Ein gutes Jahrhundert, nachdem Joseph Smith der von ihm selbst entfesselten Gewalt und Hysterie zum Opfer fiel, erhob sich in den USA wieder eine prophetische Stimme. Ein junger schwarzer Pastor namens Dr. Martin Luther King predigte die Freiheit seines Volkes, das aus der Nachkommenschaft ebenjener Sklaverei bestand, die Joseph Smith und alle anderen christlichen Kirchen so begeistert unterstützt hatten. Selbst in einem Atheisten wie mir löst es tiefe Gefühle aus, seine Predigten zu lesen oder mir Aufnahmen seiner Reden anzusehen. Dr. Kings »Brief aus dem Gefängnis von Birmingham«, gerichtet an weiße Kirchenleute, die ihn gedrängt hatten, Zurückhaltung und »Geduld« zu üben – mithin zu wissen, was ihm zustand –, ist ein Muster der Polemik. Aus den in eisigem Ton höflich und verbindlich gehaltenen Worten spricht die unumstößliche Überzeugung, dass der ungerechte Rassismus nicht mehr länger hingenommen werden dürfe.

Die Titel der drei Bände von Taylor Branchs hervorragender Biografie, Parting the Waters, Pillar of Fire und At Canaans Edge, beziehen sich auf Stationen im Alten Testament. Auch rhetorisch beschwor King die Geschichte herauf, die seine Zuhörer am besten kannten und die mit den Worten beginnt, die Mose zum Pharao sprach: »Lass mein Volk ziehen.« In jeder Rede befeuerte er die Unterdrückten, schalt und ermahnte ihre Unterdrücker. Nach und nach schlugen sich die beschämten Religionsführer des Landes auf seine Seite. Rabbi Abraham Heschel fragte: »Wo bekommen wir im heutigen Amerika eine Stimme zu hören, die wie die Stimme der Propheten Israels ist? Martin Luther King ist ein Zeichen dafür, dass Gott die Vereinigten Staaten von Amerika nicht verlassen hat.«

Wenn wir der alttestamentlichen Geschichte weiter folgen, so ist die Predigt, die King am letzten Abend seines Lebens hielt, die schaurigste. Es war ihm gelungen, die öffentliche Meinung umzudrehen und Bewegung in die sture Regierung Kennedy zu bringen, und nun war er in Memphis, Tennessee, um einen langen und erbitterten Streik der geknechteten städtischen Müllarbeiter zu unterstützen, die auf ihre Plakate die schlichten Worte »I Am a Man« geschrieben hatten: »Ich bin ein Mensch.« Auf der Kanzel der Mason Temple Church resümierte er noch einmal den Kampf der vorangegangenen Jahre und sagte dann unvermittelt: »Aber das berührt mich jetzt nicht so.« Er hielt kurz inne und fuhr fort: »Denn ich bin oben auf dem Berg gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder von uns würde auch ich gern ein langes Leben führen, Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum mache ich mir jetzt keine Gedanken. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Und er hat mir erlaubt, auf den Berg zu gehen. Und ich habe von dort hinübergeschaut. Und ich habe das verheißene Land gesehen. Vielleicht werde ich nicht mit euch hinziehen. Aber heute Abend sollt ihr wissen, dass wir als ein Volk ins verheißene Land kommen werden!« Keiner, der an jenem Abend dort war, wird diese Worte je vergessen, und ich wage zu behaupten, das gilt auch für alle, die den in diesem transzendenten Moment glücklicherweise aufgenommenen Film gesehen haben. Eine ebenso intensive Erfahrung ist es, Nina Simone zuzuhören, die in der gleichen schrecklichen Woche »The King of Love is Dead« sang. Dieses Drama enthält Momente aus der Geschichte des Mose auf dem Berg Nebo und solche aus dem Garten Gethsemane. Es schmälert die Wirkung nur unwesentlich, wenn man weiß, dass es eine von Dr. Kings Lieblingspredigten war, die er schon mehrere Male gehalten hatte und jederzeit aus dem Stegreif mit einfließen lassen konnte.

Doch die Beispiele, die King aus den Büchern Mose anführte, waren zu unser aller Glück Metaphern und Allegorien. An erster Stelle predigte er die Gewaltlosigkeit. In seiner Version der biblischen Geschichte kamen keine brutalen Strafen und keine blutigen Völkermorde vor, keine grausamen Gebote, Kinder zu steinigen und Witwen zu verbrennen. Er versprach seinem geplagten und verachteten Volk kein Gebiet, das von anderen bewohnt war, noch stiftete er es dazu an, andere Sippen zu plündern und zu ermorden. Im Angesicht der andauernden Provokation und Brutalität beschwor King seine Anhänger, das zu werden, was sie dann eine Zeit lang auch wirklich waren: moralische Vorbilder für Amerika und die ganze Welt. Er vergab seinem Mörder im Grunde im Voraus; hätte er dies auch noch ausdrücklich gesagt, so wären seine letzten öffentlichen Worte über jede Kritik erhaben gewesen. Der Unterschied zwischen ihm und den »Propheten Israels« hätte aber auch so krasser nicht sein können. Wäre die amerikanische Bevölkerung mit Xenophons Geschichte Anabasis groß geworden, die von der langen und ermüdenden Reise der Griechen bis zu ihrer triumphierenden Ankunft am Schwarzen Meer erzählt, so hätte diese Allegorie die gleiche Wirkung erzielt. Die Heilige Schrift war sozusagen der einzige Bezugspunkt, den alle gemein hatten.

Der christliche Reformismus entwickelte sich ursprünglich aus der Fähigkeit seiner Vertreter, das Alte Testament dem Neuen gegenüberzustellen. Die zusammengeschusterten alten jüdischen Bücher präsentierten einen übel gelaunten, unerbittlichen, blutigen und provinziellen Gott, der womöglich am meisten Angst verbreitete, wenn er guter Stimmung war – die klassische Eigenschaft des Diktators. Die zusammengeschusterten Bücher der letzten zweitausend Jahre dagegen lieferten Halt für die Hoffnungsfrohen und sprachen von Schwäche, Vergebung, Lämmern, Schafen und so weiter. Diese Unterscheidung ist aber eher oberflächlicher Art, denn von der Hölle und ewiger Strafe ist nur in den überlieferten Worten Jesu die Rede. Der Gott Moses erwartete zwar von anderen Sippen und auch von seinem Lieblingsvolk, dass sie Massaker, Seuchen und sogar die Ausrottung über sich ergehen ließen, doch wenn sich das Grab über seinen Opfern schloss, war er fertig mit ihnen – es sei denn, er hatte die Geistesgegenwart besessen, ihre Nachkommen zu verfluchen. Erst mit der Ankunft des Friedensprinzen kommt die grauenhafte Vorstellung weiterer Bestrafung und Folter der Toten auf. Der von Johannes dem Täufer angekündigte Sohn Gottes verdammt, wenn seine milden Worte nicht auf Anhieb Gehör finden, den Widerborstigen zu ewigem Höllenfeuer. Daraus beziehen seither klerikale Sadisten ihre Texte, und der Islam nimmt in seinen Tiraden diese Vorstellung genussvoll auf. Von Dr. King gibt es ein Foto, auf dem er in einer Buchhandlung gelassen auf einen Arzt wartet, während ihm das Messer eines Verrückten in der Brust steckt. Trotzdem drohte er denen, die ihn verletzten oder beleidigten, nie auch nur andeutungsweise Rache oder Strafe an, sei es in dieser Welt oder der nächsten, einmal abgesehen von den unmittelbaren Folgen ihrer Selbstsucht und Dummheit. Und sogar diese formulierte er höflicher, als es die von ihm Angesprochenen meiner bescheidenen Meinung nach verdienten. Im realen Sinne, im Gegensatz zum nominalen, war er somit kein Christ.

Seine Bedeutung als herausragender Prediger schmälert das nicht im Geringsten, ebenso wenig wie der Umstand, dass er wie wir alle ein einfaches Säugetier war, das wahrscheinlich seine Doktorarbeit abschrieb und bekanntermaßen eine Vorliebe für Schnaps hatte und für Frauen, die deutlich jünger waren als seine Angetraute. Den Rest seines letzten Abends feierte er ausschweifend, was ich ihm nicht vorwerfe. Solches Verhalten mag die Gläubigen stören, ist aber insofern recht ermutigend, als es beweist, dass großartige moralische Errungenschaften nicht zwingend einen moralisch einwandfreien Charakter voraussetzen. Wenn aber Dr. Kings Beispiel oft als Beweis für die Behauptung herangezogen wird, dass Religionen eine erhebende und befreiende Wirkung haben, dann sollten wir uns diese Behauptung einmal näher ansehen.

Zur denkwürdigen Geschichte des schwarzen Amerika ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Sklaven nicht Gefangene eines Pharaos waren, sondern mehrerer christlicher Staaten und Gesellschaften, die viele Jahre lang ein Dreiecksgeschäft zwischen der Westküste Afrikas, der Ostküste Nordamerikas und den Hauptstädten Europas betrieben. Diese gigantische und grauenhafte Industrie war von allen Kirchen abgesegnet und erregte lange Zeit keinen Widerspruch vonseiten der Religionen. Ihr Gegenstück, der Sklavenhandel im Mittelmeer und in Nordafrika, wurde vom Islam ausdrücklich gutgeheißen. Im 18. Jahrhundert forderten zunächst einige wenige abweichlerische Mennoniten und Quäker sowie Thomas Paine und andere Freidenker die Abschaffung der Sklaverei. Thomas Jefferson, der darüber nachsann, wie die Sklaverei die Herren korrumpierte und brutalisierte und die Sklaven ausbeutete und quälte, schrieb: »Ich zittere für mein Land, wenn ich daran denke, dass Gott gerecht ist.« Diese Aussage war so unlogisch wie denkwürdig, gab es doch angesichts eines wunderbaren Gottes, der auch gerecht war, auf lange Sicht keinen Anlass zum Zittern. Immerhin tolerierte der Allmächtige die Situation, während viele Generationen unter der Peitsche zur Welt kamen und starben, bis die Sklaverei nicht mehr genug Gewinn abwarf und sogar das britische Königreich sich ihrer entledigte.

Das ließ den Abolitionismus wieder aufkeimen. Die Bewegung nahm bisweilen christliche Form an, am bekanntesten im Falle des William Lloyd Garrison, des großen Redners und Gründers der Zeitschrift Liberator. Mr. Garrison war zwar in jeder Hinsicht ein großartiger Mensch, doch man kann wohl von Glück sagen, dass seine frühen religiösen Ratschläge allesamt nicht befolgt wurden. Er stützte sich dabei auf den gefährlichen Vers aus dem Zweiten Korintherbrief, in dem die Gläubigen aufgefordert werden: »Darum gehet aus von ihnen und sondert euch ab«, der im Übrigen auch Ian Paisleys fundamentalistischen und bigotten Presbyterianismus in Nordirland theologisch unterfütterte. Garrison betrachtete die Union und die Verfassung der Vereinigten Staaten als »Bund mit dem Tod«, den es zu zerstören galt; praktisch forderte er die Sezession, ehe es die Konföderierten taten. Später entdeckte er Thomas Paines Schriften, predigte weniger und kämpfte stattdessen für die Abschaffung der Sklaverei und die Einführung des Frauenwahlrechts. [FUSSNOTE49]

Der entflohene Sklave Frederick Douglass, Autor der mitreißenden und bissigen Autobiography, forderte dagegen unter Vermeidung einer apokalyptischen Sprache, dass die USA die in der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung enthaltenen universalistischen Versprechen auch einlösten. Der löwenähnliche John Brown, der in jungen Jahren ebenfalls ein furchterregender und unbarmherziger Calvinist gewesen war, tat es ihm gleich. Er hatte Paines Schriften stets bei sich im Lager, ließ in seiner winzigen, aber epochalen Armee Freidenker zu und verfasste und druckte nach dem Vorbild der Unabhängigkeitserklärung von 1776 eine neue Erklärung für die Sklaven. Das war eine erheblich revolutionärere und auch realistischere Forderung, die, wie Lincoln einräumte, den Weg für die Emanzipationserklärung ebnete. Douglass stand der Religion zwiespältig gegenüber. In seiner Autobiography schrieb er, dass die frommsten Christen die schlimmsten Sklavenhalter seien. Wie zutreffend diese Aussage war, bestätigte sich nach der Sezession, als die Konföderierten sich als Motto die Worte »Deo Vindice« wählten, »Gott auf unserer Seite«. Lincoln betonte in seiner sehr umstrittenen Rede zum Antritt seiner zweiten Amtszeit, dass sich beide Kontrahenten, zumindest auf der Kanzel, auf Gott beriefen, ebenso wie beide gern vernehmlich und selbstbewusst aus der Heiligen Schrift zitierten.

Lincoln hielt sich mit Verweisen dieser Art eher zurück, ja, er bezeichnete in einer berühmt gewordenen Rede solche Anrufungen des Göttlichen als Fehler, weil sich der Mensch doch eher umgekehrt auf Gottes Seite schlagen müsse. Als er auf einer Versammlung von Christen in Chicago gedrängt wurde, umgehend eine Emanzipationserklärung zu verkünden, waren in seinen Augen noch immer beide Seiten vom Glauben gestützt; es sei, so Lincoln, keine »Zeit der Wunder, und wir können wohl nicht davon ausgehen, dass ich eine unmittelbare Offenbarung zu erwarten habe«. Mit dieser Antwort wich er der Forderung noch aus, doch als er dann den Mut aufbrachte, die Emanzipationserklärung abzugeben, ließ er die noch Unentschlossenen wissen, er habe sich selbst das Versprechen gegeben, es nur unter der Bedingung zu tun, dass Gott am Antietam den Unionstruppen den Sieg schenkte. In dieser Schlacht waren mehr Todesopfer auf amerikanischem Boden zu beklagen als in jeder Schlacht vorher und danach. Möglicherweise wollte Lincoln also dieses grässliche Gemetzel heiligen und rechtfertigen. Das wäre zwar ein durchaus hehres Ansinnen, doch nach dieser Logik hätte sich beim gleichen Gemetzel mit anderem Ausgang die Befreiung der Sklaven noch einmal hinausgezögert! Dazu kam, wie Lincoln bemerkte, dass die Rebellen »mit sehr viel größerer Ernsthaftigkeit beten als unsere Soldaten und erwarten, dass Gott ihrer Seite günstig gesinnt ist. Einer unserer Soldaten, der gefangen genommen wurde, berichtete, er habe noch nie etwas so Entmutigendes erlebt wie die offenkundige Ernsthaftigkeit derer, die er bei ihren Gebeten beobachtete.« Hätten die Konföderierten am Antietam etwas mehr Glück gehabt, so hätte sich der Präsident Gedanken darüber machen müssen, ob Gott den Kampf gegen die Sklaverei nicht völlig abgeschrieben hatte.

Wir wissen nicht, ob Lincoln gläubig war. Er sprach gern vom allmächtigen Gott, trat aber keiner Kirche bei, und Kirchenvertreter sprachen sich gegen seine ersten Kandidaturen aus. Sein Freund Herndon wusste, dass er Paine, Volney und andere Freidenker sehr genau gelesen hatte, und gelangte zu dem Schluss, dass Lincoln insgeheim nicht an Gott glaubte. Das ist eher unwahrscheinlich. Genauso wenig kann man aber behaupten, dass er Christ war. Vieles spricht dafür, dass er von Zweifeln gepeinigt wurde und einen Hang zum Deismus hatte. Unabhängig davon lässt sich aber in der schwerwiegenden Frage der Sklavenbefreiung Folgendes feststellen: Nachdem die Religion die Sklaverei viele Jahrhunderte lang immer wieder sanktioniert und eine Entscheidung vertagt hatte, bis aus eigennützigen Gründen ein grauenhafter Krieg darüber ausbrach, gelang es ihr am Ende, den Schaden und das Elend, das sie angerichtet hatte, zumindest zu einem kleinen Teil wieder zurückzunehmen. [FUSSNOTE50]

Dasselbe gilt für die Ära King. Nach dem Bürgerkrieg wurden die neuen Institutionen der Rassentrennung und der Diskriminierung von den Kirchen der Südstaaten wie ehedem gutgeheißen. Mit dem Vormarsch der Entkolonisierung und der Menschenrechtsfrage wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg der Ruf nach Rassenemanzipation wieder laut. Und wieder kam – auf amerikanischem Boden und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der nachdrückliche Hinweis darauf, dass sich Noahs grundverschiedene Nachkommen nach Gottes Willen nicht mischen sollten. Diese barbarische Dummheit hatte handfeste Konsequenzen. Der mittlerweile verstorbene Senator Eugene McCarthy erzählte mir einmal, er habe Senator Pat Robertson, Vater des heutigen Fernsehpropheten, einst gedrängt, einer gemäßigten Bürgerrechtsgesetzgebung zuzustimmen. »Ich würde den Farbigen wirklich gern helfen«, lautete die Antwort, »doch die Bibel sagt Nein.« »Der Süden« definierte sich ausschließlich als weiß und christlich. Und hier setzte Dr. King den Hebel an, denn er konnte die weißen Reaktionäre an die Wand predigen. Diese schwere Last hätte er aber gar nicht erst auf sich nehmen müssen, wäre die Religiosität nicht so tief verwurzelt gewesen. Taylor Branch zeigt auf, dass sich in Kings engstem Umkreis und Gefolge viele säkulare Kommunisten und Sozialisten befanden, die schon jahrzehntelang den Boden für eine Bürgerrechtsbewegung bereitet und mutige Freiwillige wie Mrs. Rosa Parks in der Strategie des zivilen Ungehorsams geschult hatten. Diese »atheistischen« Verbindungen wurden King vor allem von den Kanzeln wiederholt vorgeworfen. Seine Kampagne hatte mithin unter anderem auch das Wiedererstarken des rechtsgerichteten weißen Christentums zur Folge, das in den Südstaaten bis heute so stark ist.

Als Dr. Kings Namensvetter 1517 seine Thesen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg schlug und als er auf dem Reichstag in Worms 1521 beherzt verkündete: »Hier stehe ich und kann nicht anders«, setzte er einen Maßstab für intellektuellen und moralischen Mut. Doch Martin Luther, den ein Blitzschlag dermaßen in Angst und Schrecken versetzte, dass er fortan ein Leben für den Glauben führen wollte, wurde später selbst zu einem bigotten Schergen, der Gift und Galle gegen Juden spuckte, von Dämonen faselte und die deutschen Fürsten dazu aufforderte, hart gegen die aufrührerischen Armen vorzugehen. Als Dr. King auf den Stufen zum Lincoln’s Memorial für seine Sache eintrat und den Lauf der Geschichte veränderte, nahm auch er tatsächlich eine ihm aufgezwungene Haltung ein, erwies sich dabei aber als scharfsinniger Humanist. Weil niemand je in seinem Namen Menschen unterdrücken oder Grausamkeiten begehen konnte, hat sein Name Bestand, und sein Vermächtnis hat nur wenig mit der von ihm vertretenen Theologie zu tun. Für das Eintreten gegen den Rassismus bedurfte es keiner übernatürlichen Macht.

Wer demnach die Rolle der Religion im öffentlichen Leben mit dem Verweis auf Kings Vermächtnis verteidigt, muss auch alle Konsequenzen akzeptieren, die sich daraus ergeben. Schon bei einer oberflächlichen Überprüfung aller großen historischen Persönlichkeiten Amerikas kommen die Freidenker, Agnostiker und Atheisten am besten davon. Die Chance, dass sich jemand aus seiner säkularen oder freidenkerischen Haltung heraus gegen Ungerechtigkeiten aussprach, war sehr hoch. Die Chance, dass jemand aus seinem religiösen Glauben heraus gegen Sklaverei und Rassismus eintrat, war statistisch betrachtet eher gering. Die Chance dagegen, dass jemand aus seinem religiösen Glauben heraus Sklaverei und Rassismus unterstützte, war statistisch gesehen sehr hoch, woraus sich erklärt, warum es so lange dauerte, bis die Gerechtigkeit den Sieg davontrug.

In den Ländern der Welt, in denen die Sklaverei heute noch praktiziert wird, geschieht dies, soweit mir bekannt, mit Hinweis auf den Koran. Das führt uns zurück zu Thomas Jefferson, John Adams und die frühen Tage der amerikanischen Republik. Die beiden Sklavenhalter hatten den Botschafter von Tripoli in London gefragt, was ihm das Recht gebe, amerikanische Seeleute und Passagiere von Schiffen, die durch die Straße von Gibraltar fuhren, gefangen zu nehmen und zu verkaufen – heutigen Schätzungen zufolge wurden zwischen 1530 und 1780 mehr als eineinviertel Millionen Europäer auf diese Art verschleppt. Jefferson berichtete dem Kongress:

Der Botschafter antwortete uns, Grundlage seien die Gesetze des Propheten; in ihrem Koran stehe geschrieben, dass alle Nationen, die sich nicht seiner Autorität unterstellten, Sünder seien und dass es ihr Recht und ihre Pflicht sei, Krieg gegen sie zu führen, wann immer sie auf sie träfen, und alle, die sie gefangen nehmen könnten, zu versklaven.

Botschafter Abdrahaman habe weiterhin die Höhe des Lösegelds, den Preis, den der Schutz vor Entführung koste, und nicht zuletzt seine eigene Provision für diese Verhandlungen genannt – einmal mehr offenbart die Religion ihre menschgemachten praktischen Vorzüge. [FUSSNOTE51]

Übrigens waren seine Hinweise auf den Koran durchaus zutreffend. Die in Medina offenbarte Sure 8 behandelt recht ausführlich die Kriegsbeute und die Qualen des Höllenfeuers, die alle zu erleiden haben, die von Gläubigen besiegt werden. Auf ebendiese Sure bezog sich zwei Jahrhunderte später auch Saddam Hussein, als er seine Raubzüge in Kurdistan und den Massenmord am kurdischen Volk rechtfertigte.

Auch ein anderes historisches Großereignis wird häufig so dargestellt, als bestehe ein Zusammenhang zwischen dem religiösen Glauben und dem moralischen Resultat: die Unabhängigkeit Indiens von der Kolonialherrschaft. Wie bei der heroischen Schlacht des Dr. King zeigt sich aber auch hier, dass eher das Gegenteil der Fall ist.

Nach der eklatanten Schwächung des britischen Weltreiches durch den Ersten Weltkrieg und insbesondere nach dem schändlichen Massaker an indischen Demonstranten in der Stadt Amritsar im April 1919 wurde selbst den damaligen Verwaltern des Subkontinents klar, dass die Londoner Herrschaft früher oder später ein Ende haben würde. Es ging nicht mehr um die Frage »ob«, sondern »wann«. Unter anderen Voraussetzungen hätte gewaltloser Widerstand keine Chance gehabt. Mohandas K. Gandhi, der auch respektvoll »Mahatma« genannt wird, stieß gewissermaßen eine bereits offene Tür auf. Das ist durchaus keine Schande, doch vor allem seine religiösen Überzeugungen stellen sein Vermächtnis nicht in ein heiliges, sondern in ein dubioses Licht. Gandhi wollte Indien, verkürzt gesagt, wieder zu einer dörflichen und primitiven »spirituellen« Gesellschaft machen, erschwerte damit die Machtteilung mit den Muslimen und war sehr wohl willens, zur Gewalt zu greifen, wenn er es für nützlich hielt.

Die Frage der indischen Unabhängigkeit war mit der Frage der Einheit eng verbunden: Würde das ehemals britische Indien innerhalb der gleichen Grenzen, in seiner territorialen Ganzheit und unter dem Namen Indien wiedergeboren werden? Eine muslimische Gruppe beantwortete diese Frage mit einem klaren Nein. Unter britischer Herrschaft hatten die Muslime als große, um nicht zu sagen privilegierte Minderheit Schutz genossen und waren nun nicht bereit, nur noch eine große Minderheit in einem von Hindus dominierten Staat darzustellen. Schon dass die stärkste politische Kraft, die sich für die Unabhängigkeit einsetzte – die Kongresspartei –, von einem bekannten Hindu geführt wurde, erschwerte die Versöhnung. Man könnte nun behaupten, und das will ich auch tun, dass die Kompromisslosigkeit der Muslime in jedem Fall destruktiv gewirkt hätte. Doch Gandhis Gerede vom Hinduismus und die vielen Stunden, die er demonstrativ mit religiösen Handlungen und am Spinnrad verbrachte, machten gewöhnlichen Muslimen den Austritt aus der Kongresspartei und den Eintritt in die Muslimische Liga, die sich für eine Teilung einsetzte, erheblich leichter.

Das Spinnrad, das bis heute die indische Flagge ziert, symbolisierte Gandhis Ablehnung der Moderne. Er hüllte sich in selbst hergestellte Stoffe, trug Sandalen und einen Stock und äußerte sich abfällig über Maschinen und Technik. Er schwärmte vom indischen Dorf, in dem seit Jahrtausenden der Rhythmus der Tiere und des Getreides den Ablauf des Lebens bestimmte. Millionen von Menschen wären, wenn man seinem Rat gefolgt wäre, sinnlos verhungert oder hätten weiterhin Kühe verehrt – die übrigens die Priester in einem durchaus klugen Schachzug für heilig erklärt hatten, damit die unwissenden Armen in Zeiten der Dürre und des Hungers nicht ihr einziges Kapital umbrachten und aufaßen. Anerkennung gebührt Gandhi für seine Kritik am unmenschlichen hinduistischen Kastensystem, in dem die Angehörigen der niederen Kasten einer Ächtung und Verachtung ausgesetzt waren, die in mancherlei Hinsicht noch absoluter und grausamer war als die Sklaverei. Doch in einem Moment, in dem Indien vor allem eine moderne und weltliche nationale Führung brauchte, bekam es stattdessen einen Fakir und Guru. Dies wurde 1941 unangenehm klar, als die kaiserliche Armee Japans die malaiische Halbinsel und Burma eingenommen hatte und an den Grenzen Indiens stand. In der (falschen) Annahme, dies sei das Ende der britischen Herrschaft in Indien, wählte Gandhi diesen Moment für seinen Boykott der politischen Verhandlungen und seine berühmte Forderung nach dem Abzug der Briten: »Quit India.« Sie mögen das Land »Gott oder der Anarchie« überlassen, fügte er hinzu, was unter den gegebenen Umständen etwa auf dasselbe hinausgelaufen wäre. Wer Gandhi in aller Naivität einen überzeugten oder konsequenten Pazifismus unterstellt, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er es damit nicht den japanischen Imperialisten überließ, das Kämpfen für ihn zu erledigen.

Die Entscheidung Gandhis und der Kongresspartei, sich aus den Verhandlungen zurückzuziehen, hatte neben einer ganzen Reihe anderer schlimmer Konsequenzen zur Folge, dass die Anhänger der Muslimischen Liga in den von ihnen kontrollierten Ministerien ausharrten und damit eine starke Verhandlungsposition innehatten, als kurz darauf die Unabhängigkeit anstand. Ihre Forderung, diese mit einer Verstümmelung oder Amputation einhergehen zu lassen, indem man Westpundschab und Ostbengalen abhackte, ließ sich nicht mehr abwenden. Die entsetzlichen Folgen halten bis zum heutigen Tage an: Blutbäder zwischen Muslimen in Bangladesch 1971, der Aufstieg einer aggressiven nationalistischen Hindupartei in Indien und ein Krieg in Kaschmir, der nach wie vor der wahrscheinlichste Auslöser eines Atomkriegs ist.

Eine Alternative hatte es immer gegeben: Die beiden säkular orientierten Politiker Nehru und Rajagopalachari hätten mit den Briten im Gegenzug für deren Versprechen, Indien unmittelbar nach dem Krieg in die Unabhängigkeit zu entlassen, eine gemeinsame Allianz gegen den Faschismus gegründet. Es war Nehru und nicht Gandhi, der sein Land in die Unabhängigkeit führte, wenn auch zum schrecklichen Preis der Teilung. Jahrzehntelang hatte ein stabiles Bündnis aus britischen und indischen Säkularisten und Linken der Befreiung Indiens argumentativ den Boden bereitet. Es war absolut überflüssig, dass ein religiöser Obskurantist die Sache an sich riss, verschleppte und verzerrte. Die Unabhängigkeit hätte auch völlig ohne diese Übernahme funktioniert. Es vergeht kein Tag, an dem man sich nicht wünschte, Martin Luther King hätte weitergelebt und die amerikanische Politik mit seiner Präsenz und seiner Weisheit bereichert. Auch Mahatma, von Angehörigen einer fanatischen Hindusekte ermordet, denen er nicht gottesfürchtig genug war, wäre zu wünschen gewesen, dass er noch hätte erleben können, welchen Schaden er angerichtet hat – andererseits hätte er dann womöglich sein lächerliches Spinnradprogramm noch in die Tat umgesetzt.

Die Behauptung, die Menschen würden durch die Religion besser und die Gesellschaft zivilisierter, wird meist dann aufgestellt, wenn alle anderen Argumente erschöpft sind: Also gut, wir bestehen ja gar nicht auf dem Exodus oder der jungfräulichen Empfängnis oder auch nur auf der Wiederauferstehung Christi oder der nächtlichen Flucht Mohammeds von Mekka nach Jerusalem. Aber wo wären denn die Menschen ohne den Glauben? Würden sie nicht der Zügellosigkeit und dem Egoismus anheimfallen? Ist es denn nicht so, wie G. K. Chesterton formulierte, dass die Menschen, wenn sie nicht mehr an Gott glauben, nicht etwa an nichts glauben, sondern an alles mögliche?

Darauf sei zunächst erwidert, dass das tugendhafte Verhalten eines gläubigen Menschen kein Beweis oder auch nur ein Argument für die Aufrichtigkeit seines Glaubens ist. Dieser Argumentation zufolge wäre ich ein wohltätigerer Mensch, wenn ich daran glaubte, dass Buddha durch eine seitliche Öffnung im Oberkörper seiner Mutter zur Welt kam. Aber wäre meine Wohltätigkeit damit nicht abhängig von einer recht dürftigen Prämisse? Andersherum diskreditiert es ja auch nicht den Buddhismus, wenn ein buddhistischer Priester die von den einfachen Leuten im Tempel geopferten Gaben mitgehen lässt. Und vergessen wir nicht, wie zufällig das alles entstanden ist. Von den Tausenden möglicher Wüstenreligionen hat, ähnlich wie bei den Millionen möglicher Spezies, ein Zweig Wurzeln geschlagen und ist gediehen. Er durchlief jüdische Mutationen, nahm christliche Form an und wurde von Kaiser Konstantin aus politischen Gründen zu einer offiziellen Religion erhoben, die, ausgehend von vielen chaotischen und widersprüchlichen Büchern, eine kodifizierte und vollstreckbare Form erhielt. Der Islam, die Ideologie eines höchst erfolgreichen Eroberungszuges, wurde von mächtigen Herrscherdynastien angenommen, seinerseits kodifiziert und niedergeschrieben und für das Land als herrschendes Gesetz verkündet. Wären eine oder zwei Schlachten anders ausgegangen – wie bei Lincoln und Antietam –, würden wir uns in den Ländern des Westens nicht mit Dorfstreitigkeiten befassen, die in Judäa und Arabien stattfanden, ehe es überhaupt irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen gab. Wir hätten auch Anhänger eines völlig anderen Glaubens werden können – des Hinduglaubens vielleicht oder des aztekischen oder konfuzianischen; auch in diesem Falle hieße es, der Glaube, egal ob er nun wahr sei oder nicht, vermittle den Kindern den Unterschied zwischen Recht und Unrecht. Anders formuliert: Mit dem Glauben an Gott drückt der Mensch seine Bereitschaft aus, an alles mögliche zu glauben. Wohingegen man mit der Ablehnung des Glaubens keineswegs automatisch an nichts glaubt.

Ich habe einmal den mittlerweile verstorbenen Professor A. J. Ayer, namhafter Autor des Werkes Sprache, Wahrheit und Logik und gefeierter Humanist, in einer Diskussion mit einem gewissen Bischof Butler gesehen. Moderator war der Philosoph Bryan Magee. Das Gespräch verlief durchaus höflich, bis Ayer sagte, er sehe keinen Beweis für die Existenz irgendeines Gottes, und der Bischof einfiel: »Dann verstehe ich nicht, warum Sie nicht ein Leben ungezügelter Unmoral führen.«

An dieser Stelle ließ »Freddie«, wie ihn seine Freunde nannten, seine für gewöhnlich höflichen Umgangsformen fahren und rief aus: »Ich muss schon sagen, das ist ja eine ungeheuerliche Unterstellung.« Nun hatte Freddie die am Sinai umrissenen Gebote zur Sexualmoral allesamt gebrochen. Dafür war er sozusagen berühmt. Doch er war ein hervorragender Lehrer, ein liebender Vater und ein Mensch, der einen großen Teil seiner Freizeit darauf verwendete, sich für die Menschenrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung einzusetzen. Dieses Leben als unmoralisch zu bezeichnen wäre eine krasse Verzerrung der Wahrheit.

Von den vielen Schriftstellern, die das gleiche Phänomen auf ihre jeweils eigene Art illustrieren, möchte ich Evelyn Waugh herausgreifen, der des gleichen Glaubens war wie Bischof Butler und sich in seinen Romanen sehr bemühte, das Wirken der göttlichen Herrlichkeit aufzuzeigen. In Wiedersehen mit Brideshead macht er eine sehr treffende Beobachtung, als seine beiden Protagonisten Sebastian Flyte, Erbe einer alten katholischen Adelsfamilie, und Charles Ryder Besuch von Pater Phipps erhalten. Dieser geht davon aus, dass sich alle jungen Männer leidenschaftlich für Kricket interessieren. Als Charles ihn vom Gegenteil überzeugt, sieht der Geistliche ihn »mit einer Miene an, wie ich sie später an frommen Menschen beobachtet habe, einer Miene unschuldiger Verwunderung darüber, dass die, die sich den Gefahren der Welt überantworten, so wenig Gebrauch von ihren vielfältigen Tröstungen machen«. [FUSSNOTE52]

Kehren wir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal zu Bischof Butlers Frage zurück. Wollte er Ayer vielleicht auf seine naive Art mitteilen, dass er selbst sich, befreit von den Beschränkungen der christlichen Lehre, für ein »Leben ungezügelter Unmoral« entscheiden würde? Natürlich – so hofft man – nicht. Doch viele empirische Erkenntnisse sprechen dafür. Wenn Priester sich dem Bösen verschreiben, dann gleich richtig. Dann begehen sie Verbrechen, die den Durchschnittssünder blass aussehen lassen. Das könnte eher der sexuellen Verdrängung zuzuschreiben sein als der theologischen Doktrin, doch diese Doktrin umfasst ja nun auch die sexuelle Verdrängung... Damit ist der Zusammenhang unvermeidlich, und nicht zufällig geht seit Anbeginn der Religion unter den kirchlichen Laien diesbezüglich eine ganze Litanei folkloristischer Witze um.

Waugh verstieß in seinem Leben sehr viel ausgiebiger gegen das Gebot der Keuschheit und der Nüchternheit als Ayer – was ihm allerdings nicht mehr Glück bescherte –, und er wurde häufig gefragt, wie er sein Privatleben mit seinem nach außen dokumentierten Glauben vereinbarte. Seine Antwort ist berühmt; Er bat seine Freunde sich vorzustellen, wie viel schlimmer sein Verhalten wäre, wenn er kein Katholik wäre. Wer wie er an die Erbsünde glaubt, meint damit vielleicht den Spieß umgedreht zu haben, doch wenn man sich Waughs Leben näher ansieht, wird deutlich, dass just die schlimmsten Auswüchse seinem Glauben entsprangen. Lassen wir die traurigen Exzesse der Trunkenheit und der ehelichen Untreue einmal beiseite. Einer geschiedenen und frisch wiederverheirateten Freundin schickte er einmal ein Hochzeitstelegramm, in dem er ihr mitteilte, mit ihrer Hochzeitsnacht mache sie Jesus auf dem Berg Golgatha noch einsamer und spucke ihm ins Gesicht. Waugh unterstützte faschistische Bewegungen in Spanien und Kroatien ebenso wie Mussolinis üble Invasion Abessiniens, weil sie vom Vatikan gutgeheißen wurden, und 1944 schrieb er, nur das Dritte Reich stehe nun noch zwischen Europa und der Barbarei. Diese Entgleisungen unterliefen dem von mir hoch geschätzten Autor nicht trotz seines Glaubens, sondern infolge seines Glaubens. Zweifellos gab es immer private Akte der Nächstenliebe und der Reue, die aber ein ungläubiger Mensch ebenso gut hätte vollbringen können. Der große Colonel Robert Ingersoll, bis zu seinem Tode im Jahr 1899 einer der führenden Agnostiker der USA, brachte seine Gegner dadurch in Rage, dass er ein überaus großzügiger Mensch war, ein liebender und treuer Ehemann und Vater, ein tapferer Offizier und einer, der, wie Thomas Edison es in verzeihlicher Übertreibung formulierte, »alle Eigenschaften eines perfekten Menschen« in sich vereinigte. Ich selbst bin in Washington in jüngster Zeit mit obszönen und drohenden Anrufen von Muslimen bombardiert worden, in denen meiner Familie Strafe angekündigt wurde, weil ich nicht bereit war, mich an einer Lügen-, Hass- und Gewaltkampagne gegen das demokratische Dänemark zu beteiligen. Doch als meine Frau einmal versehentlich einen größeren Geldbetrag auf dem Rücksitz eines Taxis liegen ließ, fand der sudanesische Taxifahrer unter größter Mühe heraus, wem das Geld gehörte, und brachte es uns in voller Höhe bis an die Haustür zurück. Als ich den geschmacklosen Fehler beging, ihm zehn Prozent des Betrags anzubieten, stellte er unmissverständlich klar, dass er für die Erfüllung seiner islamischen Pflicht keine Gegenleistung erwarte. Auf welche dieser beiden Versionen des Glaubens soll man sich nun verlassen?

Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten. Mir ist es lieber, Evelyn Waughs Prosa steht in meinem Regal, so wie sie ist, und ich weiß, dass die Romane nicht ohne die Qualen und Sünden des Autors zu haben sind. Und wenn sich alle Muslime verhielten wie der Mann, der einen guten Wochenlohn in den Wind schlug, nur um das Richtige zu tun, dann wären mir die bizarren Vorgaben des Korans völlig gleichgültig. Wenn ich mein eigenes Leben auf gute Taten und großzügiges Verhalten abklopfe, komme ich auf kein überwältigendes Ergebnis. In Sarajevo nahm ich mir einmal, zitternd vor Angst, meine kugelsichere Weste ab und überließ sie einer Frau, die ich mit in Sicherheit bringen sollte und die noch mehr Angst hatte als ich – übrigens bestimmt nicht das einzige Beispiel dafür, dass es in Schützengräben sehr wohl Atheisten gibt. Damals meinte ich, es sei das Mindeste, was ich für sie tun könne, und zugleich das Beste. Diejenigen, die uns mit Granaten und Gewehren beschossen, waren übrigens serbische Christen, aber das war sie ja auch.

Im Norden Ugandas saß ich Ende 2005 in einem Rehabilitationszentrum für entführte und versklavte Kinder im Lande der Acholi, die nördlich des Nils leben. Um mich herum waren lauter lustlose, leere und verhärtete kleine Jungs (und auch ein paar Mädchen).

Ihre Geschichten glichen einander auf schreckliche Weise. Milizionäre mit versteinerten Gesichtern, die ihrerseits als Kinder entführt worden waren, hatten sie im Alter zwischen acht und dreizehn Jahren aus ihren Schulen oder Häusern weggefangen. Man brachte sie in den Busch und machte sie in einer gewaltsamen »Initiation« zu Mitgliedern der Truppe. Es gab zwei Methoden: Entweder sie mussten sich selbst an einem Mord beteiligen, sich »schmutzig machen« und so zu Komplizen werden, oder man peitschte sie brutal aus, häufig mit bis zu dreihundert Hieben. »Kinder, die solche Grausamkeit am eigenen Leib erlebt haben«, sagte einer der Stammesältesten der Acholi, »bringen es leicht fertig, sie anderen zuzufügen.« Das Leid, das diese Armee aus zu Zombies mutierten Knirpsen über die Menschen brachte, ist unermesslich. Die Kinder zerstörten Dörfer, trieben einen Teil der Bevölkerung in die Flucht, verstümmelten Menschen, schlitzten ihnen den Bauch auf und entführten – eine besonders raffinierte Nuance des Bösen – andere Kinder, weshalb sich die Acholi mit Gegenmaßnahmen zurückhielten, um nicht einen ihrer eigenen Angehörigen umzubringen oder zu verletzen.

Diese »Lord’s Resistance Army« (»Widerstandsarmee des Herrn«, kurz LRA) wurde von einem Mann namens Joseph Kony angeführt, einem ehemaligen Messdiener, der das Gebiet unter die Herrschaft der Zehn Gebote stellen wollte. Er taufte mit Öl und Wasser, veranstaltete grausame Bestrafungs- und Reinigungszeremonien und versicherte seine Anhänger gegen den Tod. Sein Christentum war fanatisch. Auch das Rehabilitationszentrum, in dem ich saß, wurde von einer fundamentalistischen christlichen Organisation betrieben. Nachdem ich in den Busch gegangen und mir die Arbeit der LRA angesehen hatte, kam ich mit dem Mann, der die Schäden zu beheben versuchte, ins Gespräch. Wie könne er wissen, fragte ich ihn, welcher von ihnen den aufrichtigeren Glauben habe? Jede säkulare oder staatliche Organisation könne leisten, was er tat – Prothesen anpassen, Schutz bieten, beraten –, doch um ein Joseph Kony zu sein, müsse man doch sicher den wahren Glauben besitzen?

Zu meiner Überraschung tat er meine Frage nicht ab. Ja, sagte er, Kony beziehe seine Autorität zum Teil daraus, dass er aus einer christlichen Predigerfamilie stammte. Die Leute glaubten auch tatsächlich, er könne Wunder vollbringen, denn er rief die Geisterwelt an und versprach seinen Anhängern Immunität gegen den Tod. Selbst von denen, die ihm davongelaufen waren, schworen einige noch immer, dass sie den Mann hatten Wunder vollbringen sehen. Ein Missionar könne nur versuchen, den Menschen ein anderes Bild vom Christentum zu vermitteln.

Die Offenheit des Mannes beeindruckte mich. Er hätte auch anders argumentieren können. Joseph Kony ist vom christlichen »Mainstream« meilenweit entfernt. Seine Zahlmeister und Waffenlieferanten sind die zynischen Muslime des sudanesischen Regimes, die ihn benutzen, um die Regierung von Uganda zu reizen, die wiederum die Rebellengruppen im Sudan unterstützt. Kony untersagte dafür das Halten und Verzehren von Schweinen, was, wenn er auf seine alten Tage nicht gerade fundamentalistischer Jude geworden ist, als Zugeständnis an seine Geldgeber verstanden werden muss. Diese sudanesischen Mörder führen wiederum seit Jahren einen Vernichtungskrieg nicht nur gegen die Christen und Animisten im Südsudan, sondern auch gegen die nichtarabischen Muslime der Provinz Darfur. Offiziell unterscheidet der Islam nicht zwischen Rassen und Nationen, doch die Schlächter in Darfur sind arabische Muslime, ihre Opfer afrikanische Muslime. Die »Lord’s Resistance Army« eröffnet in diesem großen Horrorszenario nichts anderes als einen christlichen Nebenkriegsschauplatz nach Art der Roten Khmer.

Ein noch plastischeres Beispiel liefert Ruanda, das der Welt 1992 ein neues Synonym für Völkermord und Sadismus präsentierte. Die ehemalige belgische Kolonie ist das christlichste Land Afrikas mit dem höchsten Anteil an Kirchen pro Kopf der Bevölkerung. Fünfundsechzig Prozent der Ruander sind römisch-katholisch, weitere fünfzehn Prozent gehören einer der vielen protestantischen Religionsgemeinschaften an. Der Ausdruck »pro Kopf« nahm 1994 eine makabre Bedeutung an, als die rassistischen Milizen der Hutu-Power, angestachelt von Staat und Kirche, gezielt über ihre Nachbarn, die Tutsi, herfielen und sie massenhaft abschlachteten.

Das war kein atavistischer Blutrausch, sondern die kaltblütig geplante afrikanische Version der Endlösung, die schon geraume Zeit in Vorbereitung gewesen war. Eine frühe Warnung gab es im Jahr 1987, als ein katholischer Visionär damit prahlte, Stimmen und Visionen der Jungfrau Maria gewahr zu werden. Diese Bilder waren erschütternd blutig, prophezeiten Massaker und die Apokalypse, aber auch – wie zum Ausgleich – die Rückkehr Jesu Christi am Ostersonntag 1992. Marienerscheinungen auf einem Hügel namens Kibeho wurden von der katholischen Kirche untersucht und anerkannt. Die Frau des ruandischen Präsidenten, Madame Agathe Habyarimana, war besonders fasziniert von diesen Visionen; sie unterhielt eine enge Beziehung zum Bischof der ruandischen Hauptstadt Kigali, Monsignor Vincent Nsengiyumva, der überdies Mitglied des Zentralkomitees von Präsident Habyarimanas herrschender Partei MRND war (Nationale Revolutionäre Bewegung für den Fortschritt). Die MRND verhaftete, gemeinsam mit anderen staatlichen Organen, gern missliebige Frauen als »Prostituierte« und ermutigte katholische Aktivisten, Geschäfte zu verwüsten, in denen Verhütungsmittel verkauft wurden. Mit der Zeit sprach es sich herum, dass die Prophezeiung erfüllt werde und dass die »Schaben«, wie die Tutsi-Minderheit genannt wurde, bald bekommen würden, was ihnen zustand.

Als das apokalyptische Jahr 1994 anbrach und die geplanten und koordinierten Massaker begannen, waren viele eingeschüchterte Tutsi und Hutu-Dissidenten so unklug, in Kirchen Schutz zu suchen. Das erleichterte den Interahamwe, den Todesschwadronen von Regierung und Militär, ihre Aufgabe erheblich, denn sie wussten, wo sie suchen mussten, und konnten sich darauf verlassen, dass die Priester und Nonnen ihnen den Weg wiesen. Deshalb befinden sich auch so viele der Massengräber, die seither fotografiert wurden, auf geweihtem Boden, und aus dem gleichen Grund sitzen so viele Priester und Nonnen auf den Anklagebänken der ruandischen Völkermordprozesse. Der berüchtigte Pater Wenceslas Munyeshyaka beispielsweise, katholischer Priester in der Kathedrale Sainte Familie in Kigali, wurde von einem französischen Priester außer Landes geschmuggelt, danach aber wegen Völkermordes, der Weitergabe von Namenslisten an die Interahamwe sowie wegen der Vergewaltigung einer jungen Flüchtlingsfrau angeklagt. Er ist keineswegs der einzige Geistliche, der sich solchen Anklagen stellen muss. Um dem Eindruck entgegenzutreten, es handle sich um einen Einzelfall, sei hier ein anderes Mitglied der ruandischen Kirchenhierarchie genannt, der Bischof von Gikongoro, der auch unter dem Namen Monsignor Augustin Misago bekannt ist. In einem ausführlichen Bericht über die grauenhaften Vorgänge heißt es:

Bischof Misago selbst wurde häufig als Sympathisant der Hutu-Power geschildert; man hatte ihn öffentlich angeklagt, er habe Tutsi den Zugang zur Zufluchtsstätte verweigert, andere Geistliche kritisiert, weil sie »Schaben« geholfen hätten, und einen Gesandten des Vatikans, der Ruanda im Juni 1994 besuchte, gebeten, dem Papst auszurichten, er müsse »einen Ort für Tutsi-Priester finden, weil das ruandische Volk sie nicht mehr will«. Schlimmer noch: Am 4. Mai des Jahres, kurz vor der letzten Marienerscheinung in Kibeho, war der Bischof dort selbst mit einer Gruppe von Polizisten aufgetaucht; neunzig Tutsi-Schulkindern, die dort für das Gemetzel festgehalten wurden, hatte er versichert, sie sollten sich keine Sorgen machen, denn die Polizei werde sie beschützen. Drei Tage später halfen die Polizisten mit, zweiundachtzig dieser Kinder zu ermorden. [FUSSNOTE53]

Schulkinder, die »für das Gemetzel festgehalten« wurden – sicherlich erinnern wir uns alle daran, wie sich der Papst von diesem nicht wiedergutzumachenden Verbrechen distanziert und die Komplizenschaft seiner Kirche eingeräumt hat? Oder auch nicht. Er hat nie ein Wort darüber verloren. Paul Rusesabagina, der Held des Films Hotel Ruanda, erinnert sich, dass Vater Wenceslas Munyeshyaka sogar seine eigene Tutsi-Mutter als »Schabe« bezeichnete. Das verhinderte allerdings nicht, dass ihm von der französischen Kirche gestattet wurde, seine »seelsorgerischen Pflichten« wieder aufzunehmen, bis er dann in Frankreich verhaftet wurde. Im Falle Bischof Misagos gab es nach dem Krieg im ruandischen Justizministerium Stimmen, die ihn gern unter Anklage gestellt hätten. Doch ein Vertreter des Ministeriums sagte: »Aber der Vatikan ist zu stark und zeigt zu wenig Bedauern, als dass wir uns an Bischöfe heranwagen könnten. Haben Sie noch nie etwas von Unfehlbarkeit gehört?«

Auf der Basis dieser Fakten lässt sich zumindest bestreiten, dass die Religion die Menschen zu einem freundlicheren oder zivilisierteren Verhalten anhält. Je schlimmer der Verbrecher, desto frommer ist er oft. Hier sei nicht verschwiegen, dass auch einige der engagiertesten Helfer gläubig sind – obwohl es der Zufall will, dass ich auch vielen hervorragenden Säkularisten begegnet bin, die nicht für irgendeinen Glauben missionierten. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass einer, der sich solcher Verbrechen schuldig gemacht hat, im Glauben verwurzelt war, beläuft sich auf fast hundert Prozent, während die Wahrscheinlichkeit, dass eine gläubige Person auf der Seite der Menschlichkeit und des Anstands war, in etwa auf einen Münzwurf hinauslief. Verfolgt man das in der Geschichte zurück, so nähert man sich immer mehr einer Art astrologischen Voraussage, die zufällig eintritt oder nicht. Das liegt daran, dass Religionen nur unter dem Einfluss fanatischer Menschen wie Mose, Mohammed oder Joseph Kony entstehen und gedeihen konnten, während die Wohltätigkeitsarbeit und die humanitäre Hilfe zwar auch gutherzige Gläubige ansprechen, im Grunde aber ein Erbe des Modernismus und der Aufklärung sind. Zuvor verbreitete sich die Religion nicht dank ihrer Vorbildfunktion, sondern als flankierende Maßnahme eher altmodischer Methoden: Heiliger Krieg und Imperialismus.

Ich war ein verhaltener Bewunderer des verstorbenen Papst Johannes Pauls II., der nach menschlichem Maßstab tapfer und aufrecht war und sowohl moralischen als auch körperlichen Mut zu zeigen vermochte.

Als junger Mann engagierte er sich in seinem Heimatland für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, und in seinem späteren Leben trug er viel zur Befreiung Polens von der Sowjetherrschaft bei. Seine Amtszeit als Papst war in mancherlei Hinsicht schockierend konservativ und autoritär, doch Wissenschaft und Forschung stand er – außer wenn es um das Aids-Virus ging – aufgeschlossen gegenüber, und sogar beim Dogma zur Abtreibung machte er einige Zugeständnisse an eine »Lebensethik«, der zufolge nun beispielsweise die Todesstrafe fast immer als falsch gilt. Nach seinem Tod wurde Papst Johannes Paul unter anderem zugute gehalten, wie oft er Entschuldigungen ausgesprochen hatte. Leider war die Buße für die etwa eine Million Menschen, die in Ruanda ermordet wurden, nicht darunter. Allerdings entschuldigte sich der Papst bei den Juden für den Jahrhunderte währenden Antisemitismus, bei der muslimischen Welt für die Kreuzzüge, bei den orthodoxen Christen im Osten für die zahlreichen Verfolgungen, mit denen Rom sie überzogen hatte, und er bereute auch die Inquisition. Das war wohl so zu verstehen, dass die Kirche in der Vergangenheit hauptsächlich Fehler begangen und oft kriminell gehandelt hatte, nun aber durch die Beichte von ihren Sünden befreit war und fortan wieder unfehlbar sein konnte.