Wenn es sich um Fragen der Religion handelt, machen sich die Menschen aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig.

Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion [FUSSNOTE41]

Die verschiedenen Religionen, welche in der römischen Welt herrschten, wurden sämtlich von dem Volke als gleich wahr, von den Philosophen als gleich falsch, von der Staatsgewalt als gleich nützlich angesehen.

Edward Gibbon, Verfall und Untergang
des Römischen Reiches [FUSSNOTE42]

Ein Sprichwort in Chicago besagt: Wer sich seinen Respekt vor den Ratsherren der Stadt und seinen Appetit auf Würstchen erhalten wolle, möge darauf achten, nicht bei der Erziehung Ersterer oder bei der Herstellung Letzterer dabei zu sein. Die Anatomie des Menschen, sagte Engels, sei der Schlüssel zur Anatomie des Affen. Auch wenn wir uns die Entstehung einer Religion näher ansehen, können wir Rückschlüsse auf die Ursprünge der Religionen anstellen, die sich entwickelten, als die wenigsten Menschen lesen und schreiben konnten. Aus dem reichhaltigen Angebot öffentlich fabrizierter Würstchenreligionen wähle ich den melanesischen Cargo-Kult, den Superstar der Pfingstbewegung Marjoe sowie die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, gemeinhin bekannt als Mormonen. Zu allen Zeiten haben sich sicher nicht wenige Menschen gefragt: Was ist, wenn es ein Leben nach dem Tode gibt, aber keinen Gott? Wenn es einen Gott gibt, aber kein Leben nach dem Tode? Am deutlichsten hat dieses Problem meines Wissens Thomas Hobbes in seinem Meisterwerk Leviathan aus dem Jahr 1651 behandelt. Ich empfehle besonders Teil III, Kapitel 38, und Teil IV, Kapitel 44, weil Hobbes dort eine fantastische Kenntnis der Heiligen Schrift und eine atemberaubende Beherrschung der englischen Sprache an den Tag legt. Er erinnert uns daran, wie gefährlich das bloße Nachdenken über diese Fragen schon immer war. Allein seine forschen und ironischen einleitenden Worte sprechen für sich. Hobbes sinniert über die unsinnige Geschichte vom »Fall« Adams, des ersten Menschen, der als freies Geschöpf erschaffen und dann mit Verboten gegängelt wird, denen er unmöglich gehorchen kann. Nicht ohne ängstlich hinzuzufügen, er unterwerfe sich »wie in allen anderen Fällen, wo eine genaue Auslegung von der Heiligen Schrift abhängt, der Auslegung der Bibel«, weist Hobbes darauf hin, dass Adams Tod, so er für seine Sünden das Todesurteil erhielt, zumindest aufgeschoben wurde, da er vor seinem Hinscheiden noch eine große Nachkommenschaft zuwege brachte. [FUSSNOTE43]

Nach der Einführung des subversiven Gedankens, es sei absurd und widersprüchlich, Adam die Früchte des einen Baums zu verbieten, auf dass er nicht stürbe, und die des anderen, auf dass er nicht ewig lebe, blieb Hobbes nichts anderes übrig, als alternative Schriften und sogar alternative Strafen und alternative Ewigkeiten zu ersinnen. Hobbes wollte darauf hinaus, dass sich die Menschen im Hier und Jetzt der Herrschaft von Menschen vielleicht nicht unterwerfen, wenn sie sich mehr vor der Strafe Gottes fürchten als vor einem schrecklichen Tod im Hier und Jetzt, hatte aber die Freiheit des Menschen eingestanden, sich eine Religion auszudenken, die ihm gefällt, nützt oder schmeichelt. Samuel Butler übernahm diese Idee später in seinem Roman Erewhon Revisited. Im ersten Buch Erewhon besucht der Protagonist Mr. Higgs ein fernes Land, dem er am Ende in einem Ballon entflieht. Als er zwei Jahrzehnte später zurückkehrt stellt er fest, dass er in seiner Abwesenheit zu einem Gott namens »Sonnenkind« gemacht wurde, dem am Tag seines Aufstiegs in den Himmel gehuldigt wird. Zwei Hohepriester sind eigens für die Himmelfahrtsfeiern abgestellt. Als Higgs droht, sie bloßzustellen und kundzutun, dass er auch nur sterblich ist, warnen sie ihn, an diesen Mythos seien alle moralische Gesetze ihres Landes gebunden. Wenn man erführe, dass Higgs gar nicht in den Himmel aufgestiegen sei, würden sie allesamt sündigen.

Im Jahr 1962 erschien der hochgelobte Dokumentarfilm Mondo Cane, »Die Welt des Hundes«, in dem die Regisseure eine ganze Reihe menschlicher Grausamkeiten und Illusionen vorführten. Erstmalig war vor laufender Kamera auch die Entstehung einer neuen Religion zu sehen. Jahrhundertelang waren die Bewohner der Pazifikinseln von der wirtschaftlich weiter entwickelten Welt abgeschnitten gewesen. Als diese dann mit der unvermeidlichen Wucht dort eintraf, erkannten viele auf Anhieb, worum es ging. Sie sahen die großen Schiffe mit den sich blähenden Segeln, beladen mit Schätzen, Waffen und Gerätschaften ohnegleichen. Einige der weniger gebildeten Inselbewohner taten, was viele Menschen tun, wenn sie mit einem neuen Phänomen konfrontiert sind: Sie versuchten es in einen Diskurs zu übersetzen, den sie verstanden – durchaus vergleichbar mit den verängstigten Azteken in Mittelamerika, die beim Anblick berittener spanischer Soldaten zu dem Schluss kamen, dass ihre Feinde Zentauren seien. Die armen Insulaner vermuteten, die Ankömmlinge müssten ihre Vorfahren sein, um die sie so lange getrauert hatten und die nun endlich mit Geschenken aus dem Jenseits zurückkehrten. Diese Illusion kann das erste Zusammentreffen mit den Kolonialherren nicht lange überstanden haben, doch später wurde beobachtet, dass die pfiffigeren Inselbewohner eine bessere Idee hatten. Sie beobachteten, wie Docks und Anleger gebaut wurden, woraufhin Schiffe anlegten und Waren entladen wurden. Die Einheimischen ahmten nun die Kolonialherren nach, indem sie ihre eigenen Anleger errichteten und darauf warteten, dass auch hier Schiffe eintrafen. Dieses Unterfangen war erfolglos und machte den christlichen Missionaren überdies ihre Aufgabe nicht leichter, denn sie wurden nach ihrem Eintreffen zunächst gefragt, wo denn die Geschenke blieben – und brachten daher bald billigen Krimskrams mit.

Im 20. Jahrhundert erfuhr der »Cargo-Kult« eine eindrucksvolle und rührende Renaissance. Als Einheiten der US-Streitkräfte im Pazifik eintrafen, um für den Krieg gegen Japan Luftstützpunkte zu errichten, fiel ihnen auf, dass sie zu Objekten sklavischer Nachahmung wurden. Die Einheimischen warfen ihre nur oberflächlich angenommenen christlichen Riten über Bord und verwendeten all ihre Kraft auf den Bau von Landebahnen, die voll beladene Flugzeuge anlocken sollten. Sie fertigten Funkantennen aus Bambus und entzündeten Feuer, um die Leuchtfeuer zu simulieren, die den amerikanischen Flugzeugen bei der Landung Orientierung boten. Das Traurigste an dem Film Mondo Cane ist, dass dieses Verhalten andauert. Auf der Insel Tanna wurde ein amerikanischer Soldat zum Erlöser ernannt. Sein Name John Frum war offenbar erfunden. Auch nachdem der letzte Soldat nach 1945 die Gegend per Flugzeug oder Schiff verlassen hatte, wurde die Rückkehr des Erlösers Frum angekündigt, und an einem nach ihm benannten Feiertag wird einmal jährlich eine Zeremonie abgehalten. Auf der Insel New Britain nahe Papua-Neuguinea gibt es einen Kult, der sich noch auffallender auf Analogien stützt. Er fußt auf zehn Geboten (»zehn Gesetze«), einer Dreieinigkeit mit einer Erscheinung im Himmel und einer auf Erden sowie einem System von Ritualen, das diese Heiligkeiten mit Opfergaben milde stimmen soll. Werden die Rituale mit der gebotenen Sorgfalt und Inbrunst durchgeführt, so bricht laut diesem Glauben ein Zeitalter an, in dem Mich und Honig fließen. Diese strahlende Zukunft trägt, so traurig es ist, den Namen »Zeitalter der Unternehmen« und wird sich dadurch auszeichnen, dass New Britain wie ein multinationaler Konzern florieren und reich werden wird.

Manch einer wird schon die Andeutung eines Vergleichs als Beleidigung empfinden, aber triefen nicht auch die heiligen Schriften der offiziellen monotheistischen Religionen geradezu vor der Gier nach dem Materiellen, beschreiben sie nicht begehrlich Salomons Reichtum, die großen Herden der Gläubigen oder die Belohnungen, die den guten Muslim im Paradies erwarten, von den Schauergeschichten über Plünderungen und Beutezüge einmal ganz zu schweigen? Jesus zeigt keinerlei persönliches Interesse am Reichtum, das ist wahr, doch er führt die Schätze und »Wohnungen« im Himmel als Anreiz dafür an, ihm zu folgen. Und haben nicht alle Religionen zu allen Zeiten massiv die Anhäufung materieller Güter in der diesseitigen Welt verfolgt?

Der Hunger nach Geld und weltlichem Komfort ist nur ein Subtext in der entsetzlichen Geschichte vom »Wunderkind« der evangelikalen Propaganda in den USA. Der junge Meister Gortner, von seinen Eltern auf den Namen Marjoe getauft – eine idiotische Kombination aus den Namen Mary und Joe –, wurde im Alter von vier Jahren eingekleidet wie der kleine Lord Fountleroy, auf die Kanzel gestellt und angewiesen zu behaupten, er predige auf göttlichen Befehl. Wenn er klagte oder weinte, hielt ihn seine Mutter unter den Wasserhahn oder drückte ihm ein Kissen aufs Gesicht, wobei sie, so seine eigene Aussage, peinlich darauf achtete, keine Spuren zu hinterlassen. Dressiert wie ein Seehund, zog er bald die Kameras an, und im Alter von sechs Jahren hielt er Hochzeiten für erwachsene Menschen ab. Mit wachsendem Bekanntheitsgrad strömten immer mehr Menschen herbei, um das Wunderkind zu sehen. Seiner Schätzung nach sammelte er drei Millionen Dollar an Spenden ein, von denen kein einziger in seine Ausbildung oder seine Zukunft investiert wurde. Im Alter von siebzehn Jahren rebellierte er gegen seine erbarmungslosen und zynischen Eltern, stieg aus und tauchte Anfang der Sechzigerjahre in die Gegenkultur Kaliforniens ab.

Im Märchenspiel nach dem unsterblichen Kinderbuch Peter Pan, das in Großbritannien an Weihnachten gern aufgeführt wird, steht in einer zentralen Szene die kleine Fee Glöckchen kurz vor dem Tode. Das Lichtlein, das auf der Bühne von ihr ausgeht, wird immer schwächer, und es gibt nur einen Ausweg aus dieser entsetzlichen Situation. Ein Schauspieler tritt vors Publikum und fragt die Kinder: »Glaubt ihr an sie?« Wenn sie nun vernehmlich mit einem Ja antworten, wird das Lichtlein wieder heller. Was gibt es auch dagegen einzuwenden? Wir wollen doch den Kindern ihren Glauben an die Magie nicht verderben – sie werden noch oft genug Enttäuschungen erleben –, und am Ausgang steht ja auch keiner mit einem Klingelbeutel für die Glöckchen-Erlöser-Kirche. Die Ausbeutung Marjoes hatte die intellektuelle Ausrichtung der Glöckchen-Szene, angereichert mit der Moral eines Captain Hook.

Etwa zehn Jahre später nahm Mr. Gortner bestmöglich Rache dafür, dass man ihn um seine Kindheit betrogen hatte. Um seine Schwindelei bei der Öffentlichkeit wiedergutzumachen, bot er einem Fernsehteam an, ihn bei seinem scheinbaren Comeback zur Predigt des Evangeliums zu begleiten. Vorher erklärte er genau, wie all die Tricks funktionierten. Wie man mütterliche Frauen – er war ein adretter Junge – dazu bringt, sich von ihrem Ersparten zu trennen. Wie man mit Musik eine ekstatische Wirkung erzielt. Dass man genau in diesem Moment von einer persönlichen Begegnung mit Jesus berichtet. Wie man mit unsichtbarer Tinte ein Kreuz auf die Stirn zeichnet, das plötzlich sichtbar wird, wenn man zu schwitzen beginnt. Wie man zum entscheidenden Schlag ausholt. Er hielt sein Versprechen, kündigte dem Regisseur genau an, was er tun konnte und würde, ging hinaus auf die Bühne und setzte es absolut überzeugend um. Die Menschen weinten und schrien, brachen zusammen, kreischten den Namen ihres Erlösers. Zynische und gefühllose Männer und Frauen warteten den psychologischen Moment ab, in dem sie den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen konnten, das sie, noch bevor die Gottesdienst-Farce vorüber war, beglückt gezählt hatten. Hin und wieder sah man das Gesicht eines kleinen Kindes, das, von den Eltern mitgeschleppt, unglücklich und verstört zusah, wie Mutter und Vater sich wanden, schluchzten und ihr schwer verdientes Geld hergaben. Natürlich, es war schon vorher bekannt, dass der amerikanische Evangelismus ein Schwindel ist, ein herzloser Bluff, ersonnen von den Nebenfiguren aus Chaucers »Erzählung des Ablasspredigers« nach dem Motto: »Ihr Trottel behaltet euren Glauben. Wir behalten euer Geld.« So muss es gewesen sein, als die katholische Kirche öffentlich Ablassbriefe verkaufte und als ein Nagel oder Splitter vom Kreuze Christi auf den Flohmärkten der Christenheit einen guten Preis erzielte. Aber zuzusehen, wie einer, der sowohl Opfer als auch Profiteur war, den Frevel aufdeckt, schockiert sogar den eingefleischten Nichtgläubigen. Wie soll man so etwas verzeihen? Der Film Marjoe erhielt im Jahr 1972 den Academy Award und blieb völlig folgenlos. Die Mühlen der Fernsehprediger mahlen weiter, die Armen finanzieren weiter die Reichen, gerade so, wie auch die Glitzertempel und Paläste von Las Vegas nicht vom Reichtum der Gewinner, sondern vom Geld der Verlierer errichtet wurden.

In seinem bestrickenden Roman Ein Kind zur Zeit präsentiert Ian McEwan einen desolaten Protagonisten und Erzähler, der durch eine Tragödie in einen Zustand nahezu vollständiger Untätigkeit geraten ist und den lieben langen Tag in den Fernseher starrt. Er beobachtet, wie seine Mitmenschen es geradezu herausfordern, sich manipulieren und erniedrigen zu lassen. Der Zuschauer, der dem Spektakel bereitwillig frönt, konsumiert, wie er sagt, die »Pornografie des Demokraten«. Es ist nicht snobistisch zu bemerken, wie die Menschen ihre Leichtgläubigkeit und ihren Herdeninstinkt, ihren Wunsch oder vielleicht ihr Bedürfnis, vertrauensselig an der Nase herumgeführt zu werden, zur Schau stellen. Das ist ein uraltes Problem. Gutgläubigkeit mag eine Form der Unschuld sein und für sich genommen sogar harmlos, doch sie fordert Schurken und Füchse geradezu zur Ausbeutung ihrer Brüder und Schwestern auf und stellt daher eine der großen Schwächen der Menschheit dar. Wer die Entstehung und das Fortbestehen von Religionen oder die Rezeption von Wundern und Offenbarungen beschreiben will, kommt um dieses sich so hartnäckig haltende Phänomen nicht herum.

Wenn die Anhänger des Propheten Mohammed im Anschluss an die jungfräuliche Empfängnis des Korans gehofft hatten, dass künftige »Offenbarungen« damit hinfällig wären, hatten sie die Rechnung ohne den Stifter einer Religion gemacht, die heute weltweit mit die größten Zuwächse verzeichnet. Und sie sahen nicht voraus – wie konnten sie auch, einfache Säugetiere, die sie waren? – dass sich der Prophet dieses lächerlichen Kultes den ihren zum Vorbild nehmen würde. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage – im Folgenden als Mormonen bezeichnet – wurde von einem begnadeten Opportunisten gegründet, der seinen Text zwar mit unverhohlen dem Christentum entliehenen Begriffen schmückte, jedoch verkündete: »Ich werde für diese Generation ein neuer Mohammed sein.« Als Slogan wählte er Worte, die er dem Islam entlehnt zu haben glaubte: »Entweder der AI-Koran oder das Schwert.« Wie sollte er mit seiner mangelnden Bildung auch wissen, dass man beim Gebrauch des Wortes al keinen bestimmten Artikel mehr braucht? Doch immerhin glich er Mohammed darin, dass er recht geschickt aus anderer Leute Bibeln Anleihen machte.

Im März 1826 verurteilte ein Gericht in Bainbridge, New York, einen einundzwanzig Jahre alten Mann, weil er »eine aufrührerische Person und ein Hochstapler« sei. Mehr hätte die Welt wahrlich nicht von Joseph Smith erfahren brauchen. Im Prozess räumte er ein, dass er Mitbürger betrogen habe, indem er waghalsige Goldgräberexpeditionen organisierte, und dass er überdies behauptet habe, dunkle oder »nekromantische« Kräfte zu besitzen. Vier Jahre später allerdings tauchte er wieder in den Tageszeitungen auf – es ist alles noch nachzulesen – diesmal als Entdecker des »Buches Mormon«. In seiner Heimatregion genoss er zwei große Vorteile, die den meisten Scharlatanen abgehen. Erstens war er in der gleichen überfrommen Gegend der USA tätig, die auch die Shaker, den bereits erwähnten Endzeitverkünder George Miller sowie einige andere selbst ernannte Propheten hervorgebracht hatte. Weil sie jeder neuen religiösen Modeerscheinung hemmungslos nachjagte, war die Region auch als »burned-over district« bekannt. Zweitens besaß das Gebiet, in dem Joseph Smith agierte, anders als weite Teile des sich soeben erst öffnenden Nordamerika, Relikte einer eigenen Geschichte.

Eine untergegangene indianische Kultur hatte Grabhügel in großer Zahl hinterlassen. Als man sie ziellos und amateurhaft entweihte, stellte man fest, dass sie nicht nur Knochen, sondern auch recht hoch entwickelte Gegenstände aus Stein, Kupfer und Silber enthielten. Acht solcher Hügel befanden sich in zwanzig Kilometer Umkreis um die mickrige Farm, welche die Familie Smith ihr Heim nannte. Zwei gleichermaßen einfältige Gruppen zeigten großes Interesse daran: Das eine waren die Goldgräber und Schatzsucher, die mit Wünschelruten, Kristallkugeln und ausgestopften Kröten anrückten, die andere Gruppe suchte nach dem Ruheort eines verlorenen Stammes der Israeliten. Smith war so schlau, sich beiden Gruppen anzuschließen, also Gier mit unausgegorener Anthropologie zu verbinden.

Wie der Schwindel dann ablief, liest sich geradezu beschämend und lässt sich beschämend einfach rekonstruieren. Die beste Beschreibung findet sich übrigens bei Dr. Fawn Brodie, einer Historikerin, die in ihrem Buch No Man Knows My History den gut gemeinten Versuch unternimmt, die relevanten »Ereignisse« einer möglichst freundlichen Interpretation zu unterziehen. Joseph Smith gab bekannt, er sei von einem Engel namens Moroni aufgesucht worden – wie gewöhnlich dreimal. Besagter Engel habe ihm von einem auf Goldplatten niedergeschriebenen Buch berichtet, das nicht nur die Herkunft der auf dem nordamerikanischen Kontinent lebenden Menschen erkläre, sondern auch die Evangelien bestätige. Die beiden Zaubersteine Urim und Tummim aus dem Alten Testament würden es Smith erlauben, das Buch zu übersetzen. Nach langem inneren Kampf habe er am 21. September 1827 die vergrabenen Tafeln geborgen. Das war rund achtzehn Monate nach seiner Verurteilung wegen Betruges. Sodann machte er sich an die Übersetzung.

Die so entstandenen »Bücher« waren Prophetenberichte, angefangen bei Nephi, Sohn des Levi, der um 600 v. Chr. aus Jerusalem geflohen und nach Amerika gekommen sei. Schlachten, Flüche und Leiden begleiteten sie und ihre zahlreichen Nachkommen auf den nun folgenden Wanderungen. Wie waren die Bücher entstanden? Smith weigerte sich, irgendjemandem die Goldplatten zu zeigen, denn wer immer sie, abgesehen von ihm selbst, zu Gesicht bekäme, sei dem Tod geweiht. Dabei stieß er aber auf ein Problem, das Islamkundigen vertraut sein dürfte. Wie vielfach bezeugt, war Smith zwar ein überaus zungenfertiger und gewandter Redner und Geschichtenerzähler, aber eben auch fast Analphabet, denn er konnte nur schlecht lesen und gar nicht schreiben. Deshalb brauchte er einen Schreiber, der sein erleuchtetes Diktat aufnehmen konnte. Das war zunächst seine Frau Emma und dann, als er noch weitere Hilfe benötigte, ein glückloser Nachbar namens Martin Harris. Nachdem dieser Smith die Worte Jesajas, Kapitel 29, 11-12 mit der wiederholten Aufforderung zum Lesen hatte sagen hören, verpfändete er seine Farm und zog bei den Smiths ein, um ihnen bei ihrer Aufgabe zu helfen. Harris saß hinter einer quer durch die Küche gespannten Decke, während Smith auf der anderen Seite mithilfe seiner Übersetzungssteine psalmodierte. Zur weiteren Entspannung der Situation wurde Harris gewarnt, wenn er versuche, einen Blick auf die Platten oder den Propheten zu werfen, werde er auf der Stelle tot umfallen.

Mrs. Harris wollte von der ganzen Sache nichts wissen und war stocksauer auf ihren Mann. Sie stahl die ersten einhundertsechzig Seiten und forderte Smith auf, sie noch einmal zu diktieren, was er angesichts seiner Offenbarungskünste hätte können müssen – entschlossene Frauen wie diese tauchen in der Religionsgeschichte viel zu selten auf. Nach ein paar recht unangenehmen Wochen schlug der geniale Smith mit einer weiteren Offenbarung zurück. Er könne das Original nicht reproduzieren, denn es sei durchaus möglich, dass es sich bereits in den Händen des Teufels befinde und damit einer Interpretation nach Art der »satanischen Verse« Tür und Tor öffne. Doch der allwissende Herr hatte Smith mittlerweile mit einigen kleineren Platten versorgt, ebenjenen Platten des Nephi, die eine ähnliche Geschichte erzählten. Unter unendlichen Mühen wurde die Übersetzung wieder aufgenommen, wobei die Schreiber hinter der Decke gelegentlich wechselten. Als sie vollendet war, wurden alle Original-Goldplatten zurück in den Himmel gebracht, wo sie sich offenbar bis zum heutigen Tage befinden.

Einige Mormonen behaupten, ähnlich wie die Muslime, ein Betrug sei völlig ausgeschlossen, denn ein armer, des Schreibens unkundiger Mann hätte einen so großen Schwindel nicht zuwege gebracht. Die Muslime haben zwei hilfreiche Argumente auf ihrer Seite: Wenn Mohammed je öffentlich des Betrugs und der Geisterbeschwörung angeklagt wurde, so liegt uns davon jedenfalls kein schriftliches Zeugnis vor. Zudem birgt das Arabische selbst für den, der die Sprache erlernt hat und flüssig spricht, Unschärfen. Wir wissen jedoch, dass der Koran zum Teil aus älteren Büchern und Geschichten besteht, und auch im Falle Smiths lässt sich einfach, wenn auch in langwieriger Kleinarbeit, nachweisen, dass fünfundzwanzigtausend Wörter aus dem Buche Mormon direkt dem Alten Testament entnommen wurden. Die meisten dieser Stellen kommen aus den Kapiteln des Jesaja, die auch in Ethan Smiths Buch View of the Hebrews: The Tribes of Israel in America abgedruckt sind. Dieses damals sehr populäre Werk eines frömmelnden Verrückten, der behauptete, die amerikanischen Indianer stammten aus dem Nahen Osten, scheint den anderen Smith erst auf die Idee mit der Goldgräberei gebracht zu haben. Weitere zweitausend Wörter aus dem Buch Mormon sind dem Neuen Testament entliehen. Von den dreihundertfünfzig Namen kommen mehr als hundert direkt aus der Bibel, weitere hundert sind so ähnlich, dass man auch hier fast von Diebstahl sprechen kann. Der große Mark Twain bezeichnete das Buch Mormon übrigens als »gedrucktes Chloroform«, und das kann durchaus wörtlich genommen werden, denn die Schrift enthält sogar ein »Buch Esther« [FUSSNOTE44]

Die Wortfolge »Es begab sich aber« kommt mindestens zweitausendmal vor, was zugegebenermaßen einen ziemlich einschläfernden Effekt hat. Jüngere Forschungen haben ergeben, dass auch jedes andere »Dokument« der Mormonen im besten Falle ein magerer Kompromiss und im schlimmsten eine erbärmliche Fälschung ist. Das musste auch Dr. Brodie anmerken, als sie 1973 ihr bemerkenswertes Buch in einer aktualisierten Ausgabe herausbrachte.

Wie Mohammed erlaubte Smith sich göttliche Offenbarungen spontan und nicht selten zum eigenen Vorteil, vor allem dann, wenn er – wie Mohammed – ein Mädchen begehrte und zur Ehefrau nehmen wollte. Das Ende vom Lied war, dass er sich übernahm und einen gewaltsamen Tod fand, nachdem er die armen Menschen, die ihm anfangs gefolgt waren und unter großem Druck sein Diktat aufgenommen hatten, fast alle exkommuniziert hatte. Trotzdem wirft diese Geschichte die mehr als spannende Frage auf, wie sich ein so offensichtlicher Betrug vor unseren Augen zu einer ernsthaften Religion auswachsen konnte.

Professor Daniel Dennett und gleich gesinnte Wissenschaftler haben für ihre »naturwissenschaftliche« Erklärung der Religion viel Kritik einstecken müssen. Lassen wir das Übernatürliche einmal beiseite, argumentiert Dennett, das können wir getrost streichen und trotzdem davon ausgehen, dass es immer Menschen gegeben hat, für die der »Glaube an den Glauben« für sich schon etwas Positives ist. [FUSSNOTE45]

Solche Phänomene lassen sich biologisch erklären. Kann es in primitiven Zeiten nicht so gewesen sein, dass die Menschen mit dem Glauben an Wunderheilungen ihre Moral stärkten und damit auch eine geringfügige, aber spürbar bessere Chance auf tatsächliche Heilung hatten? Sehen wir einmal von »Wundern« und anderem Unsinn ab, so bestreitet nicht einmal die moderne Medizin diesen Gedanken. Von der psychologischen Warte her scheint es möglich, dass es den Menschen besser geht, wenn sie an etwas glauben, als wenn sie an nichts glauben, so unwahr dieses Etwas auch sein mag.

Vieles wird hier unter Anthropologen und anderen Wissenschaftlern weiter umstritten bleiben, doch was mich schon immer interessiert hat: Haben die Prediger und Propheten auch einen Glauben, oder glauben sie nur an den Glauben? Denken sie sich hin und wieder, dass man es ihnen ja fast zu einfach macht? Und führen sie dann als Rechtfertigung an, dass (a) die armen Kreaturen noch schlimmer dran wären, wenn sie nicht auf mich hörten, oder dass es (b), falls es nicht viel nützt, auch nicht viel schaden kann? Sir James Frazer erklärte in seiner berühmten Studie über Religion und Magie, Der goldene Zweig, ein angehender Medizinmann tue gut daran, die Illusionen der unwissenden Gemeinde nicht zu teilen, denn wenn er die Magie allzu sehr beim Wort nehme, unterlaufe ihm leichter ein Fehler, der seiner Karriere ein Ende setzen könne. Bei Weitem besser sei es, Zyniker zu sein, seine Zauberformeln gut einzustudieren und sich einzureden, dass es am Ende allen besser gehe. [FUSSNOTE46]

Smith war insofern Zyniker, als er mit dem Hinweis auf seine »Offenbarungen« höchste Autorität für sich beanspruchte und zudem darauf pochte, dass ihm die Besitztümer seiner Gemeinde zustünden und er mit jeder verfügbaren Frau schlafen könne. Jeden Tag kommt so ein Guru oder Sektenführer zur Welt. Smith muss sich gewundert haben, wie leicht er einfältige Kreaturen wie Martin Harris dazu bringen konnte, ihm jedes Wort zu glauben, besonders dann, wenn sie gern einen kurzen Blick auf den verlockenden Goldschatz geworfen hätten. Doch gab es einen Moment, in dem er tatsächlich an seine Bestimmung glaubte? War er bereit, für den Beweis zu sterben? Anders ausgedrückt: War er die ganze Zeit ein Scharlatan, oder saß tief in seinem Innern ein echter Impuls? Die Beschäftigung mit den Religionen hat mir gezeigt, dass sie nie ohne größere und kleinere Betrügereien auskommen werden, dass aber diese faszinierende Frage bis zu einem gewissen Grade offenbleibt.

In dem Gebiet um Palmyra, New York, lebten damals Dutzende halbgebildeter, skrupelloser, ehrgeiziger und fanatischer Männer wie Smith, doch nur einem gelang der Durchbruch. Das hat wahrscheinlich zwei Gründe. Erstens verfügte Smith allen Berichten – auch denen seiner Gegner – zufolge über großen natürlichen Charme, Autorität und Redegewandtheit, die von Max Weber so bezeichnete »charismatische« Führungsqualität. [FUSSNOTE47]

Zweitens verlangte es damals viele Menschen nach Land und einem Neuanfang im Westen. Deshalb übte die Prophezeiung eines »Verheißenen Landes« durch einen neuen Führer – und erst recht durch eine neue heilige Schrift – unterschwellig eine große Anziehungskraft aus. Die Wanderbewegungen der Mormonen in Missouri, Illinois und Utah sowie die Massaker, die sie unterwegs erlitten und anrichteten, bekräftigten diese Vorstellung vom Märtyrertum und vom Exil, aber auch das Bild der »Heiden«, wie die Mormonen Nichtgläubige abschätzig bezeichneten. Es ist eine großartige historische Geschichte, die man – anders als ihren Ursprung aus vulgären Erfindungen – mit Respekt lesen kann. Zwei bleibende Makel jedoch haften ihr an. Der erste ist, dass die »Offenbarungen« so plump und offensichtlich erlogen waren und von Smith und später von seinen Nachfolgern so eigennützig improvisiert wurden. Der zweite ist der primitive und abstoßende Rassismus. Christliche Prediger verschiedenster Prägung rechtfertigten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg und sogar noch danach die Sklaverei mit der Bibel: Von den drei Söhnen Noahs (Sem, Ham und Japhet) wurde Ham mit einem Fluch belegt und in die Sklaverei getrieben. Doch Joseph Smith führte die scheußliche Mär noch weiter und wettert in seinem »Buch Abraham«, die dunklen Rassen Ägyptens hätten diesen Fluch geerbt. Darüber hinaus erfand er die Schlacht von »Cumora«, einem Ort, der praktischerweise in der Nähe seines Geburtsorts lag. Dort hätten die als hellhäutig und gut aussehend beschriebenen »Nephiten« gegen die »Lamaniten« gekämpft, die Gott für ihre Abkehr mit dunkler Hautfarbe bestraft habe. Als sich der Streit über die amerikanische Sklaverei zuspitzte, predigten Smith und seine noch dubioseren Schüler vor Kriegsausbruch in Missouri gegen die Abolitionisten. Feierlich erklärten sie, in der letzten himmlischen Schlacht zwischen Gott und Luzifer habe es noch eine dritte Gruppe gegeben, die versucht habe, neutral zu bleiben. Doch nach Luzifers Niederlage habe sie in die Welt zurückkehren und die verfluchte Abstammungslinie von Kanaan weiterführen müssen; dies sei »die afrikanische Rasse«. Als Dr. Brodie ihr Buch schrieb, war es in der Mormonenkirche noch keinem schwarzen Amerikaner gestattet, auch nur die bescheidene Position eines Diakons zu bekleiden, geschweige denn Priester zu werden. Auch an den geheimen Tempelriten durften die Abkömmlinge des Ham nicht teilnehmen.

Ein schlüssiger Beweis dafür, dass diese Religion vom Menschen gemacht wurde, findet sich in der Art, wie die mormonische Kirchenführung dieses Problem löste. Angesichts der klaren Worte in einem ihrer heiligen Bücher und konfrontiert mit der zunehmenden Verachtung und Isolation, in die es sie manövriert hatte, reagierten sie ähnlich wie zuvor, als ihr Hang zur Polygamie beinahe die Vergeltung der US-Regierung über Gottes eigenes Land Utah gebracht hätte: Sie hatten eine weitere Offenbarung. Um das Jahr 1965 und die Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes wurde göttlicherseits verkündet, dass Schwarze doch Menschen sind.

Eines sei den »Heiligen der Letzten Tage« zugestanden – diese dünkelhafte Bezeichnung wurde Smiths Originalnamen »Kirche Jesu Christi« im Jahr 1833 hinzugefügt nämlich –, dass sie eine der größten Schwierigkeiten offenbarter Religionen offensiv angingen: Was soll man mit denen anfangen, die vor der exklusiven Offenbarung geboren wurden oder die sterben, ohne an ihren Wundern teilhaben zu können? Die Christen lösten dieses Problem, indem sie Jesus nach seiner Kreuzigung in die Hölle hinabsteigen ließen, wo er die Toten gerettet oder bekehrt habe. In Dantes Inferno gibt es eine schöne Passage, in der Jesus die Geister großer Menschen wie Aristoteles rettet, die vor seiner Ankunft vermutlich schon jahrhundertelang vor sich hin gebrutzelt hatten. In einer anderen, weniger ökumenisch angelegten Szene aus dem gleichen Buch wird dem Propheten Mohammed allerdings in widerlicher Detailfreude der Bauch aufgeschlitzt. Die Mormonen haben diese etwas veraltete Lösung durch eine sehr moderne Komponente optimiert: In einem großen Lager in Utah haben sie eine gigantische genealogische Datenbank angelegt, die sie mit den Namen aller Menschen füttern, deren Geburt, Heirat und Tod seit Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen erfasst wurden. Das ist sehr nützlich, wenn man seinen Familienstammbaum erstellen will und nichts dagegen hat, dass seine Vorfahren dadurch Mormonen werden. Die Gemeinden in den Mormonentempeln erhalten jeweils eine bestimmte Anzahl Namen Verstorbener, die sie in einer speziellen Zeremonie durch Gebete in ihre Kirche aufnehmen. Diese nachträgliche Taufe der Toten erscheint auf den ersten Blick harmlos, doch das American Jewish Committee war überaus erzürnt, als es feststellen musste, dass die Mormonen die Unterlagen der nationalsozialistischen »Endlösung« erworben hatten und nun eifrig damit beschäftigt waren, die Angehörigen jener Gruppe zu taufen, die man wahrlich als »verlorenen Stamm« bezeichnen könnte: die ermordeten europäischen Juden. Ungeachtet ihrer rührenden Wirkungslosigkeit zeugte diese Übung von schlechtem Geschmack. Ich fühle mit dem American Jewish Committee, finde aber trotzdem, dass man Mr. Smiths Anhängern gratulieren kann: Für ein Problem, das sich, seit der erste Mensch eine Religion erfand, einer Lösung entzogen hat, haben sie ein höchst einfaches technisches Patentrezept gefunden.