mörder sein?

Du hast ein Problem mit Frauen, dachte Fielder, darauf wette ich. Nicht so deutlich und unverkennbar und geradezu klassisch wie Samson Segal. Aber irgendwie tickst du auch nicht richtig. Wer lässt schon eine vielversprechende Karriere sausen, weil er die Finger nicht von einem jungen Ding lassen kann? Wieso bist du offenbar unfähig, eine halbwegs normale Beziehung einzugehen? Wieso jetzt diese Geschichte mit einer verheirateten Frau, Mutter eines der Kinder, die du trainierst? Ehefrau eines Mordopfers. Das ist das Entscheidende. Der tote Thomas Ward rückt dich in die Nähe einer abscheulichen Verbrechensserie, John, und wenn du damit etwas zu tun hast, dann schwöre ich, dass ich es herausfinde und dich hinter Gitter bringe, und es wird mir eine unglaubliche Genugtuung sein!

Er erschrak über die Heftigkeit seiner Gedanken, über die Emotionen, die der Kollege von einst in ihm wachzurufen vermochte. Er gewahrte ein kleines, nur angedeutetes Lächeln, das um Burtons Mundwinkel spielte, und er hatte den unguten Eindruck, dass seine Gesichtszüge etwas von seinen Gefühlen wiedergegeben hatten.

Er zwang sich, wieder sachlich zu agieren, und kam noch einmal auf das Thema von Beckys geplanter Ferienreise zurück.

»Wer wusste alles, dass Becky nach Weihnachten fort sein würde? Wir können nicht ausschließen, dass der Täter diesen Umstand einkalkuliert hatte – dass Ihre Tochter nicht im Haus sein würde.«

Gillian machte eine hilflose Geste mit beiden Armen. »Einfacher wäre zu fragen, wer es nicht wusste. Ich glaube, in ihrer Schulklasse wusste es jeder. Vielleicht auch einige der Eltern. Nahezu jeder in unserem Bekanntenkreis wusste es. Meine Freundin Tara. Diana, die Mutter von Beckys bester Freundin Darcy. Etliche in der Nachbarschaft wussten es. Samson Segal wusste es offenbar. Seit Jahren fahren Tom und ich Becky am 26. Dezember nach Norwich und kehren zwei Tage später zurück. Mein Vater bringt sie uns dann zum Schulanfang wieder. Das war schon immer so. Verschiedene Putzfrauen, die in der Zeit bei uns arbeiteten, wussten es. Unsere Mitarbeiter im Büro wussten es. Eben jeder.«

»Verstehe«, sagte Fielder.

»Ehe du fragst: Ich wusste es auch«, sagte John. »Wir haben während der letzten Trainingsstunde vor Weihnachten über die Ferienpläne der Kinder gesprochen. Dabei erzählte Becky davon.«

»Entschuldigen Sie, Gillian«, sagte Fielder, »aber ich muss das fragen: Weiß Becky von dem Verhältnis zwischen Ihnen und Mr. Burton?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. Und fügte dann hinzu: »Zumindest hoffe ich, dass sie nichts ahnt.«

»Ich vermute, dass auch viele Menschen wussten, dass Thomas Ward dienstags immer in seinen Tennisclub ging?«

»Das wussten fast ebenso viele. Ja.«

»Wusstest du es?«, wandte sich Fielder abrupt an John.

»Ja. Gillian hat es einmal erwähnt.«

Und du wärest viel zu schlau, mich anzulügen, dachte Fielder, schön kooperativ in allen Punkten, die ich überprüfen kann. Aber das heißt nicht, dass du nicht ansonsten lügst wie gedruckt.

Er reichte Gillian die Hand. »Auf Wiedersehen, Mrs. Ward. Sie haben vor, hierzubleiben? Bei Staatsanwältin Caine? Ich kann Sie hier erreichen?«

»Ja.«

»Es wäre gut, wenn Sie … diese Wohnung nicht zu oft verlassen. Und einfach ein bisschen vorsichtig sind. Jedem gegenüber.« Er hätte ihr gerne deutlicher klargemacht, dass er Burton misstraute und dass sie sich am besten auch von ihrem Liebhaber fernhielt, aber er konnte seinen Verdacht nicht so deutlich aussprechen. Er hatte nichts gegen John in der Hand.

»Ich werde vorsichtig sein«, versprach Gillian. Ihre Finger fühlten sich eiskalt an. »Und ich werde sowieso kaum weggehen. Ich will viel Zeit mit Becky verbringen. Sie braucht mich.«

»Wir werden auch noch einmal mit Becky sprechen müssen. In aller Vorsicht. Aber es ist denkbar, dass ihr noch Details von jenem Abend einfallen. Sie hatte einen schweren Schock und mag manches verdrängt haben. Alles, woran sie sich vielleicht nach und nach erinnert, könnte von Bedeutung sein.«

»Natürlich«, sagte Gillian.

Sie begleitete Inspector Fielder zur Wohnungstür. Nachdem er im Treppenhaus verschwunden war, schloss sie die Tür sehr sorgfältig, legte die Sicherheitskette vor. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, kauerte John am Boden und streichelte den schnurrenden Kater, der seinen Fensterplatz verlassen hatte.

»Er misstraut mir«, sagte er, »Detective Inspector Fielder. Er konnte mich noch nie ausstehen, und es kommt ihm durchaus gelegen, mich nun im Umfeld eines Verbrechens anzutreffen.«

»Er macht auf mich einen sehr kompetenten und sachlichen Eindruck«, sagte Gillian. »Er wird sich nicht von seinen persönlichen Gefühlen leiten lassen.«

John stand auf. »Glaubst du, dass ich es getan haben könnte?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Natürlich nicht.«

Er trat auf sie zu. Seine Stimme klang sanft. »Wie geht es dir? Ich konnte dich das noch gar nicht fragen, weil mein netter Exkollege ja ständig hier herumstand. Du bist sehr blass.«

Sie hatte sich die ganze Zeit über zusammengerissen. Vor allem wegen Becky. Aber auch, um nicht selbst Opfer ihrer Gefühle zu werden. Opfer ihres Entsetzens, ihrer Fassungslosigkeit, ihrer Trauer, ihrer Schuld und ihrer Angst. Aber jetzt, unter seiner sanften Stimme, brach der Schutzwall ein, den sie mühsam um ihr Herz oder ihre Seele oder wo auch immer der pulsierende, glühende Kern ihres Schmerzes saß, errichtet hatte.

Sie begann zu weinen, zum ersten Mal, seitdem das Unfassbare geschehen war. Nicht nur ein paar Tränen, nachts in ihr Kissen geweint, unterdrückt und mit angehaltenem Atem, damit Becky, die neben ihr schlief, nichts merkte. Jetzt strömten die Tränen nur so, sie weinte, dass sie zitterte, und sie ließ es zu, dass John sie in seine Arme zog und an sich drückte. Sie konnte die Wolle seines Pullovers unter ihrer Wange spüren, seinen Herzschlag, seinen Atem, der seine Brust ruhig und gleichmäßig hob und senkte. Es war die kräftige, sichere Umarmung eines Mannes, der es gewohnt war, die Ruhe zu bewahren und sich niemals und unter keinen Umständen von den Geschehnissen, die um ihn herum tobten, in die Defensive drängen zu lassen.

Es hätte Trost in dieser Umarmung liegen können.

Dass sie keinen fühlte, begriff sie erst danach, als sie sich wieder von ihm gelöst hatte und im Bad verschwunden war, um ihre Nase zu putzen, ihr Gesicht zu waschen, die verschmierte Schminke an ihren Augen abzuwischen.

Sie betrachtete sich im Spiegel und verstand es nicht. Verstand nicht, warum sie im Inneren kalt und hoffnungslos blieb. Warum sie sich in seiner Umarmung so einsam gefühlt hatte.

Vielleicht konnte sie keinen Trost finden. Nirgends. Nie mehr.

Sie fing wieder an zu weinen.