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»Das war meine Schuld«, sagte Reacher.
Crystal schüttelte den Kopf.
»Du hast ihn nicht umgebracht«, meinte sie.
Dann musterte sie ihn scharf. »Oder doch?«
»Ich bin schuld an seinem Tod«, sagte Reacher. »Ist das ein Unterschied?«
Die Bar hatte um ein Uhr geschlossen, und die beiden saßen nebeneinander vor der leeren Bühne. Die Scheinwerfer waren erloschen, die Musik verstummt. Das einzige Geräusch war das Surren der Klimaanlage.
»Ich hätt’s ihm sagen sollen«, erklärte Reacher. »Ich hätte einfach sagen sollen: Klar, ich bin Jack Reacher. Dann wüsste ich jetzt, was er von mir gewollt hatte. Er wäre schon wieder über alle Berge, und ich hätte seine Mitteilung trotzdem ignorieren können. Ich wäre nicht schlechter dran, und er würde noch leben.«
Crystal trug ein weißes T-Shirt. Sonst nichts. Es war ein langes T-Shirt, aber nicht lang genug. Reacher sah sie nicht an.
»Was kümmert’s dich?«
Das war eine für die Keys typische Frage. Nicht herzlos, sondern nur verwundert über sein Interesse an einem Fremden aus dem Norden. Er sah sie an.
»Ich fühle mich dafür verantwortlich«, sagte er.
»Nein, du fühlst dich schuldig«, entgegnete sie.
Er nickte.
»Nun, das solltest du nicht«, sagte sie. »Du hast ihn nicht umgebracht.«
»Ist das ein Unterschied?«, fragte er wieder.
»Natürlich ist das einer«, antwortete sie. »Wer war er?«
»Ein Privatdetektiv«, sagte er. »Auf der Suche nach mir.«
»Warum?«
Er schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung.«
»Haben diese anderen Kerle zu ihm gehört?«
»Nein«, sagte er. »Diese anderen Kerle haben ihn ermordet.«
Sie starrte ihn erschrocken an. »Echt?«
»Das vermute ich jedenfalls«, sagte er. »Sie haben nicht zusammengehört, das steht fest. Sie waren jünger und reicher als er. Mit diesen Klamotten? In diesen Anzügen? Sie haben nicht wie seine Untergebenen ausgesehen. Er ist mir eher wie ein Loser vorgekommen. Folglich arbeiten die beiden für jemand anders. Wahrscheinlich hatten sie den Auftrag, ihm zu folgen und rauszukriegen, was zum Teufel er hier tut. Er muss im Norden irgendjemand auf die Zehen getreten sein, jemand Probleme verursacht haben. Also ist er bis hierher beschattet worden. Sie haben ihn sich geschnappt, aus ihm rausgeprügelt, wen er hier sucht. Und dann haben sie sich selbst auf die Suche nach mir gemacht.
»Sie haben ihn umgebracht, nur um deinen Namen zu erfahren?«
»Sieht so aus«, sagte er.
»Willst du’s den Cops melden?«
Eine weitere für die Keys typische Frage. Ob man die Cops zu irgendetwas hinzuziehen sollte, war eine Frage, die immer lange und ernsthaft diskutiert werden musste. Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf.
»Nein.«
»Sie werden ihn identifizieren, und dann fahnden sie auch nach dir.«
»Aber nicht sofort«, sagte er. »Der Tote hat keine Papiere. Und auch keine Fingerabdrücke. Könnte Wochen dauern, bis sie überhaupt wissen, wer er ist.«
»Und was hast du vor?«
»Ich werde Mrs. Jacobs aufspüren«, sagte er. »Seine Auftraggeberin. Sie sucht mich.«
»Kennst du sie?«
»Nein, aber ich will sie finden.«
»Warum?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich muss wissen, was gespielt wird«, sagte er.
»Warum?«, wiederholte sie.
Er stand auf und betrachtete sie in einem der Wandspiegel. Er war auf einmal sehr unruhig. Plötzlich mehr als bereit, in die Realität zurückzukehren.
»Du weißt, warum«, antwortete er. »Der Kerl ist wegen etwas umgebracht worden, das mit mir zusammenhängt, deshalb bin ich darin verwickelt, okay?«
Sie streckte ein langes nacktes Bein über den Stuhl aus, von dem er eben aufgestanden war. Dachte über seine Worte nach, in diese Sache verwickelt zu sein, als sei es irgendein Hobby Legitim, aber ein bisschen schrullig.
»Okay, was hast du vor?«, wollte sie wissen.
»Ich muss in sein Büro«, erklärte er. »Vielleicht hatte er eine Sekretärin, Zumindest gibt’s dort Unterlagen. Telefonnummern, Adressen, Verträge mit Auftraggebern. Diese Mrs. Jacob dürfte sein letzter Fall gewesen sein. Der liegt vermutlich ganz oben auf dem Stapel.«
»Und wo ist sein Büro?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Seinem Akzent nach irgendwo in New York. Ich kenne seinen Namen, ich weiß, dass er ein Excop war. Ein Excop namens Costello, ungefähr sechzig. Kann nicht allzu schwierig zu finden sein.«
»Er war ein Excop?«, fragte sie. »Warum?«
»Das sind die meisten Privatdetektive, stimmt’s?«, sagte er. »Sie gehen früh und arm in den Ruhestand, machen ein Detektivbüro auf, arbeiten als Einzelgänger, sind auf Scheidungen und Vermisstensuche spezialisiert. Und diese Sache mit meiner Bank? Darüber war er bestens informiert. Das geht nur, wenn man einen alten Kumpel hat, der noch im Dienst ist und einem diesen Gefallen tut.«
Sie lächelte leicht interessiert. Kam auf ihn zu und trat neben ihn, so dicht, dass ihre Hüfte seinen Oberschenkel berührte.
»Woher weißt du all dies komplizierte Zeug?«
Er horchte auf das Rauschen der von den Entlüftern abgesaugten Luft.
»Ich bin selbst mal Ermittler gewesen«, erwiderte er. »Militärpolizei. Dreizehn Jahre. War ziemlich gut. Ich habe eben nicht nur ein hübsches Gesicht.«
»Du hast nicht mal ein hübsches Gesicht«, widersprach sie. »Bild dir bloß nichts ein. Wann willst du los?«
Er sah sich im Halbdunkel um.
»Gleich, denke ich. Von Miami aus gibt’s bestimmt einen sehr frühen Flug.«
Sie lächelte erneut. Diesmal argwöhnisch.
»Und wie willst du nach Miami kommen?«, fragte sie. »Mitten in der Nacht?«
Er erwiderte ihr Lächeln. Zuversichtlich,
»Du fährst mich hin«, antwortete er.
»Habe ich noch Zeit, mich anzuziehen?«
»Nur Schuhe«, sagte er.
Er begleitete sie zu der Garage, in der ihr alter Porsche stand. Er schob das Tor hoch, und sie glitt hinters Steuer und ließ den Motor an. Sie fuhr die halbe Meile nach Norden zu seinem Motel, hielt vor dem neonhellen Empfangsbereich und wartete, während der Motor mit erhöhter Drehzahl weiterlief. Er öffnete die Beifahrertür, dann schloss er sie leise wieder.
»Fahr einfach los«, sagte er. »Dort drinnen ist nichts, was ich mitnehmen möchte.«
Sie nickte.
»Okay, schnall dich an.«
Sie legte klickend den ersten Gang ein und fuhr weiter. Folgte dem North Roosevelt Drive. Kontrollierte ihre Anzeigen und bog dann nach links auf den Straßendamm ab. Schaltete die Radarwarner ein. Trat das Gaspedal so durch, dass Reacher in die Lederpolster gedrückt wurde und sich vorkam, als würde er Key West mit einem Düsenjäger verlassen.
Sie fuhr auf der gesamten Strecke nach Key Largo nie langsamer als hundert Meilen. Reacher genoss die Fahrt. Crystal war eine ausgezeichnete Fahrerin. Sie schaltete mit knappen, flüssigen Bewegungen, ließ den Motor im optimalen Drehzahlbereich röhren, hielt den Wagen in der Mitte der Fahrspur und nutzte in Kurven die Fliehkraft, um sich auf die langen Geraden zu katapultieren. So legten sie eine Meile nach der anderen in rascher Fahrt zurück.
Dann begannen die Radarwarner zu kreischen, und eine Meile vor ihnen tauchten die Lichter von Key Largo auf. Sie bremste scharf, fuhr langsam durch die Stadt, trat das Gaspedal wieder durch und raste nach Norden auf den dunklen Horizont zu. Eine enge Linkskurve, über die Brücke, aufs amerikanische Festland und auf einer durch den Sumpf gebauten ebenen Straße nach Norden zu der Kleinstadt Homestead.
Dann scharf rechts auf den Highway, wieder Vollgas. Kurz vor fünf Uhr morgens erreichten sie den Flughafen Miami. Sie hielt vor dem Abfluggebäude und wartete mit laufendem Motor.
»Nun, danke fürs Mitnehmen«, sagte Reacher.
Sie lächelte.
»War mir ein Vergnügen«, meinte sie. »Ehrlich.«
Er öffnete die Tür, blieb dann aber sitzen und starrte nach vorn.
»Okay«, sagte er. »Bis bald, denke ich.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, du kommst nicht wieder«, sagte sie. »Kerle wie du kommen nie zurück.«
Er saß in der Wärme ihres Wagens. Sie beugte sich zu ihm hinüber, schlang einen Arm um seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich.
»Mach’s gut, Reacher«, sagte sie. »Ich bin froh, dass ich wenigstens deinen Namen erfahren habe.«
Er küsste sie ebenfalls, lange und leidenschaftlich.
»Und wie heißt du?«, fragte er dann.
»Crystal«, erwiderte sie und lachte.
Er lachte mit ihr und stemmte sich dann hoch und aus dem Wagen. Sie beugte sich nach rechts und schloss die Tür hinter ihm. Ließ den Motor aufheulen und fuhr davon. Er stand allein am Randstein und sah ihr nach. Sie bog vor einem Hotelbus ab und war nicht mehr zu sehen. Mit ihr verschwanden drei Monate seines Lebens.
Fünf Uhr morgens, fünfzig Meilen nördlich von New York City: Der Firmenchef lag im Bett, hellwach, und starrte die Zimmerdecke an. Sie war frisch gestrichen. Das ganze Haus war erst vor kurzem frisch gestrichen worden. Er hatte der Malerfirma mehr gezahlt, als die meisten seiner Angestellten im Jahr verdienten. In Wirklichkeit hatte er ihr nichts gezahlt. Er hatte ihre Rechnung über sein Büro laufen lassen, und seine Firma hatte sie bezahlt. Dieser Posten war irgendwo in der Geheimbilanz als Teil ihrer siebenstelligen Aufwendungen für Gebäudeunterhalt versteckt. Eine siebenstellige Zahl auf der Sollseite der Bilanz, die sein Unternehmen in die Tiefe zog, wie eine schwere Fracht ein Schiff, das bereits Schlagseite hat, zum Sinken bringt.
Er hieß Chester Stone. Auch sein Vater hatte Chester Stone geheißen, genau wie sein Großvater. Sein Großvater hatte die Firma gegründet - damals, als es noch keine Computerbilanzen, sondern ein Hauptbuch gab, in das Eintragungen mit Feder und Tinte gemacht wurden. Im Hauptbuch seines Großvaters hatten auf der Habenseite dicke schwarze Zahlen gestanden. Er war ein Uhrmacher gewesen, der frühzeitig erkannt hatte, welchen Siegeszug der Film antreten würde. Also hatte er seine Erfahrung mit Uhrwerken und komplizierten kleinen Mechanismen dazu benutzt, um einen Filmprojektor zu bauen. Und er hatte sich mit einem Partner zusammengetan, der in Deutschland große Linsen schleifen lassen konnte. Gemeinsam hatten sie den Markt beherrscht und ein Vermögen verdient. Sein Partner war jung und ohne Erben gestorben. Die Filmindustrie hatte von Küste zu Küste floriert. Hunderte von Kinos. Hunderte von Projektoren. Dann Tausende. Dann Zehntausende. Dann der Tonfilm. Dann Cinemascope. Riesige Einträge auf der Habenseite des Hauptbuchs.
Dann kam das Fernsehen. Überall wurden Filmtheater geschlossen, und die, die überlebten, behielten ihre alten Geräte, bis sie auseinanderfielen. Sein Vater, Chester Stone II, übernahm die Leitung der Firma. Diversifizierte. Erkannte das Potential des Schmalfilmmarkts. Achtmillimeterprojektoren. Kameras mit Filmtransport durch Federwerk. Die bunte Ära der Kodachromfilme. Zapruder. Die neue Fertigungsstätte. Hohe Gewinne, die auf dem langsam laufenden breiten Magnetband eines frühen IBM-Rechners verbucht wurden.
Dann die Wiedergeburt des Kinos. Der Tod seines Vaters, der junge Chester Stone III am Ruder, überall neue Multiplexkinos. Vier Projektoren, sechs, zwölf, sechzehn, wo früher nur ein einziger gestanden hatte. Dann der Stereoton. Fünf Kanäle, Dolby, Dolby Digital. Erfolg und Reichtum. Heirat. Der Umzug in die Villa. Die Luxuswagen.
Dann der Videoboom. Schmalfilme plötzlich tot, mausetot. Dann Konkurrenz. Gnadenloser Wettbewerb durch neue Firmen in Deutschland und Japan und Korea und Taiwan, die ihn unterboten und aus dem Multiplexgeschäft drängten. Die verzweifelte Suche nach etwas, das sich aus kleinen Blechteilen und präzise hergestellten Zahnrädern bauen ließ. Irgendwas. Die schreckliche Erkenntnis, dass mechanische Geräte hoffnungslos veraltet waren. Die explosive Vermehrung von Mikrochips, RAMs, Computerspielen, Riesige Gewinne, die mit lauter Artikeln gemacht wurden, von deren Herstellung er keine Ahnung hatte. Hohe Verluste, die sich in der stummen Software des PCs auf seinem Schreibtisch ansammelten.
Neben ihm bewegte sich seine Frau. Sie öffnete blinzelnd die Augen und drehte ihren Kopf erst zum Radiowecker hinüber und dann zu ihrem Mann. Sie stellte fest, dass sein Blick starr auf die Zimmerdecke gerichtet war.
»Du schläfst nicht?«, fragte sie leise.
Er gab keine Antwort. Sie sah wieder weg. Ihr Name war Marilyn. Marilyn Stone. Sie war seit langem mit Chester verheiratet. Lange genug, um zu wissen, was ihn bedrückte. Sie wusste alles. Sie kannte keine Details, hatte keinen wirklichen Beweis, war nicht eingeweiht, aber sie wusste trotzdem alles. Wie hätte ihr das verborgen bleiben können? Sie hatte schließlich Augen und ein Gehirn. Es war lange her, dass sie die Produkte ihres Mannes in irgendeinem Geschäft ausgestellt gesehen hatte. Es war lange her, dass irgendein Multiplexkinobesitzer sie zur Feier eines neuen Großauftrags zum Abendessen eingeladen hatte. Und es war lange her, dass Chester zuletzt eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Deshalb wusste sie alles.
Aber das machte ihr nichts aus. In guten wie in schlechten Zeiten, das hatte sie versprochen, und dazu würde sie stehen. Es war schön gewesen, reich zu sein, aber auch arm konnte man glücklich sein. Nicht dass sie jemals wirklich arm sein würden, wie manche Leute arm waren. Die Villa verkaufen, den Laden liquidieren und trotzdem wohlhabender bleiben, als sie jemals zu sein gehofft hatte. Sie waren noch jung. Nun, nicht wirklich jung, aber auch nicht alt. Gesund. Sie hatten Interessen. Sie hatten einander. Es war gut, Chester zu haben. Grau, aber immer noch schlank und fit und sportlich. Sie liebte ihn. Er liebte sie, und das wusste sie. Etwas über vierzig, aber mit dem Elan einer Endzwanzigerin. Noch immer schlank, noch immer blond, noch immer aufregend. Abenteuerlustig. Noch immer begehrenswert. Alles würde in Ordnung kommen. Marilyn Stone atmete tief durch und drehte sich auf die andere Seite. Schlief um halb sechs Uhr morgens wieder ein, während ihr Mann reglos neben ihr lag und die Zimmerdecke anstarrte.
Reacher stand im Terminal und studierte einen Bildschirm, auf dem die Abflüge angezeigt waren. New York stand wie erwartet ganz oben. Der erste Flug des Tages war eine Verbindung mit Delta über Atlanta nach LaGuardia, Abflug in einer halben Stunde. Dann kam ein Flug mit Mexicana nach Süden, und der dritte Flug war United, ebenfalls nach LaGuardia, aber ohne Zwischenstopp, Abflug in einer Stunde. Er ging zum Ticketschalter von United. Fragte nach dem Preis eines einfachen Flugs nach New York. Nickte und ging davon.
Er verschwand auf der Toilette und blieb vor einem der Waschbecken stehen. Zog den Packen Geldscheine aus seiner Hosentasche und stellte den Betrag, der ihm eben genannt worden war, aus möglichst kleinen Geldscheinen zusammen. Dann knöpfte er sein Hemd bis oben hin zu und glättete sein Haar mit einer Handfläche. Verließ die Toilette und ging zum Ticketschalter von Delta hinüber.
Dort kostete der Flug nach New York exakt so viel wie bei United. Das hatte er schon vorher gewusst. Irgendwie waren die Ticketpreise immer gleich. Er legte das Geld in Ein-, Fünf- und Zehndollarscheinen hin. Die junge Angestellte hinter dem Schalter nahm es, strich die Scheine glatt und bildete drei kleine Stapel.
»Ihr Name, Sir?«, fragte sie.
»Truman«, antwortete Reacher. »Wie der Präsident.«
Die junge Frau ließ keine Reaktion erkennen. Sie war vermutlich gegen Ende von Nixons Präsidentschaft im Ausland geboren. Vielleicht in Carters erstem Jahr. Reacher war das egal. Er war zu Beginn von Kennedys Präsidentschaft im Ausland zur Welt gekommen. Er hatte nicht vor, sich darüber zu äußern. Auch für ihn war Truman eine Gestalt aus der Frühgeschichte Amerikas. Die Angestellte tippte seinen Namen in ihren Computer ein, ließ sein Ticket ausdrucken. Sie steckte es in einen Umschlag mit einer rotblauen Weltkugel - um es gleich wieder herauszuziehen.
»Ich kann Sie sofort einchecken«, sagte sie.
Reacher nickte. Das Problem beim Kauf eines Flugtickets in bar, vor allem auf dem Flughafen Miami International, war der Krieg gegen Drogen. Wäre er an den Schalter getreten und hätte großspurig seinen Packen Hunderter aus der Tasche gezogen, hätte die junge Frau auf den kleinen Alarmknopf am Boden hinter ihrem Schalter treten müssen. Danach hätte sie auf ihrer Tastatur herumgespielt, bis zwei Polizeibeamte von links und rechts auf ihn zutraten. Die Polizei hätte einen großen, braun gebrannten Kerl mit einem dicken Bündel Geldscheine in der Tasche gesehen und ihn sofort für einen Drogenkurier gehalten. Ihre Strategie bestand darin, Jagd auf Drogen zu machen, selbstverständlich aber auch die Erlöse zu beschlagnahmen. Sie ließ nicht zu, dass man es auf sein Bankkonto einzahlte, dass man es ausgab, ohne dass jemand davon Notiz nahm. Sie setzte voraus, dass der normale Bürger größere Beträge mit Kreditkarten bezahlte. Vor allem auf Reisen. Vor allem zwanzig Minuten vor Abflug am Ticketschalter. Und diese Annahme hätte zu Verzögerungen, Ärger und Papierkram geführt - drei Dinge, die Reacher stets zu vermeiden suchte. Deshalb hatte er seine Rolle sorgfältig vorbereitet. Er spielte einen Kerl, dem man keine Kreditkarte aushändigte, selbst wenn er eine gewollt hätte: ein Raubein, das Pech gehabt hatte und deshalb abgebrannt war. Für den Erfolg wichtig waren das zugeknöpfte Hemd und seine Art, die kleinen Geldscheine sorgfältig hinzuzählen. Beides verlieh ihm einen schüchternen, verlegenen Ausdruck. Es nahm die Angestellten an den Ticketschaltern für ihn ein. Sie waren alle unterbezahlt und hatten wegen ihrer bis zur Höchstgrenze belasteten eigenen Kreditkarten zu kämpfen. Dann sahen sie auf und hatten einen Mann vor sich, der noch etwas schlechter dran war als sie, und reagierten instinktiv mit Mitgefühl statt Misstrauen.
»Flugsteig B sechs«, sagte die junge Frau. »Ich habe Ihnen einen Fensterplatz reserviert.«
»Danke«, erwiderte Reacher.
Er ging zum Flugsteig. Eine Viertelstunde später hob das Flugzeug ab, wobei sich Reacher vorkam, als sitze er wieder in Crystals Porsche - nur hatte er hier viel weniger Beinfreiheit, und der Sitz neben ihm war leer.
Um sechs Uhr gab Chester Stone auf. Er stellte den Wecker ab und stand leise auf, um Marilyn nicht zu wecken, nahm seinen Bademantel vom Haken, verließ barfuß das Schlafzimmer und ging in die Küche hinunter. Sein Magen war zu übersäuert, als dass er an Frühstück hätte denken mögen, deshalb begnügte er sich mit Kaffee und ging zum Duschen in die Gästesuite, wo er niemanden störte, wenn er Lärm machte. Er wollte nicht, dass Marilyn merkte, dass er nicht schlafen konnte. Sie wachte jede Nacht auf und machte irgendeine Bemerkung darüber, dass er neben ihr wach lag, aber da sie tagsüber nie davon sprach, vermutete er, dass sie sich morgens nicht mehr daran erinnern konnte oder vielleicht glaubte, nur geträumt zu haben. Er war sich ziemlich sicher, dass Marilyn nichts ahnte. Und dabei sollte es auch bleiben, denn es war schon schlimm genug, sich allein mit solchen Problemen herumschlagen zu müssen.
Beim Rasieren und unter der Dusche überlegte er, was er anziehen und wie er auftreten sollte. Die Wahrheit war, dass er sich diesem Kerl praktisch auf den Knien rutschend nähern würde. Ein Geldverleiher als letzte Rettung. Seine letzte Hoffnung, seine letzte Chance, Jemand, der seine gesamte Zukunft in der Hand hielt. Wie sollte er sich einem solchen Menschen also nähern? Nicht auf den Knien. So wird im Geschäftsleben nicht gespielt. Sieht man aus, als brauche man dringend einen Kredit, bekommt man keinen. Man kriegt ihn nur, wenn man aussieht, als brauchte man ihn nicht wirklich. Als sei einem dieser Kredit nicht besonders wichtig. Als stünden die Chancen fifty-fifty, dass man dem Kerl überhaupt gestattet, mit an Bord zu kommen und ein wenig an den großen, aufregenden Gewinnen teilzuhaben, die gleich hinter der nächsten Ecke winken. Als ob das größte Problem für einen darin bestünde, sich zu entscheiden, wessen Kreditangebot man überhaupt in Erwägung ziehen will.
Ein weißes Hemd, logisch, und eine dezente Krawatte. Aber welchen Anzug? Die italienischen waren vielleicht etwas zu modisch. Nicht den Armani, Er musste wie ein seriöser Geschäftsmann aussehen. Reich genug, um sich ein Dutzend Armanis zu kaufen, klar, aber irgendwie zu seriös, um ernstlich daran zu denken. Zu seriös und zu sehr mit wichtigen Dingen beschäftigt, um Zeit mit Einkäufen auf der Madison Avenue zu vergeuden. Er beschloss, Kontinuität sei das Merkmal, das es zu unterstreichen gelte. Eine über drei Generationen hinweg fortgesetzte geschäftliche Erfolgsstory, die sich vielleicht in dynastischem Modebewusstsein niederschlug. Als habe sein Großvater Chesters Vater als jungen Mann bei seinem Schneider eingeführt, und später habe sein Vater Chester dorthin mitgenommen. Dann fiel ihm sein Anzug von Brooks Brothers ein. Alt, aber tadellos, dezentes Karomuster, das Jackett mit Seitenschlitzen, für Juni etwas zu warm. Wäre dieser Anzug ein guter Bluff? Als wollte er sagen: Ich bin so reich und erfolgreich, dass mir eigentlich egal ist, was ich anhabe? Oder würde er darin wie ein Verlierer aussehen?
Er nahm ihn aus dem Kleiderschrank und hielt ihn sich vor den Körper. Klassisch, aber schäbig. So sah er wie ein Loser aus. Er hängte ihn zurück. Versuchte es mit dem grauen Anzug aus der Londoner Savile Row. Perfekt. Darin sah er wie ein vermögender Gentleman aus. Klug, ein Mann mit Geschmack, unbegrenzt vertrauenswürdig. Er wählte eine kaum sichtbar gemusterte Krawatte und solide schwarze Schuhe aus. Zog alles an und drehte sich vor dem Spiegel nach links und rechts, um sich zu begutachten. Konnte nicht besser sein. In dieser Aufmachung fand Chester sich selbst fast vertrauenswürdig. Er trank seinen Kaffee aus, tupfte sich die Lippen ab und ging durch die Küche in die Garage. Ließ den Motor seines Mercedes an und war um sechs Uhr fünfundvierzig auf dem um diese Zeit noch nicht verstopften Merritt Parkway.
Reacher verbrachte in Atlanta fünfzig Minuten auf dem Boden, startete dann wieder und flog nach Nordosten in Richtung New York weiter. Über dem Atlantik ging die Sonne auf. Er trank Kaffee. Die Stewardess hatte ihm Mineralwasser angeboten, aber er hatte lieber Kaffee genommen. Der Kaffee war heiß und stark, und er trank ihn schwarz. Reacher brauchte ihn, um sein Gehirn in Schwung zu bringen. Er versuchte herauszubekommen, wer, zum Teufel, diese Mrs. Jacob war. Und warum sie Costello dafür bezahlt hatte, dass er ganz Amerika nach ihm absuchte.
Über dem Flughafen LaGuardia mussten sie Warteschleifen fliegen. Das gefiel Reacher. Langsam in geringer Höhe über Manhattan kreisen, das in der hellen Morgensonne unter ihnen lag. Wie ein Film ohne Soundtrack. Die im Kurvenflug sanft rüttelnde Maschine. Die unter ihnen vorbeigleitenden Wolkenkratzer mit ihren von der Morgensonne vergoldeten Fassaden. Die Twin Towers. Das Empire State Building. Das alte Chrysler Building, sein Favorit. Citicorp. Dann eine Steilkurve, der Sinkflug über Queens und die Landung. Die Gebäude der Midtown jenseits des Flusses schienen an den kleinen Fenstern vorbeizuziehen, als die Maschine wendete und zum Terminal zurückrollte.
Er hatte einen Termin um neun. Das hasste er. Nicht wegen der Uhrzeit. Für den größten Teil der Geschäftswelt in Manhattan war der Vormittag um neun Uhr schon halb vorbei. Nein, ihm war nicht die Uhrzeit zuwider, sondern die Tatsache, dass er überhaupt einen Termin hatte. Es war schon sehr lange her, dass Chester Stone sich bei jemandem einen Termin hatte geben lassen. Tatsächlich konnte er sich nicht daran erinnern, jemals irgendeinen Besuchstermin vereinbart zu haben. Das hatte vielleicht sein Großvater getan, damals in den allerersten Jahren. Seither hatte die Sache immer andersherum funktioniert. Alle drei Chester Stones, vom Großvater bis zum Enkel, hatten Sekretärinnen, die huldvoll versuchten, im übervollen Kalender ihres Chefs einen Besuchstermin für den jeweiligen Bittsteller zu finden. Oft hatten Leute tagelang auf ein vorläufiges Zeitfenster gewartet - und danach noch stundenlang im Vorzimmer. Aber diesmal war es umgekehrt. Und das machte ihn wütend.
Er kam früh, weil er besorgt war. In seinem Büro hatte er vierzig Minuten damit verbracht, über seine Optionen nachzudenken. Er hatte keine. Wie er die Sache auch drehte und wendete, ihm fehlten eins Komma eine Million Dollar und sechs Wochen zum Erfolg. Und auch das machte ihm zu schaffen. Weil dies kein spektakulärer Absturz war. Keine totale Katastrophe. Es war eine angemessene und realistische Reaktion auf den Markt, die ihr Ziel schon fast, aber eben doch nicht ganz erreicht hatte. Wie ein heroischer Abschlag vom Tee, der eine Handbreit vor dem Grün landet. Sehr, sehr nahe, aber nicht nahe genug.
Um neun Uhr morgens ist das World Trade Center für sich allein die sechstgrößte Stadt im Bundesstaat New York. Mit nur sechseinhalb Hektar Grundfläche, aber einer Tagesbevölkerung von hundertdreißigtausend Menschen. Chester Stone hatte das Gefühl, die meisten von ihnen umschwirrten ihn, als er jetzt auf der Plaza stand. Sein Großvater hätte an dieser Stelle im Hudson River gestanden. Chester selbst hatte von seinem Bürofenster aus verfolgt, wie die Aufschüttung sich allmählich ins Wasser hinausgeschoben hatte und die gigantischen Türme aus dem trockenen Flussbett emporgewachsen waren. Er sah auf seine Armbanduhr und ging hinein. Fuhr mit dem Aufzug in den siebenundachtzigsten Stock und trat auf einen stillen, menschenleeren Korridor hinaus. Die Decke war niedrig, der Gang nicht allzu breit. Auf beiden Seiten führten Türen in Büros, in die asymmetrisch rechteckige Drahtglasfenster eingesetzt waren. Er fand die richtige Tür, versuchte durchs Glas zu sehen und drückte auf den Klingelknopf. Der Türöffner summte sofort, und er betrat den Empfangsbereich. Dies schien eine gewöhnliche Bürosuite zu sein. Überraschend gewöhnlich. Eine Empfangstheke aus Eiche mit Messingbeschlägen, ein Hauch von Luxus, und dahinter ein Rezeptionist. Er blieb kurz stehen, straffte die Schultern und trat auf die Theke zu.
»Chester Stone«, sagte er mit fester Stimme. »Ich habe um neun Uhr einen Termin bei Mr. Hobie.«
Der Rezeptionist war die erste Überraschung gewesen. Er hatte eine Frau erwartet. Die zweite Überraschung war, dass er sofort hineingeführt wurde. Er hatte damit gerechnet, eine gewisse Zeit im Empfangsbereich in einem unbequemen Sessel sitzend warten zu müssen. So hätte er’s gemacht. Wäre irgendein verzweifelter Mensch mit der Bitte um einen rettenden Kredit zu ihm gekommen, hätte er ihn erst einmal zwanzig Minuten lang schwitzen lassen. Das war doch sicher ein elementarer psychologischer Schachzug.
Das innere Büro war riesig. Hier hatte man Wände herausgenommen, und es war auffällig dunkel. Eine Wand bestand nur aus Fenstern, die aber hinter Jalousien verschwanden, deren senkrechte Lamellen nur zu schmalen Schlitzen geöffnet waren. Die Einrichtung bestand aus einem großen Schreibtisch und drei Sofas, die zusammen ein Quadrat bildeten. An den Enden der Sofas standen niedrige Lampentische, in der Mitte ein riesiger quadratischer Couchtisch aus Glas und Messing auf einem Orientteppich. Das Ganze sah aus wie eine Wohnzimmerdekoration im Schaufenster eines Möbelgeschäfts.
Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann. Stone machte sich auf den Weg zu ihm. Er schlängelte sich zwischen den Sofas hindurch, ging seitlich um den Couchtisch herum. Näherte sich dem Schreibtisch. Streckte seine rechte Hand aus.
»Mr. Hobie?«, sagte er, »ich bin Chester Stone.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte grausige Brandwunden. Eine Hälfte seines Gesichts war völlig mit Narbengewebe bedeckt und schuppig wie die Haut eines Reptils. Stone wandte entsetzt den Blick ab, aber er sah es aus dem Augenwinkel heraus. Wo das Narbengewebe sich weiter über den Kopf zog, hatte es die Textur eines zerkochten Hühnerfußes, war aber unnatürlich rosa. Es war weitgehend unbehaart, aber an der Grenze zum normalen Haaransatz auf der anderen Kopfhälfte wucherten einzelne graue Haarbüschel. Das Narbengewebe sah klumpig verhärtet aus, die Haut der unverbrannten Gesichtshälfte jedoch war weich und von Runzeln durchzogen. Der Mann war schätzungsweise fünfzig bis Mitte fünfzig. Er saß auf einem dicht an den Schreibtisch herangeschobenen Drehsessel und hatte die Hände im Schoß liegen. Stone stand vor ihm, zwang sich dazu, nicht wegzusehen, streckte weiter seine rechte Hand über den Schreibtisch aus.
Dies war ein peinlicher Augenblick. Nichts ist peinlicher, als mit ausgestreckter Hand dazustehen, wenn diese Geste ignoriert wird. Es ist töricht, weiter so dazustehen, aber irgendwie noch schlimmer, seine Hand wieder zurückzuziehen.
Also ließ er sie ausgestreckt, wartete. Dann bewegte der Mann sich. Er benutzte seine linke Hand, um sich vom Schreibtisch wegzuschieben. Brachte dann die rechte nach oben, um sie Stone hinzustrecken. Aber sie war keine Hand, sondern ein glänzender Metallhaken. Keine künstliche Hand, keine raffinierte Prothese, nur ein schlichter Metallhaken in Form eines J, aus Edelstahl geschmiedet und wie eine Skulptur glänzend blank poliert. Stone hätte ihn in einer unwillkürlichen Reaktion beinahe doch ergriffen, aber dann wich er zurück und erstarrte. Der Mann verzog die bewegliche Hälfte seines Gesichts zu einem knappen, großmütigen Lächeln. Als störe ihn das nicht im Geringsten.
»Jetzt wissen Sie, warum ich ›Hook‹ Hobie genannt werde«, sagte er.
Er saß mit ausdrucksloser Miene da und hielt den Haken hoch, wie zur genauen Betrachtung. Stone schluckte trocken und bemühte sich, seine Fassung zurückzugewinnen. Fragte sich, ob er ihm stattdessen die linke Hand hinstrecken sollte. Er wusste, dass manche Menschen das taten. Sein Großonkel hatte nach einem Schlaganfall in den letzten zehn Jahren seines Lebens Leuten immer die linke Hand gegeben.
»Nehmen Sie Platz«, sagte Hook Hobie.
Stone nickte und nahm dankbar am Ende des linken Sofas Platz. Hobie hielt seinen Blick auf ihn gerichtet, während er seinen Arm auf die Schreibtischplatte legte. Der Haken fiel mit einem leisen metallischen Geräusch aufs Holz.
»Sie wollen sich Geld leihen«, sagte Hobie.
Die verbrannte Hälfte seines Gesichts blieb starr. Sie war dick und hart wie der Rückenpanzer eines Krokodils. Stone fühlte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er nickte und fuhr mit beiden Handflächen über seine Knie. Nickte nochmals und versuchte, sich an sein Skript zu erinnern.
»Ich brauche einen Überbrückungskredit«, sagte er. »Sechs Wochen, eins Komma eins Millionen.«
»Bank?«, fragte Hobie.
Stone starrte zu Boden. Der Couchtisch hatte eine Glasplatte, unter der ein Orientteppich mit gedämpftem Muster lag. Er zuckte weise mit den Schultern.
»Lieber nicht«, sagte er. »Wir haben natürlich ein Kreditpaket, aber ich habe die Bank unter der Bedingung auf einen äußerst günstigen Zinssatz heruntergehandelt, dass alle Kredite keine Revolvingkredite sind, sondern auf Festbeträge lauten und feste Laufzeiten haben. Sie verstehen sicher, dass ich diese Vereinbarungen wegen eines so unbedeutenden Betrags nicht umstoßen möchte.«
Hobie bewegte seinen rechten Arm. Der Haken scharrte leise über das Holz.
»Bockmist, Mr. Stone«, sagte er ruhig.
Stone gab keine Antwort. Er horchte auf das Geräusch von Stahl auf Holz.
»Haben Sie gedient?«, fragte Hobie.
»Wie bitte?«
»Sind Sie eingezogen worden? Vietnam?«
Stone schluckte. Die Verbrennungen, der Haken ...
»Das habe ich verpasst«, erklärte er. »Fürs Studium zurückgestellt. Ich wollte unbedingt hin, versteht sich, aber als ich meinen Abschluss hatte, war der Krieg vorbei.«
Hobie nickte langsam.
»Ich war da«, sagte er. »Und zu den Dingen, die ich dort gelernt habe, gehört der Wert guter nachrichtendienstlicher Informationen. Das ist eine Lehre, die ich bei meinen Geschäften beherzige.«
In dem dunklen Büro herrschte Schweigen. Stone nickte. Bewegte seinen Kopf, starrte die Schreibtischkante an. Veränderte sein Skript.
»Okay«, sagte er. »Verständlich, dass ich versuche, meine Finanzlage etwas zu beschönigen, nicht wahr?«
»Sie stecken verhältnismäßig tief in der Scheiße«, erwiderte Hobie. »In Wirklichkeit zahlen Sie Ihrer Bank den Höchstzinssatz, und sie würde bei weiteren Kreditwünschen nein sagen. Aber Sie leisten relativ gute Arbeit bei dem Versuch, aus Ihrem Schlamassel rauszukommen. Sie haben’s schon fast geschafft.«
»Fast«, bestätigte Stone. »Ich brauche noch sechs Wochen und eins Komma eins Millionen, das ist alles.«
»Ich habe mich spezialisiert«, sagte Hobie. »Heutzutage spezialisiert sich jeder. Meine Spezialität sind Fälle genau wie Ihrer. An sich gesunde Unternehmen mit vorübergehenden, begrenzten Liquiditätsengpässen. Probleme, die Banken nicht lösen können, weil auch sie spezialisiert sind, zum Beispiel darauf, blöd und einfallslos wie Scheiße zu sein.«
Er bewegte den Haken nochmals, ließ ihn übers Eichenholz scharren.
»Meine Gebühren bleiben im Rahmen«, sagte er. »Ich bin kein Kredithai. Wir reden hier nicht von Zinssätzen von mehreren hundert Prozent. Ich wäre bereit, Ihnen die eins Komma eins Millionen vorzustrecken, sagen wir zu sechs Prozent, um diese sechs Wochen zu überbrücken.«
Stone wischte sich nochmals die Handflächen an den Knien ab. Sechs Prozent für sechs Wochen? Das entsprach welchem Jahreszinssatz? Fast zweiundfünfzig Prozent. Man lieh sich eins Komma eins Millionen Dollar, zahlte sie nach sechs Wochen mit sechsundsechszigtausend Dollar Zinsen zurück. Elftausend Dollar pro Woche. Nicht direkt die Konditionen eines Kredithais, aber nicht allzu weit davon entfernt. Aber zumindest war der Typ bereit, ihm den Kredit zu gewähren.
»Was verlangen Sie als Sicherheit?«, fragte Stone.
»Ich nehme ein Aktienpaket«, antwortete Hobie.
Stone zwang sich, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Er vermutete, er solle irgendwie auf die Probe gestellt werden. Er schluckte erneut. Rechnete sich aus, so kurz vor dem Ziel sei Ehrlichkeit die beste Politik.
»Die Aktien sind wertlos«, erklärte er ruhig.
Hobie nickte, als gefalle ihm diese Antwort.
»Im Augenblick schon«, entgegnete er. »Aber sie sind bald wieder etwas wert, stimmt’s?«
»Erst nachdem Ihr Engagement beendet ist«, sagte Stone. »Ein Teufelskreis, nicht wahr? Der Aktienwert steigt erst, nachdem ich Ihren Kredit zurückgezahlt habe. Wenn ich’s geschafft habe.«
»Dann profitiere ich eben später«, sagte Hobie. »Ich rede nicht von einer befristeten Hinterlegung. Ich werde ein Aktienpaket nehmen und es behalten.«
»Behalten?«, wiederholte Stone. Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme überrascht klang. Der Kerl verlangte zweiundfünfzig Prozent Zinsen und ein Aktienpaket als Dreingabe?
»Das mache ich immer so«, erklärte Hobie. »Eine sentimentale Anwandlung. Ich besitze gern ein kleines Stück von allen Unternehmen, denen ich helfe. Die meisten Leute sind damit einverstanden.«
Stone schluckte. Sah zu Boden. Dachte über seine Optionen nach. Zuckte mit den Schultern.
»Klar«, sagte er. »Das ist in Ordnung, denke ich.«
Hobie griff nach links und zog eine Schreibtischschublade auf. Er nahm ausgefüllte Formulare heraus. Schob sie Stone über den Schreibtisch zu.
»Die habe ich vorbereitet«, sagte er.
Stone richtete sich gebückt vom Sofa auf und griff nach den Schriftstücken. Ein Kreditvertrag, eins Komma eins Millionen, sechs Wochen, sechs Prozent und ein Überlassungsvertrag für die Aktien. Für ein Paket, das vor nicht allzu langer Zeit eine Million Dollar wert gewesen war und es vielleicht schon bald wieder sein würde. Er blinzelte.
»Kann’s nicht anders machen«, meinte Hobie. »Ich hab mich wie vorhin gesagt spezialisiert. Ich kenne dieses Marktsegment. Bessere Konditionen bekommen Sie nirgends. Tatsächlich kriegen Sie anderswo überhaupt nichts.«
Hobie saß zwei Meter von ihm entfernt hinter dem Schreibtisch, aber Stone hatte das Gefühl, er hocke dicht neben ihm auf dem Sofa, bedränge ihn mit seinem schrecklichen Gesicht und zerfetze ihm mit seinem glänzenden Haken die Eingeweide. Er nickte nur, eine stumme, kaum wahrnehmbare Kopfbewegung, und griff in seine Jacke, um seinen dicken Montblanc-Füller herauszuholen. Beugte sich nach vorn und unterschrieb auf dem kalten, harten Glas des Couchtischs an den beiden dafür vorgesehenen Stellen. Hobie, der ihn dabei beobachtete, nickte seinerseits.
»Ich nehme an, dass Sie das Geld auf dem Girokonto Ihrer Firma haben möchten?«, fragte er. »Wo die anderen Banken es nicht sehen?«
Stone nickte erneut, war wie benommen.
»Das wäre gut«, antwortete er.
Hobie machte sich eine Notiz. »In einer Stunde ist’s auf Ihrem Konto.«
»Danke«, sagte Stone. Das erschien ihm angebracht,
»So, jetzt liegt das Risiko ganz bei mir«, sagte Hobie. »Sechs Wochen, keine wirkliche Sicherheit in der Hand. Kein sehr schönes Gefühl.«
»Da gibt’s kein Problem«, murmelte Stone, ohne ihn anzusehen.
Hobie nickte. »Davon bin ich überzeugt«, sagte er. Dann beugte er sich vor und drückte auf eine Taste seiner Gegensprechanlage. Stone hörte einen leisen Summton, der aus dem Vorzimmer kam.
»Bitte das Stone-Dossier«, sagte Hobie ins Mikrofon.
Danach herrschte kurz Stille, dann wurde die Tür geöffnet. Der Rezeptionist trat an den Schreibtisch. Er hatte einen dünnen grünen Ordner mitgebracht, den er nun vor Hobie legte. Er verließ den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. Hobie benutzte seinen Haken, um den Ordner zu sich heranzuziehen.
»Sehen Sie mal rein«, forderte er Stone auf.
Stone griff nach dem Ordner und schlug ihn auf. In einer Klarsichthülle steckten Fotos. Mehrere Vergrößerungen im Format achtzehn mal vierundzwanzig Zentimeter, schwarzweiße Hochglanzbilder. Auf dem ersten Foto war sein Haus zu sehen. Offensichtlich aus einem Wagen aufgenommen, der in der Einfahrt gestanden hatte. Das zweite Foto zeigte seine Frau. Marilyn. Mit einem Teleobjektiv festgehalten, als sie durch den Blumengarten ging. Auf dem dritten Foto kam Marilyn aus ihrem Schönheitssalon in der Stadt. Ein grobkörniges, ebenfalls mit einem Tele fotografiertes Bild. Heimlich gemacht wie bei einer Personenüberwachung. Das vierte Foto war eine Nahaufnahme des Kennzeichens ihres BMWs.
Das fünfte Foto zeigte wieder Marilyn. Nachts durch ihr Schlafzimmerfenster aufgenommen. Sie trug einen Bademantel. Ihr Haar war nicht aufgesteckt und sah feucht aus. Stone starrte auf das Bild. Um so eine Aufnahme zu schießen, musste der Fotograf auf dem Rasen hinter ihrem Haus gestanden haben. Das Foto verschwamm vor seinen Augen, und die Stille summte in seinen Ohren. Dann schob er die Fotos zusammen und klappte den Ordner zu. Legte ihn langsam auf den Schreibtisch zurück. Hobie beugte sich nach vorn und drückte die Spitze seines Hakens in den grünen Umschlagkarton, um ihn zu sich heranzuziehen. In der Stille klang das scharrende Geräusch unnatürlich laut.
»Das ist meine Sicherheit, Mr. Stone«, sagte er. »Aber wie Sie mir gerade erklärt haben, gibt’s bestimmt kein Problem.«
Chester Stone schwieg. Stand nur auf und schlängelte sich zwischen all den Möbeln hindurch zur Tür. Ging durch den Empfangsbereich und den Korridor entlang zum Aufzug. Fuhr die siebenundachtzig Stockwerke hinunter und trat unten ins Freie, wo die helle Morgensonne sein Gesicht wie ein Faustschlag traf.