MONTAG, 11. JANUAR

1

»Können Sie sich an Liza Stanford genauer erinnern?«, fragte Christy. Sie wusste, dass der Moment völlig ungünstig war, an dem sie die kinderärztliche Praxisgemeinschaft, der Anne Westley angehört hatte, nun bereits zum dritten Mal aufsuchte. Montagmorgen und für viele Schulen der erste Tag nach den Weihnachtsferien. Das Wartezimmer war rappelvoll. Zwei Ärztinnen hatten die Grippe, wie sie erfahren hatte, die zwei verbleibenden Mediziner, ein junger nervöser Arzt und eine Ärztin, die bereits so aussah, als wäre sie die Nächste, die sich mit Grippe würde ins Bett legen müssen, hatten alle Hände voll zu tun, des Patientenansturms Herr zu werden. In das Chaos hinein war sie nun geplatzt, um weitere dringende und detaillierte Fragen bezüglich des Patienten Finley Stanford beziehungsweise seiner Mutter zu stellen. Sie kam so ungelegen, dass man sie am liebsten mit ein paar mehr oder weniger höflichen Worten hinauskomplimentiert hätte, aber schließlich sah man ein, dass diese Frau auch nur ihren Job machte.

»Geht das nicht später?«, fragte die Dame am Empfang entnervt, und Christy schüttelte freundlich, aber sehr bestimmt den Kopf.

»Leider nein. Sie können mir glauben, ich würde Sie nicht belästigen, wenn ich eine andere Möglichkeit hätte.«

Immerhin hatte sich die Dame – ein Schild am Revers ihres weißen Kittels wies sie als Tess Pritchard aus – bereit erklärt, Christy erneut einige Fragen zu beantworten, und zog sich mit ihr in das für diesen Tag leer stehende Sprechzimmer einer der erkrankten Ärztinnen zurück, wo sie selbst hinter dem Schreibtisch Platz nahm und Christy einen der gegenüberstehenden Stühle zuwies. Auf die Frage nach Liza Stanford nickte sie.

»Oh ja. An die erinnere ich mich gut!«

»Weshalb? Was fiel Ihnen an ihr auf?«

Tess gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Ihr Reichtum fiel auf. Und ihre Arroganz. Beides war im Übermaß vorhanden.«

»Sie meinen, man sah ihr an, dass sie Geld hatte?«

»Man hätte schon blind sein müssen, um das nicht zu sehen. Sie hängte das so was von raus … Immer die schicksten Kostüme. Schwerer Schmuck. Eine riesige Sonnenbrille von Gucci. Handtasche von Hermès. Und draußen der Bentley. Einmal parkte sie direkt vor der Praxis, da konnten wir ihn sehen.«

»Verstehe. Und sie verhielt sich … arrogant?«

»Wir Arzthelferinnen waren sowieso völlig unter ihrem Niveau«, sagte Tess. »Da bekam sie kaum die Lippen auseinander. Es war unter ihrer Würde, mit uns zu reden. Ich vermute, drinnen bei Dr. Westley war sie gesprächiger. Muss sie ja wohl gewesen sein, wenn sie erklären wollte, was ihrem Jungen fehlte.«

»Da waren Sie aber nie dabei? Im Sprechzimmer, meine ich?«

Tess schüttelte den Kopf. »Nein. Ich nicht und niemand sonst. Ist eigentlich auch nicht üblich, es sei denn, man wird zum Assistieren gebraucht. Das war aber nicht der Fall. Dem Jungen fehlte ja auch nie etwas Besonderes.«

»Wie haben Sie Finley erlebt?«

Tess überlegte. »Ein netter Junge. Ich fand ihn sympathisch. Er war recht still, aber nicht auf diese hochnäsige Art wie seine Mutter, sondern eher schüchtern. Ein zurückhaltendes Kind.«

»Ungewöhnlich schüchtern? Ungewöhnlich zurückhaltend?«

»Nein. Wir erleben hier alles, wissen Sie. Manche Kinder rasen wie aufgezogene Kreisel durch die Räume, und die Eltern kriegen sie keinen Moment zur Ruhe. Andere, die nicht so gern zum Arzt gehen und die auch der ganze Betrieb hier verunsichert, verstummen völlig und ziehen sich in sich selbst zurück. Finley gehörte eben zu denen, die eher ruhig reagierten. Aber insgesamt absolut normal.«

»Er ist aber relativ spät erst in Ihre Praxis gekommen? Und wenn ich das den Unterlagen, die ich am Freitag einsehen konnte, richtig entnommen habe, ist er auch nur fünf Mal hier gewesen. Bis zu seinem neunten Lebensjahr. Als kleines Kind wurde er hier nicht betreut?«

»Nein. Er war bereits sieben Jahre alt, als er zum ersten Mal hier erschien. Soweit ich mich entsinne, ging es um eine Bronchitis, die sich aus einer Erkältung entwickelt hatte und einfach nicht besser werden wollte. Also auch nichts Spektakuläres.«

»Finley war insgesamt recht gesund?«

»Ja. Alles, weswegen seine Mutter mit ihm hierherkam, waren harmlose Erkrankungen. Und oft war er sowieso nicht krank.«

»Hat sich Dr. Westley über Liza Stanford geäußert? Irgendetwas über sie erzählt? Etwas erwähnt? Irgendetwas?«

»Nein«, sagte Tess, »in diesen Dingen war sie sehr strikt. Zumindest uns, also den Angestellten, gegenüber. Da hätte sie nie über Patienten und deren Eltern ein Wort verloren. Bei der Stanford schon gar nicht. Ihr war sicher nicht entgangen, wie wir über sie herzogen, und sie hätte sich gehütet, sich daran zu beteiligen. Oder gar noch Öl in die Flammen zu gießen.«

»Kann es sein, dass sie mit ihren Arztkollegen über sie gesprochen hat?«

»Das wäre eher möglich«, meinte Tess zögernd. »Allerdings, die beiden Ärzte, die heute hier sind, haben noch nicht bei uns gearbeitet, als Dr. Westley noch hier war. Häufiger ausgetauscht hat sie sich mit Dr. Phyllis Skinner.«

»Eine der Damen, die Grippe hat«, vermutete Christy seufzend.

»Genau. Also, wenn sie mit jemandem hier über Patienten und deren jeweiligen medizinischen Fall gesprochen hat, dann mit ihr.«

»Kann ich ihre Adresse haben? Ich müsste Dr. Skinner dringend dazu befragen.«

»Sicher«, sagte Tess bereitwillig. Sie schaute auf ihre Uhr. Von draußen hörten sie beständig das Telefon und die Türklingel läuten. »Sergeant, ich will nicht unhöflich sein …«

»Ich bin gleich am Ende«, versprach Christy, »nur zwei Dinge noch. Damit ich richtig informiert bin: Finley war zwischen seinem siebten und seinem neunten Lebensjahr hier. Fünf Mal. Er ist heute zwölf. Das heißt, seit drei Jahren ist er nicht mehr hier gewesen?«

»Seit etwa dreieinhalb Jahren sogar. Das ist richtig.«

»Er und seine Mutter blieben demnach weg, als auch Dr. Westley in den Ruhestand ging?«

»Ja.«

»Und zum Zweiten: Uns liegt eine Aussage vor, wonach Liza Stanford unter Depressionen leiden soll. Depressionen, die sie dazu bringen, zeitweise vollkommen unterzutauchen, sich von ihrer Familie zu entfernen, nicht mehr auffindbar zu sein. Wissen Sie etwas davon?«

»Nein«, sagte Tess verblüfft.

»Sie haben auch nichts von Depressionen gemerkt?«

»Also«, sagte Tess, »wenn die Depressionen hatte, dann fresse ich, ehrlich gesagt, einen Besen. Die hat mit ihrer Art andere in Depressionen gestürzt, so war es höchstens. Sie selbst … na ja, man schaut in Menschen nicht hinein, besonders dann, wenn sie sich einer näheren Kontaktaufnahme völlig verweigern. Aber ich kann es mir bei ihr nicht vorstellen. So wie ich Liza Stanford erlebt habe, würde ich das für ausgeschlossen halten.«

»Danke, dass Sie Zeit für mich hatten«, sagte Christy.

2

Es verblieben drei Frauen auf Christys Liste, die sie hatte aufsuchen wollen: die drei Teilnehmerinnen an Ellen Currans Frauengruppe, die neben der ermordeten Carla Roberts und der verschwundenen Liza Stanford nun noch übrig waren.

Ellen Curran hatte Namen und Adressen aller Gruppenmitglieder gemailt, aber Christy hatte schon herausgefunden, dass sie nur mit einer der Frauen würde sprechen können. Die beiden anderen waren schon im Dezember gemeinsam zu einer Rundreise durch Neuseeland aufgebrochen und würden erst im Februar nach England zurückkehren.

Blieb Nancy Cox, die am Telefon sehr nett geklungen hatte. »Kommen Sie einfach am Vormittag zu mir«, hatte sie zu Christy gesagt, »ich genieße seit einem Jahr meinen Ruhestand. Ich habe Zeit.«

Während sie ihren Wagen durch die Stadt und den langsam verebbenden starken Berufsverkehr des frühen Morgens steuerte, musste Christy an ihr Gespräch mit Fielder vom Samstag denken. Sie hatte wissen wollen, was Logan Stanford, den sie bislang nur aus der Presse kannte, für ein Typ sei, und Fielder hatte eine ganze Weile gezögert.

»Ich will ehrlich sein, ich mag ihn nicht«, hatte er schließlich gesagt. »Aber dieser Umstand sollte natürlich nicht den geringsten Einfluss auf die Ermittlungen haben. Er hat einfach furchtbar viel Geld und lässt das auch richtig raushängen, und solche Menschen waren mir noch nie sympathisch. Außerdem ist er der klassische Staranwalt, von dem man den Eindruck hat, er geht über Leichen, nimmt es mit der Wahrheit nicht allzu genau, schafft unversteuertes Geld beiseite und erwirkt eine einstweilige Verfügung nach der anderen, wann immer ihm jemand auch nur einen Schritt zu nahe kommt. Wissen Sie, was ich meine?«

Sie hatte gelacht. »Ja. Ich verstehe schon. Aber seien Sie vorsichtig mit Ihren Aussagen. Besonders, was die Steuerhinterziehung betrifft!«

»Ich sage das ja nur zu Ihnen, Christy. Keine Ahnung, ob es stimmt. Aber man kann es sich bei ihm einfach vorstellen.«

»Das Verschwinden seiner Frau beunruhigt ihn tatsächlich nicht?«

»Er ist es gewohnt, wie er behauptet. Ebenso ist er es gewohnt, dass sie irgendwann wieder auftaucht. Deshalb halten sich seine Sorgen in Grenzen.«

»Finden Sie das normal? Ich meine, selbst wenn man es gewohnt ist … Ein Mensch, der so depressiv ist, dass er immer wieder für Wochen verschwindet … Das ist doch kein Zustand! Er kann das doch nicht auf sich beruhen lassen. Er müsste versuchen, ihr zu helfen.«

»Er kommt mir ziemlich emotionslos vor. Und sehr auf seine Karriere und sein Ansehen konzentriert. Allerdings wissen wir nicht, wie sehr er vielleicht in der Vergangenheit schon versucht hat, irgendetwas gegen ihr Problem zu tun. An depressiven Menschen können Partner auch scheitern. Irgendwann haben sie keine Kraft mehr, lassen den Dingen ihren Lauf und hoffen, dass alles am Ende halbwegs gut ausgeht.«

Jetzt, auf dem Weg durch die Stadt, kam Christy ein weiterer Gedanke. Die Sprechstundenhilfe in Anne Westleys Praxis hatte es für nahezu ausgeschlossen gehalten, dass Liza Stanford unter Depressionen gelitten haben sollte. Dazu kam der Umstand, dass die Familie offenbar richtig im Geld schwamm.

Anwaltsgattin, dachte Christy, und klotzig reich. Teurer Schmuck, Designerklamotten. Bentley. Zu einer solchen Frau würde es auch passen, dass sie aus ganz anderen Gründen für eine Weile abtaucht, zum Beispiel, um sich irgendwo generalüberholen zu lassen. Hochburg Brasilien. Vielleicht sitzt sie in einer Klinik in São Paulo, bekommt Fett abgesaugt, die Augenlider gestrafft, das Dekolleté glatt gezogen und die Lippen aufgepolstert. Über so etwas redet niemand gern. Ihrem Mann hat sie bei Todesstrafe verboten, irgendetwas über ihr extravagantes Hobby verlauten zu lassen, und alles, was ihm einfiel, waren Depressionen. Man darf die harmlosen Möglichkeiten nicht außer Acht lassen.

Allerdings verstand sie durchaus Peter Fielders Argumentation. »Wir haben zwei ermordete Frauen, und die Frau, die mit beiden zu tun hatte, ist spurlos verschwunden. Da stinkt etwas gewaltig, Christy! Ich weiß, dass es die verrücktesten Zufälle gibt, aber an dieser Stelle müsste man mir den Zufall schon beweisen. Und vergessen Sie nicht: Die Ehe der Stanfords war offenbar alles andere als harmonisch. Wenn eine Ehefrau sich einer Selbsthilfegruppe alleinstehender Frauen anschließt, um Anregungen für ihren eigenen endgültigen Schritt zu sammeln, dann lässt das auf ein ziemlich hohes Maß an Zerrüttung schließen. Was wissen wir denn? Vielleicht hat Carla Roberts ihrer Freundin intensiv zugeraten, den eiskalten Anwalt endlich zu verlassen, und vielleicht hat das Stanford so richtig gestunken. Eine Scheidung könnte ihn eine Menge Geld kosten. Geld, das er vielleicht gar nicht hat. Die Leute leben in einem protzigen Haus, fahren protzige Autos und sind protzig eingerichtet, aber wie oft hat man schon erlebt, dass genau derartige Lebensgebäude auf absolut tönernen Füßen stehen. Vielleicht ist die imposante Villa bis unters Dach beliehen. Die tollen Autos geleast, und die Leasingraten werden mit Ach und Krach abgestottert. Eine Scheidung wäre der alles entscheidende Genickbruch. Stanford könnte diese Gruppe, zu der seine Frau ging, gehasst haben, und am meisten Carla Roberts.«

»Und was ist mit Anne Westley? Und Thomas Ward? Oder Gillian Ward?«

Darauf hatte Fielder keine Antwort gewusst. Christy auch nicht.

Bei Nancy Cox erwartete sie ein Frühstückstisch mit Toastbrot, verschiedenen Marmeladensorten, Rühreiern mit Speck und frisch gebackenen Scones. Dazu gab es eine große Kanne Kaffee, der herrlich duftete. Nancy hatte im Wohnzimmer ihres kleinen Reihenhäuschens in Fulham gedeckt. Sie war eine zierliche Frau mit freundlichen Augen, kurz geschnittenen grauen Haaren und einer sehr warmherzigen Ausstrahlung. Auf ihrem Sofa lagen zwei schlafende Katzen. Im Garten stand ein Schneemann.

»Meine Enkel waren am Wochenende da«, erklärte sie, als sie Christys erstaunten Blick bemerkte.

Christy, die am frühen Morgen wieder einmal nur im Stehen einen Kaffee hinuntergekippt und später einen Schokoriegel verschlungen hatte, ließ sich nicht ungern bewirten. Sie verdrückte zwei Portionen Rührei, aß eine Scheibe Toast dazu und trank drei Tassen Kaffee. Wieder einmal stellte sie fest, wie sehr ein ordentliches Frühstück die Lebensgeister zu wecken und die Laune zu heben vermochte. Allerdings war für die nächsten Tage nun erst einmal eine Diät angesagt. Christy stand stets im Kampf mit den Pfunden.

Was Nancy über Liza berichtete, deckte sich mit dem, was Ellen Curran bereits gesagt hatte. Und nur zum Teil ließen sich die Schilderungen der Sprechstundenhilfe wiederfinden.

»Arrogant? So habe ich sie eigentlich nicht empfunden. Ja, sie war immer furchtbar teuer angezogen, und der Schmuck, den sie an einer Hand trug, war wahrscheinlich mehr wert als das, was ich in fünf Jahren an Rente bekomme. Aber diese Dinge machen Menschen nicht glücklich, oder? Mir kam sie traurig vor. Niedergeschlagen.«

»Was berichtete sie über ihre Ehe? Sie wollte sich ja trennen.«

»Ach, wissen Sie, ich habe immer gedacht, die trennt sich nie. Die will sich nur manchmal vergewissern, dass sie die Möglichkeit dazu hätte. Schwer zu sagen, was sie ihrem Mann eigentlich vorwarf. Sie redete so wenig. Sie und Carla Roberts waren immer ziemlich stumm. Während wir vier anderen ohne Punkt und Komma durcheinanderschnatterten.«

»Carla Roberts …«

Nancy machte ein bekümmertes Gesicht. »Weiß man jetzt, wer sie umgebracht hat? Ich wollte es ja nicht glauben, als ich es in der Zeitung las. Man denkt nie, dass so etwas Menschen geschieht, die man kennt. Ich war fassungslos!«

»Auch wenn Carla und Liza wenig redeten – irgendetwas müssen sie ja mal gesagt haben?«

Nancy überlegte. »Ja, also Liza sagte schon ein paar Mal, dass sie sehr unglücklich sei in ihrer Ehe. Ihrem Mann gehe es nur noch um Geld, um Prestige, um sein Ansehen. Er steht ja oft in der Zeitung, weil er so viele Wohltätigkeitsgalas veranstaltet. Aber das heißt nicht, dass er sich auch um seine Frau genügend kümmert, nicht? Ich glaube, sie fühlte sich zutiefst allein, selbst wenn er da war.«

»Wissen Sie, ob er einverstanden war, dass sie zu dieser Gruppe ging?«

»Ich glaube, er wusste das gar nicht. Sie hatte ihm wohl ziemlich pauschal etwas von einer Selbstfindungsgruppe erzählt. Er fand das wahrscheinlich ziemlich blöd, hielt es aber wohl nicht für gefährlich.«

»Riet Carla ihr zur Scheidung?«

»Ich weiß es nicht. Die beiden haben sich manchmal leise miteinander unterhalten, aber ich weiß nicht, worüber.« Nancy machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ehrlich gesagt, ich fand die beiden ziemlich langweilig. Wir anderen hatten richtig Spaß miteinander, und diese beiden verschlossenen Trauerklöße … Ich habe irgendwann gar nicht mehr so auf sie geachtet. Liza fehlte sowieso recht häufig.«

»Gab sie dafür Gründe an?«

»Gesellschaftliche Verpflichtungen. Na ja, das leuchtete schon ein bei der Stellung ihres Mannes. Ellen war trotzdem etwas verärgert deshalb.«

»Dass ihr Mann sie zeitweise auch daran gehindert haben könnte zu kommen, ist ausgeschlossen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich kann nur wiedergeben, was sie sagte. Wir haben da nicht groß nachgehakt.«

»Hat Liza einmal die Ärztin ihres Sohnes erwähnt? Die Kinderärztin Dr. Anne Westley?«

»Nein. Nie. Wieso?«

Christy ging auf die Frage nicht ein. »Und worüber sprach Carla Roberts?«, fragte sie. »Wenn sie sprach, meine ich.«

»Also, Carla hatte riesige Probleme«, sagte Nancy. »Sie war eine gebrochene Frau. Der Mann mit der Sekretärin weg, die Firma im Konkurs. Carla hatte über Nacht alles verloren. Das Haus kam unter den Hammer … Sie fand sich plötzlich in einer Drogerie wieder, wo sie Kisten auspackte und Regale einsortierte, um sich irgendwie über Wasser zu halten – jedenfalls bevor sie schließlich in Rente ging, um dann vollends zu vereinsamen. Sie konnte das alles einfach nicht fassen. Und ihre Tochter, der einzige Mensch, der ihr geblieben war, führte zunehmend ein eigenes Leben.«

»Ja, die Tochter kümmerte sich wohl sehr wenig um ihre Mutter.«

»Na ja«, Nancy zuckte mit den Schultern, »so sind die jungen Leute heute. Denen geht es um sich, um ihr Leben, ihre Zukunft. Als mein Mann plötzlich mit einer anderen Frau daherkam und mich um die Scheidung bat, fiel ich auch in ein schwarzes Loch, das können Sie mir glauben. Und meine Kinder habe ich wenig gesehen in der Zeit. Die hatten ihr Studium, ihre Freunde … Wochenenden mit der heulenden Mutter standen da nicht allzu hoch im Kurs.«

Christy dachte wieder einmal, dass sie klug beraten gewesen war, als sie sich gegen ein klassisches Familienleben und gegen Kinder entschieden hatte. Sie gewann oft den Eindruck, dass man heutzutage nur noch ausgemachte Egoisten großzog.

Sie trank den letzten Schluck Kaffee, nahm ihre Karte aus der Tasche und schob sie Nancy über den Tisch zu.

»Hier. Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen irgendetwas einfällt. Irgendetwas, das Carla oder Liza gesagt oder auch nur beiläufig erwähnt haben. Alles kann von Bedeutung sein.«

»Ich denke auf jeden Fall nach«, versprach Nancy.

3

Das Grundstück war ungewöhnlich groß, selbst für Hampstead, und da John ungefähr über die Quadratmeterpreise in den verschiedenen Londoner Stadtteilen Bescheid wusste, konnte er ermessen, was die Stanfords für ihr Anwesen hingeblättert haben mussten. Das Haus lag ein gutes Stück von der Straße zurück und war zwischen den alten, hohen Bäumen, die dicht beieinanderstanden und selbst zu dieser Jahreszeit, ohne Laub, eine ziemlich hermetische Wand bildeten, nur unvollkommen zu erkennen. John prüfte kurz, in welcher Richtung Süden lag, und stellte fest, dass die Bäume vor allem im Sommer Licht und Sonne fast vollkommen schlucken mussten. Das Haus konnte nur im ständigen Schatten liegen. John fragte sich, wie jemand ein gigantisches Vermögen für eine Villa mit parkähnlichem Grundstück hinlegen konnte, um dann in einer Düsternis zu leben, die er in jeder Hinterhofwohnung billiger hätte bekommen können. Dass Liza Stanford unter Depressionen leiden sollte, wunderte ihn auf einmal nicht mehr allzu sehr.

Er wollte gerade die Klingel, die zusammen mit einer Überwachungskamera gleich neben dem schmiedeeisernen Tor angebracht war, betätigen, als er einen Jungen sah, der durch den verschneiten Garten kam. Er lief nicht über die penibel geräumte Auffahrt, sondern stapfte mitten durch den Schnee. Er zog einen Schlitten hinter sich her, eine Art rote Plastikuntertasse mit einem kleinen geformten Sitz. John musste an die Holzschlitten seiner Kindheit denken.

Es hatte sich viel verändert seitdem.

Der Junge öffnete das Tor und entdeckte in diesem Moment erst den Mann, der dort stand und wartete. Er zuckte zusammen.

»Hallo«, sagte er unsicher.

»Hallo«, sagte John, »ich heiße John Burton. Du bist …?«

»Finley. Finley Stanford.«

»Hallo, Finley. Ich wollte zu deiner Mutter. Ist sie da?«

»Nein.«

»Weißt du, wann sie wiederkommt?«

»Nein.«

»Wo ist sie denn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Sie ist verschwunden«, sagte Finley.

John blickte ihn mit gespieltem Erstaunen an. »Verschwunden? Seit wann ist sie verschwunden?«

»Seit Mitte November. Am 15. November ist sie verschwunden. Das war ein Sonntag.«

»Aha. Sie packte ihre Sachen und ging aus dem Haus und kam nicht wieder? Oder wie?«

»Nein. Wir haben am Sonntagnachmittag zusammen ferngesehen, Mum und ich. Sie hat Tee getrunken und ich einen Kakao. Und wir haben Plätzchen gegessen.«

»Nur deine Mum und du? Dein Vater war nicht dabei?«

»Der war in seinem Arbeitszimmer. Er hatte noch zu tun.«

»Ich verstehe. Und dann?«

»Dad ist weggegangen, weil er zum Abendessen verabredet war. Mit einem Mandanten. Mein Dad ist ein Rechtsanwalt.«

»Ich weiß.«

»Mum und ich haben nicht zu Abend gegessen, weil wir so satt waren. Von den vielen Plätzchen. Ich habe noch ein bisschen am Computer gespielt. Um neun musste ich ins Bett.« Finley unterbrach sich plötzlich und sah John misstrauisch an. »Wieso wollen Sie das alles wissen?«

»Ich bin ein guter Bekannter deiner Mutter. Ich müsste sie in einer ziemlich dringenden Angelegenheit sprechen. Es wäre wichtig für mich, herauszufinden, was passiert ist.«

»Ja«, sagte Finley bekümmert, »das weiß ich eben auch nicht. Am nächsten Morgen hat mich Dad geweckt und gesagt, dass Mum in der Nacht weggegangen ist, aber dass sie bestimmt wiederkommt. Ich bin dann ganz normal in die Schule gegangen. Ich habe so gehofft, dass sie wieder da ist, wenn ich nachmittags nach Hause komme, aber …« Er zuckte mit den Schultern. John musterte ihn aufmerksam. Der Junge war blass und feingliedrig, sah aber gesund aus. Er machte sich deutlich Sorgen um seine Mutter, wirkte jedoch keineswegs psychisch instabil. Er schien in sich zu ruhen. John fragte sich, ob er vielleicht sogar ein wenig zu sehr in sich ruhte. In seiner Tätigkeit als Jugendhandballtrainer hatte er mit vielen Kindern aus ausgesprochen problematischen Familienverhältnissen zu tun, und ihm war schon manchmal aufgefallen, dass Kinder aus besonders desolaten Lebensumständen manchmal diese etwas eigentümliche Ruhe ausstrahlten, von der man irgendwann merkte, dass sie Ausdruck einer völligen Zurückgezogenheit des Kindes in sich selbst war. Es gab Kinder aus intakten Verhältnissen, die sich wesentlich verhaltensauffälliger gaben als solche, bei denen man irgendwann erfuhr, dass die Mutter trank und der Stiefvater gewalttätig war. John hatte auffallend verhaltensunauffällige Kinder erlebt, deren Zuhause ein einziges Desaster darstellte.

Er überlegte, ob er, wäre er völlig unvoreingenommen, auch Finley so charakterisiert hätte: auffallend unauffällig.

»In welche Schule gehst du?«, fragte er.

»William Ellis School. In Highgate.«

»Gehst du gern zur Schule? Hast du viele Freunde?«

Der Junge überlegte kurz. »Ja, es ist schon okay dort. Freunde habe ich nicht so viele. Aber ich bin gerne allein.«

»Verstehe«, sagte John. Dann kehrte er zu seinem eigentlichen Anliegen zurück: »Ist das früher schon mal passiert? Dass deine Mutter einfach verschwunden ist und niemand wusste, wohin?«

»Einmal. Vor zwei Jahren ungefähr. Da kam sie aber nach zehn Tagen wieder.«

So ganz normal, wie Stanford es gegenüber Fielder dargestellt hat, ist das Abtauchen von Mrs. Stanford nun auch nicht, dachte John. Einmal bereits war sie verschwunden, jedoch über einen absolut überschaubaren Zeitraum hinweg. Jetzt hingegen fehlte seit dem fünfzehnten November jede Spur von ihr. Sie hatten den elften Januar. Fast zwei Monate waren verstrichen.

»Die Polizei hat auch schon nach ihr gefragt«, sagte Finley. »Am Freitag. Da war ein Inspector von Scotland Yard hier. Sie sind aber nicht von der Polizei?«

»Nein, Finley. Ich bin nicht von der Polizei.«

»Und weshalb dann alle diese Fragen?«, sagte eine scharfe Stimme hinter ihm. John drehte sich um. Unbemerkt war ein Mann vom Haus herübergekommen. Jeans, Pullover, sorgfältig gekämmtes silbergraues Haar. Logan Stanford.

»Dr. Stanford?«, fragte John.

»Was wollen Sie hier?«, fragte Stanford zurück, ohne sich vorzustellen. »Was haben Sie mit meinem Sohn zu bereden?«

»Er ist ein Bekannter von Mum«, sagte Finley. »Er muss sie sprechen.«

»Ach ja? In welcher Angelegenheit?«

»Das ist sehr persönlich«, antwortete John.

»Wer sind Sie?«, fragte Stanford. Seine Stimme klang ruhig.

»John Burton.«

Stanford blickte ihn an. John konnte sich den Mann im Gerichtssaal vorstellen. Er sah weder besonders freundlich noch unfreundlich aus. Sehr sachlich. Sehr beherrscht. Es war nicht auszumachen, was in ihm vorging. Er wirkte vollkommen undurchsichtig.

John beschloss, den direkten Weg zu gehen. »Dr. Stanford, die Polizei war am Freitag bei Ihnen. Wegen Ihrer Frau. Sie wissen daher, worum es geht.«

»Wer sind Sie?«, wiederholte Stanford.

»Zwei Frauen wurden ermordet. Und ein Mann. Der Tod des Mannes war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geplant. Eigentliches Ziel des Täters war seine Frau. Ein Zufall hat sie gerettet, aber es ist durchaus möglich, dass sie in großer Gefahr schwebt. Sie wollen wissen, wer ich bin? Ich bin ein sehr enger Freund dieser Frau. Sie liegt mir am Herzen. Ihre Sicherheit liegt mir am Herzen.«

»Verständlich. Aber ich kann Ihnen da nicht helfen.«

»Ich nehme an, Detective Inspector Fielder hat Ihnen die Zusammenhänge erklärt. Sie wissen, auf welche Weise die Polizei auf Ihre Frau kam. Sie ist das einzige bislang bekannte Bindeglied zwischen den beiden toten Frauen. Es wäre wirklich wichtig, mit ihr zu sprechen.«

»Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Und das halten Sie für einen normalen Zustand? Seit zwei Monaten nichts über den Verbleib Ihrer Frau zu wissen?«

Stanford zuckte mit den Schultern. »Was ich für normal halte, müssen Sie schon mir überlassen, Mr. Burton.«

»Ihre Frau leidet unter schweren Depressionen?«

»Mr. Burton …«

»So haben Sie sich jedenfalls gegenüber der Polizei geäußert.«

»Sie bringen es auf den Punkt, Mr. Burton: Ich äußere mich der Polizei gegenüber. Nicht aber gegenüber einem wildfremden Mann, der meinen Sohn am Gartentor abfängt und ausfragt und der zur Begründung lediglich auf seine private Bekanntschaft mit der Familie eines Mordopfers verweisen kann. Ich sehe unser Gespräch als beendet an.«

Die beiden Männer musterten sich einen Moment lang schweigend. John begriff, dass er im Augenblick nichts ausrichten konnte. Stanford war nicht zu fassen. Nicht zu erschüttern, wahrscheinlich nicht zu provozieren, schon überhaupt nicht zu einer unvorsichtigen Bemerkung hinzureißen. Aus ihm war nicht das Mindeste herauszuholen.

»Auf Wiedersehen, Dr. Stanford«, sagte er.

»Auf Wiedersehen«, erwiderte Stanford. Er legte den Arm um die Schultern seines Sohnes.

John drehte sich um, überquerte die Straße und stieg in sein Auto, das er auf der gegenüberliegenden Seite geparkt hatte. Er war überzeugt, dass Stanford sich die Nummer notierte und nun als Nächstes überprüfen würde, ob Johns Namensangabe stimmte. Wahrscheinlich würde er sogar weitere Erkundigungen einziehen.

Und wenn schon.

Er hatte nicht vor, aufzugeben. Es gab noch eine Möglichkeit, und das war der Junge. Er musste in die Schule, Stanford konnte ihn keinesfalls rund um die Uhr bewachen. William Ellis School, Highgate. Es würde nicht schwer sein, Finley dort abzufangen.

Der Junge war Logan Stanfords Schwachpunkt. Nicht nur, weil er zu greifen war. Sondern auch, weil er eine Menge wusste. Er hatte gelernt, die Dinge mit sich selbst abzumachen, sie in sich zu verschließen und das Spiel seiner Eltern mitzuspielen: Wir sind eine intakte, glückliche, wohlhabende, erfolgreiche Familie.

Vielleicht das verlogenste Schmierentheater, das in der Stadt je gespielt worden war.