6
Hook Hobie saß allein in seinem dunklen Büro, siebenundachtzig Stockwerke über dem Erdboden, horchte auf die leisen Hintergrundgeräusche des riesigen Gebäudes, dachte angestrengt nach und änderte seinen bisherigen Plan. Er war kein geistig unbeweglicher Mensch. Darauf war er stolz. Er bewunderte sich selbst dafür, wie er sich verändern und anpassen, wie er zuhören und lernen konnte. Er fand, das sichere ihm seine Überlegenheit, hebe ihn aus der Masse hervor.
Als man ihn nach Vietnam geschickt hatte, war er sich seiner Fähigkeiten überhaupt nicht bewusst gewesen. Mehr oder weniger völlig ahnungslos, weil er noch sehr jung war. Aber nicht nur blutjung, sondern auch unerfahren, da er aus repressiven Verhältnissen stammte und in einem suburbanen Vakuum aufgewachsen war.
Vietnam hatte ihn verändert. Es hätte ihn zerbrechen können. Es zerbrach genügend andere Kerle. Überall um ihn herum gingen Männer kaputt. Nicht nur Jugendliche wie er, sondern auch alte, erfahrene Hasen mit langen Dienstzeiten in der Army
Aber Hobie zerbrach nicht. Er sah sich nur um, veränderte und passte sich an. Hörte zu und lernte. Das vielfache Sterben konnte ihn nicht schrecken. Dabei war er noch nie mit dem Tod eines Menschen in Berührung gekommen. Doch gleich an seinem ersten Tag in Vietnam sah er acht amerikanische Gefallene: ein ganzer Spähtrupp, der in feindliches Granatwerferfeuer geraten war. Acht Mann, neunundzwanzig Teile, manche davon ziemlich groß. Ein Augenblick, der prägt. Seine Kameraden wurden still, mussten kotzen, konnten es nicht glauben. Hobie allein blieb ungerührt.
Er begann als Händler. Jeder wollte irgendetwas, Dinge, die er nicht hatte. Die Sache war lächerlich einfach. Man brauchte nur ein bisschen zuzuhören. Hier war einer, der rauchte, aber nicht trank. Dort ein anderer, der gern Bier trank, aber nicht rauchte. Man nahm dem einen das Bier ab und tauschte es gegen die Zigaretten des anderen ein. Zweigte bei diesem Tauschhandel einen gewissen Prozentsatz für sich selbst ab. Das war so nahe liegend, dass er sich wunderte, dass die Jungs nicht selbst darauf kamen. Er nahm das Geschäft nicht recht ernst, weil er glaubte, es werde nicht lange funktionieren. Die anderen würden bald merken, was gespielt wurde, und ihn als Mittelsmann ausschalten.
Aber sie merkten es nicht. Das war seine erste Lektion. Er konnte etwas, das andere Leute nicht beherrschten. Er konnte Dinge beschaffen, an die sie selbst nicht herankamen. Also hörte er noch aufmerksamer zu. Was wollten sie noch? Alle möglichen Sachen. Mädchen, Bourbon, Penicillin, Schallplatten, Dienst im Basislager, aber keinen in der Latrine. Stiefel, Insektenvertilgungsmittel, verchromte Handfeuerwaffen, getrocknete Ohren gefallener Vietcong als Souvenirs. Marihuana, Aspirin, Heroin, saubere Nadeln, einen sicheren Posten für die letzten hundert Tage seiner Kommandierung. Er hörte zu und lernte und beschaffte und sahnte ab.
Dann gelang ihm der große Durchbruch, auf den Hobie noch immer voller Stolz zurückblickte. Das Ganze war eine Reaktion auf verschiedene Probleme, mit denen er zu kämpfen hatte. Das erste Problem war der reine Arbeitsaufwand, den alles erforderte. Bestimmte Dinge auf Bestellung zu liefern war nicht so einfach. Gesunde Mädchen zu finden wurde sehr schwierig, und Jungfrauen gab es überhaupt keine mehr. Sich stetigen Nachschub an Drogen zu sichern war riskant. Andere Dinge waren zeitraubend. Schmuckwaffen, VC-Souvenirs, anständige Stiefel - alle diese Dinge waren nur mühsam zu beschaffen. Neue Offiziere, die turnusmäßig nach Vietnam versetzt wurden, torpedierten seinen Mädchenhandel in der Etappe.
Das zweite Problem war die aufkommende Konkurrenz. Hobie stellte fest, dass er nicht mehr der Einzige war. Andere Kerle drängten ins Geschäft. Allmählich bildete sich ein freier Markt heraus. Es kam vor, dass seine Deals abgelehnt wurden. Leute gingen weg und behaupteten, andere Bezugsquellen seien günstiger. Für Hobie war das ein ziemlicher Schock.
Wandel und Anpassung. Er ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, verbrachte einen langen Abend damit, auf seinem schmalen Feldbett zu liegen und angestrengt nachzudenken. So schaffte er den Durchbruch. Wozu bestimmte Waren aufspüren, deren Beschaffung schon schwierig war und immer schwieriger werden würde? Wozu beispielsweise zu irgendeinem Vorposten hinausfahren und einen Sanitäter fragen, was er im Tausch für einen präparierten VC-Schädel wollte? Wozu dann losziehen, das verdammte Zeug beschaffen, dem Sanitäter bringen und dafür den Schädel erhalten? Wozu mit all diesem Krempel handeln? Warum nicht einfach mit der gewöhnlichsten und in ganz Südvietnam am weitesten verbreiteten Ware handeln?
Amerikanische Dollars. Hobie wurde Geldverleiher. Später, als er sich von seiner schweren Verwundung erholt und Zeit zum Lesen hatte, lächelte er wehmütig darüber. Das war eine geradezu klassische Entwicklung gewesen. Primitive Gesellschaften beginnen mit Tauschhandel und schreiten später zu einer Geldwirtschaft fort. Die amerikanische Präsenz in Vietnam hatte als primitive Gesellschaft begonnen, das stand fest. Primitiv, improvisiert, desorganisiert, einfach nur im Schlamm dieses schrecklichen Landes hockend. Im Lauf der Zeit war sie dann größer, stabiler und reifer, also erwachsen geworden, und Hobie war der Erste seiner Art, der mit ihr erwachsen wurde. Der Erste und sehr lange der Einzige seiner Art. Darauf war er mächtig stolz. Es bewies, dass er mehr konnte als die anderen. Dass er cleverer, einfallsreicher, besser imstande war, sich zu verändern, sich anzupassen und erfolgreich zu sein.
Cash war der Schlüssel zu allem. Wollte jemand Stiefel oder Heroin oder ein Mädchen, das ihm irgendein verlogenes Schlitzauge als zwölfjährige Jungfrau anpries, konnte er es sich mit Geld kaufen, das er sich von Hobie lieh. Er konnte sich seinen Wunsch heute erfüllen und nächste Woche dafür bezahlen - mit ein paar Prozent Zinsen. Hobie brauchte einfach nur dazuhocken wie eine fette, träge Spinne in ihrem Netz. Keine Lauferei. Keine Scherereien. Er dachte viel über sein neues Geschäft nach. Erkannte frühzeitig die psychologische Bedeutung von Zahlen. Kleine Zahlen wie neun klangen harmlos und freundlich. Neun Prozent wurde sein Standardzinssatz. Scheinbar eine Bagatelle. Neun, nur ein kleiner Krakel auf einem Stück Papier. Eine einstellige Zahl. Weniger als zehn. Praktisch gar nichts. So sahen es die anderen GIs. Aber neun Prozent pro Woche waren vierhundertachtundsechzig Prozent im Jahr. Ließ jemand den ersten Rückzahlungstermin verstreichen, kamen Zinseszinsen dazu. Dann wurden aus vierhundertachtundsechzig Prozent verdammt schnell tausend Prozent und mehr. Aber das merkte niemand. Niemand außer Hobie. Alle sahen nur die Zahl neun, eine einstellige Zahl, klein und freundlich.
Der erste säumige Schuldner war ein großer Kerl, primitiv, brutal, nicht sonderlich intelligent. Hobie lächelte nur. Erließ ihm die Schuld, schrieb sie ab. Schlug ihm vor, sich für diese Großzügigkeit dadurch zu revanchieren, dass er sich mit ihm zusammentat und die Rolle des Schuldeneintreibers übernahm. Danach gab es keine säumigen Schuldner mehr. Sich die wirksamste Abschreckungsmethode auszudenken war nicht leicht. Mit einem gebrochenen Arm oder Bein kam der Betreffende lediglich in ein Feldlazarett weit hinter der Front, wo er von amerikanischen Krankenschwestern umgeben war, die vielleicht sogar mit ihm bumsten, wenn er irgendeine heldenhafte Geschichte erfand, wie er zu seiner Verwundung gekommen war. Mit einem komplizierten Bruch konnte er sogar für dienstunfähig erklärt und in die Staaten zurückgeschickt werden. Das war ganz und gar nicht abschreckend. Deshalb ließ Hobie seinen Schuldeneintreiber Punji-Spikes verwenden. Die waren eine Erfindung des Vietcong: kleine, spitze Bambusstäbe wie Fleischspieße, die in giftigen Büffelmist getaucht wurden. Der Vietcong pflanzte sie in flachen Mulden auf, damit GIs hineintraten und sich schwer heilende Fußverletzungen zuzogen. Der Schuldeneintreiber spezialisierte sich darauf, sie säumigen Zahlern durch die Hoden zu treiben. Hobies Klientel war mehrheitlich der Ansicht, es lohne sich nicht, die langfristigen medizinischen Konsequenzen zu riskieren - auch nicht, wenn man dafür seine Schulden los war und die Uniform ausziehen konnte.
Als Hobie sich das Gesicht verbrannte und die rechte Hand verlor, war er ein schwerreicher Mann. Sein nächster Coup bestand darin, sein Vermögen unentdeckt und vollständig in die Heimat zu schaffen. Das hätte nicht jeder gekonnt. Nicht unter den besonderen Umständen, in denen er sich damals befand. Das ebenso wie sein weiterer Werdegang bewies seine wahre Größe. Er gelangte auf verschlungenen Pfaden nach New York, verkrüppelt und entstellt, und fühlte sich sofort wie zu Hause. Manhattan war ein Dschungel, nicht anders als der Indochinas. Deshalb sah Hobie keinen Grund, sich hier anders zu verhalten, sein Geschäft nicht fortzuführen. Diesmal jedoch begann er mit einem riesigen Geschäftskapital. Er musste nicht wieder bei null anfangen.
Er war jahrelang als Kredithai tätig. Er baute dieses Geschäft groß aus. Er besaß das Kapital und ein entsprechendes Image. Seine Brandnarben und der Haken machten optisch viel her. Er beschäftigte Unmengen von Helfern. Er beutete ganze Generationen von Einwanderern und Armen aus. Er wehrte die Italiener ab, die ihm Konkurrenz machen wollten. Er bestach Scharen von Polizeibeamten und Staatsanwälten, um unsichtbar zu bleiben.
Dann schaffte er den zweiten großen Durchbruch. Mit dem ersten vergleichbar. Eine Folge radikalen Umdenkens. Die Lösung eines Problems. Das Problem war der schier aberwitzige Umfang seines Geschäfts. Hobie verdiente auf der Straße Millionen, aber nur mit Kleinbeträgen. Tausende von einzelnen Deals, hundert Dollar hier, hundertfünfzig dort, neun oder zehn Prozent pro Woche, fünfhundert oder tausend Prozent im Jahr. Viel Papierkram, viel Ärger, ständig auf Hochtouren, damit das Geschäft lief. Dann erkannte er plötzlich: weniger könnte mehr sein. Fünf Prozent pro Woche, die ein Unternehmen für eine Million Dollar zahlte, waren mehr wert als fünfhundert Prozent für irgendwelchen Scheiß im Straßengeschäft. Diese neue Idee setzte er mit fieberhaftem Eifer um. Er verlieh kein Geld mehr und zog die Daumenschrauben an, um sämtliche Außenstände einzutreiben. Er kaufte sich Anzüge und mietete ein großes Büro. So wurde er über Nacht zum Kreditgeber für in Schwierigkeiten geratene Unternehmen.
Das war ein Geniestreich. Er bewegte sich in der Grauzone herkömmlicher Geschäftsgepflogenheiten. Dort fand er eine große Klientel von Kreditnehmern, die gerade im Begriff waren, unter das bei Banken als akzeptabel geltende Bonitätsniveau abzurutschen. Eine riesige Klientel. Eine verzweifelte Klientel. Vor allem eine verweichlichte Klientel. Weiche Ziele.
Von kultivierten Männern in Anzügen, die wegen einer Million Dollar zu ihm kamen, ging viel weniger Gefahr aus als von einem Typen im schmuddeligen Unterhemd, der einen Hunderter wollte, während hinter der Tür seiner Wohnung in einer Mietskaserne ein bissiger Hund kläffte. Weiche Ziele, leicht einzuschüchtern. Nicht mit den harten Realitäten des Lebens vertraut. Hobie entließ seine Schuldeneintreiber, lehnte sich zurück und beobachtete, wie seine Klientel auf eine Hand voll zusammenschrumpfte, die durchschnittliche Darlehenssumme sich ums Millionenfache erhöhte, seine Zinssätze sprunghaft stiegen und seine Gewinne in ungeahnte Höhen schossen. Weniger ist mehr.
Das war ein wunderbares neues Geschäft. Natürlich gab es gelegentlich Probleme. Aber sie waren leicht zu beherrschen. Hobie änderte seine Abschreckungstaktik. Diese kultivierten neuen Darlehensnehmer waren durch ihre Familien verwundbar. Ehefrauen, Töchter, Söhne. Im Allgemeinen genügte schon die Drohung. In einzelnen Fällen musste etwas unternommen werden. Das machte häufig Spaß. Weiche Ehefrauen und Töchter aus Suburbia konnten amüsant sein. Ein zusätzlicher Bonus. Insgesamt ein herrliches Geschäft, das er seiner ständigen Bereitschaft verdankte, sich anzupassen und zu verändern. Tief in seinem Innern wusste er, dass seine Flexibilität seine größte Stärke war. Hobie hatte sich vorgenommen, diese Tatsache nie zu vergessen. Deshalb saß er jetzt allein in seinem Büro, droben im siebenundachtzigsten Stock, horchte auf die leisen Hintergrundgeräusche des riesigen Gebäudes, dachte angestrengt nach und änderte seinen bisherigen Plan.
Fünfzig Meilen weiter nördlich, in Pound Ridge, änderte auch Marilyn Stone ihren bisherigen Plan. Sie war eine kluge Frau. Sie wusste, dass Chester in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Sonst kam nichts in Frage. Er hatte keine Affäre mit einer anderen Frau. Ehemänner, die eine Affäre haben, senden bestimmte Signale aus, die bei Chester jedoch fehlten. Und er hatte sonst keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Also steckte er finanziell in der Klemme.
Ursprünglich hatte sie ausharren wollen. Vorläufig nichts tun und auf den Tag warten, an dem sein Bedürfnis, ihr alles zu erzählen, endlich übermächtig werden würde. Erst dann hatte sie vorgehabt, die Initiative zu ergreifen. Von diesem Zeitpunkt an konnte sie die Situation unabhängig davon managen, welche Ausmaße sie annehmen würde: Überschuldung, Zahlungsunfähigkeit oder sogar Bankrott. Frauen verstanden sich darauf, Situationen zu meistern. Besser als Männer. Sie konnte die praktischen Maßnahmen ergreifen, sie konnte den erforderlichen Trost gewähren, sie konnte sich ihren Weg durch die Ruinen bahnen, ohne die egozentrische Hoffnungslosigkeit zu empfinden, in der Chester bestimmt versinken würde.
Aber jetzt änderte sie ihren Plan. Sie durfte nicht länger zuwarten. Chester sorgte sich fast zu Tode. Deshalb würde sie eingreifen und etwas dagegen unternehmen. Mit ihm reden zu wollen, hatte keinen Zweck. Er neigte instinktiv dazu, Probleme zu verheimlichen. Wollte sie auf keinen Fall beunruhigen. Er würde alles abstreiten, und die Situation würde sich weiter zuspitzen. Also musste sie die Initiative ergreifen und selbstständig handeln. Zu seinem wie zu ihrem Besten.
Der nahe liegende erste Schritt war, das Haus über einen Makler zum Verkauf anzubieten. Unabhängig davon, wie schlimm ihre Finanzmisere tatsächlich war, konnte es notwendig werden, das Haus zu verkaufen. Ob der Verkaufserlös ausreichen würde, wusste sie nicht. Er konnte das Problem allein lösen - oder auch nicht. Jedenfalls lag es nahe, als Erstes das Haus zu verkaufen.
Als in Pound Ridge lebende reiche Frau hatte Marilyn gute Verbindungen zur Immobilienbranche. Eine Sprosse tiefer auf der Statusleiter, wo die Frauen wohlhabend waren, ohne reich zu sein, arbeiteten viele bei Immobilienmaklern. Sie hatten Teilzeitjobs, die sie als eine Art Hobby hinzustellen versuchten, als interessierten sie sich mehr für Einrichtungsfragen als für bloßen Kommerz. Marilyn fielen sofort vier Freundinnen ein, die sie anrufen konnte. Ihre Hand lag auf dem Telefonhörer, während sie sich noch überlegte, für welche sie sich entscheiden sollte. Ihre Wahl fiel auf eine Frau namens Sheryl, die sie von allen vieren am wenigsten kannte, aber für die fähigste Maklerin hielt. Sie nahm die Sache mit dem Hausverkauf ernst, und das erwartete sie auch von ihrer Maklerin. Sie wählte die Nummer.
»Marilyn«, antwortete Sheryl. »Wie nett, mal wieder von dir zu hören. Was kann ich für dich tun?«
Marilyn holte tief Luft.
»Wir wollen vielleicht das Haus verkaufen«, sagte sie.
»Und damit kommst du zu mir? Marilyn, ich danke dir. Aber wieso um Himmels willen denkt ihr ans Verkaufen? Ihr wohnt dort draußen so herrlich. Wollt ihr etwa wegziehen?«
Marilyn holte erneut tief Luft. »Ich fürchte, Chester steht kurz vor der Pleite. Ich möchte nicht weiter darüber reden, aber ich denke, es wird höchste Zeit, einen Notfallplan auszuarbeiten.«
Am anderen Ende gab es keine Pause. Kein Zögern, keine Verlegenheit.
»Das ist sehr klug gehandelt«, meinte Sheryl. »Die meisten Leute klammern sich viel zu lange an ihren Besitz und müssen ihn dann überstürzt verschleudern.«
»Die meisten Leute? Kommt das oft vor?«
»Soll das ein Witz sein? Solche Fälle erleben wir ständig. Lieber rechtzeitig der Wahrheit ins Auge sehen und den realen Wert erzielen. Glaub mir, du machst das richtig. Aber Frauen tun das meist, Marilyn, weil wir mit solchen Dingen besser klarkommen als Männer, stimmt’s?«
Marilyn atmete erleichtert auf und lächelte ins Telefon. Hatte das Gefühl, das Rechte zu tun und mit Sheryl die richtige Wahl getroffen zu haben.
»Ich nehme es sofort in unsere Liste auf«, sagte Sheryl. »Ich schlage vor, einen Dollar unter zwei Millionen zu verlangen und eins Komma neun Millionen anzustreben. Das ist erzielbar, und bei diesem Preis müsste sich schnell ein Interessent finden.«
»Wie schnell?«
»Auf dem heutigen Markt?«, sagte Sheryl. »In eurer Wohnlage? Sechs Wochen? Ja, ich denke, wir können praktisch garantieren, dass innerhalb von sechs Wochen ein Angebot auf dem Tisch liegt.«
Dr. McBannerman blieb weiter ängstlich, was Verstöße gegen die ärztliche Schweigepflicht betraf, und obwohl sie ihnen die Adresse von Mr. und Mrs. Hobie gab, wollte sie die Telefonnummer der beiden Alten nicht herausrücken. Jodie konnte darin keine Logik erkennen, aber da es die Ärztin zufrieden zu stellen schien, bestand sie nicht weiter darauf. Sie schüttelte McBannerman nur die Hand und hastete dann durch den Wartebereich und zu ihrem Wagen, sodass Reacher Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
»Bizarr«, sagte sie zu ihm. »Hast du all diese Leute gesehen?«
»Klar«, antwortete Reacher. »Alte Leute, halb tot.«
»So hat Dad gegen Ende auch ausgesehen. Genauso schlimm. Und ich vermute, dass es mit dem alten Mr. Hobie genauso ist. Was können sie gemeinsam ausgeheckt haben, dass deswegen jetzt Leute umgebracht werden?«
Sie setzten sich in den Bravada, und Jodie griff vom Beifahrersitz aus nach links, um ihr Autotelefon aus der Halterung zu nehmen. Reacher ließ den Motor an, damit die Klimaanlage ansprang. Sie rief die Auskunft an. Die Hobies lebten nördlich von Garrison in Brighton, der nächsten Kleinstadt an der Bahnstrecke. Sie notierte sich die Telefonnummer auf einem Stück Papier aus ihrer Handtasche und wählte sie anschließend. Das Telefon klingelte endlos lange, dann meldete sich eine Frauenstimme.
»Ja?«, sagte diese zögernd.
»Mrs. Hobie?«, fragte Jodie.
»Ja?«, wiederholte die zitternde Stimme. Jodie stellte sich eine gebrechliche Greisin vor, weißhaarig, mager, vermutlich in einem geblümten Morgenrock, die in einem dunklen, alten Haus, in dem es nach abgestandenem Essen und Möbelpolitur roch, einen uralten Telefonhörer umklammert hielt.
»Mrs. Hobie, ich bin Jodie Garber, Leon Garbers Tochter.«
»Ja?«, wiederholte die Frau.
»Ich muss Ihnen leider sagen, dass mein Vater letzte Woche gestorben ist.«
»Ja, ich weiß«, sagte die alte Frau. Das klang betrübt. »Die Sprechstundenhilfe hat’s uns erzählt, als wir gestern bei Dr. McBannerman waren. Das hat mir sehr leidgetan. Er war ein feiner Mensch und sehr nett zu uns. Er hat uns geholfen. Und er hat uns von Ihnen erzählt. Sie sind Anwältin, nicht wahr? Mein herzliches Beileid.«
»Danke«, erwiderte Jodie. »Aber können Sie mir sagen, wobei er Ihnen geholfen hat?«
»Nun, das spielt jetzt keine Rolle mehr, oder?«
»Nein? Warum nicht?«
»Nun, weil Ihr Vater gestorben ist«, sagte die Frau. »Er war wirklich unsere letzte Hoffnung, wissen Sie.«
Das klang aufrichtig. Sie sprach leise. Ihre Stimme ging am Satzende resigniert nach unten.
»Vielleicht doch nicht«, sagte sie. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Am andern Ende herrschte Schweigen. Jodie hörte nur ein leises Summen.
»Nun, das glaube ich nicht«, erklärte die Frau. »Das ist eine Sache, mit der Rechtsanwälte normalerweise nichts zu tun haben, wissen Sie.«
»Worum geht’s denn überhaupt?«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr, glaube ich«, wiederholte Mrs. Hobie.
»Können Sie’s mir nicht wenigstens so ungefähr sagen?«
»Nein, das ist jetzt vorbei, denke ich«, sagte die alte Frau, traurig.
Danach herrschte wieder Schweigen. Jodie sah durch die Windschutzscheibe zu McBannermans Praxis hinüber. »Aber wie hat mein Vater Ihnen helfen können? Durch spezielle Kenntnisse, die nur er besaß? Weil er bei der Army gewesen ist? Hängt’s damit zusammen? Vermute ich richtig, dass es irgendwas mit der Army zu tun hatte?«
»Nun, ja, das war’s. Deswegen fürchte ich, dass Sie als Anwältin uns nicht helfen könnten. Wir haben’s schon mit Anwälten versucht, wissen Sie. Wir brauchen jemanden, der Verbindungen zur Army hat. Trotzdem vielen Dank für Ihr Angebot. Das war sehr nett von Ihnen.«
»Es gibt noch jemanden«, bemerkte Jodie rasch. »Er sitzt gerade neben mir. Er hat in der Army lange mit meinem Vater zusammengearbeitet. Er wäre bereit, Ihnen zu helfen, wenn er kann.«
Schweigen. Nur das leise Summen und die Atemzüge der alten Frau. Als denke sie angestrengt nach. Als brauche sie Zeit, um sich auf eine veränderte Situation einzustellen.
»Er heißt Major Reacher«, sagte Jodie in die Stille hinein. »Vielleicht hat mein Vater von ihm gesprochen? Die beiden waren viele Jahre gemeinsam beim Militär. Mein Vater hat nach ihm geschickt, als ihm klar wurde, dass er nicht mehr lange würde weitermachen können.«
»Er hat nach ihm geschickt?«, wiederholte die Frau.
»Ja, ich denke, mein Vater hat sich vorgestellt, er könnte kommen und ihn sozusagen ablösen, Sie wissen schon, Ihnen weiter behilflich sein.«
»War dieser neue Mann auch bei der Militärpolizei?«
»Ja. Ist das wichtig?«
»Weiß ich nicht genau«, sagte Mrs. Hobie.
Sie verstummte wieder. Aus dem Hörer drangen nur schwere Atemzüge.
»Kann er uns hier besuchen?«, fragte sie plötzlich.
»Wir kommen beide«, antwortete Jodie. »Wär’s Ihnen recht, wenn wir sie gleich besuchen?«
Wieder eine Pause. Mrs. Hobie atmete, dachte nach.
»Mein Mann hat gerade seine Medizin eingenommen«, sagte sie. »Er schläft jetzt. Er ist sehr krank, wissen Sie.«
Jodie nickte am Telefon. Öffnete und schloss frustriert ihre freie Hand.
»Mrs. Hobie, können Sie uns nicht erzählen, worum es bei dieser Sache geht?«
Schweigen. Atmen, nachdenken.
»Das soll Ihnen lieber mein Mann sagen. Ich denke, er kann’s besser erklären als ich. Das ist eine lange Geschichte, und ich bringe sie manchmal durcheinander.«
»Okay, wann ist er wieder wach?«, fragte Jodie. »Sollen wir etwas später vorbeischaun?«
Erneut eine Pause.
»Er schläft meistens durch, wenn er seine Medizin genommen hat«, erklärte die alte Frau. »Eigentlich ein Segen. Kann der Freund Ihres Vaters gleich morgen früh kommen?«
Hobie benutzte die Spitze seines Hakens, um die Sprechtaste der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch zu drücken. Beugte sich nach vorn und sprach mit dem Rezeptionisten. Er redete den Kerl mit seinem Vornamen an, was eine für Hobie ungewöhnliche Vertraulichkeit war, die im Allgemeinen durch Stress verursacht wurde.
»Tony«, sagte er. »Wir müssen miteinander reden.«
Tony kam von der Empfangstheke im Vorzimmer herein und setzte sich Hobie gegenüber aufs mittlere Sofa.
»Garber war der Kerl, der nach Hawaii geflogen ist«, sagte er.
»Weißt du das bestimmt?«, fragte Hobie ihn.
Tony nickte. »American Airlines. White Plains nach Chicago, Chicago nach Honolulu, fünfzehnter April. Rückflug am nächsten Tag, sechzehnter April, gleiche Route. Mit American Express bezahlt. Ist alles in ihrem Computer.«
»Aber was hat er dort gewollt?«, fragte Hobie, fast als spreche er mit sich selbst.
»Das wissen wir nicht«, murmelte Tony. »Aber wir können es uns denken, oder?«
Danach herrschte sorgenvolles Schweigen. Tony beobachtete die unverbrannte Hälfte von Hobies Gesicht, wartete auf eine Reaktion.
»Ich habe aus Hanoi gehört«, sagte Hobie in die Stille hinein.
»Mein Gott, wann?«
»Vor zehn Minuten.«
»O Gott, Hanoi!«, sagte Tony »Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
»Dreißig Jahre«, meinte Hobie. »Und jetzt ist’s passiert.«
Tony stand auf und trat ans Fenster. Spreizte seine Finger, um zwei Lamellen der Jalousie auseinander zu drücken. Ein Streifen Nachmittagssonne fiel in den Raum.
»Jetzt musst du wirklich abhauen. Die Sache ist viel zu gefährlich geworden.«
Hobie sagte nichts. Er umklammerte den Haken mit den Fingern der linken Hand.
»Du hast’s versprochen«, sagte Tony drängend. »Schritt eins, Schritt zwo. Und sie sind passiert. Jetzt sind beide Schritte passiert, verdammt noch mal!«
»Sie werden trotzdem einige Zeit brauchen«, wandte Hobie ein. »Hab ich Recht? Im Augenblick wissen sie noch gar nichts.«
Tony schüttelte den Kopf. »Garber war kein Idiot. Er hat irgendetwas gewusst. Für seine Hawaiireise muss er gute Gründe gehabt haben.«
Hobie setzte die Muskeln seines linken Arms ein, um den Haken an sein Gesicht zu führen. Er ließ den glatten, kalten Stahl über das Narbengewebe gleiten. Manchmal konnte diese Berührung das schmerzhafte Jucken etwas lindern.
»Was ist mit diesem Reacher?«, fragte er. »Irgendwelche Fortschritte?«
Tony starrte mit zusammengekniffenen Augen durch den Lamellenspalt.
»Ich habe in St. Louis angerufen«, sagte er. »Reacher war ebenfalls bei der Militärpolizei, hat fast dreizehn Jahre unter Garber gedient. Vor zehn Tagen hat sich schon mal jemand nach ihm erkundigt. Ich tippe auf Costello.«
»Aber warum?«, fragte Hobie. »Die Familie Garber bezahlt Costello dafür, dass er einen alten Kumpel aus der Army aufspürt? Weshalb? Was zum Teufel steckt dahinter?«
»Keine Ahnung«, sagte Tony »Der Kerl ist ein Rumtreiber. Er hat dort unten Swimmingpoollöcher gegraben.«
Hobie nickte vage. Er dachte angestrengt nach.
»Ein Militärpolizist«, sagte er wie zu sich selbst. »Der sich jetzt in der Welt herumtreibt.«
»Du solltest abhauen«, wiederholte Tony
»Ich mag die Militärpolizei nicht«, sagte Hobie.
»Ich weiß.«
»Was hat dieser Hundesohn von einem Schnüffler also hier zu suchen?«
»Du solltest abhauen«, sagte Tony zum dritten Mal.
Hobie nickte.
»Ich bin flexibel«, entgegnete er. »Das weißt du.«
Tony nahm die Hand aus dem Lamellenspalt. Der Raum wurde wieder dunkel. »Ich verlange nicht, dass du flexibel bist. Ich will, dass du ausführst, was du schon immer geplant hast.«
»Ich habe meinen Plan geändert. Ich will bei Stone noch abkassieren.«
Tony ging um den Schreibtisch herum und ließ sich wieder aufs Sofa fallen. »Du darfst nichts riskieren. Verdammt, jetzt sind beide Anrufe eingegangen - Vietnam und Hawaii.«
»Das weiß ich«, sagte Hobie. »Deshalb habe ich den Plan nochmals geändert.«
»Zurück zum ursprünglichen Plan?«
Hobie zuckte mit den Schultern, dann schüttelte er den Kopf. »Zu einer Kombination aus beiden. Wir verschwinden, das ist klar, aber erst nachdem ich Stone abkassiert habe.«
Tony ließ seufzend seine Hände auf die Sitzpolster fallen. »Sechs Wochen sind viel zu lange. Garber war schon auf Hawaii, verdammt noch mal! Bei der Militärpolizei soll er ein ganz gerissener Ermittler gewesen sein. Und er muss irgendwas herausgefunden haben, denn warum wäre er sonst hingeflogen?«
Hobie nickte langsam. »Er hat irgendwas gewusst, das akzeptiere ich. Aber er ist krank geworden und gestorben. Und er hat sein Wissen mit ins Grab genommen. Warum würde seine Tochter sich sonst mit einem zweitklassigen Privatdetektiv und einem arbeitslosen Rumtreiber verbünden?«
»Was hast du also vor?«
Hobie ließ den Haken unter die Schreibtischkante sinken, legte sein Kinn in die linke Hand und glitt mit den gespreizten Fingern nach oben über seine Narben. Das war eine Haltung, die er unbewusst einnahm, wenn er kompromissbereit und nicht bedrohlich wirken wollte.
»Auf Stones Millionen kann ich nicht verzichten«, sagte er. »Das siehst du doch ein, oder? Sie liegen praktisch auf der Straße, warten nur darauf, dass jemand sie aufhebt. Würde ich auf sie verzichten, müsste ich mir für den Rest meines Lebens Vorwürfe machen. Das wäre Feigheit. Abzuhauen ist clever, das gestehe ich dir zu, aber zu früh abzuhauen, bevor man wirklich verschwinden muss, wäre Feigheit. Und ich bin kein Feigling, Tony. Das weißt du genau.«
»Was hast du also vor?«, wiederholte Tony
»Wir tun beides, aber beschleunigt. Ich stimme dir zu, dass sechs Wochen zu lang wären. Wir müssen schon früher verschwinden. Aber wir wollen Stones Millionen mitnehmen, deshalb bringen wir die ganze Sache schneller zum Ende.«
»Okay, wie?«
»Ich werfe die Aktien noch heute auf den Markt«, sagte Hobie. »Sie werden anderthalb Stunden vor Börsenschluss verkauft. Die Zeit müsste reichen, um die Banken zu alarmieren. Morgen früh wird Stone fuchsteufelswild hier aufkreuzen. Ich bin morgen nicht da, also erzählst du ihm, was wir von ihm wollen - und was wir tun werden, wenn wir’s nicht bekommen. In spätestens drei, vier Tagen gehört der ganze Krempel uns. Für die Grundstücke auf Long Island suche ich schon vorher einen Käufer, damit dort draußen keine Verzögerung eintritt. Und du machst inzwischen hier den Laden dicht.«
»Okay, wie?«, fragte Tony nochmals.
Hobie sah sich in seinem dunklen Büro um.
»Wir lassen hier einfach alles stehen und liegen. Damit vergeuden wir fünf Monatsmieten, aber was soll’s? Die beiden Arschlöcher, die ich auf Costello angesetzt hatte, sind kein Problem. Der eine legt heute Nacht den anderen um, und du arbeitest mit ihm zusammen, bis er mir diese Mrs. Jacob gebracht hat, und liquidierst dann sie und ihn gemeinsam. Wir verkaufen das Boot, verkaufen die Autos, hauen ab und verschwinden spurlos. Das dauert höchstens eine Woche. Nur eine Woche. So viel Zeit haben wir noch, stimmt’s?«
Tony nickte. Beugte sich nach vorn, war bei der Aussicht, dass sich etwas bewegte, erleichtert.
»Was ist mit diesem Reacher? Der kann uns noch Schwierigkeiten machen.«
Hobie zuckte mit den Schultern. »Für ihn habe ich einen eigenen Plan.«
»Den Kerl finden wir nicht«, sagte Tony. »Nicht in einer Woche. Wir haben einfach nicht die Zeit, ihn lange zu suchen.«
»Wir brauchen ihn nicht zu finden.«
Tony starrte ihn an. »Doch, das müssen wir, Boss. Sonst macht er uns später Schwierigkeiten.«
Hobie schüttelte den Kopf. Dann nahm er die Hand vom Kinn und legte seinen Haken wieder auf die Schreibtischplatte. »Ich weiß eine bessere Methode. Kein Grund, Energie für die Suche nach ihm zu vergeuden. Ich lasse mich von ihm finden. Und das tut er. Ich weiß, wie Militärpolizisten sind.«
»Und was passiert dann?«
Hobie grinste.
»Dann lebt er weiter glücklich und zufrieden«, sagte er. »Noch mindestens dreißig Jahre.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Reacher,
Sie standen noch immer auf dem Parkplatz vor McBannermans Praxis, der Motor lief im Leerlauf, und die Klimaanlage kämpfte gegen die Hitze an. Im Augenblick war Reacher ein glücklicher Mann, für den sich ein alter Wunsch erfüllte. In der Vergangenheit hatte er sich oft ausgemalt, wie es sein würde, sie wieder zu treffen, wenn sie erwachsen war. Er hatte nicht damit gerechnet, sie wiederzusehen, und geglaubt, seine Gefühle für sie würden im Lauf der Zeit erkalten. Aber jetzt saß er neben Jodie, atmete ihren Duft ein und bewunderte heimlich ihre ausgestreckten langen Beine. »Da gibt’s ein Problem«, sagte sie. »Ich kann morgen unmöglich zu den Hobies fahren und schon wieder einen Tag blaumachen. Wir haben dringende Termine, und ich muss meine Stunden ableisten.«
Fünfzehn Jahre. War das eine lange oder eine kurze Zeit? Konnte sie einen Menschen verändern? Reacher kam diese Zeit kurz vor. Er fühlte sich nicht viel anders als vor fünfzehn Jahren. Er war derselbe Mensch, hatte die gleichen Gedanken, besaß dieselben Fähigkeiten wie früher. In diesen Jahren hatte er sich einen Schatz an Erfahrungen angeeignet, war älter, abgeklärter, aber noch immer derselbe Mann. Aber Jodie musste sich verändert haben. Ihre fünfzehn Jahre bedeuteten einen größeren Sprung, hatten mehr Veränderungen mit sich gebracht. Highschool, College, Law School, Heirat, Scheidung, Karriere. Deshalb hatte er das Gefühl, sich auf unbekanntem Terrain zu bewegen, und wusste nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. In seinem Kopf konkurrierten drei verschiedene Vorstellungen von ihr miteinander: die von dem Mädchen Jodie, das er vor fünfzehn Jahren gekannt hatte, dann von der Frau, zu der sie sich seiner Meinung nach entwickeln würde, und zuletzt von der Person, die sie tatsächlich geworden war. Er kannte das Mädchen. Er kannte die Erwachsene, die er in seiner Phantasie erfunden hatte. Aber die Realität kannte er nicht, und das machte ihn unsicher, weil er plötzlich das Bedürfnis hatte, im Umgang mit ihr dumme Fehler zu vermeiden.
»Du wirst allein rausfahren müssen«, sagte sie. »Ist das okay?«
»Klar«, entgegnete er. »Aber darum geht’s hier nicht. Du musst dich in Acht nehmen.«
Sie nickte. Steckte die Hände in die Ärmel ihres Sweatshirts und drückte sie an den Oberkörper. Er wusste nicht, warum.
»Ich komme schon zurecht, denke ich.«
»Wo ist dein Büro?«
»Wall Street und Lower Broadway«
»Dort wohnst du, stimmt’s? Lower Broadway?«
Sie nickte. »Dreizehn Blocks. Ich gehe meist zu Fuß.«
»Morgen nicht«, sagte er. »Ich fahre dich hin.«
Sie wirkte überrascht. »Das tust du?«
»Unbedingt!«, sagte er. »Dreizehn Blocks zu Fuß? Kommt nicht in Frage, Jodie. Zu Hause kann dir nicht viel passieren, aber sie könnten dich auf der Straße entführen. Was ist mit deinem Büro? Ist es sicher?«
Sie nickte wieder. »Dort kommt niemand ohne Anmeldung und ohne sich auszuweisen hinein.«
»Okay«, sagte er. »Ich übernachte also bei dir, und morgen früh fahre ich dich von Tür zu Tür. Dann komme ich hierher zurück, um mit dem Ehepaar Hobie zu reden, und du kannst im Büro bleiben, bis ich dich wieder abhole und nach Hause bringe, okay?«
Sie äußerte sich nicht dazu. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er eben gesagt hatte.
»Ich meine, du hast doch bestimmt ein Gästezimmer, oder nicht?«
»Klar«, sagte sie.
»Dann kann ich also bei dir übernachten?«
Sie nickte wortlos.
»Okay, was machen wir jetzt?«, wollte er wissen. Jodie wandte sich ihm auf dem Beifahrersitz zu und musterte ihn von oben bis unten. Dann lächelte sie.
»Wir sollten einkaufen gehen.«
»Einkaufen? Was denn? Was brauchst du?«
»Nichts«, sagte sie. »Aber du brauchst was.«
Er runzelte besorgt die Stirn. »Was denn?«
»Klamotten«, erklärte Jodie. »Du kannst diese alten Leute doch nicht in diesem Aufzug besuchen.«
Sie beugte sich vor und berührte die Schmauchspur an seinem Hemd mit einer Fingerspitze.
»Und wir sollten eine Apotheke suchen. Du brauchst etwas für deine Brandwunde.«
»Was, zum Teufel, machen Sie?«, brüllte der Finanzdirektor.
Er stand an der Tür zu Chester Stones Büro, zwei Etagen über seinem, hielt sich mit beiden Händen am Türrahmen fest und keuchte vor Zorn und Anstrengung. Er hatte nicht erst auf den Aufzug gewartet, sondern war die Feuertreppe hinaufgerannt. Stone starrte ihn verständnislos an.
»Sie Idiot!«, kreischte der andere. »Ich habe Sie davor gewarnt, das zu tun.«
»Wovor gewarnt?«, fragte Stone.
»Aktien zu verkaufen!«, rief der Finanzdirektor, »Davor habe ich Sie ausdrücklich gewarnt.«
»Ich habe nichts dergleichen getan«, erwiderte Stone. »Von uns sind keine Aktien auf dem Markt.«
»Doch, verdammt noch mal«, fluchte der andere. »Ein Riesenpaket, das einfach nur daliegt. Die Leute machen einen weiten Bogen darum, als sei es radioaktiv verseucht oder sonst was.«
»Was?«
Der Finanzmensch holte tief Luft. Starrte seinen Arbeitgeber an. Sah einen kleinen Mann in einem lächerlichen englischen Anzug zusammengesunken an einem Schreibtisch sitzen, der jetzt allein um einiges mehr wert war als das gesamte Unternehmen.
»Sie Arschloch, ich habe Sie davor gewarnt, das zu tun! Warum schalten Sie nicht einfach eine Anzeige im Wall Street Journal und geben bekannt: He, Leute, mein Unternehmen ist bloß noch Scheiße wert?«
»Wovon reden Sie überhaupt?«, fragte Stone.
»Bei mir ruft eine Bank nach der anderen an«, schimpfte der Finanzdirektor. »Sie verfolgen, was an der Börse passiert. Vor einer Stunde ist ein großes Paket Stone-Aktien auf den Markt geworfen worden, und der Kurs fällt schneller, als die verdammten Computer mithalten können. Die Aktien sind unverkäuflich. Sie haben diesen Leuten eine klare Botschaft übermittelt, verdammt noch mal. Sie haben ihnen gesagt, dass Sie pleite sind. Sie haben ihnen gesagt, dass Sie ihnen sechzehn Millionen Dollar gegen Sicherheiten schulden, die keine verdammten sechzehn Cent wert sind.«
»Ich habe keine Aktien auf den Markt geworfen«, beteuerte Stone.
Der Finanzdirektor nickte sarkastisch.
»Natürlich nicht. Aber wer, zum Teufel, sonst? Die böse Fee aus dem Märchen?«
»Hobie«, sagte Stone. »Der muss es gewesen sein. Gott, warum nur?«
»Hobie?«, wiederholte der andere.
Stone nickte.
»Hobie?«, fragte der Finanzmensch ungläubig. »Scheiße, Sie haben ihm Aktien gegeben?«
»Das musste ich«, sagte Stone. »Sonst hätte ich das Darlehen nicht bekommen.«
»Scheiße«, sagte der andere wieder. »Merken Sie, worauf er’s anlegt?«
Stone machte ein verständnisloses Gesicht, dann nickte er besorgt. »Was können wir dagegen tun?«
Der Finanzdirektor nahm die Hände vom Türrahmen und kehrte Stone den Rücken zu.
»Wir tun überhaupt nichts. Mit wir ist Schluss. Ich kündige fristlos. Ich bin ab sofort nicht mehr da. Sie können selbst sehen, wie Sie zurechtkommen.«
»Aber Sie haben mir den Kerl empfohlen!«, rief Stone.
»Ich habe Ihnen nicht empfohlen, ihm Aktien zu geben, Sie Arschloch!«, brüllte der Finanzmensch. »Was sind Sie eigentlich? Unzurechnungsfähig? Hätte ich Ihnen einen Besuch im Aquarium bei den Piranhas empfohlen, würden Sie dann Ihren verdammten Finger ins Becken halten?«
»Sie müssen mir helfen«, flehte Stone ihn an.
Der andere schüttelte den Kopf. »Damit müssen Sie allein fertig werden. Ich kündige fristlos. Ich rate Ihnen, in mein ehemaliges Büro runterzugehen. Auf meinem ehemaligen Schreibtisch stehen mehrere Telefone, die alle klingeln. Ich rate Ihnen, mit dem anzufangen, das am lautesten läutet.«
»Warten Sie!«, rief Stone. »Ich brauche Ihre Hilfe!«
»Gegen Hobie?«, fragte der Finanzdirektor. »Ich bin doch nicht verrückt, Mann!«
Dann war er fort. Er wandte sich einfach ab, ging durchs Vorzimmer und verschwand. Stone kam hinter seinem Schreibtisch hervor, blieb an der Tür stehen und sah ihm nach. In der Bürosuite war es still. Seine Sekretärin war schon gegangen. Früher als sonst. Die Verkaufsabteilung rechts war verlassen, die Werbeabteilung links ebenso. Die Fotokopierer schwiegen. Er fuhr mit dem Aufzug die beiden Stockwerke hinunter. Die Suite des Finanzdirektors war leer. Schubladen standen offen. Persönliche Dinge waren mitgenommen worden. Er ging ins große Büro. Die italienische Schreibtischlampe brannte. Der Computer war ausgeschaltet. Die Telefonhörer lagen auf der Schreibtischplatte aus Rosenholz. Er griff wahllos nach einem davon.
»Hallo?«, sagte er in den Hörer. »Hier Chester Stone.«
Das wiederholte er zweimal, dann meldete sich eine Frauenstimme, die ihn bat, am Apparat zu bleiben. Er hörte ein Klicken und Summen. Sekundenlang beruhigende Musik.
»Mr. Stone?«, fragte eine andere Stimme. »Hier ist die Insolvenzabteilung.«
Stone schloss die Augen und umklammerte den Hörer.
»Bitte bleiben Sie am Apparat, der Direktor möchte Sie sprechen.«
Dann wieder Musik.
»Mr. Stone?«, fragte eine tiefe Stimme. »Hier ist der Direktor.«
»Hallo«, sagte Stone nur. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen.
»Wir ergreifen Maßnahmen«, erklärte die Stimme. »Sie werden unsere Position sicher verstehen.«
»Okay«, erwiderte Stone. Was für Maßnahmen?, dachte er. Schadensersatzklagen? Haftstrafen?
»Morgen früh bei Geschäftsbeginn müssten wir über den Berg sein«, sagte die Stimme.
»Über den Berg? Wie denn?«
»Wir verkaufen unsere Forderungen natürlich.«
»Verkaufen?«, wiederholte Stone leise. »Das verstehe ich nicht.«
»Wir wollen sie nicht mehr«, sagte die Stimme. »Dafür haben Sie sicher Verständnis. Dieses Engagement hat sich in eine Richtung entwickelt, die nicht mehr mit unseren Geschäftsprinzipien vereinbar ist. Deshalb verkaufen wir unsere Forderungen. Das ist ganz normal, nicht wahr? Leute, die etwas besitzen, das sie nicht mehr haben wollen, verkaufen es meistbietend.«
»An wen verkaufen Sie Ihre Forderungen?«, fragte Stone beklommen.
»An eine Treuhandgesellschaft auf den Cayman Islands. Sie hat uns ein Angebot gemacht.«
»Was bedeutet das für unsere Geschäftsbeziehungen?«
»Unsere Geschäftsbeziehungen?«, wiederholte die Stimme verständnislos. »Die sind ab sofort beendet. Sie haben uns gegenüber keine Verpflichtungen mehr. Es gibt auch keine Geschäftsbeziehungen mehr. Ich kann Ihnen nur raten, nicht zu versuchen, sie wieder zu beleben. Damit würden Sie alles nur noch schlimmer machen.«
»Wer ist also jetzt mein Gläubiger?«
»Die Treuhandgesellschaft auf den Cayman Islands«, sagte die Stimme geduldig. »Ich denke, dass die Leute, die hinter ihr stehen, sich sehr bald mit einem Tilgungsvorschlag bei Ihnen melden werden.«
Jodie fuhr wieder. Reacher stieg aus, ging um die Motorhaube herum und stieg rechts ein. Sie rutschte über die Mittelkonsole und ließ ihren Sitz nach vorn gleiten. Fuhr an den im Glanz der Sonne liegenden Stauseen bei Croton vorbei nach Süden in Richtung White Plains. Reacher sah sich immer wieder um, suchte die Straße hinter ihnen ab. Keine Verfolger. Nichts Verdächtiges. Nur ein sonniger, zum Faulenzen einladender Juninachmittag auf dem Land. Er musste die Brandblase unter seinem Hemd berühren, um sich daran zu erinnern, dass überhaupt etwas passiert war.
In White Plains steuerte sie auf ein großes Einkaufszentrum zu: ein Riesengebäude von der Größe eines Stadiums, kaum niedriger als die Hochhäuser, die es umgaben, im Schnittpunkt mehrerer belebter Straßen. Sie wechselte mehrmals die Spur und folgte dann einer weit geschwungenen Abfahrt in die Tiefgarage hinunter. Dort herrschte trübes Halbdunkel, aber in der Ferne war ein Eingang aus Messing und Glas zu erkennen, der direkt in eine Ladenpassage führte und strahlend hell erleuchtet war. Jodie fand knapp fünfzig Meter davon entfernt eine Parklücke. Sie stellte den Wagen ab, stieg aus, ging zum Parkautomaten und kam mit einem kleinen Schein zurück, den sie so aufs Instrumentenbrett legte, dass die Parkzeit durch die Windschutzscheibe zu lesen war.
»Okay«, sagte sie. »Womit fangen wir an?«
Reacher zuckte mit den Schultern. In den vergangenen zwei Jahren hatte er jede Menge Kleidung gekauft, weil er sich angewöhnt hatte, sich neue Sachen anzuschaffen, statt das alte Zeug zu waschen. So brauchte er sich nicht mit irgendwelchem Gepäck abzumühen - und vor allem nicht zu lernen, wie man Wäsche wusch. Er wusste, dass es Waschsalons und chemische Reinigungen gab, schreckte aber davor zurück, ganz allein in einem Waschsalon zu stehen und keine Ahnung zu haben. Und Sachen in die Reinigung zu bringen, bedeutete, dass man später wieder in diesen Laden zurückkommen musste. Am einfachsten war es, neue Dinge zu kaufen und die alten wegzuwerfen. Also hatte er sich Klamotten gekauft, ohne darauf zu achten, aus welchem Geschäft sie stammten.
»In Chicago bin ich mal in einem Laden gewesen«, sagte er. »Das war eine Ladenkette, glaube ich, irgendein kurzer Name. Hole? Gap? Etwas in dieser Art. Dort hatten sie die richtigen Größen.«
Jodie lachte. Hängte sich bei ihm ein.
»Du meinst Gap«, sagte sie. »Eine Gap-Filiale gibt’s auch hier.«
Die Tür aus Messing und Glas führte direkt in ein Kaufhaus. Die klimatisierte Luft roch aufdringlich nach Seifen und Parfüms. Sie durchquerten die Kosmetikabteilung und gelangten zu Wühltischen mit pastellfarbenen Sommerkleidern. Dann traten sie in die Fußgängerzone des Einkaufszentrums hinaus. Sie war oval wie eine Rennbahn und von kleinen Geschäften umgeben; diese Anordnung wiederholte sich auf zwei weiteren Ebenen über ihnen. Der Boden war mit Teppichboden ausgelegt, aus Lautsprechern kam Musik, überall herrschte Gedränge.
»Die Gap-Filiale liegt eine Ebene höher, glaube ich«, sagte Jodie.
Reacher roch Kaffee. Genau gegenüber lag ein Coffee Shop, der als italienisches Straßencafe eingerichtet war.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte er.
Jodie schüttelte den Kopf. »Erst kaufen wir ein, dann trinken wir Kaffee.«.
Sie führte ihn zu einer Rolltreppe. Reacher lächelte. Er wusste genau, was sie empfand. So hatte er sich vor fünfzehn Jahren ebenfalls gefühlt. Damals hatte sie ihn nervös und zögerlich auf einem Rundgang durchs Militärgefängnis Manila begleitet. Für ihn war das ein Routinebesuch auf vertrautem Terrain gewesen, wirklich nichts Besonderes. Aber neu und fremdartig für sie. Es hatte ihm Spaß gemacht, sie herumzuführen und ihr alles zu zeigen. Diesmal hatte sie den Spaß dabei, und er war jetzt ein Fremder auf ihrem Terrain.
»Wie wär’s mit diesem Laden hier?«, fragte sie.
Das war keine Gap-Filiale, sondern ein Geschäft für Designerklamotten, das sich mit verwitterten Schindeln und grob behauenen Balken aus einer alten Scheune einen rustikalen Anstrich gab. Die aus schwerem Baumwollstoff angefertigten Sachen in gedämpften Farben waren kunstvoll auf den Ladeflächen alter Pferdewagen drapiert.
Er zuckte mit den Schultern. »Sieht okay aus, finde ich.«
Sie nahm ihn an der Hand. Ihre Hand in seiner fühlte sich gut an. Jodie führte ihn hinein, strich sich ihr Haar hinter die Ohren und machte sich daran, das Angebot zu begutachten. Sie stellte verschiedene Kombinationen zusammen. Eine Hose, noch zusammengefaltet, wurde unten an ein Hemd gelegt. Seitlich darüber kam ein leichtes Sakko, unter dem Hemd und Hose aber noch zu sehen waren. Halb geschlossene Augen, nach vorn geschobene Lippen. Ein Kopfschütteln. Ein anderes Hemd. Dann ein Nicken. Das war richtiges Einkäufen.
»Was hältst du davon?«, fragte sie.
Sie hatte eine Khakihose ausgesucht. Dazu ein unauffällig grünbraun kariertes Hemd und ein dunkelbraunes Leinensakko, das hervorragend zu Hemd und Hose passte.
»Sieht okay aus, finde ich«, wiederholte er.
Die Preise standen auf handgeschriebenen kleinen Preisschildern, die an einem Stück Schnur an den Kleidungsstücken hingen. Er schnippte eines davon mit dem Fingernagel an.
»O Gott«, sagte er. »Kommt nicht in Frage.«
»Das Zeug ist’s wert«, meinte sie. »Gute Qualität.«
»Ich kann’s mir nicht leisten, Jodie.«
Allein das Hemd kostete mehr, als Reacher jemals für eine vollständige Kombination ausgegeben hatte. Wollte er sich in diesem Laden einkleiden, musste er dafür einen Tageslohn als Swimmingpool-Ausschachter hinblättern. Zehn Stunden, vier Tonnen Sand, Kies und Erde.
»Ich schenk’s dir.«
Er stand mit dem Hemd in der Hand da, zögerte.
»Erinnerst du dich an die Halskette?«, fragte sie.
Allerdings, Reacher nickte. Damals in Manila hatte Jodie ihr Herz an eine Halskette gehängt, die sie bei einem Juwelier entdeckt hatte. Eine schlichte Goldkette, wie ein Seil geflochten, ägyptisch angehaucht. Nicht wirklich teuer, aber für sie unerschwinglich. Leon, der sich gerade einbildete, sie müsse Selbstdisziplin lernen, war nicht bereit, sie ihr zu kaufen. Also hatte Reacher es getan. Nicht zum Geburtstag oder dergleichen, sondern nur weil er Jodie gern hatte und sie sich diese Kette wünschte.
»Ich dachte, ich müsste vor Glück platzen«, sagte sie. »Ich hab sie noch immer, trage sie noch immer. Also lass mich sie dir zurückzahlen, okay?«
Er dachte darüber nach. Nickte.
»Okay«, sagte er.
Sie konnte es sich leisten. Sie war Anwältin. Verdiente bestimmt ein Vermögen. Und das war ein fairer Tausch, wenn man die Kosten in Bezug zum Einkommen setzte und fünfzehn Jahre Inflation berücksichtigte.
»Okay«, sagte er nochmals. »Danke, Jodie.«
»Du brauchst auch Socken und so, stimmt’s?«
Sie suchten ein Paar khakifarbene Socken und weiße Boxershorts aus. Dann ging Jodie an die Kasse und bezahlte alles mit einer goldenen Karte. Reacher verschwand mit den Sachen in einer Umkleidekabine, riss die Preisschilder ab und zog sich um. Er steckte das Geld in eine Tasche der neuen Hose und warf die alten Klamotten in einen Abfalleimer. Das neue Zeug war noch ein bisschen steif, aber der Spiegel zeigte ihm, dass es ziemlich gut zu seiner Sonnenbräune passte. Er trat wieder aus der Kabine.
»Hübsch«, sagte Jodie. »Jetzt zur Apotheke.«
Er erstand einen Rasierer und eine Dose Rasierschaum, eine Zahnbürste und Zahncreme. Und eine kleine Tube Brandsalbe. Zahlte alles selbst und klemmte es sich in einer braunen Papiertüte unter den Arm. Auf dem Weg zur Apotheke waren sie an einem Steakrestaurant vorbeigekommen, aus dem es appetitlich duftete.
»Komm, gehen wir statt ins Cafe lieber zum Essen«, schlug er vor. »Ich lade dich ein.«
»Okay«, sagte sie und hakte sich wieder unter.
Das Abendessen für zwei Personen kostete so viel wie das neue Hemd, was er nicht zu teuer fand. Sie ließen sich bei Nachtisch und Kaffee Zeit, und als sie aus dem Restaurant kamen, schlossen einige der kleineren Geschäfte bereits.
»Okay, nach Hause«, sagte er. »Und ab jetzt verhalten wir uns wirklich vorsichtig.«
Sie gingen durchs Kaufhaus. Reacher ließ Jodie in der Nähe der Tür aus Messing und Glas warten, während er in die Garage vorausging. Dass ihnen hier jemand auflauerte, war unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. Sie gingen zu dem Bravada, wo Jodie sich wieder ans Steuer setzte. Er stieg neben ihr ein.
»Wie würdest du normalerweise zurückfahren?«
»Von hier aus? Über den FDR Drive.«
»Gut«, sagte er, »fahr in Richtung LaGuardia, dann kommen wir über Brooklyn rein. Über die Brooklyn Bridge.«
Sie hob die Augenbrauen. »Ist das dein Ernst? Willst du den Touristen spielen?«
»Regel Nummer eins«, sagte er. »Voraussehbare Dinge sind gefährlich. Gibt’s eine Route, die du normalerweise fahren würdest, nehmen wir heute eine andere.«
»Im Ernst?«
»Allerdings. Schließlich habe ich früher von Personenschutz für VIPs gelebt.«
»Ich bin jetzt eine VIP?«
»Allerdings«, wiederholte er.
Eine Stunde später war es bereits Nacht, die beste Zeit für eine Fahrt über die Brooklyn Bridge. Reacher kam sich tatsächlich wie ein Tourist vor, als sie die bogenförmige Rampe hinauffuhren, über den erhöhten Mittelteil der Brücke rollten und plötzlich Lower Manhattan mit seinen Millionen Lichtern vor sich hatten. Eine der größten Sehenswürdigkeiten der Welt, fand er - und er hatte schon viele gesehen.
»Fahr ein paar Blocks weit nach Norden«, sagte er. »Wir holen etwas weiter aus. Falls uns jemand auflauert, rechnet er damit, dass wir auf dem kürzesten Weg zurückkommen.«
Sie fuhr rechts ab und auf der Lafayette Street nach Norden. Bog zweimal links ab und war nun auf dem Broadway nach Süden unterwegs. Die Ampel an der Leonard Street stand auf Rot. Reacher suchte den im Neonlicht vor ihnen liegenden Broadway ab.
»Drei Blocks«, sagte Jodie.
»Wo parkst du sonst?«
»Tiefgarage unter dem Gebäude.«
»Okay, dann biegst du eine Straße vorher ab«, sagte er. »Ich sehe mich dort um. Du kommst wieder vorbei und sammelst mich auf. Warte ich nicht auf dem Gehsteig, fährst du zu den Cops.«
Sie bog nach rechts in die Thomas Street ein, hielt dort und ließ ihn aussteigen. Reacher schlug mit der flachen Hand leicht aufs Wagendach, und sie fuhr weiter. Er ging um die Ecke und fand das Gebäude, in dem sie wohnte. Es war ein großes quadratisches Haus mit renoviertem Eingangsbereich, schwerer Glastür, Sicherheitsschloss und fünfzehn senkrecht übereinander angeordneten Klingelknöpfen, neben denen Namensschilder in kleinen Plastikhülsen steckten. Auf dem Schild von Apartment zwölf stand Jacob/Garber, als wohnten darin zwei Personen. Auf der Straße befanden sich Leute, die in kleinen Gruppen beieinander standen oder langsam vorbeischlenderten, aber niemand, der verdächtig aussah. Die Einfahrt zur Tiefgarage lag etwas weiter den Gehsteig entlang. Dort führte eine Rampe steil ins Halbdunkel. Er ging hinunter. Die Tiefgarage war still und schlecht beleuchtet. Hier unten gab es zwei Reihen zu je acht Stellplätzen, insgesamt fünfzehn, weil die Rampe zur Straße hinauf dort lag, wo der sechzehnte Platz gewesen wäre. Elf Wagen waren geparkt. Er überzeugte sich davon, dass niemand irgendwo lauerte. Dann lief er die Rampe hinauf und zur Thomas Street zurück, schlängelte sich durch den Verkehr, überquerte die Straße und wartete auf der anderen Seite. Jodie kam in südlicher Richtung über die Kreuzung auf ihn zu. Sie sah ihn, hielt am Randstein und ließ ihn einsteigen.
»Alles klar«, sagte er.
Sie fuhr weiter, bog dann rechts ab und rollte die Rampe hinunter. Ihre Scheinwerfer hüpften und schwankten. Sie hielt in der Mitte zwischen den beiden Reihen und parkte den Bravada rückwärts ein. Stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus.
»Wie kommen wir zu dir rauf?«, fragte er.
Sie deutete nach vorn. »Tür zum Eingangsbereich.«
Eine Metalltreppe mit fünf oder sechs Stufen führte zu einer Brandschutztür hinauf, die zusätzlich mit einer Stahlplatte verstärkt war. In dieser Tür war das gleiche Sicherheitsschloss wie in der Glastür zur Straße eingelassen. Sie stiegen aus und sperrten das Auto ab. Reacher trug Jodies Reisetasche. Sie gingen die wenigen Stufen zur Tür hinauf. Jodie schloss auf, und er öffnete die Tür. Die Eingangshalle war leer. Der Lift befand sich gegenüber.
»Ich wohne im dritten Stock«, sagte sie.
Er drückte auf vier.
»Wir kommen von oben die Treppe herunter«, sagte er. »Für alle Fälle.«
Sie benutzten die Feuertreppe und erreichten den dritten Stock. Reacher ließ Jodie auf dem Absatz warten, während er auf den Flur hinausspähte. Der menschenleere Korridor war hoch und schmal. Apartment zehn lag links, elf rechts und zwölf geradeaus vor ihm.
»Also los«, sagte er.
Ihre massive Wohnungstür war schwarz lackiert. Spion in Augenhöhe, zwei Sicherheitsschlösser. Jodie sperrte auf und ließ ihn eintreten. Sie schloss hinter ihnen ab und legte eine breite Stahlstange, die an einem Ende beweglich gelagert war, vor die Tür. Reacher drückte sie fester in ihre Halterung. War diese Stahlstange vorgelegt, kam hier niemand herein. Er stellte die Reisetasche ab. Jodie knipste das Licht an und wartete an der Tür, während er einen Rundgang durch die Wohnung machte. Diele, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, Gästezimmer, Bad, Einbauschränke. Große Räume, alle sehr hoch. Nirgends ein Mensch. Er kam ins Wohnzimmer zurück, ließ sein neues Sakko von den Schultern gleiten, warf es auf einen Sessel und drehte sich entspannt lächelnd zu Jodie.
Aber sie war nicht entspannt, wich seinem Blick aus. Sie stand an der Tür des Wohnzimmers und trat nervös von einem Bein aufs andere. Er hatte keine Ahnung, was plötzlich in sie gefahren war.
»Alles in Ordnung?«, wollte er wissen.
»Ich gehe jetzt unter die Dusche«, sagte sie, »und dann sofort in die Falle.«
»Verdammt anstrengender Tag, was?«
»Unglaublich.«
Jodie ging auf ihrem Weg durch den Raum seitlich um ihn herum und achtete darauf, Abstand zu halten. Sie bedachte ihn mit einem schüchternen Winken.
»Wann müssen wir aufstehen?«, fragte er.
»Sieben Uhr reicht«, antwortete sie.
»Okay«, sagte er. »Gute Nacht, Jodie.«
Sie nickte und verschwand in den Flur. Reacher starrte ihr überrascht nach. Er hörte, wie ihre Schlafzimmertür geöffnet und geschlossen wurde. Dann ließ er sich aufs Sofa fallen und zog seine Schuhe aus. Er war viel zu überdreht, um gleich schlafen zu können, deshalb wanderte er auf Socken herum und besichtigte das Apartment.
Es war nicht wirklich ein Loft, sondern nur eine Wohnung in einem alten Gebäude mit sehr hohen Räumen. Vermutlich eine ehemalige Fabrik, die in Apartments umgewandelt worden war. Die Außenmauern bestanden aus sandgestrahlten Ziegeln, die Innenwände waren weiß verputzt, die Fenster riesig.
Teile der Wände hatten ihre warme Ziegelfarbe behalten, aber alles andere außer dem Fußboden aus hellen Marmorstreifen war weiß. Der Raum wirkte kühl und neutral wie eine Galerie. Nichts ließ darauf schließen, dass hier jemals mehr als ein Mensch gelebt hatte. Nirgends Anzeichen für unterschiedliche Geschmacksrichtungen. Alles sehr einheitlich durchgestylt. Weiße Sofas, weiße Sessel, weiß lackierte Bücherregale. Dicke Heizungsrohre und hässliche Radiatoren, ebenfalls weiß gestrichen.
Der einzige farbige Akzent im Wohnzimmer war die Kopie eines Gemäldes von Mondrian, die an der Wand über dem größten Sofa hing. Eine ausgezeichnete Kopie, von Hand mit Ölfarben auf Leinwand gemalt und in den richtigen Farbtönen gehalten. Keine grellen Rot-, Gelb- und Blautöne, sondern die gedämpften Farben des Originals mit authentischen Haarrissen und kleinen Sprüngen in dem Weiß, das fast ein helles Grau war. Er blieb lange davor stehen und starrte es bewundernd an. Piet Mondrian war sein absoluter Favorit unter den Malern und genau dieses Gemälde sein Lieblingsbild. Es trug den Titel Komposition mit Rot, Gelb und Blau. Mondrian hatte es 1930 gemalt, und Reacher hatte es in Zürich ausgestellt gesehen.
Gegenüber dem kleinsten Sofa stand ein hohes Wandregal - ebenfalls weiß lackiert. Es enthielt einen kleinen Fernseher, einen Videorekorder, eine Kabelbox und eine Stereoanlage mit CD-Player und Kopfhörer. Daneben ein kleiner Stapel CDs, hauptsächlich Jazz aus den fünfziger Jahren - Musik, die Reacher mochte.
Die Wohnzimmerfenster führten auf den Lower Broadway hinaus. Von unten drangen das stetige Rauschen des Großstadtverkehrs, der grelle Lichtschein der Neonreklamen und manchmal das an- und abschwellende Heulen einer Sirene herauf. Er öffnete die Lamellen der Jalousie mit dem Plexiglasstab und sah auf den Gehsteig hinunter. Noch immer dieselben Leute, die in kleinen Gruppen beisammenstanden. Nichts, was ihn hätte nervös machen können. Er drehte den Stab in Gegenrichtung, um die Jalousie wieder zu schließen.
Die Küche war riesig und ebenso hoch wie die anderen Räume. Alle Möbel bestanden aus weiß lackiertem Holz, und die Haushaltsgeräte waren aus Edelstahl. Reacher hatte den Eindruck, in Löchern gehaust zu haben, die kleiner gewesen waren als Jodies Kühlschrank. Als er dessen Tür aufzog, entdeckte er ein Dutzend Flaschen des Mineralwassers, an dem er auf den Keys Geschmack gefunden hatte. Er öffnete eine Flasche und nahm sie mit ins Gästezimmer.
Auch das Gästezimmer war ganz in Weiß gehalten. Die Holzmöbel schienen ursprünglich eine andere Farbe gehabt zu haben, aber jetzt waren sie ebenso weiß wie die Wände. Reacher stellte die Mineralwasserflasche auf den Nachttisch und ging ins Bad. Weiße Fliesen, weißes Waschbecken, weiße Badewanne, weißes Duschbecken, überall altes Email und weiße Kacheln. Zurück im Zimmer, schloss er die Jalousie, zog sich aus und hängte seine neuen Sachen an die Kleiderhaken an der Tür. Schlug die Decke zurück, kroch ins Bett und geriet ins Grübeln.
Illusion und Wirklichkeit. Was machten neun Jahre schon aus? Vermutlich viel, als sie fünfzehn und er vierundzwanzig gewesen war - aber jetzt? Er war achtunddreißig und sie neunundzwanzig oder dreißig, das wusste er nicht genau. Wo lag also das Problem? Warum unternahm er nicht etwas? Vielleicht lag es nicht am Altersunterschied, sondern daran, dass sie Leons Tochter war, dass er sie immer so sehen würde - eine Mischung aus kleiner Schwester und Nichte. Dieses Gefühl war offenbar sehr hemmend, aber warum? Sie war doch nur die Verwandte eines alten, jetzt toten Freundes. Warum hatte er ein so schlechtes Gewissen, wenn er sie ansah und sich vorstellte, wie er ihr das Sweatshirt auszog und den Gürtel ihrer Jeans löste? Warum tat er’s nicht einfach? Was zum Teufel machte er im Gästezimmer, statt auf der anderen Seite der Wand mit ihr im Bett zu liegen? Wie er sich’s in der Vergangenheit in vielen schlaflosen Nächten immer ausgemalt hatte?
Weil ihre Vorstellung von ihm wahrscheinlich ähnlich war. Man brauchte nur kleine Schwester und Nichte durch großer Bruder und Onkel zu ersetzen. Lieblingsonkel, das stand fest, denn er wusste, dass sie ihn mochte. Ihre Zuneigung war nicht zu übersehen. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Lieblingsonkel hatten eine spezifische Funktion. Sie waren dazu da, mit ihren Nichten einkaufen zu gehen und sie zu verwöhnen. Sie waren nicht dazu da, einem Avancen zu machen. Dieser abscheuliche Verrat hätte Jodie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Abstoßend, unwillkommen.
Sie ist auf der anderen Seite der Wand. Aber daran konnte er nichts ändern. Nichts. Es würde nie dazu kommen. Er wusste, dass dieser Gedanke ihn zum Wahnsinn treiben würde, deshalb zwang er sich, an etwas anderes zu denken. An Dinge, die wirklich existierten, nicht bloß Illusionen waren. Zum Beispiel an die beiden Kerle, wer sie auch sein mochten. Sie würden inzwischen Jodies Adresse herausgefunden haben und konnten in diesem Moment unten vor dem Haus stehen. Reacher ging das Gebäude in Gedanken durch. Glastür zur Straße, abgesperrt. Tür zur Tiefgarage, abgesperrt. Wohnungstür, abgesperrt und verbarrikadiert. Fenster und Jalousien, alle geschlossen. Heute Nacht konnte ihnen nichts mehr passieren. Aber der kommende Morgen würde gefährlich werden. Vielleicht sehr gefährlich. Während Reacher einschlief, konzentrierte er sich in Gedanken auf die beiden Männer. Ihren Wagen, ihre Anzüge, ihren Körperbau, ihre Gesichter.
In genau diesem Augenblick hatte jedoch nur mehr einer der beiden Männer ein Gesicht. Sie waren miteinander zu einer Stelle zehn Meilen südlich von dem Gebäude, in dem Reacher lag, in die dunklen Gewässer des New Yorker Hafens hinausgefahren, hatten gemeinsam den Reißverschluss des Leichensacks aus gummiertem Gewebe aufgezogen und die starre Leiche der Sekretärin in die ölige Atlantikdünung gleiten lassen. Der eine Kerl hatte sich mit einer flapsigen Bemerkung nach dem anderen umgedreht, der ihm mit einer Beretta mit Schalldämpfer mitten ins Gesicht schoss. Dann noch mal und noch mal. Durch sein langsames Zusammensacken trafen alle drei Schüsse verschiedene Stellen. Sein Gesicht war eine einzige tödliche Wunde, schwarz in der Dunkelheit. Sein rechter Arm wurde über die Mahagonireling gezogen, die Hand mit einem aus einem Restaurant gestohlenen Hackbeil abgetrennt. Dafür waren fünf Hiebe nötig - eine blutige, brutale Arbeit. Die Hand kam in eine Plastiktüte, und die Leiche glitt keine zwanzig Meter von der Stelle entfernt, wo die Sekretärin bereits versank, lautlos ins nachtschwarze Wasser.