In dunkeln Zeiten wurden die Völker am besten durch die Religion geleitet, wie in stockfinstrer Nacht ein Blinder unser bester Wegweiser ist; er kennt dann Wege und Stege besser als ein Sehender – Es ist aber töricht, sobald es Tag ist, noch immer die alten Blinden als Wegweiser zu gebrauchen.

Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente

Im Herbst 2001 besuchte ich die indische Stadt Kalkutta mit dem genialen brasilianischen Fotografen Sebastiao Saigado, der auf seinen Fotografien das Leben der Migrantinnen, Kriegsopfer und der Arbeiter festhält, die mühevoll Rohstoffe aus Minen, Bergwerken und Wäldern gewinnen. Nun war er als UNICEF-Botschafter unterwegs und warb für seinen persönlichen Kreuzzug – im positiven Wortsinn – gegen die Geißel der Kinderlähmung. Der Arbeit engagierter und aufgeklärter Wissenschaftler wie Jonas Salk ist es zu verdanken, dass man heute mit minimalem Kostenaufwand Kinder gegen diese entsetzliche Krankheit impfen kann; es kostet nur ein paar Cent, einem Kind zwei Tropfen des flüssigen Polio-Impfstoffes zu verabreichen. Der medizinische Fortschritt hatte bereits die Schreckensherrschaft der Pocken beendet, und man ging zuversichtlich davon aus, dass es nur noch ein Jahr dauern würde, bis auch die Kinderlähmung besiegt war. Die ganze Menschheit hatte sich, so schien es, gemeinsam dieser Aufgabe verschrieben. In El Salvador und mehreren anderen Ländern hatten die Kriegsparteien eine Waffenruhe ausgerufen, damit sich die Impfteams frei bewegen konnten. Bettelarme und rückständige Länder hatten ihr letztes Geld zusammengekratzt, um die gute Nachricht bis ins abgelegenste Dorf zu bringen: Die entsetzliche Krankheit wird kein Kind mehr dahinraffen oder zu einem untätigen und siechen Leben verdammen. In Washington, wo sich in jenem Jahr viele Menschen, traumatisiert vom 11. September, ängstlich in ihren vier Wänden einbunkerten, ging meine jüngste Tochter an Halloween unerschrocken von Tür zu Tür, zwitscherte »Süßes oder Saures für UNICEF« und rettete mit jeder Handvoll Kleingeld Kinder, denen sie nie begegnen würde. Man bekam dieses erlesene Gefühl, sich für eine durch und durch gute Sache einzusetzen.

Auch die Menschen von Bengalen, besonders die Frauen, stürzten sich mit Enthusiasmus und Einfallsreichtum in die Aktion. Ich erinnere mich noch an eine Ausschusssitzung, in der streitbare Hostessen aus Kalkutta bar aller Berührungsängste planten, sich mit den Prostituierten der Stadt zusammenzutun, um die Botschaft bis in die letzten Winkel der Gesellschaft zu tragen: Bringt eure Kinder – keiner stellt Fragen – und lasst sie die Tropfen schlucken. Jemand hatte gehört, dass es ein paar Kilometer vor der Stadt einen Elefanten gab, den man mieten und zu Werbezwecken durch die Straßen führen konnte. Die Aussichten waren gut: Es sollte einen Neuanfang geben in einer der ärmsten Städte und Nationen der Welt. Doch dann kam uns zu Ohren, dass in einigen abgelegenen Dörfern muslimische Hardliner das Gerücht streuten, die Tropfen seien Teil einer Intrige. Wer die böse Medizin aus dem Westen einnehme, werde von Impotenz und Durchfall heimgesucht – eine wahrlich abstoßende und deprimierende Kombination.

Das war ein echtes Problem, denn der Impfstoff muss zweimal verabreicht werden – das zweite Mal zur Auffrischung und Verstärkung der Immunwirkung. Wenn nur wenige Menschen ungeimpft bleiben, kann die Krankheit wieder ausbrechen und sich durch Körperkontakt und über die Wasserversorgung ausbreiten. Wie die Pocken muss auch die Kinderlähmung vollständig ausgerottet werden. Als ich Kalkutta verließ, fragte ich mich, ob der Termin in Westbengalen zu halten und das Land bis zum Ende des folgenden Jahres poliofrei sein werde. Wenn es gelänge, mussten nur noch kleine Flecken in Afghanistan und zwei schwer zugängliche Regionen, die dem religiösen Eifer zum Opfer gefallen waren, versorgt werden, bis wir behaupten konnten, dass die Tyrannei einer weiteren uralten Krankheit endgültig gebrochen war.

Im Jahr 2005 erfuhr ich, wie die Sache ausgegangen war. In Nordnigeria – das bereits für poliofrei erklärt worden war – veröffentlichte eine Gruppe islamischer Geistlicher ein Rechtsgutachten, eine sogenannte Fatwa, nach der es sich bei der Polioimpfung um eine Verschwörung der USA und, man höre und staune, der Vereinten Nationen gegen den muslimischen Glauben handle. Den Mullahs zufolge sollte die Medizin die aufrechten Gläubigen sterilisieren; Ziel und Wirkung sei demnach ein Völkermord. Niemand dürfe die Tropfen einnehmen oder Kindern verabreichen. Wenige Monate später war die Kinderlähmung wieder da, und zwar nicht nur in Nordnigeria, denn Nigeriareisende und Pilger hatten sie bereits bis nach Mekka und in mehrere andere bereits poliofreie Länder getragen, darunter drei afrikanische Staaten sowie der Jemen. Der schwere Felsbrocken musste noch einmal bis ganz auf den Gipfel gerollt werden.

Man könnte meinen, es handle sich hier um einen Einzelfall. Weit gefehlt. Ich will nur das mir vorliegende Video erwähnen, auf dem Kardinal Alfonso Lopez Trujillo, Präsident des Päpstlichen Rates für die Familie im Vatikan, seine Zuhörer eindringlich davor warnt, dass Kondome in Wahrheit mit vielen mikroskopisch kleinen Löchern versehen seien, die das Aids-Virus durchließen. Schließen wir einen Moment die Augen, stellen wir uns vor, unser Wort sei wegweisend, und überlegen uns, wie wir mit den wenigsten Worten größtmögliches Leid anrichten könnten. Malen wir uns aus, welchen Schaden diese Aussage angerichtet hat: Wahrscheinlich lassen diese Löchlein ja noch mehr durch, womit das Kondom als solches völlig überflüssig wird. In Rom ist so eine Aussage schon niederträchtig. Doch was geschieht, wenn man die Botschaft in die Sprachen der armen und gebeutelten Länder übersetzt? In Brasilien predigte der Weihbischof von Rio de Janeiro, Rafael Llano Cifuentes, den versammelten Gläubigen zur Karnevalszeit: »Die Kirche lehnt die Verwendung von Kondomen ab. Die sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau müssen natürlich sein. Nie habe ich erlebt, dass ein kleiner Hund beim Geschlechtsverkehr mit einer Hündin ein Kondom verwendet.« [FUSSNOTE10]

Führende Kirchenvertreter anderer Länder – Kardinal Obando y Bravo in Nicaragua, der Erzbischof von Nairobi und der ugandische Kardinal Emmanuel Wamala – erzählten ihren Schäfchen, dass Kondome Aids übertragen. Kardinal Wamala vertrat gar die Ansicht, Frauen, die an Aids sterben, statt sich mit Latex zu schützen, seien als Märtyrerinnen zu betrachten – was vermutlich nur für den Märtyrertod im Rahmen einer ehelichen Beziehung gelten sollte.

Die islamischen Religionsführer haben sich keinesfalls besser, manchmal sogar noch schlimmer benommen. Im Jahr 1995 drängte das Konzil der Ulemas in Indonesien darauf, Kondome nur auf Rezept und nur an verheiratete Paare auszuhändigen. Im Iran darf einem Arbeiter, der HIV-positiv ist, gekündigt werden, und Ärzte und Krankenhäuser haben das Recht, die Behandlung von Aids-Patienten zu verweigern. Ein Vertreter des pakistanischen Aids-Kontrollprogramms erklärte im Jahr 2005 gegenüber der Zeitschrift Foreign Policy, das Problem sei in seinem Land aufgrund der »besseren sozialen und islamischen Werte« nicht so dramatisch. [FUSSNOTE11]

Und das in einem Staat, in dem das Gesetz die Verurteilung einer Frau zu einer Vergewaltigung durch mehrere Männer vorsieht, um auf diesem Weg die »Schande« durch ein vom Bruder der Frau verübtes Vergehen zu sühnen. Hier kommt die alte religiöse Kombination aus Unterdrückung und Verleugnung zum Tragen: Über eine Seuche wie Aids spricht man nicht, weil der Koran vorehelichen Geschlechtsverkehr, Drogenmissbrauch, Ehebruch und Prostitution hinreichend verbietet. Schon ein Besuch, sagen wir im Iran, beweist aber das Gegenteil. Hier machen die Mullahs aus der Scheinheiligkeit ein Geschäft, indem sie, zum Teil in speziell dafür vorgesehenen Häusern, auf wenige Stunden »zeitlich beschränkte« Hochzeitsurkunden verkaufen, wobei die Scheidungspapiere beim Geschäftsabschluss gleich mit unterzeichnet werden. Fast könnte man von Prostitution sprechen ... Mir wurde zuletzt vor dem hässlichen Heiligtum des Ayatollah Khomeini in Südteheran so ein Geschäft angetragen. Verschleierte Frauen und solche in Burkas aber, die von ihren Ehemännern mit dem Virus angesteckt werden, sollen bitte still und leise sterben. Man muss davon ausgehen, dass überall auf der Welt noch Millionen friedlicher und anständiger Menschen elend und sinnlos zu Tode kommen werden dank eines solchen Obskurantismus.

Das Verhältnis der Religion zur Medizin ist, wie auch das zu den Naturwissenschaften, schwierig und häufig von Feindschaft geprägt. Ein moderner Gläubiger mag behaupten und sogar davon überzeugt sein, dass sein Glaube mit den Naturwissenschaften und der Medizin vereinbar ist, doch beide neigen leider dazu, das Monopol der Religion zu unterlaufen, und werden daher von dieser oft erbittert bekämpft. Was wird aus dem Wunderheiler und dem Schamanen, wenn sich jeder einfache Bürger der Wirkung von Medikamenten und Behandlungen vergewissern kann, die ganz ohne Zauber und Zeremonien auskommen? Sie werden so überflüssig wie der Regenmacher, wenn ein Meteorologe aufkreuzt, oder der Sterndeuter, wenn der Schullehrer des ersten Fernrohrs habhaft wird. Dass Seuchen früher als Strafen der Götter galten, bestärkte die Priester in ihrer Macht und machte es ihnen leichter, Ungläubige und Ketzer zu verbrennen, die – so eine andere Erklärung – mit ihrer Zauberkraft angeblich Krankheiten verbreiteten oder Brunnen vergifteten. Die Orgien der Dummheit und Grausamkeit, in denen sich die Menschheit erging, ehe sie eine ordentliche Vorstellung von der Entstehung von Krankheiten durch Erreger hatte, mögen noch verzeihlich sein. Die Hälfte der »Wunder« im Neuen Testament handelt vom Heilen, das den Menschen in einer Zeit, als schon eine leichte Erkrankung zum Tod führen konnte, sehr wichtig war; sogar der heilige Augustinus glaubte nach eigener Aussage vor allem der Wunder wegen an das Christentum. Naturwissenschaftliche Religionskritiker wie Daniel Dennett haben in aller Großzügigkeit darauf hingewiesen, dass auch völlig nutzlose Heilrituale die Genesung der Menschen befördert hätten, immerhin ist bekannt, wie nützlich eine positive innere Einstellung im Kampf gegen eine Verletzung oder Infektionen sein kann. [FUSSNOTE12]

Doch diese Entschuldigung ermöglicht erst der Rückblick. Sie wurde hinfällig, als Dr. Jenner entdeckte, dass sich mit einem Kuhpockenimpfstoff der Ausbruch der Pocken verhindern lässt. Und trotzdem lehnte Timothy Dwight, der Gründer der Universität Yale und bis heute einer der angesehensten Theologen der amerikanischen Geschichte, die Pockenimpfung ab, weil er sie als Einmischung in den göttlichen Plan betrachtete. Und diese Mentalität ist noch weitverbreitet, obwohl ihre Ursache und Rechtfertigung, die menschliche Unwissenheit, schon lange der Vergangenheit angehört.

Es ist interessant und lässt tief blicken, dass der Erzbischof von Rio den Hund für seine Analogie heranzieht. Hunde machen sich nicht die Mühe, ein Kondom überzuziehen. Wer sind wir, uns an ihrer Treue zur »Natur« zu stoßen? Als kürzlich in der anglikanischen Kirche heftig darüber gestritten wurde, ob Homosexuelle die Ordination erhalten sollten, brachten mehrere Bischöfe das alberne Argument vor, Homosexualität sei »unnatürlich«, weil sie bei anderen Arten nicht vorkomme. Einmal ganz abgesehen von der bodenlosen Unsinnigkeit dieser Beobachtung: Sind die Menschen nun ein Teil der »Natur«, oder sind sie es nicht? Oder anders: Wenn sie nun zufällig homosexuell sind, sind sie dann nach Gottes Vorbild geschaffen oder nicht? Einmal ganz zu schweigen davon, dass homosexuelles Verhalten bei vielen Vogel- und Säugetierarten, auch Primaten, umfassend dokumentiert ist. Wer sind die Geistlichen, die Natur zu interpretieren? Dass sie das nicht können, haben sie bereits zur Genüge bewiesen. Ein Kondom ist schlichtweg eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, die Übertragung des Aids-Virus zu verhindern. Da sind sich alle qualifizierten Fachleute einig, einschließlich derer, die Abstinenz für die bessere Lösung halten. Homosexualität kommt in allen Gesellschaften vor, und ihr Auftreten weist sie wohl als Teil des menschlichen »Designs« aus. Diesen Tatsachen müssen wir uns notgedrungen stellen. Wir wissen auch, dass die Beulenpest nicht von Sündern oder Abtrünnigen übertragen wurde, sondern von Ratten und Flöhen. Erzbischof Lancelot Andrewes fiel während der Heimsuchung Londons durch den »Schwarzen Tod« 1665 voll Unbehagen auf, dass die entsetzliche Krankheit sowohl fromme Menschen befiel, die beteten und ihren Glauben bewahrten, wie auch andere, die das nicht taten. Damit war er einer Erkenntnis schon gefährlich nahe. Während ich dieses Kapitel schreibe, tobt in meiner Heimatstadt Washington, D. C., ein Streit: Die humanen Papillomaviren (HPV), die, wie man seit Langem weiß, durch Geschlechtsverkehr übertragen werden, lösen eine Infektion aus, die bei Frauen im schlimmsten Fall zu Gebärmutterkrebs führen kann. Deshalb wurde ein Serum entwickelt – die Entwicklung von Impfstoffen kommt heute in Riesenschritten voran –, das die Krankheit zwar nicht heilt, die Frauen jedoch dagegen immun macht. Allerdings gibt es in der Regierung Kräfte, die eine solche Maßnahme ablehnen, weil sie sich nicht gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr richtet. Die Ausbreitung des Gebärmutterkrebses im Namen Gottes zu akzeptieren ist moralisch und intellektuell aber nichts anderes, als die Frauen auf einem Steinaltar zu opfern und der Gottheit für unser sexuelles Verlangen zu danken, um es sodann zu verfluchen.

Wir wissen nicht, wie viele Menschen in Afrika am Aids-Virus gestorben sind oder noch sterben werden. Das Virus wurde in einer Meisterleistung der Humanforschung schon bald nach seinem ersten tödlichen Auftreten isoliert und kann mittlerweile bekämpft werden. Andererseits wissen wir, dass der Geschlechtsverkehr mit einer Jungfrau, mancherorts ein beliebtes »Heilmittel«, die Infektion weder verhindert noch heilt. Und wir wissen überdies, dass der Kondomgebrauch als Prophylaxe zumindest dazu beitragen kann, die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Wir haben es hier nicht, wie die Missionare früher glaubten, mit Medizinmännern und Wilden zu tun, die sich gegen ihre Wohltaten zur Wehr setzen. Sondern mit der Regierung Bush, die sich in unserer angeblich säkularen Republik des 21. Jahrhunderts weigert, ihr Entwicklungshilfebudget mit Wohltätigkeitseinrichtungen und Kliniken zu teilen, die Menschen bei der Familienplanung beraten. Mindestens zwei große etablierte Religionen mit mehreren Millionen Anhängern in Afrika halten die Aids-Behandlung für schlimmer als die Krankheit selbst. Darüber hinaus hängen sie dem Glauben an, die Seuche sei eine Strafe des Himmels für abweichende Sexualpraktiken, insbesondere die Homosexualität. Diesen primitiven Schwachsinn wischt Ockhams Rasiermesser mit einem Streich vom Tisch: Homosexuelle Frauen infizieren sich nicht mit Aids (es sei denn, sie haben das Pech, es über eine Transfusion oder Nadel verabreicht zu bekommen), und mehr noch: Sie bekommen auch alle anderen Geschlechtskrankheiten seltener als sogar Heterosexuelle. Und trotzdem weigern sich die geistlichen Führer hartnäckig, auch nur die Existenz des Lesbentums einzugestehen. Womit sie einmal mehr dokumentieren, dass die Religion eine ernst zu nehmende Bedrohung für die Volksgesundheit darstellt. Eine hypothetische Frage: Ich werde dabei erwischt, wie ich, ein Mann von siebenundfünfzig Jahren, einem männlichen Baby am Penis lutsche. Wut und Ekel würden mir entgegenschlagen. Aber selbstverständlich habe ich eine Erklärung zur Hand: Ich bin ein Mohel und wurde bestellt, eine Beschneidung vorzunehmen. Meine Autorität beziehe ich aus einem Text des Altertums, der mir aufträgt, den Penis des kleinen Jungen in die Hand zu nehmen, die Vorhaut ringsum einzuschneiden und die rituelle Handlung zu beenden, indem ich den Penis in den Mund nehme, die Vorhaut absauge und die amputierte Haut samt einem Mundvoll Blut und Speichel ausspucke. Diese Praxis ist bei den meisten Juden nicht mehr üblich, weil sie unhygienisch ist und zudem unangenehme Assoziationen weckt, doch die chassidischen Fundamentalisten, die bis heute auf einen Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem hoffen, führen sie noch durch. Sie betrachten den primitiven Ritus des Peri'ah Metsitsah als Teil des ursprünglichen und unzertrennlichen Bundes mit Gott. Im Jahr 2005 wurde in New York bekannt, dass sich mehrere kleine Jungen bei dem von einem siebenundfünfzig Jahre alten Mohel durchgeführten Ritual mit Genitalherpes angesteckt hatten, an dem mindestens zwei Kinder starben. Unter anderen Umständen hätte sich das Gesundheitsamt durch diese Nachricht dazu veranlasst gesehen, das Ritual zu verbieten, und der Bürgermeister hätte sich öffentlich davon distanziert. In der Hauptstadt der modernen Welt, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, sollte es jedoch anders kommen: Bürgermeister Bloomberg schrieb Warnungen angesehener jüdischer Ärzte vor den Gefahren des Brauches in den Wind und wies seine Gesundheitsbehörde an, vorerst keine Entscheidung zu fällen. Es gelte nun vor allem, so Bloomberg, dafür Sorge zu tragen, dass die freie Religionsausübung nicht eingeschränkt werde. Das bekam ich in einer öffentlichen Debatte auch von Peter Steinfels, dem liberalen katholischen Redakteur, der bei der New York Times für die Rubrik Religion zuständig ist, zu hören.

Zufällig fanden in jenem Jahr Bürgermeisterwahlen in New York statt, was häufig vieles erklärt. Doch das Prinzip greift auch in anderen Religionen, anderen Bundesstaaten, anderen Städten und anderen Ländern. In weiten Teilen des animistischen und muslimischen Afrika werden Mädchen der Hölle der Beschneidung oder der Infibulation ausgesetzt, bei der, oft mit einem scharfen Stein, die Klitoris und die kleinen Labien beschnitten werden und der Vaginalausgang anschließend mit dickem Garn zugenäht wird; die Naht wird erst in der Hochzeitsnacht vom Ehemann gewaltsam geöffnet. Bis dahin verlangen das Mitgefühl und die Erfordernisse der Biologie das Belassen einer kleinen Öffnung für den Urin und das Menstruationsblut. Der Gestank, der Schmerz, die Erniedrigung und das Elend, die daraus erwachsen, übersteigen jede Vorstellungskraft; die Folge sind Infektionen, Sterilität, Scham und der Tod vieler Frauen und Säuglinge bei der Geburt. Keine Gesellschaft würde einen solchen Angriff auf ihre Frauen und somit auf ihren eigenen Fortbestand tolerieren, wenn der grauenhafte Brauch nicht heilig wäre. Doch auch ein New Yorker lässt Gräueltaten gegen Babys nur unter dieser Voraussetzung zu. Eltern, die den widersinnigen Behauptungen der »Christian Science« glauben, hat man verschiedentlich angeklagt, jedoch nicht immer verurteilt, weil sie ihrem Nachwuchs dringend notwendige medizinische Hilfe verweigert hatten. Eltern, die sich »Zeugen Jehovas« nennen, erlauben für ihre Kinder keine Bluttransfusionen. Mormonische Eltern, die daran glauben, dass einem gewissen Joseph Smith einst der Weg zu vergrabenen Goldplatten gewiesen wurde, verheiraten ihre minderjährigen Töchter bevorzugt mit einem Onkel oder Cousin, der oft bereits ältere Ehefrauen hat. Die schiitischen Fundamentalisten im Iran haben das »Einwilligungs«-Alter auf neun Jahre gesenkt, vielleicht im bewundernden Andenken an die jüngste »Frau« des »Propheten« Mohammed. Hindu-Kindsbräute in Indien werden ausgepeitscht und manchmal bei lebendigem Leib verbrannt, wenn die armselige Mitgift, die sie mit in die Ehe bringen, als zu gering erachtet wird. Der Vatikan und sein umfangreiches Diözesennetz mussten allein im vergangenen Jahrzehnt in zahllosen Fällen von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung ihre Komplizenschaft eingestehen; die Vergehen waren vorwiegend, aber durchaus nicht ausschließlich, homosexuell motiviert, wobei bekannte Päderasten und Sadisten vor Strafe geschützt und in Gemeinden versetzt wurden, in denen sie eine noch größere Auswahl an unschuldigen und schutzlosen Opfern fanden. In Irland – einst unzweifelhaft treu der Holy Mother Church ergeben – sind heute einer Schätzung zufolge in den religiösen Schulen die nicht missbrauchten Kinder in der Minderzahl.

Nun pocht die Religion beim Schutz und bei der Bildung von Kindern auf eine Sonderrolle. »Wehe dem«, sagt der Großinquisitor in Dostojewskis Die Brüder Karamasow, »der einem Kind etwas zuleide tut!« Jesus erklärt im Neuen Testament, einer, der sich eines solchen Verbrechens schuldig mache, sei besser im Meer aufgehoben, »wo es am tiefsten ist«, und zwar mit einem Mühlstein um den Hals. Doch in Theorie und Praxis bedient sich die Religion der Unschuldigen und Wehrlosen für ihre Experimente. Sollen doch die praktizierenden jüdischen Männer ihren frisch beschnittenen blutigen Penis einem Rabbi in den Mund stecken – was zumindest in New York legal wäre. Sollen sich Frauen, die ihren Schamlippen misstrauen, doch von anderen erbärmlichen Frauen beschneiden lassen. Soll sich Abraham doch zur Selbsttötung bereit erklären, um seine Demut vor dem Herrn zu beweisen oder seinen Glauben an die Stimmen in seinem Kopf. Sollen sich doch fromme Eltern bei akuten Schmerzen den Beistand durch die Medizin versagen. Soll sich meinetwegen der Priester, der sich zum Zölibat verpflichtet hat, als promisker Homosexueller betätigen. Soll sich die Gemeinde, die an Teufelsaustreibungen glaubt, doch jede Woche einen erwachsenen Sünder herauspicken und auspeitschen, bis er blutet. Soll doch der Kreationismus-Anhänger seine Kollegen in der Mittagspause belehren. Aber dass schutzlose Kinder zu diesen Zwecken missbraucht werden, kann auch der überzeugteste Säkularist getrost als Sünde bezeichnen.

Ich stelle mich nicht als moralisches Vorbild hin und würde schnell Schiffbruch erleiden, wenn ich es versuchte. Doch wenn man mich verdächtigte, ein Kind vergewaltigt, ein Kind gepeinigt, es mit einer Geschlechtskrankheit infiziert oder es in die sexuelle oder anders geartete Sklaverei verkauft zu haben, würde ich wohl über Suizid nachdenken, egal ob ich schuldig wäre oder nicht. Hätte ich aber eine solche Tat auch wirklich begangen, würde ich den Tod in jeder Form begrüßen. Diese Abscheu ist bei einem gesunden Menschen angelegt und braucht ihm nicht erst beigebracht zu werden. Da die Religion ausgerechnet dort in unerreichtem Maße straffällig geworden ist, wo moralische und ethische Autorität als universell und absolut bezeichnet werden kann, dürfen wir hier vorläufig mindestens drei Schlüsse ziehen. Erstens: Die Religion und die Kirchen wurden vom Menschen geschaffen, und da das so offensichtlich ist, kann man es auch nicht ignorieren. Zweitens: Ethik und Moral sind vom Glauben unabhängig und lassen sich nicht aus ihm ableiten. Drittens: Da die Religion für ihre Praktiken und Glaubensinhalte eine göttliche Ausnahmeregelung geltend machen möchte, ist sie nicht nur amoralisch, sondern unmoralisch. Der unwissende Psychopath oder Rohling, der seine Kinder misshandelt, muss bestraft werden, man kann sein Handeln aber vielleicht nachvollziehen. Wer sich aber für seine Grausamkeiten auf eine himmlische Rechtfertigung beruft, ist mit dem Bösen behaftet – und stellt eine erheblich größere Gefahr dar.

Das psychiatrische Krankenhaus von Jerusalem hat eine Station eigens für Menschen, die für sich und andere eine besondere Gefahr darstellen. Die Patienten dort leiden am sogenannten Jerusalemsyndrom. Polizisten und Sicherheitskräfte werden speziell darauf geschult, sie zu erkennen, denn der Wahn verbirgt sich häufig hinter einer Fassade seliger Gelassenheit. Die Leute kommen in die heilige Stadt, um ihre eigene Ankunft als Messias oder Erlöser zu verkünden oder den Weltuntergang vorherzusagen. Der Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und geistiger Störung ist, vom toleranten und »multikulturellen« Standpunkt aus betrachtet, so offensichtlich wie tabu. Wenn jemand seine Kinder ermordet und hinterher erklärt, Gott habe es ihm befohlen, wird er zwar womöglich für unzurechnungsfähig erklärt und gilt als nicht schuldig, landet aber trotzdem in Sicherheitsverwahrung. Wenn einer in einer Höhle lebt und behauptet, Visionen und prophetische Träume zu haben, lassen wir ihn in Ruhe, bis sich herausstellt, dass er in seiner Glückseligkeit ein ganz und gar nicht imaginäres Selbstmordattentat plant. Wenn einer, der sich als von Gott erwählt betrachtet, beginnt, Getränkepulver und Waffen zu horten und sich an den Frauen und Töchtern seiner Anhänger gütlich zu tun, so werden wir das nicht nur mit einem Stirnrunzeln quittieren. Doch wenn solche Verhaltensweisen unter der schützenden Hand einer etablierten Religion gepredigt werden, sollen wir sie ernst nehmen. Alle drei monotheistischen Religionen preisen, um ein bekanntes Beispiel anzuführen, Abraham dafür, dass er bereit war, auf die Stimmen in seinem Kopf zu hören und mit seinem Sohn Isaak einen langen Spaziergang mit recht düsterem wahnhaften Ziel zu unternehmen. Und die Laune, die seiner Mörderhand am Ende Einhalt gebietet, wird dann als Gnade Gottes vermerkt.

Das Verhältnis zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit hängt, wie man heute weiß, eng damit zusammen, ob die Sexualität intakt oder gestört ist. Kann es da Zufall sein, dass alle Religionen Gesetzeshoheit in Fragen der Sexualität beanspruchen? Zuallererst nötigen Gläubige seit jeher sich selbst, einander und Nichtgläubige, indem sie ein Monopol in diesem Bereich für sich reklamieren. Die wenigsten Religionen müssen sich mit der Durchsetzung des Inzesttabus abgeben (einige wenige Kulte erlauben oder befördern ihn sogar) denn wie Mord und Diebstahl lehnen die meisten Menschen den Inzest ohne weitere Erklärung ab. Doch wer auch nur einen flüchtigen Blick in die Geschichte der Furcht vor der Sexualität und ihrer Ächtung durch die Religion wirft, dem offenbart sich der beunruhigende Zusammenhang zwischen extremer Lüsternheit und extremer Repression. Fast jeder sexuelle Impuls wurde zum Anlass für Verbote, Scham- und Schuldgefühle. Manueller Sex, oraler Sex, analer Sex, Sex ohne Missionarsstellung – nichts ließe sich denken, worauf nicht ein schrecklicher Bann läge. Selbst im modernen hedonistischen Amerika wird in den Gesetzen mehrerer Bundesstaaten alles, was nicht unmittelbar der heterosexuellen Fortpflanzung von Angesicht zu Angesicht dient, als Sodomie definiert.

Daraus ergeben sich schwere Einwände gegen das göttliche »Design«, egal ob wir es nun als »intelligent« bezeichnen oder nicht. Die menschliche Art ist ganz offensichtlich dazu geschaffen, mit ihrer Sexualität zu experimentieren. Das ist der Geistlichkeit natürlich bekannt. Als Dr. Samuel Johnson das erste große Wörterbuch der englischen Sprache vollendet hatte, wurde er von einer Delegation ehrbarer älterer Damen besucht, die ihn dazu beglückwünschen wollten, keine unanständigen Wörter aufgenommen zu haben. Seiner Antwort – mit Interesse stelle er fest, dass die Damen offenbar jene Wörter nachgeschlagen hätten – ist nichts hinzuzufügen. Orthodoxe Juden vollziehen vielleicht nicht den Akt durch ein Loch im Laken, doch ihre Frauen müssen sich rituellen Bädern unterziehen, um sich vom Schmutz der Menstruation zu reinigen. Muslime bestrafen einen Ehebrecher, indem sie ihn öffentlich auspeitschen. Christen leckten sich die Lippen, während sie Frauen auf Hexenmerkmale untersuchten. Ich brauche die Liste nicht weiter fortzuführen: Jedem Leser dieses Buches wird ein eingängiges Beispiel einfallen, und wenn nicht, wird er zumindest erraten, worauf ich hinauswill. Dass Religion vom Menschen geschaffen und anthropomorph ist, geht auch eindeutig daraus hervor, dass sie überwiegend vom Mann gemacht wurde. Die am längsten ununterbrochen genutzte heilige Schrift, die Thora, heißt den Gläubigen, seinem Schöpfer täglich dafür zu danken, dass er nicht als Frau zur Welt kam – womit sich erneut die dringliche Frage stellt: Wer, wenn nicht der Sklave, dankt seinem Herrn für eine Entscheidung, die sein Herr getroffen hat, ohne ihn vorher zu fragen? Im Alten Testament, wie es die Christen herablassend nennen, wird die Frau aus dem Mann geklont, um ihm zu Diensten zu sein. Im Neuen Testament spricht Paulus mit Furcht und Verachtung von der Frau. In allen religiösen Texten herrscht die primitive Furcht, die Hälfte der menschlichen Rasse sei befleckt und unrein, gleichzeitig aber eine sündhafte Versuchung, der man(n) unmöglich widerstehen könne. Liegt hier die Erklärung für den hysterischen Jungfrauen- und Jungfräulichkeitskult, die Furcht vor dem Frauenkörper und die Angst vor den weiblichen Fortpflanzungsorganen? Falls jemand die sexuellen und anderen Grausamkeiten der Religionen erklären kann, ohne sich auf die Obsession mit der sexuellen Enthaltsamkeit zu berufen, bitte schön – ich kann es nicht. Wenn ich im Koran die nicht enden wollenden Verbote zur Sexualität und das dekadente Versprechen orgiastischer Ausschweifungen im nächsten Leben lese, muss ich lachen. Diese Taktik ist so durchsichtig wie das Kinderspiel »Tun wir so, als ob«, nur dass man sich nicht an der kindlichen Unschuld erfreuen kann. Die wahnsinnigen Mörder vom 11. September – die auf Beförderung zu wahnsinnigen Völkermördern hofften – mögen von Jungfrauen versucht worden sein, doch viel schlimmer ist, dass sie wie viele ihrer Dschihadistenfreunde Jungfrauen waren. Wie einst die Mönche werden die Fanatiker früh aus ihren Familien gerissen und gelehrt, ihre Mütter und Schwestern zu verachten. Sie wachsen auf, ohne je mit einer Frau ein normales Gespräch zu führen, geschweige denn ein normales Verhältnis zu pflegen. Das allein ist schon krankhaft. Das Christentum ist zu verklemmt, um Sex im Paradies in Aussicht zu stellen – ja, es ist ihm nicht einmal gelungen, überhaupt einen verlockenden Himmel zu entwerfen – dafür verspricht es sexuell Abtrünnigen sadistische Strafen in Hülle und Fülle und bis in alle Ewigkeit, was fast dieselbe Wirkung hat und auf anderem Weg zum gleichen Ziel führt.

Ein spezielles Subgenre der modernen Literatur ist die Autobiografie von Männern und Frauen, die in den Genuss einer religiösen Erziehung kamen. Für manche dieser Autoren ist die moderne Welt säkularisiert genug, dass sie heute ihre Erlebnisse und das, woran sie zu glauben hatten, durch den Kakao ziehen können. Doch solche Bücher werden zwangsläufig meist von Menschen verfasst, die diese Erfahrung dank ihrer inneren Stärke überlebt haben. Wenn Millionen von Kindern lernen, dass Masturbation blind macht, unreine Gedanken ins ewige Fegefeuer führen, dass auch Anhänger anderer Konfessionen einschließlich Mitglieder der eigenen Familie auf ewig dort werden schmoren müssen oder dass beim Küssen Geschlechtskrankheiten übertragen werden, dann ist der Schaden gar nicht zu ermessen. Das Gleiche gilt für das Leid, das Religionsgelehrte anrichten, wenn sie ihren Schülerinnen und Schülern solche Lügen unter Prügel, Vergewaltigung und öffentlicher Demütigung einhämmern. Einige der Menschen, die »in Gräbern ruhen, die kein Mensch besucht«, mögen ihren Beitrag zum Guten in der Welt geleistet haben, doch wer Hass und Furcht und Schuld gepredigt und unzählige Kinderleben ruiniert hat, sollte dankbar sein, dass die Hölle, von der er schwafelt, nur eine seiner eigenen niederträchtigen Lügen ist und er nicht dort verrotten muss.

Sie ist gewalttätig, irrational und intolerant, steht im Bund mit Rassismus, Stammesdünkel und Bigotterie, lehnt in ihrer Ignoranz die freie Forschung ab, verachtet Frauen und züchtigt Kinder. Die organisierte Religion hätte allen Grund für ein schlechtes Gewissen. Ein weiterer Punkt sei dieser Liste noch angefügt: Die Religion steht zwangsläufig in Erwartung des Weltuntergangs. »Erwartung« meine ich hier nicht im rein eschatologischen Sinne eines Vorausblickens auf das Ende. Nein, ich meine, sie wünscht ihn sich offen oder insgeheim herbei. Vielleicht aus dem Bewusstsein heraus, dass ihre unausgegorenen Behauptungen nicht ganz überzeugend sind, vielleicht auch aus Unbehagen über ihre gierige Anhäufung weltlicher Macht und weltlichen Reichtums kündigt sie immer wieder die Apokalypse und den Jüngsten Tag an. Seit die ersten Medizinmänner und Schamanen eine Sonnenfinsternis vorhersagen konnten und ihr astronomisches Halbwissen dazu missbrauchten, die Unwissenden in Angst und Schrecken zu versetzen, ist das ein wiederkehrendes Motiv. Es reicht von den Briefen des Paulus, der ganz offenkundig dachte und hoffte, die Zeit der Menschheit neige sich dem Ende zu, über die wirren Fantasien der Offenbarung, die Johannes so unvergesslich auf der griechischen Insel Patmos niederschrieb, bis hin zu der erfolgreichen Schundromanreihe Left Behind, die, angeblich von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins verfasst, offenbar jedoch nach der bewährten Methode produziert wurde, zwei Orang-Utans auf einen PC loszulassen.

»Und über ihnen ein großer Schwarm gieriger Vögel, die sich an Mensch und Tier gütlich taten [...] Ihre Eingeweide ergossen sich auf den Wüstenboden, und alle in ihrer Nähe, die die Flucht ergreifen wollten, wurden ebenfalls getötet. Ihr Blut sammelte sich in Lachen unter dem strahlenden Licht der Herrlichkeit Christi.«

Jesus wird nach der Schlacht gefragt:

»Warum aber ist dein Gewand so rot, ist dein Kleid wie das eines Mannes, der die Kelter tritt?«

»Ich allein trat die Kelter, von den Völkern war niemand dabei. Da zertrat ich sie voll Zorn, zerstampfte sie in meinem Grimm. Ihr Blut spritzte auf mein Gewand und befleckte meine Kleider.« [FUSSNOTE13]

Es ist die schiere Lust am Wahnsinn, durchsetzt mit Scheinzitaten aus der Bibel. Etwas reflektierter, aber kaum weniger deprimierend, begegnet uns das Motiv in Julia Ward Howes Gedicht »Battie Hymn of the Republic«, in dem auch die Kelter wieder auftaucht, und in Robert Oppenheimers Reaktion auf die erste Atombombenexplosion bei Alamogordo in New Mexico, als er aus dem Hinduepos Bhagavadghita zitiert haben soll: »Jetzt bin ich der Tod, Zerstörer von Welten.« Eine der vielen Parallelen zwischen dem religiösen Glauben und den finsteren, verdorbenen und egoistischen Kindheitstagen unserer Spezies ist der unterdrückte Wunsch, zuzusehen, wie alles zerschlagen, zerstört und zunichtegemacht wird. Dieses trotzige Bedürfnis hängt mit zwei Spielarten der Schadenfreude zusammen: Erstens wird der eigene Tod durch die Vernichtung aller anderen Menschen aufgehoben, vielleicht auch vergolten oder kompensiert. Zweitens kann man immer eigensüchtig darauf hoffen, dass man selbst verschont bleibt und auf dem Schoß des Massenvernichters ein sicheres Plätzchen findet, von dem man das Leid der weniger Glücklichen beobachten kann. Tertullian, einer der vielen Kirchenväter, die sich vergeblich mit einer überzeugenden Beschreibung des Paradieses abmühten, entschied sich, nicht dumm, für den kleinsten gemeinsamen Nenner, indem er als eine der größten Freuden im Leben nach dem Tod die unendliche Betrachtung der Qualen der Verdammten versprach. Damit gab er mehr Wahrheit preis, als er ahnte, deutete er doch auf das menschgemachte Wesen der Religion hin.

Wie immer sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaften sehr viel eindrucksvoller als die Tiraden der Gottesleute. Die Geschichte des Universums begann, wenn wir dem Wort »Zeit« überhaupt irgendwelche Bedeutung zumessen wollen, vor rund zwölf Milliarden Jahren. (Bei falscher Anwendung des Begriffes »Zeit« gelangt man zu infantilen Berechnungen wie denen des James Ussher, Erzbischof von Armagh, dem zufolge die Erde – nur »die Erde« wohlgemerkt, nicht das Universum – am Samstag, dem 22. Oktober 4004 v. Chr. um sechs Uhr abends entstand. Auf diese Datierung stützte sich William Jennings Bryan, ehemaliger US-Außenminister und zweimaliger Präsidentschaftskandidat der Demokraten, als Anklagevertreter im Prozess gegen einen Lehrer, der seinen Schülern die Evolutionslehre beigebracht hatte, noch im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor Gericht.) In Wahrheit beträgt das Alter der Sonne und der sie umkreisenden Planeten – von denen das Schicksal einem Leben zugesteht, während die anderen zu einem lebensfeindlichen Dasein verdammt sind – wohl viereinhalb Milliarden Jahre, eine Zahl, die laufend diskutiert wird. Diesem sehr kleinen Planetensystem bleibt wahrscheinlich noch einmal mindestens diese Zeitspanne, um seine Feuerbahnen zu ziehen, denn unsere Sonne hat eine verbleibende Lebenserwartung von satten fünf Milliarden Jahren. Dann allerdings wird sie sich wie Millionen anderer Sonnen vor ihr explosionsartig in einen »roten Riesen« verwandeln, die Ozeane der Erde zum Kochen bringen und jegliche Lebensform auslöschen. Kein Prophet oder Visionär hat bislang auch nur ansatzweise ein Bild von der katastrophalen Kraft und Endgültigkeit dieses Moments zeichnen können. Immerhin müssen wir ihn aus hausgemachten Gründen nicht weiter fürchten: Nach derzeitigen Prognosen wird die Biosphäre bis dahin sehr wahrscheinlich von einer anderen, langsamer verlaufenden Art der globalen Erwärmung zerstört sein. Auch optimistischen Experten zufolge haben wir als Spezies auf Erden keine Äonen mehr vor uns.

Mit welcher Verachtung und welchem Misstrauen müssen wir daher jedem begegnen, der es einfach nicht abwarten kann, der sich selbst belügt und andere ängstigt – wie immer vor allem Kinder – mit seinen Schreckensvisionen von einer Apokalypse, auf die dann das strenge Gericht desjenigen folgt, der uns dieses unentrinnbare Schlamassel angeblich erst eingebrockt hat. Wir mögen heute über die Eiferer lachen, die einst mit Schaum vor dem Mund Hölle und Verdammnis predigten und junge Seelen mit der pornografischen Darstellung ewiger Qualen in Angst und Schrecken versetzten, doch das Phänomen hat uns in einer durchaus beunruhigenden heiligen Allianz zwischen Gläubigen und der Wissenschaft, diesmal in Form von Anleihen und geistigem Diebstahl, wieder eingeholt. Professor Pervez Hoodbhoy, angesehener Professor für Kernphysik an der Universität von Islamabad, beschreibt beispielsweise die erschreckende Mentalität in seinem Heimatland Pakistan, einem der ersten Staaten der Welt, der sich gänzlich aus der Religion definierte:

In einer öffentlichen Debatte im Vorfeld der pakistanischen Atomwaffenversuche sagte der ehemalige Oberbefehlshaber der pakistanischen Armee, General Mira Aslam Beg: »Wir können einen Erstschlag vornehmen und ein zweites und sogar ein drittes Mal zuschlagen.« Die Aussicht auf einen Atomkrieg ließ ihn kalt. »Sie können beim Überqueren der Straße sterben«, sagte er, »oder in einem Atomkrieg sterben. Irgendwann müssen Sie sowieso sterben.« [...] Indien und Pakistan sind überwiegend traditionelle Gesellschaften, deren fundamentale Glaubensstruktur fordert, dass sich der Mensch höheren Mächten unterwirft. Der fatalistische Hinduglaube, nach dem die Sterne unser Schicksal vorherbestimmen, oder der entsprechende muslimische Glaube an Kismet sind sicherlich teilweise für dieses Problem verantwortlich. [FUSSNOTE14]

Ich gebe dem mutigen Professor Hoodbhoy recht; er war es übrigens, der uns darauf aufmerksam machte, dass sich unter den Bürokraten des pakistanischen Atomprogramms mehrere getarnte Bin-Laden-Anhänger befanden, und er entlarvte auch die blindwütigen Fanatiker innerhalb dieses Systems, die sich die Macht der mythischen Dschinns oder Wüstenteufel für militärische Zwecke zu eigen machen wollten. In seiner Welt stehen sich überwiegend Muslime und Hindus gegenüber. Doch auch durch die »judäochristliche« Welt geistern Fantasien vom finalen Krieg und Endzeitvisionen, die mit pilzförmigen Wolken ausgeschmückt werden. Es ist tragisch und potenziell tödlich, dass ausgerechnet diejenigen, denen die Naturwissenschaften und die freie Forschung am tiefsten verhasst sind, die fortschrittlichsten Produkte dieser Forschung stehlen konnten, um sie in den Dienst ihrer kranken Träume zu stellen.

In jedem von uns schlummert wahrscheinlich so etwas wie Todessehnsucht. Zum Jahreswechsel 1999/2000 redeten und schrieben zahlreiche gebildete Menschen unendlich viel Schwachsinn über mögliche Katastrophen und Tragödien. Es war eine Art primitiver Zahlenmystik, schlimmer noch: 2000 war ja nur eine Zahl im christlichen Kalender, und selbst die überzeugtesten Verfechter der biblischen Geschichte räumen heute ein, dass Jesus, so er denn geboren wurde, frühestens im Jahr 4 n. Chr. zur Welt kam. Der Anlass war somit nicht mehr als ein Lackmustest für Idioten, die auf den billigen Nervenkitzel des dräuenden Jüngsten Gerichts aus waren. Doch die Religion legitimiert solche Impulse, pocht auf die Oberaufsicht über das Ende des Lebens, so wie sie die Kinder zu Beginn ihres Lebens in Beschlag nimmt. Der Todeskult und die ständige Ausschau nach Vorboten des Endes erwachsen aus dem stillen Wunsch, selbst dabei zu sein und Furcht und Zweifel, die den Glauben allezeit bedrohen, ein Ende zu setzen. Wenn die Erde bebt, ein Tsunami die Küste verwüstet oder die Zwillingstürme brennen, ist die Befriedigung der Gläubigen sicht- und hörbar. Hämisch verkünden sie: »Da seht ihr mal, was geschieht, wenn ihr nicht auf uns hört!« Mit einem salbungsvollen Lächeln offerieren sie, ohne dass es ihnen zustünde, Erlösung. Werden sie infrage gestellt, antworten sie mit drohendem Unterton: »Ach, du lehnst unser Angebot ab, ins Paradies einzuziehen? Na, dann haben wir noch ein ganz anderes Schicksal für dich parat.« Diese Liebe! Diese Fürsorge!

Der unverhohlene Wunsch nach Vernichtung lässt sich gut an den Endzeitsekten unserer Tage beobachten, die ihren Egoismus und Nihilismus unter Beweis stellen, indem sie voraussagen, wie viele Menschen bei der ultimativen Katastrophe »errettet« werden. Hier sind die extremen Protestanten mindestens so schlimm wie die hysterischsten Muslime. Im Jahr 1844 fand eines der größten religiösen »Revivals« der USA statt, das von einem wahnsinnigen Halbanalphabeten namens George Miller angeführt wurde. Mister Miller gelang es, die Berggipfel des Landes mit leichtgläubigen Narren zu bevölkern, die er davon überzeugt hatte, dass die Welt am 22. Oktober jenes Jahres untergehen würde, woraufhin sie all ihr Hab und Gut billig verkauften und sich auf die Berge zurückzogen – was sie sich davon nur versprachen? – oder auf die Dächer ihrer armseligen Hütten retteten. Als der Weltuntergang ausblieb, fasste Miller das in die entlarvenden Worte »Die Große Enttäuschung«. Auch Mister Hal Lindsey, Autor des Bestsellers The Late Great Planet Earth, dürstete es nach Vernichtung. Mister Lindsey, von führenden amerikanischen Konservativen hofiert und im Fernsehen respektvoll interviewt, datierte den Beginn der »Drangsal« – ein Zeitraum von sieben Jahren, in dem Zwist und Terror herrschen – auf das Jahr 1988. Darauf hätte 1995 Armageddon folgen müssen, das Ende der »Drangsal«. Mister Lindsey mag ein Scharlatan sein, doch er und seine Anhänger müssen wahrlich unter einem ständigen Gefühl der Antiklimax leiden.

Dessen ungeachtet gibt es sie, die Antikörper gegen Fatalismus, Selbstmordgelüste und Masochismus, und sie sind nicht minder typisch für unsere Spezies. Dazu eine berühmte Anekdote aus dem puritanischen Massachusetts des ausgehenden 18. Jahrhunderts: In einer Parlamentssitzung war der Himmel am Mittag plötzlich bleigrau und wolkenverhangen. Die Bedrohlichkeit der Situation – die Dunkelheit mitten am Tag – überzeugte viele Abgeordnete, dass das Ereignis, das so auf ihren benebelten Seelen lastete, unmittelbar bevorstand. Sie baten um eine Sitzungsunterbrechung, damit sie zum Sterben heimkehren konnten. Der Sitzungsleiter Abraham Davenport jedoch bewahrte Nerven und Würde. »Gentlemen«, sagte er »der Jüngste Tag ist da, oder er ist nicht da. Wenn er nicht da ist' so gibt es keinen Anlass zur Aufregung und zum Wehklagen. Wenn er da ist, wünsche ich jedoch, in Ausübung meiner Pflicht vorgefunden zu werden. Ich beantrage daher, dass Kerzen beschafft werden.« In seiner beschränkten und abergläubischen Zeit konnte Mister Davenport nicht mehr tun als das. Dennoch unterstütze ich seinen Antrag.