16

Reacher fuhr langsam zum Lower Broadway zurück. Er ließ den Wagen die steile Rampe zur Tiefgarage hinunterrollen und parkte ihn auf Jodies Abstellplatz. Er ging jedoch nicht nach oben in die Wohnung, sondern über die Einfahrtsrampe auf die Straße zurück und schlenderte in der Sonne nach Norden zu der Espressobar. Er ließ sich von dem Mann hinter der Theke einen vierfachen Espresso geben und nahm dann an dem Tisch Platz, an dem Jodie gewartet hatte, als er am Abend nach der Fahrt von Brighton den Weg zu ihrer Wohnung kontrollierte. Sie hatte hier gesessen und Rutters gefälschtes Dschungelfoto angestarrt.

Was sollte er den beiden alten Leuten sagen? Die humanste Lösung war vermutlich, ihnen gar nichts zu erzählen. Einfach behaupten, er habe nichts herausbekommen. Alles im Ungewissen lassen. Sie nur besuchen und ihnen erklären, wie Rutter sie reingelegt hatte, ihnen das Geld zurückgeben und seine ergebnislose Suche nach ihrem vermissten Sohn schildern. Sie dann bitten, die Tatsache zu akzeptieren, dass er schon lange tot sein musste und niemand die genauen Umstände kannte.

Er würde das Ehepaar Hobie belügen, aber nur aus Menschenfreundlichkeit. Damit hatte Reacher nicht viel Erfahrung. Er hatte nie den Auftrag gehabt, den Angehörigen von Gefallenen die schlimme Nachricht zu überbringen, und vermutete, dass dabei Freundlichkeit eine große Rolle spielte. Seine Laufbahn hatte innerhalb der Streitkräfte stattgefunden, wo die Dinge stets klar und einfach waren: Sie ereigneten sich, oder sie ereigneten sich nicht, waren gut oder schlecht, legal oder illegal. Jetzt, zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst, war plötzlich Freundlichkeit angesagt. Und sie würde ihn zum Lügner werden lassen.

Aber er würde Victor Hobie finden. Er berührte die fast verheilte Brandwunde unter seinem Hemd. Reacher hatte noch eine Rechnung zu begleichen. Er nahm den letzten Schluck Espresso, stand auf und trat wieder auf den Gehsteig hinaus. Der Broadway lag im strahlenden Sonnenschein, und Reacher spürte die Wärme auf seinem Gesicht, als er zu Jodies Apartmenthaus zurückging. Er war müde. Auf dem Rückflug von Hawaii hatte er nur vier Stunden geschlafen. Es fiel ihm ein, wie er in dem überbreiten Ledersessel eingenickt war und dabei an Hobie gedacht hatte. Victor Hobie hat Costello ermorden lassen, um versteckt bleiben zu können. Dann erinnerte er sich an Crystal. Die Stripperin aus Key West. Er hatte etwas zu ihr gesagt, als sie in der abgedunkelten Bar saßen. Dann kam ihm Jodie in den Sinn, die in Leons Haus - seinem Haus - fast das Gleiche wie er zu Crystal sagte, nämlich: Er muss im Norden irgendjemand auf die Zehen gestiegen sein, jemand Probleme verursacht haben. Jodie sagte: Dabei hat er jemanden alarmiert, ohne es zu ahnen.

Er blieb mitten auf dem Gehweg stehen, fühlte sein Herz hämmern. Leon. Costello. Costello hatte Leon kurz vor seinem Tod in Garrison besucht. Leon hatte ihm das Problem geschildert. Ich möchte, dass Sie diesen Jack Reacher finden, weil ich ihn auf einen gewissen Victor Hobie ansetzen will, hätte Leon gesagt. Costello, ruhig und routiniert, war in die Stadt zurückgefahren, hatte darüber nachgedacht, wie er diesen Auftrag anpacken sollte, und versucht, das Verfahren abzukürzen. Costello wollte den Kerl namens Hobie aufspüren, bevor er sich auf die Suche nach Reacher machte.

Er rannte den letzten Straßenblock bis zu Jodies Tiefgarage. Vom Lower Broadway bis zur Greenwich Avenue waren es dann knapp drei Meilen, die er in elf Minuten schaffte. Er ließ den Lincoln auf dem Gehweg vor dem Gebäude stehen und lief zum Hauseingang. Nach einem raschen Blick drückte er wahllos auf drei Klingelknöpfe.

»UPS«, meldete er sich.

Der Türöffner summte. Reacher rannte die Treppe zu Suite fünf hinauf. Costellos Mahagonitür war geschlossen, wie vor vier Tagen, Er sah sich auf dem Korridor um, dann drehte er den Türknopf, Die Tür ging auf. Das Schloss war nicht eingerastet, Klienten hatten also weiterhin Zutritt. Der Empfangsbereich sah genau wie bei seinem ersten Besuch aus. Die Luft war stickig und abgestanden, das Parfüm der Sekretärin kaum noch wahrnehmbar. Aber ihr Computer lief noch immer und wartete geduldig auf ihre Rückkehr.

Er trat an den Schreibtisch und tippte die Maus an. Auf dem Bildschirm erschienen die Angaben über die Anwaltsfirma Spencer Gutman Ricker & Talbot, die er damals, als er noch nichts von Mrs. Jacob wusste, angerufen hatte. Er schloss das Dokument und kehrte zum Hauptverzeichnis zurück. Er hatte darin nach JACOB gesucht und war nicht weitergekommen. Er konnte sich auch nicht erinnern, den Namen HOBIE gesehen zu haben, obwohl H und J im Alphabet ziemlich dicht beieinander lagen.

Reacher suchte das Verzeichnis von oben nach unten ab, ohne fündig zu werden. Es enthielt kaum richtige Namen, sondern fast ausschließlich Abkürzungen von Firmennamen. Er ging in Costellos Büro. Der Schreibtisch war vollkommen leer. Als er ihn umrundete, entdeckte er dahinter einen Abfallbehälter aus Blech, in dem zerknülltes Papier lag. Er hockte sich davor und kippte den Inhalt auf den Fußboden. Vor ihm lagen aufgerissene Briefumschläge und weggeworfene Vordrucke. Ein Stück fettiges Sandwichpapier. Mehrere linierte Blätter aus einem Notizbuch mit seitlicher Perforation. Er strich sie auf dem Teppich glatt. Nichts auf den ersten Blick Auffälliges, aber dies waren offenbar Arbeitsnotizen. Hingekritzelte Stichworte, mit denen ein viel beschäftigter Mann seine Gedanken zu ordnen versuchte. Aber sie stammten alle aus jüngster Zeit. Costello hatte seinen Abfallkorb offenbar regelmäßig geleert. Diese Notizen betrafen die letzten Tage vor seinem Tod in Key West. Irgendwelche Erkundigungen nach Hobie würde er zwölf oder dreizehn Tage zuvor eingezogen haben - unmittelbar nach seinem Gespräch mit Leon, gleich zu Beginn seiner Nachforschungen.

Reacher zog nacheinander alle Schreibtischschubladen auf und fand das Notizbuch in der oberen linken Schublade. Es war ein billiges Supermarktprodukt, etwa zur Hälfte voll. Er setzte sich in Costellos Drehsessel und blätterte es durch. Nach ungefähr zehn Seiten fiel sein Blick auf den Namen Leon Garber. Er fand Mrs. Jacob, SGR&T. Und Victor Hobie. Dieser Name war doppelt unterstrichen. Und die beiden Wörter waren mit sich überlagernden Ovalen umringelt. Daneben hatte Costello CCT??? gekritzelt. Von da führte ein Strich schräg über die Seite zu der Notiz 9.00 h. Auch die Uhrzeit war oval umringelt. Reacher starrte die Seite an und entdeckte einen Termin bei Victor Hobie im CCT oder bei einer Firma, die so hieß, um neun Uhr morgens. Vermutlich an dem Tag, an dem Costello ermordet wurde.

Er schob den Sessel zurück, sprang auf und rannte zum Computer zurück, auf dem noch immer das Verzeichnis zu sehen war. Reacher ging in der Liste nach oben und alle Eintragungen zwischen B und D durch. Der Eintrag CCT stand zwischen CCR&W und CDAG&Y. Er klickte ihn an. Auf dem Bildschirm erschienen Angaben zum CAYMAN CORPORATE TRUST. Eine Adresse im World Trade Center. Telefon- und Faxnummern. Anmerkungen über Auskunftsersuchen von Anwaltsfirmen. Als Geschäftsführer war ein Mr. Victor Hobie eingetragen. Während Reacher auf den Bildschirm starrte, klingelte das Telefon.

Er riss sich vom Bildschirm los und warf einen Blick auf die Telefonkonsole auf dem Schreibtisch. Sie war stumm. Das Klingeln kam aus seiner Tasche. Er fummelte Jodies Handy aus der Jacke und drückte auf die grüne Taste.

»Hallo?«, meldete er sich.

»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, antwortete Nash Newman.

»Neuigkeiten worüber?«

»Worüber wohl?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Reacher. »Sagen Sie’s mir.«

Also erzählte Newman es ihm. Danach herrschte Schweigen. Reacher nahm das Handy vom Ohr, starrte abwechselnd das Telefon und den Bildschirm an und war wie vor den Kopf geschlagen.

»Sind Sie noch da?«, fragte Newman. Reacher drückte das Handy wieder ans Ohr.

»Wissen Sie das sicher?«, fragte er.

»Hundertprozentig sicher«, antwortete Newman. »Das Ergebnis ist eindeutig. Die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums ist gleich null.«

»Das wissen Sie sicher?«, wiederholte Reacher.

»Todsicher«, sagte Newman. »Absolut, hundertprozentig sicher.«

Reacher schwieg. Sah sich nur mit starrem Blick in dem stillen, leeren Büro um.

»Sie scheinen darüber nicht sehr glücklich zu sein«, stellte Newman fest.

»Ich kann’s nicht glauben«, antwortete Reacher. »Erzählen Sie’s mir noch mal.«

Das tat Newman.

»Ich kann’s einfach nicht fassen«, sagte Reacher wieder. »Sind Sie sich Ihrer Sache hundertprozentig sicher?«

Newman wiederholte alles. Reacher starrte den Schreibtisch an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.

»Erzählen Sie’s mir noch mal«, bat er. »Bitte noch einmal, Nash.«

Also erzählte Newman es ihm zum vierten Mal.

»Es besteht keinerlei Zweifel«, fügte er hinzu. »Haben Sie jemals erlebt, dass ich mich in fachlichen Dingen geirrt habe?«

»Scheiße«, sagte Reacher. »Scheiße, ist Ihnen klar, was das bedeutet? Sehen Sie, was passiert ist? Sehen Sie, was er gemacht hat? Ich muss dringend los, Nash, Ich muss sofort wieder nach St. Louis. Ins Archiv.«

»Allerdings«, sagte Newman. »St. Louis wäre auch mein erstes Ziel. Und ich würde mich so schnell wie möglich auf den Weg machen.«

»Danke, Nash«, sagte Reacher benommen. Er beendete das Gespräch und stopfte das Handy wieder in die Tasche. Dann verließ er Costellos Büro und ging zur Treppe. Die Mahagonitür ließ er geöffnet.


Tony kam in die Toilette und brachte den Anzug aus der Savile Row in einem Plastiksack mit dem Aufdruck einer chemischen Reinigung. Das Oberhemd, frisch gewaschen, gebügelt und zusammengelegt in Papier verpackt, klemmte unter seinem Arm. Er sah zu Marilyn, hängte den Anzug an die Duschvorhangschiene und warf Chester das Hemd zu. Dann griff er in seine Jacke, zog die Krawatte heraus und schmiss sie hinter dem Hemd her.

»Showtime«, sagte er. »In zehn Minuten müssen Sie fertig sein.«

Er ging wieder hinaus und schloss die Tür. Chester saß auf dem Boden und hielt das verpackte Hemd und die Krawatte im Schoß. Marilyn nahm das Hemd, schob zwei Finger unter den Rand der Verpackung, riss sie auf, knüllte das Papier zusammen und ließ es achtlos auf den Boden fallen. Schüttelte dann das Hemd aus und öffnete die beiden obersten Knöpfe.

»Fast vorbei«, sagte sie wie beschwörend.

Er sah sie ausdruckslos an und stand auf. Nahm ihr das Hemd aus den Händen und zog es sich über den Kopf. Sie trat vor ihn und band ihm die Krawatte.

»Danke«, sagte er.

Sie half ihm, den Anzug anzuziehen.

»Dein Haar«, sagte sie.

Er trat an den Spiegel über dem Waschbecken und sah darin den Mann, der er in einem anderen Leben gewesen war. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, um es in Ordnung zu bringen. Die Toilettentür öffnete sich wieder, und Tony kam herein. Er hielt den Montblanc-Füller in der Hand.

»Den leihen wir Ihnen heute noch mal, damit Sie den Ubereignungsvertrag unterschreiben können.«

Chester nickte, nahm den Füller und steckte ihn in die Brusttasche seines Jacketts.

»Und die hier. Wir müssen den Schein wahren, stimmt’s? Wenn’s hier von Anwälten wimmelt.« Das war die Rolex aus Platin. Chester nahm sie entgegen und streifte sie über die linke Hand. Tony verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Marilyn stand vor dem Spiegel und frisierte sich mit den Fingern. Sie presste die Lippen zusammen, als habe sie Lippenstift aufgelegt. Es war eine instinktive Handlung. Anschließend strich sie ihr Kleid über Hüften und Oberschenkeln glatt.

»Bist du bereit?«, fragte sie.

Chester zuckte mit den Schultern. »Wofür? Bist du’s?«

»Ja«, sagte sie.


Der Chauffeur von Spencer Gutman Ricker & Talbot war mit einer der am längsten bei der Firma beschäftigten Sekretärinnen verheiratet. Er hatte einen belanglosen kleinen Bürojob gehabt, der bei der Übernahme seiner Firma durch einen skrupellosen Konkurrenten gestrichen worden war. Neunundfünfzig und arbeitslos, ohne besondere Fähigkeiten, ohne Perspektive - also hatte er seine Abfindung für einen gebrauchten Lincoln Town Car ausgegeben, und seine Frau hatte eine Kosten-Nutzen-Rechnung vorgelegt, die zeigte, dass es für die Firma billiger war, ihn fest zu beschäftigen, statt von Fall zu Fall eine Limousine mit Chauffeur zu mieten. Die Anwälte hatten die Rechenfehler darin großzügig übersehen und ihn angestellt. Um einer bewährten Mitarbeiterin einen Gefallen zu tun und weil es wirklich bequemer war, einen eigenen Chauffeur zu haben. Deshalb wartete der Mann jetzt in der Tiefgarage mit laufendem Motor und voll aufgedrehter Klimaanlage, als Jodie aus dem Aufzug kam und auf ihn zuging.

»Sie wissen, wohin wir müssen?«, fragte sie.

Er nickte und tippte auf das auf dem Beifahrersitz liegende Klemmbrett.

»Ich weiß Bescheid«, antwortete er.

Jodie stieg im Fond ein. Eigentlich hätte sie lieber vorn bei ihm gesessen, aber er bestand darauf, dass Fahrgäste hinten Platz nahmen. Er war ein sensibler Mensch und wusste, dass er zum größten Teil aus sozialen Gründen eingestellt worden war. Jetzt nahm er an, dass korrektes Benehmen seinen Status erhöhen würde. Er trug einen dunklen Anzug und eine Chauffeursmütze, die er in einem Geschäft für Berufskleidung in Brooklyn aufgestöbert hatte.

Sobald er im Rückspiegel sah, dass Jodie bequem saß, fuhr er los. Die Ausfahrt lag hinter dem Gebäude, sodass sie auf dem Exchange Place herauskamen. Er lenkte den Wagen nach links auf den Broadway und wechselte dann die Fahrspuren, um nach rechts in die Trinity Street abzubiegen. Er folgte dieser Straße nach Westen und bog erneut ab, um das World Trade Center von Süden zu erreichen. Auf Höhe der Trinity Church stockte der Verkehr, weil zwei Fahrspuren durch einen NYPD-Abschlepp- und einen Streifenwagen blockiert waren. Cops starrten in die dort parkenden Autos, als seien sie wegen irgendeiner Sache in Zweifel. Er fuhr langsam an ihnen vorüber und beschleunigte wieder. Bremste dann und hielt an der Plaza.

»Ich warte hier«, sagte er.

Jodie stieg aus und blieb einen Augenblick stehen. Die Plaza war riesig und ziemlich belebt. Es war dreizehn Uhr fünfundfünfzig, und die Leute, die außerhalb gegessen hatten, kehrten in ihre Büros zurück. Sie war ziemlich nervös. Seit die ganze Geschichte begonnen hatte, war dies das erste Mal, dass sie sich, ohne von Reacher beschützt zu werden, in der Öffentlichkeit bewegte. Sie sah sich um, schloss sich einer Gruppe dahinhastender Menschen an und ging mit ihr bis zum Südturm.

Die in ihren Unterlagen angegebene Adresse befand sich im siebenundachtzigsten Stock. Sie stellte sich in der Schlange am Expressaufzug an und stand dort hinter einem mittelgroßen Mann in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug. In einer Hand trug er einen billigen Aktenkoffer, der mit braunem Kunstleder überzogen war, das durch ein eingeprägtes Muster wie Krokodilleder aussehen sollte. Sie quetschte sich hinter ihm in den Aufzug. Die Kabine war voll besetzt, und die Leute riefen der Frau, die die Knöpfe bediente, ihre Stockwerksnummern zu. Der Typ in dem schlecht sitzenden Anzug verlangte den siebenundachtzigsten Stock. Jodie schwieg.

Der Aufzug hielt in seiner Zone fast in jedem Stockwerk. So kam er nur langsam voran. Es war Punkt vierzehn Uhr, als er endlich den siebenundachtzigsten Stock erreichte. Jodie trat aus der Kabine. Der Mann mit dem Kunstlederaktenkoffer stieg ebenfalls aus. Sie standen auf einem leeren Korridor. Neutrale Türen führten in Bürosuiten. Jodie ging in die eine Richtung, der Mann in die andere - beide inspizierten die Schilder neben den Türen. Vor einer Eichentür mit der Aufschrift Cayman Corporate Trust begegneten sie sich wieder. In die Tür war etwas außerhalb der Mitte ein Drahtglasfenster eingelassen. Jodie versuchte noch, etwas dahinter zu erkennen, als der Typ im Anzug an ihr vorbei nach der Klinke griff und die Tür öffnete.

»Wir wollen zur selben Besprechung?«, fragte Jodie überrascht.

Sie folgte ihm in einen in Eiche und Messing gehaltenen Empfangsbereich. Hier roch es wie in den meisten Büros. Nach Chemikalien aus Fotokopierern und Kaffee. Der Typ im Anzug drehte sich zu ihr um und nickte.

»Sieht ganz so aus«, bestätigte er.

Sie streckte ihm im Gehen ihre Hand hin.

»Ich bin Jodie Jacob«, sagte sie. »Spencer Gutman. Für den Gläubiger.«

Der Mann lächelte und gab ihr die Hand.

»Ich bin David Forster«, stellte er sich vor. »Forster und Abelstein.«

Sie hatten die Empfangstheke fast erreicht. Jodie blieb stehen und starrte ihn an.

»Nein, das sind Sie nicht«, sagte sie nachdrücklich. »Ich kenne David sehr gut.«

Der Mann wirkte plötzlich sehr nervös. Im Empfangsbereich herrschte Totenstille. Sie drehte sich um und erkannte den Kerl, den sie zuletzt am Türgriff ihres Bravadas hängen gesehen hatte, als Reacher nach dem Auffahrunfall auf dem Broadway davongerast war. Er saß ganz ruhig hinter der Theke und erwiderte gelassen ihren Blick. Seine linke Hand drückte auf einen Knopf. In der Stille hörte sie ein Klicken von der Eingangstür her. Dann bewegte sich seine rechte Hand. Sie griff hinter der Theke nach unten und tauchte mit einer Waffe in stumpfem Metallgrau wieder auf. Das Ding hatte einen großkalibrigen Lauf und einen Metallgriff. Der Typ in dem schlecht sitzenden Anzug ließ den Kunstlederkoffer fallen und riss die Hände hoch. Jodie starrte die Waffe an und dachte: Aber das ist eine Schrotflinte!

Der Kerl mit der Schrotflinte bewegte erneut seine linke Hand und drückte auf einen weiteren Knopf. Die Tür zum inneren Büro wurde aufgerissen. Der Mann, der mit dem Suburban auf sie aufgefahren war, erschien auf der Schwelle. Auch er hielt eine Waffe in der Hand. Jodie kannte sie aus Filmen, die sie gesehen hatte. Im Kino verschossen solche Pistolen mit lautem Knall Kugeln, die einen zwei Meter weit zurückwarfen. Der Suburban-Fahrer zielte mit ruhiger Hand zwischen sie und den Mann neben ihr, als halte er sich bereit, seine Waffe nach links oder rechts zu reißen.

Der Kerl mit der Schrotflinte kam hinter der Theke hervor und drängte sich an Jodie vorbei. Trat hinter den Mann in dem schlecht sitzenden Anzug und rammte ihm die Mündung seiner Waffe ins Kreuz. Dabei war ein leises Klappern zu hören, Metall auf Metall, durch Stoff gedämpft. Der Kerl mit der Schrotflinte griff unter das Jackett des anderen und zog eine große verchromte Pistole heraus. Er hielt sie wie ein Beweisstück vor Gericht hoch.

»Ungewöhnliches Accessoire für einen Anwalt«, meinte der Mann in der Tür.

»Er ist kein Anwalt«, entgegnete sein Partner. »Die Frau sagt, dass sie David Forster sehr gut kennt und dass er’s nicht ist.«

Der Mann in der Tür nickte.

»Ich heiße Tony«, sagte er. »Kommen Sie bitte herein.«

Er trat zur Seite und hielt Jodie mit seiner Pistole in Schach, während sein Partner den Kerl, der Forster zu sein vorgab, durch die offene Tür stieß. Dann winkte er sie mit seiner Waffe zu sich heran, und Jodie setzte sich widerstrebend in Bewegung. Er trat auf sie zu und schob sie mit seiner flach auf ihren Rücken gelegten Linken durch die Tür. Jodie stolperte ein wenig, fand jedoch ihr Gleichgewicht wieder. Hinter der Tür befand sich ein großes Büro, geräumig und quadratisch. Durch fast geschlossene Jalousien drang nur wenig Licht herein. Vor einem Schreibtisch stand eine Sitzgarnitur aus drei identischen Sofas mit Lampentischen. Ein riesiger Couchtisch aus Messing mit schwerer Glasplatte füllte den Raum zwischen den Sofas aus. Auf dem linken Sofa saßen zwei Personen. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trug einen eleganten Anzug mit Krawatte, die Frau ein verknittertes seidenes Partykleid. Der Mann blickte mit ausdrucksloser Miene auf. Die Frau wirkte zu Tode erschrocken.

Hinter dem Schreibtisch erkannte sie einen Mann. Er saß im Halbdunkel in einem Ledersessel und schien um die fünfzig zu sein. Jodie starrte ihn an. Sein Gesicht war zweigeteilt. Rechts sah sie faltige Haut und schütter werdendes graues Haar, links nur Narbengewebe: rosa, dick und glänzend wie das unfertige Plastikmodell eines Monsterschädels. Dieses Narbengewebe zog sich bis übers Auge. Sein Lid war ein rosa Klumpen, der einem zerquetschten Daumen glich.

Über muskulösen Schultern und einer breiten Brust trug er einen tadellosen Anzug. Sein linker Arm ruhte entspannt auf dem Schreibtisch. Aus dem Ärmel seines Jacketts ragten eine weiße Manschette und eine manikürte Hand, deren Finger kaum wahrnehmbar auf die Schreibtischplatte trommelten. Sein rechter Arm befand sich genau parallel zum linken. Auch hier ein Anzugärmel aus leichter, feiner Schurwolle und die gleiche weiße Manschette, aber sie waren eingefallen und leer. Aus ihnen ragte keine Hand, nur ein schlichter Haken aus Stahl, der leicht angewinkelt auf dem Holz lag.

»Hobie«, sagte sie.

Er nickte langsam, nur einmal, und hob seinen Haken wie zum Gruß.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mrs. Jacob. Ich bedaure nur, dass es so lange gedauert hat.«

Dann lächelte er.

»Und ich bedaure, dass unsere Bekanntschaft so kurz sein wird.«

Er nickte wieder, dieses Mal zu dem Mann namens Tony hinüber, der Jodie neben den Kerl schob, der sich als Forster ausgegeben hatte. Sie standen nebeneinander und warteten.

»Wo ist Ihr Freund Jack Reacher?«, wollte Hobie wissen.

Sie zuckte mit den Schultern, »Keine Ahnung.«

Hobie musterte sie durchdringend,

»Okay«, sagte er dann. »Zu Jack Reacher kommen wir später. Setzen Sie sich.«

Er deutete mit seinem Haken auf das Sofa gegenüber dem Paar, das Jodie anstarrte. Sie nahm Platz.

»Das hier sind Mr. und Mrs. Stone«, sagte Hobie, »Chester und Marilyn, wenn wir weniger förmlich sein wollen. Chester war Alleininhaber der Firma Stone Optical. Er schuldet mir über siebzehn Millionen Dollar. Er wird seine Schulden durch Übertragung von Aktien begleichen.«

Jodie sah zu dem Ehepaar. Aus den Blicken beider sprach panische Angst. Als ob soeben etwas schrecklich schief gegangen sei.

»Hände auf den Tisch, ihr drei!«, befahl Hobie. »Spreizt die Finger. Lasst mich sechs kleine Seesterne sehen.«

Jodie neigte sich vor und legte ihre Handflächen auf den niedrigen Couchtisch. Das Paar ihr gegenüber tat das Gleiche.«

»Weiter Vorbeugen!«, verlangte Hobie.

Alle drei ließen ihre Hände mehr in die Tischmitte gleiten, bis sie weit nach vorn gebeugt dasaßen. So lastete ihr Gewicht auf ihren Händen und machte sie unbeweglich. Hobie kam hinter seinem Schreibtisch hervor und baute sich vor dem Mann in dem schlecht sitzenden Anzug auf.

»Sie sind offenbar nicht David Forster«, konstatierte er.

Der Mann gab keine Antwort.

»Hätte ich mir denken können«, sagte Hobie. »In diesem Anzug? Das muss ein Witz sein. Wer sind Sie also?«

Der Mann schwieg weiter hartnäckig. Jodie beobachtete ihn mit zur Seite gedrehtem Kopf. Tony hob die Pistole und zielte damit auf den Kopf des Mannes. Er hielt die Waffe in beiden Händen und ließ den Schlitten mit einem Klicken, das in der Stille bedrohlich laut klang, nach vorn gleiten. Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug.

»Curry«, antwortete der Kerl hastig. »William Curry Ich bin Privatdetektiv, arbeite für Forster.«

Hobie nickte langsam. »Okay, Mr. Curry«

Er ging zu den Stones zurück. Blieb direkt hinter der Frau stehen.

»Ich bin irregeführt worden, Marilyn«, sagte er.

Er stützte sich mit der linken Hand von der Sofalehne ab, beugte sich weit nach vorn und hakte die Spitze seines Hakens in den Rückenausschnitt ihres Kleids. Dann zog er sie langsam hoch. Ihre Handflächen rutschten von der Glasplatte und hinterließen feuchte Umrisse. Als sie mit dem Rücken am Sofa lehnte, berührte Hobie mit dem Haken leicht ihr Kinn. Er hob den Haken und benutzte die Spitze, um damit leicht durch ihr Haar zu fahren. Ihre Augen waren vor Angst zugekniffen.

»Sie haben mich getäuscht«, sagte er. »Ich mag es nicht, getäuscht zu werden. Vor allem nicht von Ihnen. Ich habe Sie beschützt, Marilyn. Ich hätte Sie mit den Autos verkaufen können. Jetzt tue ich’s vielleicht. Ich hatte etwas anderes mit Ihnen vor, aber ich glaube, Mrs, Jacob hat gerade Ihre Stellung als meine Favoritin übernommen. Niemand hat mir erzählt, wie schön sie ist.«

Der Haken bewegte sich nicht mehr, und aus Marilyns Haar lief ein dünner Blutfaden über ihre Stirn. Hobie sah zu Jodie hinüber. Sein gesundes Auge musterte sie ruhig und ohne zu blinzeln.

»Ja«, sagte er zu ihr. »Ich denke, Sie sind vielleicht New Yorks Abschiedsgeschenk für mich.«

Er drückte Marilyns Kopf grob mit dem Haken so weit nach vorn, bis sie wieder ihre Hände auf den Tisch legen konnte. Dann drehte er sich um.

»Sind Sie bewaffnet, Mr. Curry?«

Curry zuckte mit den Schultern. »Ich war bewaffnet. Das wissen Sie. Ihr Mann hat mir die Waffe abgenommen.«

Der Kerl mit der Schrotflinte hob die verchromte Pistole hoch. Hobie nickte.

»Tony?«

Tony begann ihn abzutasten, über seine Schultern hinweg, unter seinen Armen. Als Curry nach links und rechts sah, trat der Kerl mit der Schrotflinte näher an ihn heran und stieß ihm die Mündung seiner Waffe in die Rippen.

»Stillhalten!«, befahl er.

Tony beugte sich nach vorn und ließ seine flachen Hände über den Gürtelbereich und zwischen Currys Beine gleiten.

Als die Hände sich rasch tiefer bewegten, warf Curry sich zur Seite und versuchte, die Schrotflinte mit dem Arm wegzustoßen, aber der Kerl, der sie in den Händen hielt, stand breitbeinig da, hatte einen guten Stand und reagierte überlegt. Er benutzte die Mündung wie eine Faust und traf Curry damit im Magen. Dieser schnappte nach Luft, und als er zusammenzuklappen drohte, traf der Kerl ihn mit dem Kolben seiner Schrotflinte seitlich am Kopf. Curry sank benommen auf die Knie, und Tony stieß ihn mit einem Fuß um.

»Arschloch«, knurrte er.

Der Kerl mit der Schrotflinte beugte sich über Curry und rammte ihm die Mündung seiner Waffe mit solchem Druck in den Unterleib, dass es schmerzte. Tony hockte sich neben ihn, machte sich unter Currys Hosenbeinen zu schaffen und richtete sich mit zwei identischen Revolvern in der Hand wieder auf. Sein linker Zeigefinger steckte in den Abzugbügeln, und er ließ die Waffen um seinen Finger kreisen. Das Metall klickte und klapperte. Die Revolver waren winzig und bestanden aus rostfreiem Stahl. Wie luxuriöses Spielzeug. Sie hatten sehr kurze Läufe.

»Stehen Sie auf, Mr. Curry!«, befahl Hobie.

Curry rollte sich auf Hände und Knie. Er war von dem Kolbenhieb sichtlich benommen. Jodie sah, wie er angestrengt blinzelte, um wieder scharf sehen zu können. Wie er dabei den Kopf schüttelte. Er streckte eine Hand nach der Rückenlehne des Sofas aus und zog sich daran hoch. Hobie trat näher an ihn heran und kehrte ihm den Rücken zu. Er sah Jodie, Chester und Marilyn an, als wären sie sein Publikum. Er hielt seine linke Hand auf und begann mit der Kurve seines Hakens hineinzuschlagen. Die Schläge wurden immer heftiger.

»Ein einfaches mechanisches Problem«, sagte er. »Der auf den Haken ausgeübte Impuls wird auf den Armstumpf übertragen. Die Stoßwellen wandern nach oben. Sie treffen auf das, was vom Arm übrig ist. Das Lederkorsett stammt natürlich von einem Fachmann, was die Beschwerden minimiert. Aber gegen Naturgesetze sind wir machtlos, stimmt’s? Deshalb lautet die Frage letztlich: Wer bekommt die Schmerzen als Erster zu spüren? Er oder ich?«

Er warf sich herum und schlug Curry mit der gekrümmten Außenseite seines Hakens voll ins Gesicht. Curry stolperte keuchend rückwärts.

»Ich hab Sie gefragt, ob Sie bewaffnet sind«, begann Hobie ruhig. »Sie hätten die Wahrheit sagen sollen. Sie hätten sagen sollen: Ja, Mr. Hobie, ich trage an den Fußknöcheln je einen Revolver. Aber das haben Sie nicht getan. Sie haben versucht, mich zu täuschen. Und wie ich schon Marilyn erklärt habe, hasse ich es, getäuscht zu werden.«

Der nächste Schlag war ein Magenhaken. Ansatzlos und hart geschlagen.

»Aufhören!«, kreischte Jodie. Sie nahm ihre Hände von der Glasplatte und setzte sich aufrecht hin. »Warum machen Sie das? Was zum Teufel ist aus Ihnen geworden?«

Curry stand vornübergebeugt da und hielt sich vor Schmerzen den Magen.

»Was aus mir geworden ist?«, wiederholte Hobie.

»Sie waren ein anständiger Kerl. Wir wissen alles über Sie.«

Er schüttelte langsam den Kopf.

»Nein, das tun Sie nicht.«

Im nächsten Augenblick ertönte der Summer an der Tür zum Korridor. Tony sah zu Hobie hinüber und steckte rasch seine Pistole weg. Er nahm Currys kleine Revolver, drückte Hobie einen davon in die linke Hand und ließ den anderen in Hobies Jackentasche gleiten. Das war eine eigenartig intime Geste. Dann verließ er das Büro. Der Kerl mit der Schrotflinte trat zurück und fand eine Position, in der er alle vier Gefangenen überwachen konnte. Hobie bewegte sich in entgegengesetzte Richtung, sodass sie das Quartett zwischen sich hatten.

»Keinen Mucks, verstanden?«, flüsterte er.

Sie hörten, wie die Tür zum Korridor geöffnet wurde. Zwei Männerstimmen sprachen halblaut miteinander, dann fiel die Tür wieder ins Schloss. Wenig später kam Tony in das abgedunkelte Büro zurück - mit einem Umschlag unter dem Arm und einem breiten Lächeln auf dem Gesicht.

»Ein Bote von Stones ehemaliger Bank. Mit dreihundert Aktien.«

Er hielt den gepolsterten Umschlag hoch.

»Mach ihn auf!«, befahl Hobie.

Tony fand den Plastikfaden und riss damit den Umschlag auf. Jodie sah die verschlungenen Linien alter Aktienurkunden in Stahlstich. Tony blätterte sie durch. Er nickte. Hobie ging zu seinem Sessel zurück und legte den winzigen Revolver auf die Schreibtischplatte.

»Setzen Sie sich, Mr. Curry«, sagte er. »Neben Ihre Anwaltskollegin.«

Curry ließ sich schwer atmend auf den freien Platz neben Jodie fallen. Er legte seine Hände auf die Glasplatte und stützte sich wie die anderen nach vorn gebeugt darauf. Hobie machte eine weit ausholende Bewegung mit seinem Haken.

»Sehen Sie sich gut um, Chester«, sagte er. »Mr. Curry, Mrs. Jacob und Ihre liebe Frau Marilyn. Lauter gute Leute, dessen bin ich mir sicher. Drei Leben, jedes voller kleiner Sorgen und Freuden. Drei Leben, Chester, die jetzt völlig in Ihrer Hand liegen.«

Stone hob den Kopf und ließ seinen Blick langsam von einem zum anderen am Tisch wandern. Dann sah er zu Hobie.

»Holen Sie die restlichen Aktien«, sagte Hobie. »Tony wird Sie begleiten. Geradewegs hin, geradewegs zurück, keine Tricks, dann bleiben diese drei am Leben. Machen Sie irgendwelche Dummheiten, sterben sie. Haben Sie verstanden?«

Stone nickte schweigend.

»Nennen Sie eine Zahl, Chester«, forderte Hobie ihn auf.

»Eins«, antwortete Stone.

»Nennen Sie zwei weitere Zahlen, Chester.«

»Zwei und drei«, sagte Stone.

»Okay, Marilyn bekommt die Drei«, meinte Hobie. »Falls Sie beschließen, den Helden zu spielen.«

»Ich hole die Aktien«, sagte Stone.

Hobie nickte.

»Ich denke, dass Sie’s tun werden«, sagte er. »Aber zuvor müssen Sie den Ubereignungsvertrag unterschreiben.«

Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und ließ den kleinen glänzenden Revolver darin verschwinden. Dann nahm er ein eng beschriebenes Blatt Papier heraus. Winkte Stone heran, der sich hochstemmte und schwankend auf die Beine kam. Er trat hinter den Schreibtisch und unterschrieb den Vertrag mit dem Montblanc-Füller aus seiner Tasche.

»Mrs. Jacob kann als Zeugin unterschreiben«, erklärte Hobie. »Sie ist schließlich Mitglied der Anwaltskammer des Staates New York.«

Jodie blieb einige Momente still sitzen. Sie starrte zuerst nach links zu dem Kerl mit der Schrotflinte, dann nach vorn zu Tony, nach rechts zu Hobie, stand auf und trat an den Schreibtisch, drehte den Vertrag zu sich herum und ließ sich Stones Füller geben. Setzte ihre Unterschrift unter den Vertrag und schrieb das Datum daneben.

»Danke«, sagte Hobie. »Sie setzen sich wieder hin und verhalten sich absolut ruhig.«

Sie ging zum Sofa zurück, nahm Platz und stützte sich wieder auf die Glasplatte des Couchtischs. Ihre Schultern begannen zu schmerzen. Tony packte Stone am Ellbogen und zog ihn mit zur Tür.

»Fünf Minuten hin, fünf dort, fünf zurück!«, rief Hobie ihm nach. »Spielen Sie nicht den Helden, Chester.«

Tony führte Stone aus dem Büro, und die Tür schloss sich leise hinter ihnen. Dann fiel die Tür zum Korridor zu, und sie hörten das ferne Surren des Aufzugs. Danach herrschte wieder Stille. Jodie hatte Schmerzen. Ihre Schultern brannten. Ihr Nacken tat weh. Die Mienen der anderen zeigten ihr, dass sie ebenfalls litten. Sie hörte ihre keuchenden Atemzüge. Ihr leises Stöhnen.

Hobie machte dem Kerl mit der Schrotflinte ein Zeichen, mit ihm den Platz zu tauschen. Während Hobie nervös im Büro auf und ab lief, saß der Stämmige am Schreibtisch, auf dem er seine Waffe abgelegt hatte, und schwenkte ihren Lauf willkürlich wie den Suchscheinwerfer eines Gefängnisses mal in die eine, mal in die andere Richtung. Hobie sah auf seine Armbanduhr, zählte die Minuten. Jodie beobachtete, wie die nun schon tiefer im Südwesten stehende Sonne durch die Lücken zwischen den senkrechten Lamellen der Jalousie schien, und nahm die leichten Vibrationen des Gebäudes wahr.

Dreimal fünf Minuten wären eine Viertelstunde gewesen, aber in Wirklichkeit vergingen mindestens zwanzig Minuten. Hobie lief auf und ab und sah ein Dutzend Mal auf die Uhr. Dann ging er in den Empfangsbereich hinaus, wohin ihm der Stämmige bis zur Bürotür folgte. Er hielt seine Waffe in den Raum gerichtet, aber sein Kopf war abgewandt, weil er seinen Boss beobachtete.

»Hat er vor, uns laufen zu lassen?«, flüsterte Curry

Jodie zog die Schultern hoch und bewegte den Kopf, um ein wenig ihren Nacken zu entlasten.

»Keine Ahnung«, antwortete sie flüsternd.

Marilyn hatte den Kopf auf die Unterarme gelegt. Sie sah auf und schüttelte ihn.

»Er hat zwei Cops umgebracht«, flüsterte sie. »Wir waren Zeugen.«

»Schluss mit dem Gequatsche!«, rief der Kerl von der Tür her.

Sie hörten wieder das Surren des Aufzugs. Kurz danach wurde die Korridortür geöffnet, und es drang Lärm aus dem Empfangsbereich. Erst Tonys, dann Hobies Stimme - vor Erleichterung lauter als gewöhnlich. Hobie kam mit einem weiß verpackten Paket ins Büro zurück und lächelte mit dem beweglichen Teil seines Gesichts. Er klemmte es sich unter den verbliebenen rechten Arm und riss es im Gehen mit der linken Hand auf. Jodie sah weitere Aktienurkunden mit altmodischen Guillochen in Stahlstich. Er ging um die Sofas herum zu seinem Schreibtisch und warf die neuen Aktien achtlos auf die dreihundert Stück, die dort bereits lagen. Stone folgte Tony ins Büro, als habe man ihn vergessen, und betrachtete das Lebenswerk seiner Vorfahren, das jetzt achtlos auf dem Schreibtisch herumlag. Marilyn sah auf, zog ihre Hände über die Glasplatte und setzte sich ruckartig auf, weil sie keine Kraft mehr in den Schultern hatte.

»Okay, jetzt haben Sie alle«, sagte sie ruhig. »Jetzt können Sie uns gehen lassen.«

Hobie lächelte ironisch. »Marilyn, sind Sie schwachsinnig oder was?«

Tony lachte. Jodie sah von ihm zu Hobie und erkannte, dass die beiden schon fast am Ende eines sehr langen Weges angelangt waren. Sie hatten sich irgendein Ziel gesteckt, das nun zum Greifen nahe war. Aus Tonys Lachen sprach Erleichterung nach Tagen voller Stress und Anspannung.

»Reacher ist weiter dort draußen«, sagte sie so gelassen, als ziehe sie eine Schachfigur.

Hobies Lächeln verschwand schlagartig. Er berührte seine Stirn mit dem Haken, rieb ihn über das Narbengewebe und nickte.

»Reacher«, sagte er. »Ja, das letzte Stück des Puzzles. Reacher dürfen wir nicht vergessen, nicht? Er ist weiter dort draußen. Aber wo genau dort draußen?«

Sie zögerte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie.

Dann hob sie trotzig den Kopf.

»Aber er ist hier in New York. Und er findet Sie.«

Hobie erwiderte ihren Blick. Starrte sie mit verächtlicher Miene an.

»Soll das vielleicht eine Drohung sein?«, knurrte er. »Tatsächlich will ich, dass er mich findet. Weil er etwas hat, das ich brauche. Etwas sehr Wichtiges. Seien Sie mir also behilflich, Mrs. Jacob. Rufen Sie ihn an, und laden Sie ihn hierher ein.«

Sie antwortete nicht gleich.

»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte sie dann.

»Versuchen Sie’s mit Ihrer Wohnung«, schlug Hobie vor. »Wir wissen, dass er dort übernachtet hat. Ihr Flugzeug ist um zehn vor zwölf gelandet, nicht? Wahrscheinlich hält er sich auch jetzt dort auf.«

Sie starrte ihn an. Er nickte selbstgefällig.

»Solche Dinge überprüfen wir. Für uns arbeitet ein Mann namens Simon, den Sie meines Wissens kennen gelernt haben. Er hat Sie in die Maschine gesetzt, die um neunzehn Uhr in Honolulu abfliegt, und wir haben den JFK Airport angerufen und die Auskunft erhalten, dass Sie um elf Uhr fünfzig gelandet sind. Reacher war in Hawaii ganz durcheinander, hat uns Simon berichtet, also dürfte er das auch weiter sein. Und natürlich müde. Genau wie Sie. Sie sehen müde aus, Mrs. Jacob. Aber Ihr Freund Jack Reacher liegt vermutlich im Bett und schläft, während Sie sich hier mit uns amüsieren. Rufen Sie ihn also an, laden Sie ihn ein, Ihnen hier Gesellschaft zu leisten.«

Sie starrte den Couchtisch an. Schwieg.

»Rufen Sie ihn an. Dann können Sie ihn noch einmal sehen, bevor Sie sterben.«

Sie schwieg, starrte die von ihren Händen verschmierte Glasplatte an. Sie wollte ihn anrufen. Sie wollte ihn sehen. Fühlte sich wie in den fünfzehn langen Jahren zuvor. Sie wollte ihn Wiedersehen. Sein gelassenes, schiefes Grinsen. Sein zerzaustes Haar. Seine Augen, eisig blau wie die Arktis. Seine Hände, die zu Riesenfäusten werden konnten. Sie wollte sehen, wie sie sich um Hobies Hals schlossen.

Sie blickte sich im Büro um. Die Sonnenstrahlen waren ein wenig weiter über den Schreibtisch gekrochen. Sie sah Chester Stone, teilnahmslos. Marilyn, zitternd. Curry, leichenblass und schwer atmend. Den Kerl mit der Schrotflinte, entspannt.

Reacher würde ihn zerschmettern, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Sie sah Tony, der sie unverwandt anstarrte. Und Hobie, der mit seiner manikürten Hand über den Haken fuhr, sie anlächelte, wartete. Sie wandte sich ab und blickte zu der geschlossenen Tür. Sie stellte sich vor, wie die Tür krachend aufflog und Jack Reacher hereinstürmte. Das wünschte sie sich mehr, als sie sich je irgendetwas gewünscht hatte.

»Okay«, flüsterte sie. »Ich rufe ihn an.«

Hobie nickte. »Bestellen Sie ihm, dass ich noch ein paar Stunden hier sein werde. Trotzdem sollte er sich lieber beeilen, wenn er Sie noch mal sehen will. Weil Sie und ich in ungefähr einer halben Stunde eine kleine Verabredung dort drüben in der Toilette haben.«

Sie erschauderte und stand auf. Sie hatte weiche Knie, und ihre Schultern brannten wie Feuer. Hobie kam hinter dem Schreibtisch hervor, nahm sie am Ellbogen, führte sie zur Tür und nach draußen hinter die Empfangstheke.

»Das hier ist unser einziges Telefon«, sagte er. »Ich mag keine Telefone.«

Er setzte sich auf den Stuhl und drückte mit der Spitze des Hakens die Neun. Reichte ihr den Hörer über die Theke. »Kommen Sie näher her, damit ich hören kann, was er zu Ihnen sagt. Marilyn hat mich bei einem Anruf getäuscht, und das soll mir nicht noch mal passieren.«

Er zwang sie dazu, sich zu ihm hinunterzubeugen, bis ihre Gesichter sich fast berührten. Er roch nach Seife. Er griff in seine Jackentasche, holte den ihm von Tony zugesteckten kleinen Revolver heraus und drückte ihn ihr gegen die Rippen. Sie hielt den Hörer so schräg, dass der obere Teil zwischen ihnen aufragte. Sie studierte die Konsole. Eine Unmenge von Knöpfen. Auch ein Schnellwahlknopf für die Notrufnummer 911. Sie zögerte einen Augenblick, dann wählte sie ihre Nummer. Das Telefon klingelte sechsmal. Bei jedem beschwor sie ihn: Sei da, sei da! Aber dann hörte sie ihre eigene Stimme, als ihr Anrufbeantworter sich einschaltete.

»Er ist nicht da«, sagte sie ausdruckslos.

Hobie lächelte.

»Pech für Sie«, meinte er.

Sie stand noch immer über die Theke gebeugt da, war wie gelähmt.

»Er hat mein Handy«, sagte sie plötzlich. »Das fällt mir gerade ein.«

»Okay, mit der Neun bekommen Sie eine Leitung.«

Sie unterbrach die Verbindung, wählte die Neun und danach ihre Handynummer. Am anderen Ende klingelte es viermal. Vier laute, dringende elektronische Signaltöne. Bei jedem betete sie: Melde dich, melde dich, melde dich, melde dich. Dann hörte sie ein Klicken.

»Hallo?«, sagte er.

Sie atmete aus. »Hi, Jack.«

»Hi, Jodie. Was gibt’s Neues?«

»Wo bist du?«

Ihre Stimme klang dringlich. Das ließ ihn kaum merklich zögern.

»Ich bin in St. Louis, Missouri«, antwortete er. »Bin gerade erst angekommen. Ich musste noch mal ins NPRC.«

Sie schnappte nach Luft. St. Louis? Ihre Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.

Hobie beugte sich zu ihr hinüber und berührte ihr Ohr mit seinen Lippen.

»Er soll sofort nach New York zurückkommen«, wisperte er. »Hierher, so schnell er kann.«

Sie nickte nervös, und er drückte ihr die Revolvermündung fester in die Rippen.

»Kannst du zurückkommen?«, wollte sie wissen. »Jetzt gleich.«

»Mein Rückflug ist für achtzehn Uhr gebucht«, erwiderte er. »Also kann ich gegen zwanzig Uhr dreißig in New York sein. Reicht das?«

Sie spürte, wie Hobie neben ihr grinste.

»Kannst du nicht früher kommen? Am besten sofort?«

Im Hintergrund war eine Stimme zu hören. Vermutlich die von Major Conrad. Sie erinnerte sich an sein Dienstzimmer, dunkles Holz, abgewetztes Leder.

»Früher?«, sagte er. »Hm, das müsste sich machen lassen. Ich könnte in ein paar Stunden da sein - je nachdem, welche Maschine ich erwische. Wo bist du?«

»Komm zur Firma CCT im World Trade Center, Südturm, siebenundachtzigster Stock, okay?«

»Es wird ziemlicher Verkehr sein. Sagen wir zweieinhalb Stunden, dann bin ich da.«

»Wunderbar«, sagte sie.

»Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?«, fragte er wieder.

Hobie ließ den Revolver sehen.

»Mir geht’s gut«, antwortete sie. »Ich liebe dich.«

Hobie beugte sich nach vorn und unterbrach die Verbindung mit der Spitze seines Hakens. Ein Klicken, dann war wieder der Wählton zu hören. Sie legte den Hörer auf die Konsole zurück und war wie vor den Kopf geschlagen.

»Zweieinhalb Stunden*, sagte Hobie mit gespieltem Mitgefühl. »Nun, es sieht so aus, als käme die Kavallerie für Sie zu spät, Mrs. Jacob.«

Er lachte in sich hinein und steckte den Revolver wieder in seine Jackentasche. Stand auf und packte Jodie am Arm. Sie stolperte, und er zerrte sie in Richtung Bürotür. Sie bekam den Rand der Theke zu fassen und klammerte sich daran fest. Hobie schlug mit der Außenseite seines Hakens zu. Der gekrümmte Teil traf sie oben an der Schläfe, und ihre Finger wurden kraftlos. Als ihre Knie nachgaben und sie zusammensackte, zerrte er sie am Arm hinter sich her zur Tür. Ihre Absätze klapperten und scharrten über den Fußboden. Er stieß sie ins Büro hinein. Jodie blieb auf dem Teppich liegen, und er knallte die Tür zu.

»Zurück aufs Sofa!«, knurrte er.

Die Sonnenstrahlen fielen nun nicht mehr auf den Schreibtisch, sondern hatten bereits den Couchtisch erreicht. Die lackierten Nägel von Marilyn Stones gespreizten Fingern leuchteten in ihrem Licht. Jodie kroch auf allen vieren weiter, zog sich an der Sofalehne hoch und ließ sich auf ihren Platz neben Curry fallen. Sie legte ihre Hände wie zuvor auf die Glasplatte. In ihrer Schläfe pochte ein dumpfer Schmerz, da wo der Stahl ihren Knochen getroffen hatte. Ihre Schulter schmerzte. Der Kerl mit der Schrotflinte beobachtete sie. Auch Tony, der wieder seine Pistole in der Hand hielt, ließ sie nicht aus den Augen.

Hobie ordnete hinter seinem Schreibtisch stehend die Aktien. Die Papiere bildeten einen zehn Zentimeter hohen Stapel. Die schweren Stahlstichurkunden ließen sich gut zusammenschieben.

»Der Mann von UPS muss jeden Augenblick kommen«, sagte er zufrieden. »Dann bekommen die Investoren ihre Aktien und ich mein Geld und habe wieder mal gewonnen. Ungefähr noch eine halbe Stunde, dann ist alles vorbei - für mich und auch für euch.«

Jodie wurde klar, dass er nur mit ihr sprach. Er hatte sie für die Übermittlung von Informationen ausgewählt. Curry und das Ehepaar Stone beobachteten sie, nicht ihn. Sie sah weg und starrte durch die Glasplatte auf den Teppich unter dem Couchtisch. Er hatte das gleiche Muster wie der abgetretene Teppich in DeWitts Dienstzimmer in Fort Wolters, aber er war viel kleiner und neuer. Hobie ließ den Aktienstapel auf dem Schreibtisch liegen, kam hinter dem Möbelstück hervor und nahm dem Kerl mit der Schrotflinte die Waffe ab.

»Hol mir einen Kaffee«, befahl er ihm.

Der Kerl nickte und verschwand nach draußen. In dem abgedunkelten Büro herrschte wieder Schweigen. Hobie hielt die Schrotflinte in der linken Hand. Sie zielte auf den Fußboden. Schwang langsam in einem kleinen Bogen hin und her. Ein lockerer Griff. Sie bemerkte, dass Curry sich umsah. Er vergewisserte sich, wo Tony stand. Tony war einen Meter zurückgetreten. Hatte das Schussfeld der Schrotflinte verlassen und stand im rechten Winkel dazu. Seine Pistole war schussbereit erhoben. Jodie spürte, wie Curry ein wenig seine Schultern bewegte und seine Armmuskeln anspannte. Sie sah, wie er Tony beobachtete, der etwa dreieinhalb Meter vor ihm stand, und dann nach links zu Hobie blickte, der etwa zweieinhalb Meter entfernt war. Sie sah die Sonnenstrahlen, die genau parallel zu den Messingkanten des Couchtischs verliefen. Und sie sah, wie Curry sich auf seinen Fingerspitzen hochstemmte.

»Nein«, hauchte sie.

Leon hatte sich das Leben stets durch Regeln vereinfacht. Für jede Situation gab es eine bestimmte Regel. In ihrer Jugend hatte er sie damit fast zum Wahnsinn getrieben. Seine Universalregel für alles, von ihren Seminararbeiten bis zu seinen Aussagen bei Anhörungen in Washington, lautete: Mach’s einmal und mach’s richtig. Curry hatte keine Chance, es richtig zu machen. Nicht die geringste. Er würde ins Kreuzfeuer zweier großkalibriger Waffen geraten. Seine vermeintlichen Optionen existierten nicht. Sprang er auf und setzte über den Tisch, um sich auf Tony zu stürzen, würde ihn schon auf halbem Weg eine Kugel in die Brust treffen - und vermutlich eine Schrotladung in die Seite, die nicht nur ihn, sondern auch das Ehepaar Stone erledigen würde. Stürzte er sich jedoch zuerst auf Hobie, würde Tony vielleicht nicht schießen, weil er fürchtete, seinen Boss zu treffen, aber Hobie würde es bestimmt tun. Die Schrotladung würde Curry in hundert kleine Stücke zerfetzen, und Jodie befand sich genau in Schusslinie hinter ihm. Eine weitere von Leons Regeln lautete: Aussichtslos ist aussichtslos, und red dir nie was anderes ein.

»Später«, hauchte sie.

Curry nickte kaum merklich. Seine Schultermuskeln wurden schlaff. Sie warteten. Jodie starrte durch die Glasplatte auf den Teppich und kämpfte gegen die Schmerzen an. Ihre überdehnte Schulter brannte unter ihrem Gewicht wie Feuer. Sie verschränkte die Hände und stützte sich auf die Fingerknöchel. Ihr gegenüber atmete Marilyn Stone laut keuchend. Sie schien völlig am Ende zu sein. Ihr Kopf ruhte seitlich auf den Armen, ihre Augen waren geschlossen. Die Sonnenstrahlen bewegten sich jetzt auf Jodies Tischecke zu.

»Was, zum Teufel, macht der Kerl dort draußen?«, murmelte Hobie. »Wie lange braucht er, mir einen Becher Kaffee zu holen?«

Tony sah kurz zu ihm hinüber, gab aber keine Antwort. Er hielt nur weiter seine Pistole schussbereit und achtete vor allem auf Curry. Jodie drehte die Hände und stützte sich auf die Daumen. Sie hatte pochende, brennende Kopfschmerzen. Hobie nahm die Schrotflinte hoch und legte sie mit der Mündung auf die Rückenlehne des Sofas vor ihm. Dann hob er den Haken und rieb sich mit der flachen Außenseite über seine Brandnarben.

»Mein Gott«, sagte er, »warum braucht der so lange? Gehen Sie raus, und helfen Sie ihm, okay?«

Jodie merkte, dass er sie ansprach. »Ich?«

»Warum nicht? Machen Sie sich ein bisschen nützlich. Kaffeekochen ist schließlich Frauensache.«

Sie zögerte.

»Ich weiß nicht mal, wo die Kaffeemaschine steht«, sagte sie.

»Dann zeig ich sie Ihnen.«

Er starrte sie an. Sie nickte und war plötzlich froh, aufstehen zu können. Sie stemmte sich hoch, stolperte und schlug sich das Schienbein am Messingrahmen des Couchtischs an. Ihr war unbehaglich zumute, als sie Tonys Schussfeld queren musste. Aus der Nähe wirkte die Pistole riesig und brutal. Sie blieb ständig auf sie gerichtet, während sie sich Hobie näherte. Hobie führte sie durchs Halbdunkel, klemmte sich die Schrotflinte unter den Arm, griff nach der Klinke und zog die Tür auf.

Erst die Tür zum Korridor, sonst das Telefon. Das hatte sie sich unterwegs vorgenommen. Schaffte sie’s, auf den Korridor zu gelangen, hatte sie vielleicht eine Chance. Klappte das nicht, blieb noch die Schnellwahl der 911. Sie brauchte nur den Hörer abzunehmen und auf den mit 911 bezeichneten Knopf zu drücken; selbst wenn sie nicht mehr sprechen konnte, wüssten die Cops, von woher dieser Notruf kam. Die Tür oder das Telefon. In Gedanken übte sie schon den Ablauf. Aber als es dann so weit war, sah sie weder zur Tür noch zum Telefon. Hobie blieb plötzlich vor ihr stehen. Sie trat neben ihn und starrte nur den Kerl an, der den Kaffee hatte holen sollen.

Er war ein stämmiger Mann, kleiner als Hobie oder Tony, aber breitschultrig. Er lag genau vor der Bürotür auf dem Boden. Seine Beine waren gestreckt, seine Füße leicht nach außen gedreht. Seinen Kopf stützte ein dicker Stapel Telefonbücher. Die Augen standen weit offen. Sie starrten blicklos ins Leere. Der linke Arm war nach hinten angewinkelt, die Hand ruhte mit der Handfläche nach oben auf einem weiteren Stapel Telefonbücher. Der rechte Arm war stumpfwinklig vom Körper weggespreizt, die rechte Hand am Handgelenk abgetrennt. Sie lag etwa fünfzehn Zentimeter von seiner Manschette entfernt auf dem Teppich - genau in Verlängerung des Arms, von dem sie stammte. Jodie hörte, wie Hobie einen erstickten Laut ausstieß, und sah, wie er die Schrotflinte fallen ließ und sich mit der linken Hand an den Türrahmen klammerte. Der unbeschädigte Teil seines Gesichts wurde leichenblass.