3
Dieselbe Sonne wärmte Reacher den Nacken, als er auf dem Rücksitz eines nicht lizenzierten Taxis nach Manhattan unterwegs war. Hatte er die Wahl, nahm er am liebsten ein Taxi, dessen Fahrer keinen Taxischein besaß. Das kam seiner Angewohnheit entgegen, möglichst wenig von sich preiszugeben. Dass jemand versuchen würde, seine Fährte aufzunehmen, indem er Taxifahrer befragte, war höchst unwahrscheinlich, aber ein Taxifahrer, der geleugnet hätte, einer zu sein, war sicherer als jeder andere. Und so hatte er auch Gelegenheit, ein wenig um den Fahrpreis zu feilschen. Mit dem Taxameter eines Yellow Cab ließ sich nicht gut handeln.
Sie kamen über die Triborough Bridge und fuhren auf der 125th Street nach Manhattan. Folgten dem Verkehrsstrom nach Westen bis zum Roosevelt Square, Dort ließ Reacher den Fahrer am Bordstein halten, während er sich umsah und kurz nachdachte. Er suchte ein billiges Hotel, aber er wollte eines mit funktionierenden Telefonen. Und vollständigen Telefonbüchern. Seiner Einschätzung nach würden alle drei Wünsche sich in diesem Teil Manhattans nicht erfüllen lassen. Aber er stieg trotzdem aus und entlohnte den Fahrer. Er hatte noch kein bestimmtes Ziel, aber er würde die letzte Etappe zu Fuß zurücklegen. Eine Zeit, in der er allein unterwegs war. Das kam seiner Gewohnheit entgegen.
Die beiden jungen Männer in verknitterten Tausenddollaranzügen warteten, bis Chester Stone zum Aufzug gegangen war. Dann betraten sie das Büro und blieben schweigend vor dem Schreibtisch stehen. Hobie warf ihnen einen Blick zu, dann öffnete er eine Schreibtischschublade, schob die unterzeichneten Verträge und den Ordner mit den Fotos hinein und nahm einen neuen Schreibblock mit gelbem Papier heraus. Er legte seinen Haken auf die Schreibtischplatte und drehte seinen Sessel so zur Seite, dass der durch die Jalousien einfallende schwache Lichtschein die unverletzte Hälfte seines Gesichts erhellte.
»Nun?«
»Wir kommen gerade zurück«, begann der erste Kerl.
»Habt ihr die Informationen, die ich wollte?«
Der zweite Kerl nickte. Ließ sich auf ein Sofa fallen.
»Er war auf der Suche nach einem gewissen Jack Reacher.«
Hobie notierte sich den Namen auf seinem gelben Schreibblock. »Wer ist er?«
Kurzes Schweigen.
»Wissen wir nicht«, sagte der erste Kerl.
Hobie nickte. »Wer war Costellos Auftraggeberin?«
Wieder kurzes Schweigen.
»Wissen wir auch nicht«, sagte der Kerl.
»Das sind ziemlich grundlegende Fragen«, meinte Hobie.
Der Kerl betrachtete ihn nur schweigend, aber sichtbar nervös.
»Ihr seid nicht darauf gekommen, diese ziemlich grundlegenden Fragen zu stellen?«
Der zweite Kerl nickte. »Wir haben sie gestellt. Wir haben sie wie verrückt gestellt.«
»Aber Costello wollte nicht antworten?«
»Doch, das wollte er«, erwiderte der erste Kerl.
»Aber?«
»Er ist uns weggestorben«, erwiderte der zweite Kerl. »Hat einfach den Löffel abgegeben. Er war alt, übergewichtig. Es könnte ein Herzschlag gewesen sein, denke ich. Tut mir sehr Leid, Sir. Tut uns beiden leid.«
Hobie nickte erneut. »Gefährdung?«
»Null«, entgegnete der erste Kerl. »Er lässt sich nicht identifizieren.«
Hobie warf einen Blick auf die Fingerspitzen seiner linken Hand. »Wo ist das Messer?«
»Im Meer«, erwiderte der zweite Kerl.
Hobie bewegte den rechten Arm und klopfte mit der Spitze seines Hakens rhythmisch auf die Schreibtischplatte. Dachte angestrengt nach und nickte dann energisch.
»Okay, vermutlich nicht eure Schuld. Schwaches Herz, wer hätte das ahnen können?«
Der erste Kerl atmete erleichtert auf und setzte sich zu seinem Partner aufs Sofa. Sie waren noch mal davongekommen.
»Wir müssen die Auftraggeberin finden«, sagte Hobie in die Stille hinein.
Die beiden Kerle nickten und warteten.
»Costello muss eine Sekretärin gehabt haben, stimmt’s?«, sagte Hobie. »Sie wird wissen, wer die Auftraggeberin war. Bringt sie mir.«
Die beiden Kerle blieben sitzen.
»Was?«
»Dieser Jack Reacher«, begann der erste Mann. »Soll ein großer Kerl sein, der seit drei Monaten auf den Keys ist. Costello hat uns erzählt, dass er von einem großen Typ gehört hat, der sich seit drei Monaten dort aufhält und in einer Bar arbeitet. Wir sind hingegangen. Großer, taffer Kerl, aber er hat behauptet, nicht Jack Reacher zu sein.«
»Und?«
»Flughafen Miami«, sagte der zweite Mann. »Wir sind mit United geflogen, weil’s ein Direktflug war. Aber kurz davor ist eine andere Maschine gestartet. Delta nach Atlanta und New York.«
»Und?«
»Der große Kerl aus der Bar? Den haben wir auf dem Weg zum Flugsteig gesehen.«
»Wisst ihr das bestimmt?«
Der erste Kerl nickte. »Zu neunundneunzig Prozent sicher. Er war ziemlich weit entfernt, aber er ist verdammt groß. Schwer zu übersehen.«
Hobie begann wieder, mit der Spitze seines Hakens auf die Schreibtischlatte zu klopfen. In Gedanken verloren.
»Okay, er ist Reacher«, stellte er fest. »Muss er sein, richtig? Costello fragt herum, dann kreuzt ihr beiden am selben Tag auf, das verschreckt ihn, und er haut ab. Aber wohin? Hierher?«
Der zweite Kerl nickte. »Ist er in Atlanta im Flugzeug geblieben, befindet er sich jetzt hier.«
»Aber warum?«, fragte Hobie. »Wer zum Teufel ist er?«
Er dachte einen Augenblick nach und beantwortete seine Frage selbst.
»Die Sekretärin wird wissen, wer die Auftraggeberin war, stimmt’s?«
Dann lächelte er.
»Und die Auftraggeberin wird mir verraten, wer dieser Reacher ist.«
Die beiden Kerle in den modischen Anzügen nickten schweigend, standen auf und verließen das Büro.
Reacher ging durch den Central Park nach Süden. Unterwegs versuchte er, den Umfang der selbst gestellten Aufgabe ganz zu ermessen. Er war zuversichtlich, dass er sich am rechten Ort befand. Die drei Männer waren unüberhörbar New Yorker gewesen. Aber die Einwohnerschaft dieser Stadt war riesig: Sieben Komma fünf Millionen Menschen auf fünf Stadtbezirke verteilt, insgesamt etwa achtzehn Millionen im Großraum New York. Achtzehn Millionen, die sich bestimmt auf ihre nähere Umgebung konzentrierten, wenn sie einen schnell arbeitenden, tüchtigen Privatdetektiv brauchten. Gefühlsmäßig vermutete er, Costello habe sein Büro in Manhattan gehabt, obwohl es durchaus möglich war, dass Mrs. Jacob in einem Vorort lebte. Wo würde man als Frau, die irgendwo in Suburbia wohnt und einen Privatdetektiv braucht, einen suchen? Nicht neben dem Supermarkt oder dem Videoverleih. Nicht im Einkaufszentrum neben den Boutiquen. Sie würde in den Gelben Seiten der nächsten Großstadt nachschlagen und anfangen zu telefonieren. Nach der ersten Kontaktaufnahme kommt der Mann vielleicht zu einem heraus, oder man setzt sich in den Zug und fährt zu ihm. Von irgendeinem Punkt in einem dicht besiedelten Gebiet aus, das sich über Hunderte von Quadratkilometer erstreckt.
Den Gedanken an ein Hotel hatte er bereits verworfen. Unter Umständen würde seine Suche nur eine Stunde dauern. Und er benötigte mehr Informationen, als Hotels anzubieten hatten. Er brauchte die Telefonbücher aller fünf Stadtbezirke und der Vororte. Hotels würden sie nicht alle haben. Und er wollte auch nicht die überhöhten Telefongebühren bezahlen, die Hotels meist verlangten. Swimmingpoollöcher zu graben hatte ihn nicht gerade reich gemacht.
Deshalb war er zur Public Library unterwegs. Fifth Avenue und 42nd Street. Die größte Bibliothek der Welt? Das wusste er nicht mehr genau. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber bestimmt groß genug, um alle Telefonbücher zu beherbergen, die er brauchte, und große, breite Tische und bequeme Stühle. Vier Meilen vom Roosevelt Square entfernt, ein einstündiger flotter Marsch, nur von einem kurzen Besuch in einem Schreibwarengeschäft unterbrochen, in dem er ein Notizbuch und einen Bleistift erstand.
Der nächste Mann, der Hobies Büro betrat, war der Rezeptionist. Er kam herein und schloss die Tür hinter sich ab. Trat vor den Schreibtisch und setzte sich ans Ende des linken Sofas. Starrte Hobie lange durchdringend und schweigend an.
»Was gibt’s?«, fragte Hobie, obwohl er das genau wusste.
»Du solltest abhauen«, sagte der Rezeptionist. »Jetzt ist’s riskant geworden.«
Hobie äußerte sich nicht dazu. Hielt nur seinen Haken in der linken Hand und fuhr mit seinen restlichen Fingern den grausamen Metallbügel entlang.
»Du hast Pläne gemacht«, fuhr der Rezeptionist fort. »Und Versprechungen. Was nützen Pläne und Versprechungen, wenn du dich dann nicht an sie hältst?«
Hobie zuckte mit den Schultern. Schwieg.
»Wir haben aus Hawaii gehört, stimmt’s?«, fragte der Rezeptionist. »Du wolltest immer verschwinden, sobald wir aus Hawaii hören.«
»Costello ist nie in Hawaii gewesen«, erwiderte Hobie. »Das haben wir nachgeprüft.«
»Das macht alles nur noch schlimmer. Jemand anders ist in Hawaii gewesen. Jemand, den wir nicht kennen.«
»Routine«, meinte Hobie. »Muss so gewesen sein. Denk mal drüber nach. Kein Mensch hat Grund gehabt, nach Hawaii zu fliegen, bevor wir vom anderen Ende gehört hatten. Das Ganze ist eine Sequenz, das weißt du. Wir hören vom anderen Ende, wir hören aus Hawaii, Schritt eins, Schritt zwo, dann ist’s Zeit unterzutauchen. Nicht vorher.«
»Du hast’s versprochen«, wiederholte der Mann.
»Zu früh«, sagte Hobie. »Es ist nicht logisch. Überleg mal. Stell dir vor, du siehst, wie jemand einen Revolver und eine Schachtel Munition kauft, dann mit der Waffe auf dich zielt. Hast du Angst?«
»Klar habe ich Angst.«
»Ich nicht«, sagte Hobie. »Weil er den Revolver nicht geladen hat. Schritt eins ist, eine Waffe mit Munition zu kaufen, Schritt zwei ist, sie zu laden. Bis wir vom anderen Ende hören, ist Hawaii eine ungeladene Waffe.«
Der Rezeptionist starrte an die Zimmerdecke.
»Warum machst du das?«
Hobie zog seine Schublade auf und holte das Stone-Dossier und die unterzeichneten Verträge heraus. Hielt das Papier schräg, bis der durchs Fenster einfallende schwache Lichtschein die mit blauer Tinte geschriebenen Unterschriften aufleuchten ließ.
»Sechs Wochen«, sagte er. »Vielleicht weniger. Mehr brauche ich nicht.«
Der Rezeptionist sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Brauchst du wofür?«
»Für den größten Fischzug meines Lebens«, antwortete Hobie.
Er klappte das Dossier wieder zu und hielt es unter seinem Haken fest.
»Stone hat mir vorhin seine gesamte Firma überschrieben. Drei Generationen Schweiß und Plackerei, und dieses dämliche Arschloch hat sie mir auf einem Silbertablett überreicht.«
»Nein, er hat dir einen Haufen Scheiße überreicht. Du hast eins Komma eins Millionen Dollar gegen einen Packen wertloses Papier eingetauscht.«
Hobie lächelte,
»Reg dich nicht auf, überlass das Denken mir, okay? Darauf verstehe ich mich, einverstanden?«
»Okay, wie soll’s laufen?«, fragte der andere.
»Weißt du, was ihm alles gehört? Eine große Fabrik draußen auf Long Island und eine riesige Villa droben in Pound Ridge. Um die Fabrik drängen sich an die fünfhundert Häuser zusammen. Das müssen insgesamt zwölfhundert Hektar sein - in erstklassiger Lage auf Long Island, voll erschlossene Grundstücke mit Meerblick, die nur darauf warten, dicht bebaut zu werden.«
»Die Häuser gehören nicht ihm«, wandte der Typ ein.
Hobie nickte. »Nein, sie sind alle mit Hypothekenkrediten irgendeiner kleinen Bank in Brooklyn finanziert.«
»Okay, wie soll’s laufen?«, wiederholte der Rezeptionist.
»Überleg mal selbst«, sagte Hobie, »was passiert, wenn ich seine Aktien auf den Markt werfe?« '
»Für die kriegst du nichts«, antwortete der andere. »Die sind völlig wertlos.«
»Richtig, sie sind völlig wertlos. Aber das wissen seine Banker noch nicht wirklich. Er hat sie belogen. Er hat sie über seine finanziellen Probleme im Unklaren gelassen. Weshalb wäre er sonst zu mir gekommen? Seine Banker bekommen also unter die Nase gerieben, wie wertlos die als Sicherheit hinterlegten Aktien in Wirklichkeit sind. Eine Bewertung geradewegs vom Börsenparkett. So erfahren sie: Diese Aktien sind einen Dreck wert. Was dann?«
»Sie geraten in Panik«, antwortete der Kerl.
»Richtig«, sagte Hobie. »Sie geraten in Panik. Sie haben wertlose Sicherheiten in ihrem Portefeuille. Sie scheißen sich in die Hose, bis Hook Hobie aufkreuzt und ihnen anbietet, Stones Kredite für zwanzig Prozent des Nennwerts abzulösen.«
»Darauf lassen die sich ein? Sie nehmen die zwanzig Prozent?«
Hobie lächelte. Das Narbengewebe kräuselte sich.
»Die nehmen sie«, erklärte er. »Sie beißen mir auch noch die linke Hand ab, um sie zu kriegen. Und als Teil des Deals bekomme ich sämtliche Aktien, die sie bisher gehalten haben.«
»Okay, was passiert dann? Was ist mit den Häusern?«
»Mit denen läuft’s ähnlich«, erklärte Hobie. »Mir gehört das Aktienkapital, mir gehört die Fabrik dort draußen, ich mache sie dicht. Keine Jobs mehr, aber fünfhundert Hypotheken, die nicht mehr bezahlt werden. Das versetzt die Brooklyner Bank in Angst und Schrecken. Ich kaufe die wertlosen Hypotheken für zehn Prozent ihres Werts auf, kündige sie und lasse die Häuser zwangsräumen. Dann ordere ich Planierraupen und habe wenig später zwölfhundert Hektar erstklassiges Bauland in Küstennähe auf Long Island. Und eine große Villa droben in Pound Ridge. Alles zusammen kostet mich rund acht Millionen Dollar. Allein die Villa ist zwei wert. Folglich habe ich sechs Millionen für Bauland ausgegeben, das ich für hundert Millionen verkaufen kann, wenn ich’s richtig anstelle.«
Der Rezeptionist starrte ihn an.
»Dafür brauche ich die sechs Wochen«, sagte Hobie.
Aber der andere schüttelte den Kopf.
»Das funktioniert nicht«, wandte er ein. »Die Firma ist ein altes Familienunternehmen. Das Aktienkapital befindet sich größtenteils noch in Stones Besitz. Nur der kleinste Teil wird an der Börse gehandelt. Auch seine Bank hält nur einen Bruchteil davon. Du wärst lediglich sein Juniorpartner. Er würde dich all das nie tun lassen.«
Diesmal schüttelte Hobie den Kopf.
»Er verkauft mir seine Aktien. Restlos. Seinen gesamten Besitz.«
»Das tut er nicht.«
»Doch, das tut er.«
In der New York Public Library gab es eine gute und eine schlechte Nachricht. In den Telefonbüchern für Manhattan, die Bronx, Brooklyn, Queens, Staten Island, Long Island, Westchester, die Küste von New Jersey und Connecticut gab es massenhaft Einträge unter Jacob. Also grenzte Reacher den Radius ein. Leute, die eine Stunde entfernt leben, denken automatisch an die Stadt, wenn sie etwas brauchen. Weiter außerhalb tun sie’s vielleicht nicht mehr. Er schrieb die Telefonnummern in sein Notizbuch und zählte hundertneunundzwanzig potentielle Kandidaten für die geheimnisvolle Mrs. Jacob.
Aber in den Gelben Seiten war kein Eintrag für einen Privatdetektiv namens Costello zu finden. Im normalen Telefonbuch gab es viele Costellos, aber keinen beruflichen Eintrag unter diesem Namen. Reacher seufzte. Er war enttäuscht, aber nicht überrascht. Es wäre zu schön gewesen, das Telefonbuch aufzuschlagen und einen Eintrag Costello Investigations-Spezialisten für die Aufspürung ehemaliger Militärpolizisten auf den Keys zu finden.
Viele Detektivbüros hatten Phantasienamen und konkurrierten mit Namen, die mit einem großen A begannen, um eine Vorrangstellung. Ace, Acme, A-One, AA Investigations. Andere beschränkten sich auf geografische Hinweise wie Manhattan oder die Bronx. Manche strebten nach Höherem, indem sie »paralegale Dienste« anboten. Eine gab sich nostalgisch, indem sie sich Schlapphut nannte. Zwei beschäftigten ausschließlich Frauen, arbeiteten ausschließlich für Frauen.
Reacher nahm erneut das normale Telefonbuch zur Hand, schlug in seinem Notizbuch eine neue Seite auf und schrieb sich fünfzehn Nummern des New York Police Department auf. Saß eine Zeit lang da und dachte über seine Optionen nach. Dann verließ er die Bibliothek, ging an den riesigen steinernen Löwen vorbei und betrat die nächste Telefonzelle auf dem Gehsteig. Er stellte sein Notizbuch aufs Telefon, legte alles Kleingeld, das er in seinen Taschen finden konnte, daneben und machte sich daran, ein Polizeirevier nach dem anderen anzurufen. In jedem ließ er sich mit der Registratur verbinden. Er hoffte einen im Dienst ergrauten Sergeanten an die Strippe zu bekommen, der ihm weiterhelfen konnte.
Beim vierten Anruf wurde er fündig.
»Ich suche einen gewissen Costello«, begann er. »Pensioniert und als Privatdetektiv tätig, vielleicht selbstständig, vielleicht angestellt. Ungefähr sechzig Jahre alt.«
»Yeah, und wer sind Sie?«, erkundigte sich eine Stimme. Der Tonfall war identisch. Der Mann hätte Costello sein können.
»Ich heiße Carter«, sagte Reacher. »Wie der Präsident.«
»Und was wollen Sie von Costello, Mr. Carter?«
»Ich habe etwas für ihn, aber seine Karte ist mir irgendwie abhandengekommen«, sagte Reacher. »Kann seine Nummer nicht im Telefonbuch finden.«
»Das liegt daran, dass Costello nicht drinsteht. Er arbeitet nur für Anwälte, nicht fürs breite Publikum.«
»Sie kennen ihn also?«
»Ob ich ihn kenne? Klar kenne ich ihn. Er hat in diesem Gebäude fünfzehn Jahre lang als Kriminalbeamter gearbeitet. Kein Wunder, dass ich ihn kenne.«
»Wissen Sie, wo er sein Büro hat?«
»Irgendwo drüben im Village«, erwiderte der Polizeibeamte und verstummte wieder.
Reacher hielt die Sprechmuschel zu und seufzte. Der Kerl ließ sich die Würmer einzeln aus der Nase ziehen.
»Wissen Sie, wo im Village?«
»Greenwich Avenue, wenn ich mich recht erinnere.«
»Haben Sie die Hausnummer?«
»Nein.«
»Telefonnummer?«
»Nein.«
»Kennen Sie eine Mrs. Jacob?«
»Nein, sollte ich das?«
»War bloß ’ne Frage«, meinte Reacher. »Er hat für sie gearbeitet.«
»Nie von ihr gehört.«
»Okay, danke für Ihre Hilfe«, sagte Reacher.
»Yeah«, sagte die Stimme.
Reacher hängte ein, ging wieder die Treppe hinauf und betrat den Lesesaal. Schlug nochmals im Telefonbuch für Manhattan nach, versuchte einen Costello in der Greenwich Avenue zu finden. Kein Eintrag. Er stellte das Telefonbuch ins Regal zurück, trat wieder in die Sonne hinaus und machte sich auf den Weg.
Die Greenwich Avenue ist eine lange, gerade Straße» die von der Eighth Avenue und 14th Street nach Südosten zur Sixth Avenue und 8th Street führt. Sie verläuft zwischen hübschen mehrstöckigen Gebäuden im Villagestil, deren Tiefparterre häufig für kleine Läden oder Galerien genutzt wird. Reacher suchte als Erstes die Nordseite ab, ohne fündig zu werden. Schlängelte sich am unteren Ende durch den Verkehr, ging auf der anderen Seite zurück und entdeckte auf halber Strecke ein kleines Messingschild an der Natursteineinfassung eines Hauseingangs. Auf dem Schild, einem glänzend polierten Rechteck zwischen anderen in einem Rahmen, stand nur Costello. Die schwarze Haustür stand offen. Dahinter lag ein kleines Foyer mit einer Wandtafel, in deren schwarze Filzrillen weiße Kunststoffbuchstaben gedrückt waren, die erkennen ließen, dass das Gebäude in zehn Bürosuiten aufgeteilt war. Suite fünf war mit Costello bezeichnet. Jenseits der Eingangshalle lag eine Glastür, abgesperrt. Reacher klingelte bei Suite fünf. Keine Antwort. Er klingelte Sturm, aber auch das brachte nichts. Also klingelte er bei sechs. Aus dem Lautsprecher drang eine verzerrte Stimme.
»Ja?«
»UPS«, sagte er, hörte den Türöffner der Glastür summen und stieß sie auf.
Das Haus hatte drei Etagen, eigentlich vier, wenn man das separate Tiefgeschoss mitzählte. Die Suiten eins, zwei und drei lagen im Parterre. Er stieg die Treppe hinauf und sah die Suite vier links von sich, die Nummer sechs auf der rechten Seite und die Suite fünf nach hinten hinaus. Dort lag ihr Eingang im Winkel unter der Treppe, die in den zweiten Stock hinaufführte.
Die Eingangstür hatte ein auf Hochglanz poliertes Mahagoniblatt und stand offen. Nicht ganz offen, aber weit genug, dass es sofort auffiel. Als Reacher sie mit der Schuhspitze aufstieß, schwang sie nach innen und gab den Blick in einen kleinen, dezenten Empfangsbereich von der Größe eines Motelzimmers frei. Er war in Pastelltönen zwischen Hellgrau und Hellblau gehalten. Hochfloriger Teppichboden. Ein L-förmiger Schreibtisch für die Sekretärin mit einem komplizierten Telefon und einem Computer mit Flachbildschirm. Ein Aktenschrank und ein Sofa. Das einzige Fenster hatte undurchsichtige Milchglasscheiben, und eine weitere Tür führte geradeaus in ein Büro.
Der Empfangsbereich war still und leer. Reacher trat ein und drückte die Tür mit dem Absatz hinter sich zu. Das Türschloss schnappte nicht ein, als sei das Büro zur üblichen Geschäftszeit geöffnet gewesen. Er ging lautlos über den Teppich zur inneren Tür. Wickelte seine Hand in das aus der Hose gezogene Hemd und drehte den Türknopf nach links. Betrat einen zweiten gleich großen Raum. Costellos Büro. Gerahmte Schwarzweißfotos zeigten jüngere Versionen des Mannes, den er in Key West getroffen hatte, mit Polizeipräsidenten, Captains und Lokalpolitikern, die Reacher nicht kannte. Vor vielen Jahren war Costello sportlich schlank gewesen. Die Erinnerungsfotos waren an der Wand rechts neben dem Schreibtisch gruppiert, auf dem sich eine Schreibunterlage, eine altmodische Schreibgarnitur und ein Telefon befanden. Hinter dem Schreibtisch stand ein Drehsessel, in dessen Lederpolster sich die Umrisse eines schweren Mannes eingedrückt hatten. An der linken Wand mit dem Fenster, das ebenfalls undurchsichtige Scheiben besaß, standen mehrere verschlossene Karteischränke. Vor dem Schreibtisch waren zwei Besuchersessel ordentlich in einem Winkel zueinander aufgestellt.
Reacher ging ins Vorzimmer zurück, in dem schwacher Parfümduft hing. Als er hinter den Schreibtisch der Sekretärin trat, entdeckte er eine Handtasche, die offen auf der kleinen Ablage links neben dem Drehsessel stand. Die offene Klappe ließ eine Geldbörse aus weichem Leder und eine Packung Papiertaschentücher sehen. Er zog seinen Bleistift heraus und benutzte das Ende mit dem Radiergummi, um die Taschentuchpackung zur Seite zu schieben. Darunter lagen verschiedene Kosmetika, ein Schlüsselbund und ein Flakon mit einem teuren Eau de Toilette.
Über den Monitor flutete ein wässriger Bildschirmschoner. Reacher tippte die Maus mit seinem Bleistift an. Der Monitor wurde knisternd hell und zeigte ihm einen halb fertigen Geschäftsbrief. Der Cursor blinkte geduldig in der Mitte eines nicht zu Ende geschrieben Wortes. Der Brief trug das aktuelle Datum. Reacher dachte an Costello, der ermordet auf dem Gehsteig neben dem Friedhof in Key West gelegen hatte, sah von der ordentlich hingestellten Handtasche der abwesenden Frau zu der offenen Tür und dann wieder zu dem nicht zu Ende geschriebenen Wort. Ein kalter Schauder lief über seinen Rücken.
Er nahm seinen Bleistift, um die Anwendung zu schließen. Eine Dialogbox öffnete sich, um ihn zu fragen, ob er die Änderungen speichern wolle. Reacher überlegte kurz, dann tippte er NEIN an. Öffnete den Dateimanager und kontrollierte die Verzeichnisse. Er suchte eine Rechnung. Das ganze Büro zeugte davon, dass Costello auf Ordnung geachtet und mit Sicherheit einen Vorschuss in Rechnung gestellt hatte, bevor er sich auf die Suche nach Jack Reacher machte. Aber wann hatte diese Suche begonnen? Sie musste nach einem klaren Schema verlaufen sein. Angefangen hatte sie mit Mrs. Jacobs Auftrag, zu dem nur die Nennung seines Namens, ein vager Hinweis auf seine Größe und die Erwähnung seiner Militärdienstzeit erfolgt waren. Dann müsste Costello beim Personalamt der Streitkräfte angerufen haben, einem streng bewachten Komplex in St. Louis, in dem jedes Stück Papier über alle Männer und Frauen, die jemals US-Uniform getragen haben, aufbewahrt wird. Zweifach streng bewacht: physisch mit Toren und Stacheldraht, bürokratisch mit absichtlich errichteten Barrieren, die leichtfertige Anfragen verhindern sollen. Nach geduldigen Recherchen würde er Reachers ehrenhafte Entlassung entdeckt haben. Dann eine ratlose Pause, weil die Ermittlungen in eine Sackgasse geraten waren. Dann Nachforschungen nach einem Bankkonto. Ein Anruf bei einem alten Kumpel, der ihm einen Gefallen schuldete. Vielleicht ein verschwommener Faxausdruck aus Virginia oder ein detaillierter Telefonbericht über die Ein- und Auszahlungen der letzten Jahre. Dann die hastige Reise in den Süden, die Fragen entlang der Duval Street, die beiden Kerle, die Fäuste, das Teppichmesser.
St. Louis und Virginia mussten die Ermittlungen aufgehalten haben. Reacher vermutete, dass jemand wie Costello drei, vielleicht vier Tage gebraucht haben würde, um eine Auskunft vom Personalamt zu erhalten. Die Sache mit der Bank in Virginia hatte vielleicht ebenso lange gedauert. Gefälligkeiten werden nicht immer sofort erwiesen. Der Zeitpunkt muss gerade günstig sein. Okay, das waren etwa sieben Tage für den bürokratischen Hindernislauf, dazwischen ein Tag zum Nachdenken, plus je ein Tag am Anfang und am Ende. Insgesamt etwa zehn Tage, seit Mrs. Jacob die ganze Sache angeleiert hatte.
Er klickte das Verzeichnis RECHNUNGEN an. Auf der rechten Bildschirmhälfte erschien eine lange Reihe alphabetisch angeordneter Namen. Er ließ den Cursor die Liste hinunterlaufen. Kein Jacob unter dem Buchstaben J. Die meisten Namen waren nur lange Akronyme, die vermutlich Anwaltsfirmen bezeichneten. Er kontrollierte die Daten. Keine Rechnung, die genau zehn Tage alt war. Aber eine, die vor neun Tagen ausgestellt worden war. Vielleicht hatte Costello schneller gearbeitet, als er vermutete - oder seine Sekretärin langsamer. Das Kürzel lautete SGR&T-09. Er klickte es an, und auf dem Bildschirm erschien eine Rechnung über einen Vorschuss von zweitausend Dollar für Nachforschungen nach einer vermissten Person, die an die Wall-Street-Firma Spencer Gutman Ricker & Talbot gegangen war. Die Adresse stand auf der Rechnung, aber natürlich ohne Telefonnummer.
Reacher kehrte zum Dateimanager zurück und rief das Verzeichnis ADRESSEN auf. Suchte dort wieder nach SGR&T und kam zu einer Seite mit derselben Anschrift, die diesmal jedoch durch Telefon- und Faxnummern und eine E-Mail-Adresse ergänzt war. Er beugte sich über die offene Handtasche der Sekretärin und zog mit spitzen Fingern zwei Papiertaschentücher aus der Packung. Wickelte das eine um den Telefonhörer, faltete das andere auseinander und legte es über die Tastatur. Tippte die Telefonnummer durch den weichen Zellstoff hindurch ein. Am anderen Ende klingelte es, dann kam die Verbindung zustande.
»Spencer Gutman«, meldete sich eine angenehme Frauenstimme. »Was kann ich für Sie tun?«
»Mrs. Jacob, bitte«, sagte Reacher knapp, als sei er in Eile.
»Augenblick, bitte«, sagte die Stimme.
Blecherne Musik, dann eine aufgeweckte, aber respektvolle Männerstimme. Vielleicht ein Assistent.
»Mrs. Jacob, bitte«, wiederholte Reacher.
Die Stimme des Mannes klang plötzlich irritiert. »Sie ist schon nach Garrison hinausgefahren, und ich weiß wirklich nicht, wann sie ins Büro zurückkommt.«
»Haben Sie ihre Adresse in Garrison?«
»Ihre?«, sagte der Mann überrascht. »Oder seine?«
Reacher hielt einen Moment inne, dachte über diese Reaktion nach und ging das Risiko ein.
»Seine, meine ich. Ich habe sie irgendwo verlegt.«
»Macht nichts«, erwiderte die Stimme. »Sie war versehentlich falsch angegeben, fürchte ich. Ich habe heute Morgen bestimmt schon fünfzig Leuten die richtige Adresse gesagt.«
Er nannte eine Adresse, die er offenbar auswendig wusste. Garrison, New York, eine kleine Stadt etwa sechzig Meilen flussaufwärts am Hudson River, ziemlich genau gegenüber von West Point, wo Reacher vier lange Jahre verbracht hatte.
»Sie müssen sich beeilen, denke ich«, sagte der Mann.
»In Ordnung«, sagte Reacher und legte verwirrt auf.
Er schloss den Dateimanager und ließ den Bildschirm leer. Warf noch einen Blick auf die zurückgelassene Handtasche der verschwundenen Sekretärin und verließ den Raum.
Die Sekretärin starb fünf Minuten, nachdem sie Mrs. Jacobs Identität preisgegeben hatte, was nur ungefähr fünf Minuten dauerte, als Hobie sich mit seinem Haken über sie hermachte. Sie befanden sich auf der Privattoilette seiner Bürosuite im siebenundachtzigsten Stock. Dieser Raum war für seine Zwecke ideal geeignet. Geräumig, fünf auf fünf Meter, viel zu groß für eine Toilette. Irgendein teurer Innenausstatter hatte Fußboden, Wände und Decke mit blank polierten Granitplatten verkleidet. In einer Ecke war eine große Dusche eingebaut, deren durchsichtiger Plastikvorhang an einer Edelstahlschiene hing. Die aus Italien importierte Schiene war für die Aufgabe, einen Plastikvorhang zu halten, lächerlich überdimensioniert. Hobie hatte entdeckt, dass sie das Gewicht eines bewusstlosen Menschen tragen konnte, der mit Handschellen an sie gefesselt war. Von Zeit zu Zeit hatten dort schwerere Leute als die Sekretärin gehangen, während er ihnen mit Fragen zusetzte oder sie davon überzeugte, dass es klüger sei, dieses oder jenes zu tun.
Das einzige Problem stellte die Schalldämpfung dar. Aber er war sich ziemlich sicher, dass sie reichte. Dies war ein solides Gebäude. Jeder der Twin Towers wog über eine halbe Million Tonnen. Reichlich Stahl und Beton, gute, massive Wände. Und er hatte keine neugierigen Nachbarn. Die meisten Bürosuiten im siebenundachtzigsten Stock waren von Handelsmissionen aus kleinen, obskuren ausländischen Staaten gemietet, deren Minimalbesetzung die meiste Zeit drüben im UN-Gebäude verbrachte. Nicht anders sah es im Stock darunter und darüber aus. Deshalb war er hier eingezogen. Aber Hobie war ein Mann, der nie ein überflüssiges Risiko einging, wenn es sich vermeiden ließ. Daher das extrastarke Gewebeband. Bevor er anfing, riss er immer ein paar etwa fünfzehn Zentimeter lange Streifen ab, die er vorläufig mit dem oberen Rand an die Wandverkleidung pappte. Einer dieser Streifen wurde über den Mund geklebt. Begann sein Opfer mit hervorquellenden Augen wild zu nicken, riss Hobie den Streifen ab und wartete auf die Antwort. Hörte er stattdessen Schreie, klatschte er den nächsten Streifen auf den Mund und machte sich wieder an die Arbeit. Meistens bekam er die gewünschte Antwort, wenn er den zweiten Streifen abriss.
Später erleichterte der geflieste Boden das Saubermachen. Man drehte einfach die Dusche voll auf, kippte ein paar Eimer Wasser auf den Fußboden, machte sich mit einem Mopp an die Arbeit und hatte alle Spuren beseitigt, sobald das Putzwasser siebenundachtzig Stockwerke tiefer in die Kanalisation abgelaufen war. Nicht dass Hobie jemals selbst aufgewischt hätte. Für einen Mopp braucht man zwei Hände. Diese Arbeit erledigte der zweite junge Kerl, der dazu Schuhe und Socken ausgezogen und seine teure Anzughose hochgekrempelt hatte. Hobie saß draußen hinter seinem Schreibtisch und sprach mit dem ersten jungen Kerl.
»Ich beschaffe die Adresse dieser Mrs. Jacob, ihr bringt sie mir, okay?«
»Klar«, sagte der Kerl. »Was ist mit der hier?«
Er nickte zur Toilettentür hinüber. Hobie folgte seinem Blick.
»Wartet bis heute Abend«, sagte er. »Zieht sie wieder an, bringt sie zum Boot runter. Fahrt ein paar Meilen weit raus und werft sie über Bord.«
»Dann wird sie womöglich wieder angetrieben«, gab der Kerl zu bedenken. »In ein paar Tagen.«
Hobie zuckte mit den Schultern.
»Von mir aus«, sagte er. »In ein paar Tagen ist sie völlig aufgedunsen. Die Polizei wird denken, dass sie aus einem Motorboot gefallen ist, und darauf tippen, dass solche Verletzungen von einer Bootsschraube stammen.«
Reachers Vorliebe für Geheimhaltung hatte Vorteile, aber sie brachte auch Probleme mit sich. Die beste Methode, schnell nach Garrison zu gelangen, wäre gewesen, sich einen Leihwagen zu mieten und loszubrausen. Aber ein Mann, der auf Kreditkarten verzichtet und keinen Führerschein in der Tasche hat, beraubte sich selbst dieser Option. Deshalb saß Reacher wieder in einem Taxi, diesmal zur Grand Central Station. Er war sich ziemlich sicher, dass Garrison mit Zügen der Hudson Line zu erreichen war. Vermutlich gab es Pendler, die so weit nördlich lebten. Sonst hielten dort vielleicht die Amtrak-Fernzüge nach Albany und Kanada.
Er bezahlte das Taxi und drängte sich durch die Menge zum Eingang. Die lange Rampe entlang und in die riesige Bahnhofshalle. Dort blieb er stehen und verrenkte sich den Hals, um die Abfahrtszeiten von einem Bildschirm abzulesen. Versuchte, sich an die Geografie zu erinnern. Züge nach Croton-Harmon nützten ihm nichts. Sie endeten viel zu weit südlich. Er brauchte mindestens einen Zug nach Poughkeepsie. Er ging sämtliche Abfahrten durch. Nichts zu machen. In den nächsten anderthalb Stunden fuhr kein Zug ab, der ihn nach Garrison gebracht hätte.
Sie führten den Transport wie üblich durch. Einer von ihnen fuhr neunzig Stockwerke weit in die Ladezone hinunter und fand dort auf einem Stapel einen großen Karton. Verpackungen von Kühlschränken oder Getränkeautomaten waren am besten geeignet, aber einmal waren sie auch mit dem Karton eines Fünfunddreißig-Zoll-Farbfernsehers ausgekommen. Diesmal fand er einen Karton, in dem ein Karteischrank verpackt gewesen war. Er stellte ihn auf eines der in der Ladezone herumstehenden Rollwägelchen und schob es in den Lastenaufzug. Fuhr wieder in den siebenundachtzigsten Stock hinauf.
Auf der Toilette zog der andere Kerl gerade den Reißverschluss des Leichensacks zu, in dem er sie verstaut hatte. Die beiden falteten sie in dem Karton zusammen und benutzten das restliche Klebeband, um ihn sicher zu verschließen. Dann stellten sie den Karton auf das Wägelchen und machten sich wieder auf den Weg zum Lastenaufzug. Diesmal fuhren sie in die Tiefgarage hinunter. Rollten den Karton zu einem schwarzen Suburban. Zählten eins, zwo, drei und hievten ihn hinten rein. Knallten die Hecktür zu und betätigten die Zentralverriegelung. Sahen sich beim Weggehen nochmals um. Schwach beleuchtete Garage, dunkel getönte Scheiben, kein Problem.
»Weißt du, was?«, sagte der erste Kerl. »Klappen wir den Sitz um, können wir die Jacob dazuladen. Dann reicht heute Nacht ein einziger Trip. Ich bin nicht gern öfter mit dem Boot unterwegs als unbedingt nötig.«
»Okay«, stimmte der zweite Kerl ihm zu. »Hat’s dort noch mehr Kartons?«
»Dieser war der beste. Hängt davon ab, ob die Jacob groß oder klein ist, schätze ich.«
»Hängt davon ab, ob er sie bis heute Abend erledigt.«
»Hast du da irgendwelche Zweifel? In dieser Stimmung, in der er heute ist?«
Die beiden gingen zu einem anderen Stellplatz und sperrten einen schwarzen Chevy Tahoe auf. Ein kleiner Bruder des Suburbans, aber trotzdem ein riesiges Fahrzeug.
»Wo ist sie also?«, fragte der zweite Kerl.
»In einem Nest namens Garrison«, sagte der andere. »Geradeaus den Hudson hinauf, ein Stück hinter Singsing. Eine Stunde, höchstens anderthalb.«
Der Tahoe stieß rückwärts aus dem Stellplatz, fuhr mit quietschenden Reifen durch die Garage und die Ausfahrt hinauf in die West Street. Dort bog er rechts ab und brauste in Richtung Norden davon.