5

Aus verschiedenen Gründen trat Reacher als Erster aus der Haustür. Normalerweise hätte er Jodie den Vortritt gelassen, weil seine Generation sich noch daran erinnerte, was gute Manieren waren, aber er hatte gelernt, sich mit höflichen Gesten zurückzuhalten, bis er genau wusste, wie die Frau, mit der er zusammen war, in kritischen Situationen reagierte. Und dies war ihr Haus, nicht seines, was die Situation ohnehin veränderte. Jodie würde ihren Schlüssel benutzen müssen, um hinter ihnen abzusperren. Aus allen diesen Gründen war er deshalb der Erste, der das Haus verließ, und der Erste, den die beiden Kerle sahen.

Erledigt den großen Kerl und bringt mir Mrs. Jacob, hatte Hobie ihnen aufgetragen. Der Kerl links gab aus sitzender Position einen ungezielten Schuss ab. Da sein ganzer Körper angespannt und einsatzbereit war, brauchte sein Gehirn weit weniger als eine Sekunde, um die Informationen zu verarbeiten, die sein Sehnerv lieferte. Er spürte, dass die Haustür sich öffnete, er sah die Fliegengittertür nach außen schwingen, er sah jemanden aus der Tür treten, er sah, dass der große Kerl vorausging, und er schoss.

Der Kerl rechts befand sich in einer unglücklichen Position. Die knarrend aufgehende Fliegengittertür schlug ihm praktisch ins Gesicht. Sie war an sich kein Hindernis, weil dichtes Nylongewebe, das Insekten fern hält, keine Kugel stoppen kann, aber er war Rechtshänder, und der Türrahmen aus Metall befand sich auf direktem Kollisionskurs mit seiner rechten Hand, in der er die Pistole hielt. Das ließ ihn einen Augenblick zögern, bevor er hochschnellte und sich nach vorn warf, um hinter der Tür hervorzukommen. Er packte sie mit seiner linken Hand, zog sie an seinen Körper und reckte sich hinter ihr hervor, während er seine rechte Hand in Schussposition brachte.

Inzwischen reagierte Reacher unbewusst und instinktiv. Er war fast neununddreißig, seine Erinnerungen reichten vermutlich fünfunddreißig Jahre weit bis in seine Kindheit zurück, und diese Erinnerungen drehten sich ausschließlich um den Militärdienst: den seines Vaters, der Väter seiner Freunde, seinen eigenen, den seiner Freunde. Er hatte niemals Kontinuität gekannt, keine Schule länger als ein Jahr besucht, nie von Montag bis Freitag von neun bis fünf gearbeitet, war immer auf Überraschungen und Unvorhergesehenes gefasst. Und so erschien es ihm ganz normal, dass er in einer Kleinstadt im Bundesstaat New York aus einer Haustür trat und auf zwei Männer stieß, die er zuletzt zweitausend Meilen von hier entfernt auf den Keys gesehen hatte und die jetzt Neunmillimeter-Pistolen hochrissen, um ihn zu erschießen. Kein Schock, keine Überraschung, keine lähmende Angst oder Panik. Kein Abwarten, kein Zögern, keine Hemmungen. Nur eine blitzschnelle Reaktion auf ein zu lösendes Problem.

Der schwere Koffer befand sich in seiner linken Hand und schwang eben nach vorn, als er ihn über die Schwelle wuchtete. Reacher tat sofort zwei Dinge: Als Erstes setzte er diesen Schwung fort und benutzte die gesamte neue Kraft seiner linken Schulter, um den Koffer vorwärts und zugleich nach außen zu schwingen. Als Zweites wirbelte er seinen rechten Arm nach hinten, traf Jodie mit der Handfläche an der Brust und stieß sie in die Diele zurück. Sie taumelte rückwärts, und der nach oben schwingende Koffer fing die erste Kugel ab. Reacher spürte den Schlag in seiner Hand. Er riss ihn am Ende des Schwungs nach rechts, so dass der Koffer den linken Kerl seitlich am Kopf traf. Er hatte sich erst halb aufgerichtet, kauerte fast noch, befand sich in labiler Körperhaltung, und der Aufprall des Koffers ließ ihn rückwärts zu Boden gehen, sodass er von der Bildfläche verschwand.

Aber Reacher sah ihn nicht stürzen, denn sein Blick war bereits auf den anderen Kerl gerichtet, der sich um die Gittertür schlängelte und seine Pistole schon fast in Schussposition hochgerissen hatte. Reacher nutzte den Schwung des Koffers, um sich nach vorn zu werfen. Während er mit einem Sprung abtauchte, ließ er den Griff los und riss gleichzeitig seinen rechten Arm hinter sich hoch. Die Waffe schwang herum und prallte flach an seine Brust. Er hörte den Schussknall und spürte, wie das Mündungsfeuer ihm die Haut versengte. Die Kugel zischte unter seinem erhobenen linken Arm hindurch und schlug etwa in dem Augenblick in der Garage ein, in dem sein rechter Ellbogen das Gesicht des Kerls traf.

Ein kraftvoller Stoß, hinter dem die Wucht von hundertzehn Kilo Körpergewicht steckt, richtet großen Schaden an. Er wurde vom Rahmen der Fliegengittertür abgelenkt und traf den Kerl am Kinn. Der Schlag pflanzte sich nach hinten und oben durchs Kiefergelenk und mit fast unverminderter Wucht ins Gehirn fort. Die Art, wie er schlaff auf den Rücken fiel, zeigte Reacher, dass er für eine Weile außer Gefecht war. Dann begann die Fliegengittertür sich unter Federzug knarrend zu schließen, und der Kerl links krabbelte seitlich hinter seiner Waffe her, die über die Bretter des Podests vor der Haustür wegratterte. Jodie stand zusammengekrümmt in der Haustür, hielt sich mit beiden Händen die Brust und rang nach Atem. Der alte Koffer landete sich mehrmals überschlagend auf dem Rasen des Vorgartens.

Jodie war das Problem. Er war ungefähr zweieinhalb Meter von ihr entfernt, und der Kerl links befand sich zwischen ihnen. Bekam er die wegratternde Pistole zu fassen und riss sie mit der rechten Hand hoch, hatte er genau Jodie im Visier. Reacher hievte den Bewusstlosen zur Seite und stürzte sich auf die Haustür. Riss die Fliegengittertür auf und ließ sich über die Schwelle fallen. Schleppte Jodie einen Meter weit in die Diele und knallte die Tür zu. Sie bebte dreimal, als der Kerl hinter ihm herschoss, und ließ Staub und Holzsplitter auf ihn herab regnen. Er verriegelte das Schloss und zog Jodie mit sich in die Küche.

»Wie kommen wir in die Garage?«

»Durch die Tür dort drüben«, keuchte sie.

Jetzt im Juni waren die Sturmfenster herausgenommen, und der Durchgang war nur eine breite gepflasterte Passage zwischen Haus und Garage. Der zweite Kerl war mit einer Beretta M9 bewaffnet, mit fünfzehn Schuss, von denen er vier abgefeuert hatte: einen in den Koffer, drei in die Haustür. Also waren noch elf übrig - kein beruhigender Gedanke, wenn man nur ein paar Quadratmeter Nylongewebe zwischen sich hatte.

»Autoschlüssel?«

Sie kramte sie aus ihrer Handtasche. Seine Faust schloss sich um den Schlüsselbund. Die zweite Küchentür hatte einen Glaseinsatz, durch den auf der anderen Seite des Durchgangs eine identische Tür zu sehen war, die in die Garage führte.

»Ist die Tür dort drüben abgesperrt?«

Jodie nickte atemlos. »Der grüne Schlüssel. Grün wie Garage.«

Er sah sich den Schlüsselbund an. Ein alter Yale-Schlüssel war mit einem grünen Farbklecks markiert. Er zog die Küchentür auf, ging in die Hocke und streckte seinen Kopf ins Freie - tiefer, als jemand erwarten würde. Sah vorsichtig nach links und rechts. Keine Spur von dem Kerl, der irgendwo draußen lauern musste. Dann wählte er den grünen Schlüssel aus und nahm ihn wie eine winzige Lanze in die Hand. Richtete sich auf und spurtete los. Stoppte, rammte den Schlüssel ins Schlüsselloch, drehte ihn nach links und riss ihn wieder heraus. Stieß die Tür auf und winkte Jodie zu sich heran. Sie stürmte in die Garage, und er knallte die Tür hinter ihr zu. Sperrte sie ab und horchte. Kein Laut.

Die Garage war ein großer dunkler Raum mit offenem Dachstuhl und unverkleideten Fachwerkwänden, in dem es nach Motorenöl und Benzin roch. Sie stand voller Gerätschaften, die normalerweise in Garagen aufbewahrt werden - Rasenmäher, Gartenschläuche und Liegestühle. Aber alle diese Sachen waren alt: Besitztümer eines Mannes, der vor zwanzig Jahren aufgehört hatte, neue Geräte für Haus und Garten anzuschaffen. Deshalb lief auch das Schwingtor an einfachen Rollen zwischen gebogenen Führungsschienen. Kein Elektroantrieb. Keine Fernsteuerung. Der Fußboden bestand aus einem sauber gekehrten Zementestrich. Jodies Wagen war ein neuer Oldsmobile Bravada, dunkelgrün, goldene Zierstreifen. Er stand vorwärts eingeparkt im Dunkeln. Die Aufschriften an seinem Heck prahlten mit Allradantrieb und V-6-Motor. Der Allradantrieb konnte nützlich sein, aber entscheidend würde sein, wie schnell dieser V-6 ansprang.

»Du steigst hinten ein«, flüsterte er. »Leg dich auf den Boden, okay?«

Sie kroch mit dem Kopf voraus zwischen die Sitze und legte sich über den Kardantunnel. Reacher sperrte die Tür, durch die sie hereingekommen waren, wieder auf. Öffnete sie und sah vorsichtig hinaus. Horchte. Keine Bewegung, kein Laut. Dann ging er zum Wagen zurück, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und schaltete die Zündung ein, damit er den elektrisch verstellbaren Sitz ganz zurückfahren konnte.

»Bin gleich wieder da«, flüsterte er.

Garbers Werkbank war so penibel aufgeräumt wie sein Schreibtisch. An einer gut einmal anderthalb Meter großen Lochplatte hing ein vollständiges Werkzeugsortiment. Reacher entschied sich für einen schweren Hammer und nahm ihn vom Haken. Trat aus der Tür in den Durchgang, schwang seinen rechten Arm und warf den Hammer diagonal übers Haus, so dass er ins Unterholz krachte, das vom Arbeitszimmer aus zu sehen gewesen war. Er zählte langsam bis fünf, um dem Kerl Zeit zu lassen, das Geräusch wahrzunehmen, darauf zu reagieren und aus seinem gegenwärtigen Versteck darauf zuzurennen. Dann lief er zu dem Bravada zurück. Stand neben der offenen Tür und drehte den Zündschlüssel mit ausgestrecktem Arm nach rechts. Der Motor sprang sofort an. Reacher war mit wenigen Schritten am Garagentor und stieß es auf. Das Tor krachte ans Ende seiner Führungsschienen. Er sprang auf den Fahrersitz, knallte die Tür zu, stellte den Automatikhebel auf R und trat das Gaspedal durch. Alle vier Reifen quietschten, als der Wagen rückwärts aus der Garage schoss. Reacher sah flüchtig den Kerl mit der Beretta, der weit links von ihnen im Vorgarten stand und herumwirbelte, als er den Motor aufheulen hörte. Er raste im Rückwärtsgang die Zufahrt entlang bis zur Straße. Bremste scharf, schlug das Lenkrad ein, stellte den Hebel auf D und fuhr in einer bläulichen Wolke aus Reifenabrieb an.

Er beschleunigte jedoch nur etwa hundert Meter weit, dann nahm er den Fuß vom Gas. Ließ den Wagen an der Einfahrt des Nachbargrundstücks ausrollen. Stellte den Hebel wieder auf R, stieß rückwärts in die Einfahrt und lenkte den Bravada ins Unterholz, wo er von der Straße aus nicht zu sehen war.

Setzte sich auf und stellte den Motor ab. Hinter ihm rappelte Jodie sich zwischen den Sitzen hoch und starrte nach draußen.

»Was zum Teufel machen wir hier?«, fragte sie.

»Warten.«

»Worauf?«

»Dass die Typen abhauen.«

Sie schnappte halb empört, halb entgeistert nach Luft.

»Wir warten nicht, Reacher, wir fahren geradewegs zur Polizei!«

Er schaltete die Zündung wieder ein, damit er sein Fenster öffnen konnte. Ließ es ganz herunter, um nach draußen zu horchen.

»Ich kann mit dieser Sache nicht zur Polizei gehen«, sagte er, ohne sie anzusehen.

»Warum nicht, verdammt noch mal?«

»Weil sie mich verdächtigen würde, Costello ermordet zu haben.«

»Du hast ihn nicht ermordet.«

»Glaubst du, dass die Polizei mir das so ohne weiteres abnimmt?«

»Sie muss dir glauben, weil du’s nicht warst, so einfach ist das.«

»Könnte sein, dass sie länger braucht, um jemand zu finden, der eher dafür in Frage kommt.«

Jodie machte eine Pause. »Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass es für alle Beteiligten günstiger ist, wenn ich nicht zur Polizei gehe.«

Sie schüttelte den Kopf. Das sah er im Rückspiegel.

»Nein, Reacher, für diese Sache brauchen wir die Polizei.«

Er beobachtete sie weiter im Rückspiegel.

»Weißt du noch, was Leon immer gesagt hat? Er hat gesagt: ›Zum Teufel damit, ich bin die Polizei.‹«

»Nun, das war er, und du warst es auch. Aber das ist lange her.«

»Nicht so schrecklich lange.«

Sie machte wieder eine Pause. Rutschte auf dem Rücksitz nach vorn. Beugte sich zu ihm vor. »Du willst nicht zur Polizei gehen, stimmt’s? Das steckt dahinter, oder? Nicht dass du nicht kannst, sondern dass du einfach nicht willst.«

Er drehte sich auf dem Fahrersitz nach rechts, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Dabei stellte er fest, dass ihr Blick auf die versengte Stelle auf seinem Hemd gerichtet war - ein langer, tränenförmiger Brandfleck, schwarz und rußig von den Schmauchspuren, die in den Baumwollstoff eingedrungen waren. Er knöpfte sein Hemd auf und zog es aus der Hose. Auf seiner Brust zeichnete sich derselbe tränenförmige Fleck ab, die Haare waren angesengt und gekräuselt, und auf der geröteten Haut bildete sich bereits eine Brandblase. Er machte einen Finger nass, betastete sie vorsichtig und verzog das Gesicht.

»Wer sich mit mir anlegt, hat nichts zu lachen.«

Sie starrte ihn an. »Du bist wirklich unglaublich, weißt du das? Genauso schlimm wie Dad. Wir sollten zur Polizei gehen, Reacher.«

»Geht nicht«, sagte er. »Sie würde mich einlochen.«

»Wir sollten’s tun«, wiederholte sie.

Aber das klang schon schwächer. Er schüttelte den Kopf, ohne etwas zu antworten. Beobachtete sie genau. Jodie war Anwältin - aber sie war auch Leons Tochter und wusste, wie die Dinge in der realen Welt funktionierten. Sie schwieg längere Zeit, dann schüttelte sie hilflos den Kopf und legte eine Hand auf ihr Brustbein, als schmerze es.

»Alles in Ordnung?«, fragte er sie.

»Du hast nicht schlecht hingelangt«, antwortete sie.

Streicheln könnte ich dich besser, dachte er.

»Wer waren diese Typen?«, fragte sie.

»Die beiden haben Costello ermordet«, erwiderte er.

Jodie nickte. Dann seufzte sie. Ihre blauen Augen sahen nach links und rechts

»Also, wohin sind wir unterwegs?«

Reacher entspannte sich. Er lächelte sogar. »Wo suchen sie uns zuallerletzt?«

Sie zuckte mit den Schultern. Nahm die Hand vom Brustbein und strich damit ihr Haar glatt.

»Manhattan?«

»Im Haus«, sagte er. »Sie haben gesehen, dass wir abgehauen sind. Sie werden nie auf die Idee kommen, wir könnten kehrtmachen.«

»Du bist verrückt, weißt du das?«

»Wir brauchen den Koffer. Vielleicht hat Leon sich Notizen gemacht.«

Sie schüttelte benommen den Kopf.

»Und wir müssen wieder alles abschließen. Wir dürfen die Garage nicht offen stehen lassen. Sonst quartieren sich dort noch Waschbären ein. Ganze Familien von denen.«

Dann hob er warnend eine Hand. Legte den Zeigefinger auf die Lippen. Sie hörten einen Motor anspringen. Anscheinend ein großer V-8, etwa hundertfünfzig Meter entfernt. Im nächsten Augenblick war das Knirschen großer Reifen auf dem Kies der Einfahrt zu hören. Ein Brummen, als der Fahrer Gas gab. Dann huschte ein schwarzer Schatten durch ihr Gesichtsfeld. Ein großer Geländewagen mit Alufelgen. Ein Yukon oder Tahoe, je nachdem, ob am Heck GMC oder Chevrolet stand. Vorn im Wagen zwei Kerle, dunkle Anzüge, einer am Steuer, der andere auf dem Beifahrersitz zusammengesunken. Reacher streckte seinen Kopf ganz aus dem Fenster und lauschte auf das Motorengeräusch, bis es in Richtung Garrison verklang.


Chester Stone wartete über eine Stunde lang in seinem eigenen Büro, dann rief er unten an und ließ den Finanzdirektor bei der Bank nach dem Kontostand ihres Girokontos fragen. Vor fünfzig Minuten hatte eine auf den Bahamas residierende Treuhandgesellschaft durch ihr Büro auf den Cayman Islands telegrafisch eins Komma eine Million Dollar überweisen lassen.

»Das Geld ist da«, sagte der Finanzmensch, »Sie haben’s geschafft, Boss.«

Stone hielt den Hörer umklammert und fragte sich, was er eigentlich geschafft hatte.

»Ich komme gleich runter«, sagte er. »Will mir die Zahlen noch mal ansehen.«

»Die Zahlen sind in Ordnung«, beruhigte ihn der Finanzdirektor. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

»Ich komme trotzdem runter«, meinte Stone.

Er fuhr zwei Stockwerke mit dem Lift nach unten und betrat das luxuriöse Büro des Finanzdirektors. Gab das Kennwort ein und rief das Arbeitsblatt mit der geheimen Bilanz auf. Dann zog der Finanzmensch die Tastatur zu sich heran und tippte den letzten Stand ihres Girokontos ein. Die Software rechnete neu und wies dann für den Stichtag in sechs Wochen eine exakt ausgeglichene Bilanz aus.

»Sehen Sie?«, sagte der Finanzdirektor. »Bingo!«

»Was ist mit den Zinsen?«, wollte Stone wissen.

»Elf Mille pro Woche für sechs Wochen? Ziemlich happig, finden Sie nicht auch?«

»Können wir sie zahlen?«

Der andere nickte zuversichtlich. »Klar können wir das. Wir sind zwei Lieferanten dreiundsiebzig Mille schuldig. Das Geld liegt zur Überweisung bereit. ›Verlegen‹ wir die Rechnungen und fordern sie von den Firmen erneut an, können wir dieses Geld erst mal anders verwenden.«

Er tippte auf den Bildschirm, um Stone die Rückstellung für eingegangene Rechnungen zu zeigen.

»Zieht man von dreiundsiebzig Mille sechsmal elf Mille pro Woche ab, bleiben uns sieben übrig. Davon sollten wir ein paar Mal zum Abendessen ausgehen.«

»Lassen Sie’s noch mal durchrechnen, okay?«, bat Stone. »Zur Kontrolle.«

Der andere hob die Augenbrauen, ließ die Software aber erneut rechnen. Er subtrahierte die eins Komma eine Million, geriet damit in die roten Zahlen, addierte sie wieder und kam auf ein ausgeglichenes Ergebnis. Dann löste er die Rückstellung für Schulden bei Lieferanten auf, zog für jeweils sieben Tage elftausend Dollar ab und wies nach sechs Wochen einen Überschuss von siebentausend Dollar aus.

»Knapp«, sagte er. »Aber immerhin sind wir im Plus.«

»Wie zahlen wir den Kredit zurück?«, fragte Stone. »Nach sechs Wochen müssen wir eins Komma eine Million zur Verfügung haben.«

»Kein Problem«, sagte der Finanzdirektor. »Ich habe alles genau geplant. Das Geld ist rechtzeitig da.«

»Zeigen Sie’s mir, okay?«

»Also gut, sehen Sie hier?« Er tippte auf zwei Zeilen auf dem Monitor, die Außenstände betrafen. »Diese beiden Großhändler schulden uns eins Komma eins-sieben-drei Millionen, was zufällig exakt dem Darlehensbetrag und den ›verlegten‹ Rechnungen entspricht. Und diese Rechnungen sind in genau sechs Wochen fällig.«

»Zahlen sie rechtzeitig?«

Der andere zuckte mit den Schultern. »Nun, bisher haben Sie’s immer getan.«

Stone starrte den Bildschirm an. Sein Blick wanderte von oben nach unten, von links nach rechts.

»Rechnen Sie alles noch mal nach. Zur Sicherheit.«

»Kein Grund zur Sorge, Boss. Die Zahlen stimmen.«

»Machen Sie’s einfach, ja?«

Der Finanzmensch nickte. Schließlich war dies Stones Firma. Er ließ die Berechnung nochmals laufen und kam zum selben Ergebnis wie zuvor. Hobies eins Komma eine Million wurde von den Gehaltsschecks verschlungen, die beiden Lieferanten gingen vorerst leer aus, die Zinsen wurden gezahlt, die Zahlungen der Großhändler gingen ein, Hobie erhielt seine eins Komma eine Million zurück, die Lieferanten bekamen ihr Geld mit Verspätung, und zuletzt wies die Bilanz wieder einen lächerlich geringen Überschuss von siebentausend Dollar aus.

»Kein Grund zur Sorge«, wiederholte der Finanzdirektor. »Wir kommen hin.«

Während er die Zahlen auf dem Bildschirm anstarrte, fragte Stone sich, ob die überschüssigen siebentausend Dollar reichen würden, um Marilyn eine Europareise zu finanzieren. Vermutlich nicht. Jedenfalls keine sechswöchige Reise. Und sein Vorschlag hätte sie aufgeschreckt und beunruhigt. Sie hätte ihn gefragt, weshalb er sie nach Europa schickte. Und er hätte es ihr erzählen müssen. Sie war verdammt clever. Clever genug, um es irgendwie aus ihm rauszukriegen. Und dann hätte sie sich geweigert, nach Europa zu reisen - und hätte in den kommenden sechs Wochen ebenfalls jede Nacht wach gelegen.


Der Lederkoffer lag noch auf dem Rasen vor dem Haus. In einem der Seitenteile war ein Einschussloch zu sehen, aber es gab kein Ausschussloch. Die Kugel musste das Leder und den stabilen Sperrholzrahmen durchschlagen haben und in Leons Papieren stecken geblieben sein. Reacher lächelte zufrieden und trug ihn zu Jodie, die vor der Garage wartete.

Sie ließen den Bravada auf dem Vorplatz stehen und gingen durch die Garage ins Haus zurück. Schlossen das Schwingtor von innen und traten in den Durchgang hinaus. Sperrten die Seitentür der Garage mit dem grünen Schlüssel ab und liefen in die Küche hinüber. Schlossen auch diese Tür ab und kamen in der Diele an Jodies Reisetasche vorbei, die ihr aus der Hand gefallen war. Reacher trug den Koffer ins Wohnzimmer. Dort gab es mehr Licht und Platz als im Arbeitszimmer.

Er klappte den Kofferdeckel auf, nahm die Hängemappen heraus und legte sie auf den Fußboden. Die Kugel rutschte aus dem Papier und kullerte über den Teppich. Ein gewöhnliches Neunmillimeter-Parabellumgeschoss mit Kupfermantel. Von dem Sperrholzrahmen vorn leicht stumpf, aber ansonsten ohne Markierungen. Das Papier hatte es erst nach gut vierzig Zentimetern abgebremst. Reacher konnte sehen, dass das Geschoss sich durch etwa die Hälfte der Mappen gebohrt hatte.

Er wog es prüfend in der Hand, dann sah er, dass Jodie ihn von der Tür aus beobachtete. Er warf ihr die Kugel zu. Jodie fing sie mit einer Hand auf.

»Souvenir«, sagte er.

Sie jonglierte damit, als sei die Kugel heiß, und ließ sie in den offenen Kamin fallen. Kniete sich dann vor den Papieren neben ihn auf den Teppich, sodass ihre Hüften sich fast berührten. Ein Hauch von Parfüm stieg ihm in die Nase: ein ihm unbekannter, sehr femininer Duft. Das Sweatshirt war ihr zu groß, weit und formlos, aber es betonte ihre Figur trotzdem. Seine Ärmel reichten bis fast zu den Fingern. Ein Gürtel um ihre Levi’s schnürte die schmale Taille zusammen, und ihre schlanken Beine schienen sie nicht ganz auszufüllen. Sie wirkte zerbrechlich, aber der Schein trog. Als Jodie sich über die Papiere beugte, fiel ihr Haar nach vorn, und er roch wieder den frischen Duft.

»Was suchen wir?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir, wenn wir’s finden, denke ich.«

Sie gingen sorgfältig vor, jedoch ohne Erfolg. Es gab nichts zu finden. Nichts Aktuelles, nichts Wichtiges. Nur massenhaft Papier, das mit dem Unterhalt des Hauses zusammenhing. Das jüngste Schriftstück war das Testament, das in einer eigenen Mappe lag und in einem festen braunen und sauber beschrifteten Umschlag steckte. Sauber, aber mit der leicht zittrigen Schrift eines Mannes, der gerade nach dem ersten Herzanfall aus dem Krankenhaus entlassen worden ist. Jodie ging mit dem Umschlag hinaus und verstaute ihn im Innenfach ihrer Reisetasche.

»Irgendwelche unbezahlten Rechnungen?«, rief sie aus der Diele.

Reacher fand eine Mappe, die mit UNERLEDIGTES beschriftet, aber leer war.

»Ich sehe keine«, antwortete er. »Aber vermutlich stehen noch welche aus, oder? Kommen sie monatlich?«

Jodie nickte ihm von der Tür aus zu.

»Ja«, sagte sie. »Monat für Monat.«

Eine weitere Mappe war mit HEILKOSTEN beschriftet. Sie quoll von quittierten Arzt- und Klinikrechnungen sowie Schreiben von Leons Krankenkasse über. Reacher blätterte in den Rechnungen.

»Gott, ist das alles wirklich so teuer?«

Sie kam wieder herein, um zu sehen, was er in der Hand hielt.

»Allerdings«, sagte sie. »Bist du krankenversichert?«

Er sah verdutzt zu ihr auf.

»Ich glaube, die Veteran’s Administration würde für mich aufkommen, zumindest für gewisse Zeit.«

»Das solltest du mal nachprüfen«, sagte sie. »Dich vergewissern.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich fühle mich gesund.«

»Das hat Dad auch getan«, meinte sie. »Dreiundsechzigeinhalb Jahre lang.«

Sie kniete sich wieder neben ihn. Ihre Augen glänzten feucht. Er legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.

»Ein Scheißtag, was?«

Sie nickte angestrengt blinzelnd. Dann rang sie sich ein kleines Lächeln ab.

»Unglaublich«, sagte sie. »Ich bringe den Alten unter die Erde, zwei Killer schießen auf mich, ich mache mich strafbar, indem ich Straftaten vertusche, und ich lasse mich dazu überreden, gemeinsame Sache mit einem wilden Mann zu machen, der Selbstjustiz üben will. Weißt du, was Dad dazu gesagt hätte?«

»Was?«

Sie schob die Lippen vor und senkte ihre Stimme, um Garbers gutmütiges Knurren nachzuahmen. »Das gehört alles dazu, Kind, das gehört alles dazu. Das hätte er zu mir gesagt.«

Reacher erwiderte ihr Lächeln und drückte nochmals sanft ihren Arm. Dann blätterte er in den unter HEILKOSTEN abgelegten Rechnungen und zog eine davon heraus.

»Als Erstes sollten wir diese Klinik suchen«, sagte er.


In dem Tahoe wurde lange diskutiert, ob sie überhaupt zurückfahren sollten. In Hobies Wortschatz war Versagen kein populäres Wort. Vielleicht war es am besten, einfach abzuhauen und zu verschwinden. Irgendwo unterzutauchen. Das war eine verlockende Vorstellung. Aber sie konnten ziemlich sicher sein, dass Hobie sie finden würde. Vielleicht nicht sofort, aber er würde sie finden. Und das war eine weniger verlockende Vorstellung.

Also konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf Schadensbegrenzung. Was sie dafür tun müssten, war klar. Sie legten die notwendigen Zwischenhalte ein und vergeudeten auf der Rückfahrt gerade genug Zeit in einem Schnellrestaurant an der Route 9, um plausibel zu wirken. Bis sie sich durch dichten Verkehr wieder bis zur Südspitze Manhattans durchgekämpft hatten, war ihre Story fertig.

»Da war nichts zu machen«, sagte der erste Kerl. »Wir haben stundenlang gewartet - darum kommen wir auch so spät zurück. Das Problem war, dass dort eine Menge Soldaten herumgelaufen sind - irgendwie feierlich, aber alle mit Gewehren bewaffnet.«

»Wie viele?«, fragte Hobie.

»Soldaten?«, sagte der zweite Kerl. »Mindestens ein Dutzend. Vielleicht fünfzehn. Sind ständig durcheinander gelaufen, waren deshalb schwer zu zählen. So eine Art Ehrengarde.«

»Mrs. Jacob ist mit ihnen weggefahren«, fuhr der erste Kerl fort. »Sie müssen sie vom Friedhof herbegleitet haben, und anschließend ist sie mit ihnen wieder weggefahren.«

»Ihr seid nicht vielleicht auf die Idee gekommen dranzubleiben?«

»Das konnten wir gar nicht«, erwiderte der zweite Kerl. »Die ganze Wagenkolonne ist sehr langsam gefahren. Wie ein Leichenzug. Da wären wir sofort aufgefallen. Wir konnten uns doch nicht einfach einem Leichenzug anschließen, stimmt’s?«

»Was war mit dem großen Kerl von den Keys?«

»Der ist schon früh abgehauen. Wir haben ihn wie befohlen laufen lassen und nur auf Mrs. Jacob geachtet. Wer sie war, hat sich ziemlich bald rausgestellt. Sie ist noch eine Weile dageblieben und dann mit den Soldaten weggegangen.«

»Und was habt ihr dann gemacht?«

»Wir haben uns das Haus angesehen«, sagte der erste Kerl. »Alles dicht und zugesperrt. Also sind wir nach Garrison gefahren und haben uns nach dem Hausbesitzer erkundigt. Das Verzeichnis der Haus- und Grundbesitzer liegt in der dortigen Stadtbibliothek auf. Als Hausbesitzer war ein gewisser Leon Garber eingetragen. Wir haben die Bibliothekarin gefragt, was sie über ihn weiß, und sie hat uns einfach das Lokalblatt gegeben. Auf Seite drei hat ein Bericht über den Mann gestanden. War gerade einem Herzleiden erlegen. Witwer, einzige Hinterbliebene seine Tochter Jodie, geschiedene Mrs. Jacob, die eine noch junge, aber sehr tüchtige Fachanwältin für Steuerrecht bei der Anwaltsfirma Spencer Gutman Ricker Talbot in der Wall Street ist und hier in New York City am Lower Broadway wohnt!«

Hobie nickte langsam und tippte mit dem spitzen Ende des Hakens in einem hektischen kleinen Rhythmus auf die Schreibtischplatte.

»Und wer war dieser Leon Garber genau? Warum all die Soldaten bei seiner Beerdigung?«

»Militärpolizist«, erwiderte der erste Kerl.

Der zweite Kerl nickte. »Mit drei Sternen und jeder Menge Orden pensioniert. Hat vierzig Jahre lang gedient, war in Korea, Vietnam, überall.«

Hobie hörte zu klopfen auf. Er saß wie erstarrt da, und aus seinem Gesicht wich alle Farbe, sodass die Haut - bis auf die leuchtend rosa Brandnarben, die im Halbdunkel zu glühen schienen, wächsern wurde.

»Militärpolizist«, wiederholte er leise.

So blieb er lange Zeit sitzen. Er saß einfach nur da und starrte ins Leere, dann nahm er seinen Haken vom Schreibtisch, drehte ihn vor seinen Augen hin und her, als wolle er ihn genau untersuchen, und ließ die schwachen, durch die Lamellenjalousien einfallenden Lichtstrahlen seine Konturen beleuchten, Der Haken zitterte, deshalb umfasste er ihn mit seiner linken Hand und hielt ihn ruhig,

»Militärpolizist«, sagte er nochmals, während er weiter den Haken anstarrte. Dann sah er zu den beiden Männern auf den Sofas.

»Geh raus«, sagte er zu dem zweiten Kerl.

Der Mann wechselte einen raschen Blick mit seinem Partner, dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich. Hobie schob seinen Drehsessel zurück und stand auf. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, ging um die Sofas herum und blieb direkt hinter dem ersten Kerl stehen, der wie gelähmt dasaß und nicht wagte, sich nach Hobie umzusehen.

Er hatte Kragenweite einundvierzig, was bedeutete, dass der Durchmesser seines Halses etwa dreizehn Zentimeter betrug, wenn man annahm, dass der menschliche Hals einem mehr oder weniger gleichmäßigem Zylinder glich - eine Annahme, von der Hobie seit jeher gern ausging. Hobies wie der Großbuchstabe J geformter Stahlhaken hatte einen Innendurchmesser von zwölf Zentimetern. Er bewegte sich rasch, schob den Haken blitzschnell nach vorn und legte ihn dem Sitzenden von hinten um die Kehle. Dann trat er zurück und zog mit aller Kraft daran. Der Kerl warf sich nach hinten, kroch förmlich über die Lehne nach oben und bemühte sich verzweifelt, mit seinen Fingern unter das kalte Metall zu gelangen, um den würgenden Druck zu mindern. Hobie grinste und zerrte noch stärker. Der Haken war an ein schweres Lederformstück genietet, das an seinen halb fehlenden Unterarm angepasst war und sich in einer Ledermanschette fortsetzte, die den Bizeps seines Arms fest umschloss. Der Teil unterhalb des Ellbogens diente nur zur Stabilisierung; der obere Teil, dessen Durchmesser kleiner als der des Ellbogengelenks war, nahm den gesamten Zug auf und verhinderte wirksam, dass der Haken vom Armstumpf gerissen werden konnte. Hobie zog und zerrte, bis das Keuchen zu einem stoßweisen Ächzen wurde und das gerötete Gesicht des Kerls blau anzulaufen begann. Dann ließ er wieder etwas locker und beugte sich zum Ohr des anderen hinunter.

»Dein Freund hat Prellungen am Kinn. Wo zum Teufel kommen die her?«

Der Kerl ächzte und gestikulierte wild. Hobie drehte den Haken etwas zur Seite, wodurch sich der Druck auf den Kehlkopf verminderte. Aber dafür lag die Hakenspitze nun an der weichen Stelle unter seinem Ohr.

»Wo, zum Teufel, kommen die her?«, wiederholte er.

Der Kerl wusste, dass bei dieser Lage des Hakens jede zusätzlich ausgeübte Kraft die Spitze in das weiche Fleisch hinter seinem Kiefergelenk treiben würde. Er verstand nicht viel von Anatomie, aber er war sich über den Ernst seiner Lage im Klaren.

»Ich sag’s Ihnen«, keuchte er. »Ich sag’s Ihnen.«

Hobie ließ den Haken, wo er war, und ruckte gelegentlich daran, wenn der Kerl zögerte, sodass die ganze Wahrheit in weniger als drei Minuten von A bis Z erzählt war.

»Ihr habt versagt«, stellte Hobie fest.

»Ja, das haben wir«, ächzte der Kerl. »Aber das war seine Schuld. Er war hinter der Fliegengittertür eingeklemmt. Dort war er wertlos.«

Hobie riss an dem Haken.

»Im Gegensatz zu dir? Er ist wertlos, und du bist nützlich, was?«

»Alles war seine Schuld«, keuchte der andere wieder. »Ich bin weiterhin nützlich.«

»Das wirst du mir beweisen müssen.«

»Wie?«, ächzte der Kerl. »Bitte, wie? Sie brauchen’s mir nur zu sagen.«

»Ganz einfach. Du kannst etwas für mich tun.«

»Ja«, keuchte der Mann. »Ja, alles, bitte.«

»Bring mir Mrs. Jacob!«, kreischte Hobie.

»Ja!«, antwortete der Kerl ebenfalls kreischend.

»Und mach nicht wieder Scheiß!«, kreischte Hobie weiter.

»Nein«, ächzte der Kerl. »Nein, das tun wir nicht, versprochen!«

Hobie ruckte wieder an seinem Haken - zweimal, im Takt zu seinen Worten

»Nicht wir. Nur du. Weil du noch was anderes für mich tun sollst.«

»Was?«, keuchte sein Opfer. »Ja, was? Alles!«

»Du liquidierst deinen wertlosen Partner«, flüsterte Hobie. »Heute Nacht auf dem Boot.«

Der Kerl nickte so nachdrücklich, wie der Haken um seine Kehle es zuließ. Hobie beugte sich etwas nach vorn und nahm den Haken weg. Der Kerl sackte zur Seite, keuchte und würgte krampfhaft und übergab sich aufs Sofa.

»Und bring mir seine rechte Hand«, flüsterte Hobie. »Als Beweis.«


Sie stellten fest, dass die Herzklinik, in der Leon Patient gewesen war, keine selbstständige Einrichtung, sondern nur ein Teilbereich einer riesigen Privatklinik war, fürs gesamte südliche Putnam County zuständig. In einer Parklandschaft stand ein zehngeschossiger weißer Bau, der von Arztpraxen aller Fachrichtungen umgeben war. Schmale Stichstraßen schlängelten sich durch den gepflegten Park und endeten auf kleinen Plätzen, die von Pavillons für Ärzte und Zahnärzte umgeben waren. Patienten, die stationär behandelt werden mussten, wurden in Belegbetten im Hauptgebäude untergebracht. So existierte die kardiologische Fachklinik eigentlich nur dem Namen nach und umfasste verschiedene Abteilungen mit eigenen Ärzten, je nachdem, wie krank der Patient war. Leons Korrespondenz zeigte, dass er sich in mehreren Abteilungen aufgehalten hatte: anfangs auf der Intensivstation, dann in der Rehabilitation, danach in ambulanter Behandlung bei einer Kardiologin und zuletzt wieder auf der Intensivstation, auf der er gestorben war.

Der Name der Kardiologin war der einzige konstante Faktor in all den Unterlagen. Reacher hatte sich Dr. McBannerman als freundlichen alten Gentleman vorgestellt, weißhaarig, gebildet, klug und sympathisch, vielleicht von schottischen Urgroßeltern abstammend, bis Jodie ihm erklärte, Dr. McBannerman sei eine Ärztin, eine Mittdreißigerin aus Baltimore, mit der sie schon mehrmals gesprochen habe. Jetzt lenkte er Jodies Geländewagen über die schmalen Stichstraßen, während sie rechts und links nach Dr. McBannermans Praxis Ausschau hielt. Sie erkannte den Pavillon am Ende einer Sackgasse: ein ebenerdiger, weiß abgesetzter Klinkerbau. Zwischen fünf oder sechs davor stehenden Wagen war ein Platz frei, auf dem Reacher rückwärts einparkte.

Die Sprechstundenhilfe war eine dicke alte Wichtigtuerin, die Jodie flüsternd ihr Beileid aussprach. Sie führte die beiden in Dr. McBannermans zweites Sprechzimmer, was ihnen giftige Blicke der Patienten im Wartebereich einbrachte. Das Sprechzimmer war ein nüchterner, steriler und stiller Raum, mit einem anscheinend selten benutzten Untersuchungstisch und einem großen farbigen Schnittbild des menschlichen Herzens an der Wand hinter dem Schreibtisch. Jodie starrte es an, als frage sie sich: Welches Teil hat also schließlich versagt? Reacher spürte sein eigenes Herz als riesigen Muskel, der sanft in seiner Brust pochte.

So warteten sie zehn Minuten, dann öffnete sich die Verbindungstür, und Dr. McBannerman kam herein: eine eher unscheinbare, schwarzhaarige Frau im weißen Arztkittel, die ein Stethoskop wie ein Symbol um den Hals hängen hatte und eine besorgte Miene machte.

»Jodie«, sagte sie zur Begrüßung, »das mit Leon tut mir schrecklich Leid.«

Das war zu neunundneunzig Prozent echt, aber eine gewisse Besorgnis war unüberhörbar. Sie macht sich Sorgen, sie könnte wegen eines Kunstfehlers verklagt werden, dachte Reacher. Die Tochter des Verstorbenen war Anwältin, und nun kreuzte sie unmittelbar nach der Beerdigung hier in der Praxis auf. Jodie spürte diese Besorgnis ebenfalls und nickte, was eine beruhigende kleine Geste war.

»Ich bin nur vorbeigekommen, um Ihnen zu danken. Sie haben ihn wirklich wundervoll betreut. Er hätte in keinen besseren Händen sein können.«

McBannermans Anspannung löste sich. Sie lächelte, und Jodie sah wieder zu dem Schnittbild auf.

»Welches Teil hat also schließlich versagt?«, wollte sie wissen.

McBannerman folgte ihrem Blick und zuckte leicht mit den Schultern.

»Nun, so gut wie alle, fürchte ich. Das Herz ist ein großer, komplexer Muskel, es schlägt und schlägt, dreißig Millionen Mal im Jahr. Hält es so zwei Komma sieben Milliarden Schläge durch, was neunzig Jahre sind, sprechen wir von Altersschwäche. Ist es nach eins Komma acht Milliarden Schlägen - nach sechzig Jahren - am Ende, sprechen wir von vorzeitigem Herztod. Den bezeichnen wir als Amerikas größtes Gesundheitsproblem, aber tatsächlich bedeutet das nur, dass das Herz früher oder später einfach zu schlagen aufhört.«

Sie machte eine Pause und sah Reacher an. Er glaubte eine Sekunde lang, sie habe bei ihm irgendein Symptom entdeckt. Dann begriff er, dass sie darauf wartete, seinen Namen zu hören.

»Jack Reacher«, sagte er. »Ein alter Freund Leons.«

Sie nickte, als sei damit ein Rätsel gelöst.

»Ah, der berühmte Major Reacher. Er hat oft von Ihnen gesprochen.«

Sie setzte sich, musterte ihn unverhohlen interessiert. Ihr Blick glitt über sein Gesicht, dann ruhte er auf seiner Brust. Reacher wusste nicht, ob sie das aus beruflichem Interesse tat oder nur die Brandspuren vom Mündungsfeuer der Pistole begutachtete.

»Hat er auch über andere Dinge gesprochen?«, fragte Jodie. »Ich hatte den Eindruck, irgendetwas habe ihm Sorgen gemacht.«

McBannerman wandte sich ihr leicht erstaunt zu, als denke sie: Nun, alle meine Patienten machen sich irgendwelche Sorgen - zum Beispiel über Leben und Tod.

»Was für Dinge?«

»Weiß ich selbst nicht genau«, erwiderte Jodie. »Vielleicht über etwas, in das er durch einen Mitpatienten verwickelt worden ist?«

McBannerman zuckte mit den Schultern und wollte die Frage schon verneinen, als ihr schließlich doch noch etwas einzufallen schien.

»Nun, einmal hat er mir erzählt, er habe eine neue Aufgabe.«

»Hat er gesagt, worum es sich handelte?«

McBannerman schüttelte den Kopf.

»Einzelheiten hat er nie erwähnt. Anfangs sah es so aus, als wolle er sie erst gar nicht übernehmen. Als habe ihm jemand etwas Lästiges aufgedrängt. Aber später hat er sich dafür engagiert. So sehr, dass seine EKGs sich verschlechterten, was mir überhaupt nicht gefiel.«

»Hatte seine Aufgabe etwas mit einem anderen Patienten zu tun?«, fragte Reacher.

Sie schüttelte erneut den Kopf.

»Keine Ahnung. Möglich ist’s natürlich. Draußen im Wartezimmer sitzen die Patienten oft lange beieinander. Sie unterhalten sich. Er sind alte Menschen, die sich häufig langweilen und einsam sind.«

»Wann hat er zum ersten Mal darüber gesprochen?«, hakte Reacher nach.

»März? April? Jedenfalls bald nach seiner Entlassung aus der Rehabilitation. Nicht lange vor seiner Reise nach Hawaii.«

Jodie starrte sie entgeistert an. »Er war auf Hawaii? Das habe ich nicht gewusst.«

McBannerman nickte. »Er hat einen Termin versäumt, und als ich ihn nach dem Grund dafür gefragt habe, hat er geantwortet, er sei für ein paar Tage auf Hawaii gewesen.«

»Hawaii? Weshalb sollte er dorthin fliegen, ohne mir ein Wort davon zu sagen?«

»Ich weiß nicht, was er dort wollte«, erwiderte McBannerman.

»War er gesund genug für eine so weite Reise?«, fragte Reacher.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, und ich glaube, er wusste, dass es eine Dummheit war. Vermutlich hat er die geplante Reise deshalb nicht erwähnt.«

»Ab wann ist er wieder ambulant behandelt worden?«, erkundigte sich Reacher.

»Anfang März«, sagte sie.

»Und wann war er auf Hawaii?«

»Mitte April, glaube ich.«

»Okay«, sagte er. »Können Sie uns eine Liste Ihrer sonstigen Patienten in diesem Zeitraum geben? März und April? Leute, mit denen er geredet haben könnte?«

McBannerman schüttelte bereits den Kopf.

»Nein, tut mir Leid, das geht wirklich nicht. Das wäre ein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht.«

Ihr Blick richtete sich dabei auf Jodie - von Ärztin zu Anwältin, von Frau zu Frau, ein Sie-kennen-das-Problem-Blick. Jodie nickte mitfühlend.

»Vielleicht könnten wir einfach Ihre Sprechstundenhilfe fragen? Sie wissen schon, ob Sie Dad im Gespräch mit einem der anderen Patienten gesehen hat? Das wäre eine Auskunft aus zweiter Hand, keine Verletzung Ihrer Schweigepflicht. Meiner Überzeugung nach jedenfalls nicht.«

McBannerman erkannte, dass eine Pattsituation eingetreten war. Sie drückte auf eine Taste und bat die Sprechstundenhilfe herein. Als die Dicke gefragt wurde, begann sie eifrig zu nicken.

Ja, natürlich, Mr. Garber hat immer mit diesem netten alten Ehepaar gesprochen, Sie wissen schon, der Mann mit dem Herzklappenfehler. Oberer rechter Ventrikel. Kann nicht mehr selbst fahren, sodass seine Frau ihn herbringen muss. Mit dem schrecklichen alten Auto. Mr. Garber hat etwas für die beiden getan, da bin ich mir absolut sicher. Sie haben ihm dauernd alte Fotos und irgendwelche Papiere gezeigt.«

»Die Hobies?«, fragte McBannerman.

»Genau, die drei sind dicke Freunde geworden, Mr. Garber und das alte Ehepaar Hobie.«