Eine neuerliche Lektüre des Alten Testaments ist streckenweise anstrengend, aber unerlässlich, denn man stößt dabei immer wieder auf düstere Vorausdeutungen. Abraham – auch ein Urahn aller monotheistischen Religionen – ist bereit, seinen eigenen Erstgeborenen zu opfern. Es geht das Gerücht, eine Jungfrau werde »schwanger und einen Sohn gebären«. Diese beiden Mythen bewegen sich nach und nach aufeinander zu. Dies gilt es im Neuen Testament zu berücksichtigen, denn wenn man die vier Evangelien aufschlägt und willkürlich darin liest, wird man recht bald auf Aussagen oder Taten Jesu stoßen, die vor allem dazu dienen, alte Prophezeiungen zu erfüllen. Zur Ankunft Jesu in Jerusalem auf dem Rücken eines Esels etwa heißt es in Matthäus 21,4: »Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten...«; gemeint ist Sacharja, der angekündigt hatte, dass der Erlöser auf einem Esel reiten werde (Sacharja 9, 9). Die Juden warten noch immer auf seine Ankunft, wohingegen er den Christen zufolge schon da war. Wenn es seltsam anmutet, dass etwas nur um der Rechtfertigung einer Voraussage willen geschieht, so deshalb, weil es seltsam ist. Und das kann auch nicht anders sein, denn das »Neue Testament« ist wie schon das Alte eine recht grobe Flickarbeit, die lange nach den beschriebenen Ereignissen zusammengeschustert wurde und in der immerzu improvisiert wird, damit am Ende alles zusammenpasst. Der Kürze halber zitiere ich H. L. Mencken, der in seiner Treatise on the Gods recht schlüssig schreibt:

Es ist eine schlichte Tatsache, dass das Neue Testament, wie wir es kennen, eine völlig ungeordnete Ansammlung mehr oder weniger widersprüchlicher Zeugnisse ist, die zum Teil wahrscheinlich respektablen, zum Teil aber zweifelhaften Ursprungs sind, und dass die meisten, die guten wie die schlechten, unzweifelhafte Anzeichen dafür aufweisen, dass nachträglich Änderungen vorgenommen wurden. [FUSSNOTE30]

Sowohl Paine als auch Mencken, die sich aus verschiedenen Gründen die Mühe machten, die Texte genau zu lesen, wurden mittlerweile von Bibelforschern bestätigt, die eigentlich hatten beweisen wollen, dass die Texte nach wie vor Relevanz besitzen. Diese Diskussion geht indes völlig an denen vorbei, die das »Gute Buch« als ihr Ein und Alles betrachten – erinnern wir uns an den texanischen Gouverneur, der auf die Frage, ob die Bibel auf Spanisch unterrichtet werden solle, erwiderte: »Wenn Englisch gut genug für Jesus war, dann ist es auch gut genug für mich.« Selig sind die Minderbemittelten.

Im Jahr 2004 produzierte der australische Faschist und Schmierenkomödiant Mel Gibson eine Seifenoper über den Tod Jesu. Mr. Gibson gehört einer irren katholischen Splittersekte an, die im Wesentlichen aus ihm selbst und seinem noch aggressiveren Vater besteht, und er hat bereits klargestellt, dass seine eigene geliebte Frau leider in der Hölle schmoren werde, weil sie die korrekten Sakramente nicht annehmen will – ein grauenhaftes Schicksal, das er gelassen als »Erklärung des Vorsitzenden« klassifiziert. Die Doktrin seiner eigenen Sekte ist ausdrücklich antisemitisch, und der Film lastet die Schuld für die Kreuzigung unermüdlich den Juden an. Ungeachtet dieser Bigotterie, die von umsichtigeren Christen kritisiert wurde, nutzten viele »Mainstream«-Kirchen den Kassenerfolg von Die Passion Christi opportunistisch für die Rekrutierung neuer Mitglieder. Sein filmischer Mischmasch – der sich in sadomasochistischer Homoerotik übt und einen unbegabten, angeblich in Island oder auch in Minnesota geborenen Hauptdarsteller präsentiert –, so behauptete Mr. Gibson auf einer ökumenischen Werbeveranstaltung, basiere auf »Augenzeugen«-Berichten. Ich fand es damals durchaus bemerkenswert, dass ein Multimillionen-Dollar-Kassenhit mit so einer groben Unwahrheit unterfüttert werden konnte, aber niemand kommentierte das. Die meisten jüdischen Vertreter schwiegen. Einige wollten dagegen das uralte Argument, das jahrhundertelang Osterpogrome gegen die »jüdischen Mörder Christi« entfacht hatte, endlich vom Tisch haben. Immerhin hatte der Vatikan den Vorwurf des »Gottesmordes« gegen das jüdische Volk erst zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg formal zurückgezogen. Und tatsächlich hatten sich Juden die Kreuzigung sogar zu eigen gemacht. Maimonides bezeichnete die Bestrafung des verabscheuungswürdigen Nazarener Ketzers als eine der größten Leistungen seiner jüdischen Vorfahren, er forderte, den Namen Jesu nur noch in Begleitung eines Fluchs auszusprechen, und verkündete, Jesus werde bestraft, indem er auf alle Ewigkeit in Exkrementen schmore. Was für einen guten Katholiken hätte Maimonides doch abgegeben!

Doch als er annahm, die vier Evangelien könnten als eine Art historischer Chronik betrachtet werden, verfiel er dem gleichen Irrtum wie die Christen. Die Autoren – deren Texte allesamt erst viele Jahrzehnte nach der Kreuzigung veröffentlicht wurden – können sich auf kaum einen wichtigen Punkt einigen. Matthäus und Lukas stimmen weder im Hinblick auf die Jungfrauengeburt noch auf den Stammbaum Jesu überein. Diametral entgegengesetzt schildern sie die »Flucht nach Ägypten«: Matthäus zufolge erschien Joseph im Traum ein Engel, der ihm zur sofortigen Flucht riet, wohingegen Lukas erzählt, dass alle drei in Bethlehem blieben, bis Marias »Reinigung nach dem Gesetz des Mose vollendet« war, also vierzig Tage, um dann über Jerusalem nach Nazareth zurückzukehren. Wenn übrigens die Flucht nach Ägypten, die den Säugling vor Herodes’ Kindermordkampagne in Sicherheit bringen sollte, auch nur ein Körnchen Wahrheit in sich trägt, so haben uns die Bildermacher aus Hollywood und viele christliche Ikonografen jedenfalls hinters Licht geführt: Es wäre alles andere als einfach gewesen, einen blonden blauäugigen Säugling zum Nildelta zu bringen, ohne größeres Aufsehen zu erregen.

Dem Lukasevangelium zufolge fiel die wundersame Geburt in das Jahr, in dem Kaiser Augustus eine Schätzung angeordnet hatte, und zwar zu der Zeit, da Herodes König von Judäa und Cyrenius Landpfleger von Syrien war. Das ist die genaueste historische Datierung, die überhaupt ein biblischer Schreiber vornimmt. Doch Herodes starb vier Jahre »vor Christus«, und während seiner Regierungszeit hieß der Landpfleger von Syrien nicht Cyrenius. Bei römischen Historikern kommt die Volkszählung des Augustus nicht vor, wohingegen der jüdische Chronist Josephus eine Schätzung erwähnt, für die allerdings die Menschen nicht die mühevolle Reise zu ihrem Geburtsort auf sich nehmen mussten und die sechs Jahre nach Jesu Geburt stattgefunden haben soll. Es handelt sich somit recht offensichtlich um eine verfälschende Rekonstruktion mündlicher Überlieferungen, die beträchtliche Zeit nach den »Ereignissen« vorgenommen wurde. Die Schreiber können sich auch bei den mythischen Elementen nicht einigen: Bei der Bergpredigt, der Salbung Jesu, dem Verrat des Judas und der »Verleugnung« des Petrus weichen sie erheblich voneinander ab. Am verwunderlichsten ist, dass nicht einmal bei der Kreuzigung oder der Wiederauferstehung eine gemeinsame Linie gefunden wird. Die Interpretation, nach der alle vier Berichte göttliche Vollmacht haben, ist somit schlichtweg hinfällig. Das Buch, auf das sich wahrscheinlich alle vier stützen und das die Gelehrten spekulativ als »Q« bezeichnen, ist verloren gegangen, eine fahrlässige Gedankenlosigkeit aufseiten des Gottes, der es doch »inspiriert« haben soll.

Vor sechzig Jahren wurden in Ägypten bei Nag Hammadi in der Nähe einer sehr alten koptisch-christlichen Ausgrabungsstätte weitgehend unbekannte »Evangelien« entdeckt. Die Schriften stammten aus der gleichen Zeit und waren der gleichen Herkunft wie viele der später kanonisierten und »autorisierten« Evangelien. Lange wurden sie als »gnostisch« bezeichnet, dem frühen Kirchenvater Irenäus folgend, der die Texte als häretisch eingestuft und verboten hatte. Unter diesen Schriften befinden sich die »Evangelien« oder Erzählungen durchaus bedeutsamer Nebenfiguren aus dem anerkannten »Neuen« Testament, unter anderem die des »ungläubigen Thomas« und der Maria Magdalena. Heute zählt man auch das Judasevangelium dazu, dessen Existenz zwar seit Jahrhunderten bekannt ist, das aber erst im Jahr 2006 von der National Geographic Society aufgespürt und veröffentlicht wurde.

Das Buch enthält, wie nicht anders zu erwarten, viel spiritualistisches Gefasel, aber eben auch eine Version der »Ereignisse«, die geringfügig glaubwürdiger ist als der offizielle Bericht. Zum einen wird wie in den anderen gnostischen Texten die Ansicht vertreten, dass man um den Gott des »Alten« Testaments einen weiten Bogen machen solle, weil er eine grauenhafte Erfindung kranker Gehirne sei – was mühelos erklärt, warum der Text so unnachgiebig verboten und angeprangert wurde. Immerhin ist das orthodoxe Christentum in erster Linie eine Bestätigung und Vervollkommnung jener bösartigen Geschichte. Judas nimmt, wie aus der Bibel bekannt, am letzten Passahmahl teil, weicht dann aber vom gewohnten Skript ab. Als Jesus seinen Jüngern mitleidig vorhält, dass sie einfach nicht begreifen wollen, was auf dem Spiele steht, sagt sein Tunichtgut von Apostel mutig, er wisse schon, worum es gehe: »Ich weiß, wer du bist und woher du gekommen bist. Du kommst aus dem ewigen Reich Barbelo.« [FUSSNOTE31]

Dieses »Barbelo« ist kein Gott, sondern ein himmlisches Ziel, ein Mutterland jenseits der Sterne. Jesus kommt aus diesem himmlischen Reich, ist aber nicht der Sohn des mosaischen Gottes, sondern ein Avatar des Seth, dritter und weniger bekannter Sohn des Adam, der den Sethitern den Weg nach Hause weisen sollte. Jesus, dem klar wird, dass Judas zumindest ansatzweise in diesen Kult eingeweiht ist, nimmt ihn zur Seite und beauftragt ihn mit einer Spezialaufgabe: Er soll ihm dabei helfen, seine fleischliche Hülle abzustreifen und in den Himmel zurückzukehren. Er verspricht ihm auch, ihm die Sterne zu zeigen, die Judas ermöglichen werden, ihm zu folgen.

Das klingt wie irre Science-Fiction, ist aber sehr viel schlüssiger als der ewige Fluch, der Judas aufgebürdet wurde, weil er getan hatte, was jemand tun musste in dieser ansonsten pedantischen Chronik eines angekündigten Todes. Es ist auch insofern erheblich schlüssiger, als die Schuld nicht bis in alle Ewigkeit den Juden aufgehalst wird. Lange tobte eine Debatte darüber, welches der »Evangelien« als von Gott inspiriert gelten müsse. Die einen sprachen sich für dieses aus, die anderen für jenes, und manch einer verlor dabei auf furchtbare Weise sein Leben. Niemand wagte es, darauf hinzuweisen, dass alle Texte lange nach dem geschilderten Drama von Menschen verfasst worden waren. Die »Offenbarung« des Johannes hat sich wohl nur dank des (recht gewöhnlichen) Namens seines Autors in den Kanon geschlichen. Um mit Jorge Luis Borges zu sprechen: Hätten die alexandrinischen Gnostiker das Rennen gemacht, so hätte uns ein Dante später ein berauschend schönes Sprachbild von den Wundern »Barbelos« gezeichnet. Diese Idee möchte ich »Borges Shale« nennen: Wie viel Ausdruckskraft und Fantasie sind nötig, um einen Querschnitt durch die Zweige und Sträucher der Evolution zu entwickeln, wobei immer die abwegige, aber reale Möglichkeit besteht, dass ein anderer Stamm oder eine andere Linie (ein anderes Lied oder ein anderes Gedicht) die Herrschaft in dem Labyrinth übernimmt. Man hätte, um Borges’ Gedanken weiterzuführen, bunte Deckenmalereien, hohe Kirchtürme und Hymnen geweiht, und geübte Folterknechte hätten tagelang jeden bearbeitet, der da zweifelte am wahrhaftigen Reich Barbelo, sich, ausgehend von den Fingernägeln, mit allen Mitteln ihrer Kunst zu Hoden, Vagina, Augen und Eingeweiden vorgearbeitet. Unglauben an Barbelo hätte entsprechend als unfehlbarer Beweis für den absoluten Mangel an Moral gegolten.

Das beste mir bekannte Argument dafür, dass die Existenz Jesu als höchst fragwürdig gelten muss, geht dahin, dass seine Jünger, allesamt Analphabeten, keinerlei schriftliche Zeugnisse hinterließen. Ohnehin können sie keine »Christen« gewesen sein, weil sie die Bücher, mit denen die Christen ihren Glauben bekräftigen müssen, noch nicht kannten und darüber hinaus nicht ahnen konnten, dass auf der Grundlage der Lehren ihres Meisters je eine Kirche gegründet werden würde. Auch in den später zusammengestellten Evangelien wird übrigens mit kaum einem Wort erwähnt, dass Jesus eine Kirche gründen wollte.

All dessen ungeachtet deutet der Wirrwarr aus Prophezeiungen im »Alten« Testament darauf hin, dass der Messias in der Stadt Davids zur Welt kommen würde, bei der es sich wohl in der Tat um Bethlehem handelte. Jesu Eltern wohnten aber in Nazareth, und wenn sie ein Kind bekamen, dann wäre es sehr wahrscheinlich auch dort geboren worden. Deshalb musste mit viel Erfindungsgeist rund um Augustus, Herodes und Cyrenius die Geschichte von der Schätzung konstruiert werden, um die Geburt nach Bethlehem zu verlegen (wo übrigens nirgendwo von einem »Stall« die Rede ist). Doch warum, wenn es doch viel einfacher gewesen wäre, Jesu Geburt gleich in Bethlehem anzusiedeln? Die Versuche, die Geschichte hinzubiegen, lassen den Rückschluss zu, dass tatsächlich jemand zur Welt kam, der später noch von Bedeutung sein sollte, sodass die Fakten nachträglich angepasst werden mussten, damit auch die Prophezeiungen in Erfüllung gingen. Allerdings wird mein Versuch einer fairen und aufgeschlossenen Betrachtung vom Johannesevangelium unterminiert, das den Schluss nahelegt, dass Jesus weder in Bethlehem geboren wurde noch von König David abstammte. Wenn die Apostel es nicht wissen oder sich nicht einig sind, was nützt dann meine Analyse? Warum wird an einer Stelle mit Jesu königlicher Herkunft geprahlt und von Prophezeiungen geredet, an anderer aber seine angeblich niedere Herkunft betont? Fast alle Religionen vom Buddhismus bis zum Islam präsentieren entweder einen bescheidenen Propheten oder einen Prinzen, der sich mit den Armen identifiziert – doch ist das nicht der reine Populismus? Es ist wahrlich nicht weiter verwunderlich, dass sich die Religionen in erster Linie an die Masse der Armen, Verwirrten und Ungebildeten wenden.

Die Ungereimtheiten des Neuen Testamentes füllen bereits viele Bücher herausragender Gelehrter und wurden, einmal abgesehen von Ausflüchten wie der von der »Metapher« und dem »Christus des Glaubens«, noch von keiner christlichen Autorität hinreichend erklärt. Das liegt daran, dass die Kirche bis vor Kurzem jeden unbequemen Frager einfach verbrennen oder anderweitig zum Schweigen bringen konnte. Allerdings erweisen sich die Evangelien wie ihre Vorgängerbücher als recht nützlich, wenn man den Beweis erbringen will, dass die Religion von Menschen gemacht wurde. »Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben«, heißt es bei Johannes, »die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.« Matthäus hat Gleiches im Sinn, wenn er sich auf ein oder zwei Verse des Propheten Jesaja stützt. Dort erfuhr König Ahas fast acht Jahrhunderte vor dem noch immer unklaren Geburtsdatum Jesu: »Darum wird euch der HERR selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären...« Ahas schloss daraus, dass ihm ein Sieg über seine Feinde gewährt werde, was nicht einmal zutrifft, wenn wir seine Geschichte als historisch betrachten. Ein völlig neues Bild ergibt sich, wenn wir berücksichtigen, dass das Wort almah, das als »Jungfrau« übersetzt wurde, nur »junge Frau« bedeutet. Ohnehin ist bei menschlichen Säugetieren eine jungfräuliche Empfängnis nicht möglich, und selbst wenn wir dieses Gesetz für diesen einen Fall außer Kraft setzten, so würde das noch nicht beweisen, dass das so geborene Kind über göttliche Macht verfügt. Einmal mehr erregt die Religion unseren Argwohn, indem sie zu viel zu beweisen versucht. Umgekehrt ist die Bergpredigt ein Rückgriff auf Mose auf dem Berge Sinai, und die unscheinbaren Jünger stehen für die Juden, die Mose überallhin folgten. So geht die Prophezeiung in Erfüllung, sofern einem nicht weiter auffällt oder egal ist, dass die Geschichte »zurückentwickelt« wird. In einer kurzen Passage nur eines Evangeliums (die der Judenhetzer Mel Gibson aufgreift) beziehen sich die Rabbis zurück auf Gottes Worte auf dem Sinai, und sie bitten geradezu darum, die Schuld für Jesu Tod allen nachfolgenden Generationen aufzubürden – eine Forderung, die zu erheben sie, selbst wenn sie es taten, weder das Recht noch die Macht hatten.

Die jungfräuliche Geburt ist jedoch der denkbar einfachste Beweis dafür, dass Menschen an der Entstehung der Legende beteiligt waren. Jesus erhebt große Ansprüche auf seinen Vater, erwähnt aber mit keinem Wort, dass seine Mutter eine Jungfrau ist oder war, und behandelt sie wiederholt ungebührlich und rüde, wenn sie, wie es jede jüdische Mutter tun würde, nach ihm sieht. Sie selbst hat offenbar keinerlei Erinnerung an den Besuch des Erzengels Gabriel oder an die Engelsschar, die ihr jeweils verkündeten, dass sie die Mutter Gottes sei. Allen Berichten zufolge ist sie über alles, was ihr Sohn tut, sehr verwundert, wenn nicht gar schockiert. Wie kommt er dazu, sich mit den Rabbinern im Tempel zu unterhalten? Was meint er damit, wenn er sie knapp daran erinnert, dass er im Auftrag seines Vaters unterwegs ist? Wäre von einer Mutter nicht ein besseres Gedächtnis zu erwarten, zumal von einer, die es als einzige Frau erlebt hatte, schwanger zu werden, ohne sich der bekannten Vorbedingung für diesen glücklichen Umstand unterzogen zu haben? Lukas unterläuft ein vielsagender Ausrutscher, als er erzählt, dass nach Ablauf der Tage ihrer Reinigung die »Eltern das Kind Jesus« in den Tempel bringen. Der alte Simeon spricht zu diesem Anlass sein wunderbares »Nunc dimittis« – eine meiner bevorzugten Bibelstellen für Trauerreden das ebenfalls auf Mose verweisen könnte, der erst in sehr hohem Alter das Gelobte Land erblickte.

Dann ist da noch Marias außergewöhnlich große Kinderschar. Matthäus informiert uns über vier Brüder und einige Schwestern Jesu (13, 55-57). Das Jakobusevangelium, das nicht kanonisch ist, aber auch nicht zu den verworfenen Schriften gehört, ist der Bericht von Jesu Bruder Jakob, der wohl in den religiösen Kreisen seiner Zeit recht aktiv war. Es ließe sich ja darüber diskutieren, ob Maria als Virgo intacta »empfangen« und ein Kind auf die Welt gebracht hat, worauf sie mit Sicherheit weniger intakt gewesen wäre. Doch wie bekam sie dann weiter Kinder mit dem Mann Joseph – der nur in indirekter Rede vorkommt –, bis die Familie so groß war, dass es sogar von »Augenzeugen« wiederholt kommentiert wurde?

Um dieses sowohl ans Tabu als auch ans Sexuelle grenzende Dilemma zu lösen, wird die Geschichte erneut zurückentwickelt. In diesem Fall geschah das lange nach den turbulenten frühen Kirchenkonzilen, auf denen entschieden wurde, welche Evangelien »kanonisch« sind und welche »apokryph«. Man legte fest, dass Maria – deren Geburt in der Heiligen Schrift mit keinem Wort erwähnt wird – eine »unbefleckte Empfängnis« gehabt haben muss. Und da der Tod der Sünde Lohn ist und Maria auf keinen Fall gesündigt haben kann, legte man weiterhin fest, dass sie auch nicht gestorben sein kann. So entstand das Dogma von »Mariä Himmelfahrt«, das, völlig aus der Luft gegriffen, Luft als das Medium festschreibt, durch das Maria unter Umgehung des Grabes in den Himmel kam. Die Doktrin von der »Unbefleckten Empfängnis« wurde im Jahr 1854 vom Papst verkündet, das Dogma von Mariä Himmelfahrt im Jahr 1950. »Menschgemacht« heißt nicht unbedingt »töricht«. Diese heroischen Rettungsversuche verdienen durchaus Anerkennung, auch heute noch, da wir das leckgeschlagene Schiff langsam und spurlos untergehen sehen. Doch so »inspiriert« die Entscheidung der Kirche auch gewesen sein mag, so wäre es doch eine Beleidigung für die Gottheit, wenn man behauptete, dass solcherlei Inspiration irgendwie göttlich gewesen wäre.

Die Sonne steht still, damit Josua an einem Ort, der bis heute nicht bekannt ist, sein Massaker beenden kann: So und ähnlich ist das gesamte Alte Testament von Träumen und astrologischen Aussagen durchzogen. Auch in der christlichen Bibel wimmelt es von Sternen – am bekanntesten ist der von Bethlehem –, Medizinmännern und Zauberern. Viele Lehren und Aussprüche Jesu sind harmlos, insbesondere die »Seligpreisungen«, aus denen viel unrealistisches Wunschdenken über die Schwachen und Friedensstifter spricht. Viele sind aber auch unverständlich und zeugen von Aberglauben, andere sind absurd und offenbaren eine primitive Haltung zur Landwirtschaft – das betrifft alle Stellen, in denen es ums Pflügen und Säen geht oder Senf und Feigenbäume erwähnt werden –, und viele sind einfach nur unmoralisch. Die Analogie von Menschen und Lilien beispielsweise deutet – wie viele andere Aussagen auch –, an, dass Sparsamkeit, Neuerung, die Sorge um die Familie und anderes mehr reine Zeitverschwendung sind: »Darum sorget nicht für den andern Morgen.« Deshalb berichten einige der Evangelien, synoptische und apokryphe, dass manch einer, einschließlich seiner Familienmitglieder, Jesus damals für verrückt hielt. Andere fanden, er führe sich mitunter auf wie ein strenger jüdischer Sektierer. So lesen wir in Matthäus 15, 21-28, mit welcher Verachtung Jesus eine kanaanäische Frau behandelt: Um seine Hilfe bei einem Exorzismus gebeten, teilt er ihr unwirsch mit, er werde seine Energie nicht auf eine nichtjüdische Frau verschwenden; seine Jünger und die Hartnäckigkeit der Frau bewegen ihn am Ende zum Einlenken, und er treibt den Pseudoteufel doch noch aus. Eine eigenwillige Geschichte wie diese kann meiner Ansicht nach als indirekter Beweis dafür herhalten, dass eine solche Persönlichkeit irgendwann gelebt hat. Damals streiften allerlei übergeschnappte Propheten durch Palästina; dieser allerdings glaubte wie verlautet zumindest zeitweise selbst daran, dass er Gott oder Gottes Sohn sei. Und das unterscheidet ihn von allen anderen. Einmal angenommen, dass er selbst daran glaubte und dass er seinen Anhängern versprach, ihnen sein Königreich zu offenbaren, ehe sie ans Ende ihres Lebens angelangt waren, so ergeben seine zeitlosen Aussagen bis auf ein oder zwei irgendwie einen Sinn. Keiner hat das offener ausgesprochen als C. S. Lewis, der erst kürzlich als christlicher Apologet wiederentdeckt wurde. In seinem Buch Pardon, ich bin Christ spricht er über Jesu Anspruch, die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen:

Diese Behauptung ist wirklich so ungeheuerlich, dass sie komisch wirken muss, solange sie nicht von Gott selbst kommt. Wir alle wissen, wie ein Mensch ihm angetanes Unrecht vergibt. Jemand tritt mir auf den Fuß, und ich verzeihe ihm; jemand stiehlt mir mein Geld, und ich verzeihe ihm. Was aber würden wir von einem Menschen halten, der – selber unberaubt und unbehelligt – verkündet, er vergebe allen, die anderen Leuten auf die Füße treten und anderer Leute Geld stehen? Eselsdumme Albernheit wäre noch die zarteste Umschreibung für ein derartiges Verhalten. Und doch hat Jesus eben dies getan. Er sagte den Menschen, ihre Sünden seien ihnen vergeben, ohne erst alle die anderen zu fragen, denen sie mit ihren Sünden unrecht getan hatten. Er verhielt sich einfach so, als sei er der am meisten Betroffene, als sei er derjenige, demgegenüber man sich am meisten vergangen habe. Das ist jedoch nur dann verständlich, wenn er wirklich der Gott ist, dessen Gesetze gebrochen und dessen Liebe durch jede Sünde verletzt wird. Im Mund jedes anderen, der nicht Gott ist, würden diese Worte doch wohl ein Maß von Einseitigkeit und Einbildung zum Ausdruck bringen, das in der Geschichte seinesgleichen suchen müsste.

Man beachte, dass Lewis ohne jeden Beweis Jesus in die »Geschichte« einreiht, doch dies nur nebenbei. Dass er die Logik und Moral seiner Ausführungen akzeptiert, muss man ihm hoch anrechnen. Doch wer argumentiert, dass Jesus ein großartiger Morallehrer, jedoch womöglich nicht Gott gewesen sei – wie es unter anderem der Deist Thomas Jefferson tat –, erhält von Lewis eine schroffe Abfuhr:

Denn gerade das können wir nicht sagen. Ein bloßer Mensch, der solche Dinge sagen würde, wie Jesus sie gesagt hat, wäre kein großer Morallehrer. Er wäre entweder ein Irrer – oder der Satan in Person. Wir müssen uns deshalb entscheiden: Entweder war – oder ist – dieser Mensch Gottes Sohn, oder er war ein Narr oder Schlimmeres. Wir können ihn als Geisteskranken einsperren, wir können ihn verachten oder als Dämon töten. Oder wir können ihm zu Füßen fallen und ihn Herr und Gott nennen. Aber wir können ihn nicht mit gönnerhafter Herablassung als einen großen Lehrer der Menschheit bezeichnen. Das war nie seine Absicht; diese Möglichkeit hat er uns nicht offen gelassen. [...]

Nun scheint es mir allerdings klar, dass er weder ein Irrer noch ein Teufel war; das bedeutet dann aber, dass ich anerkennen muss, dass er Gott war und ist. [FUSSNOTE32]

Ich zitiere hier nicht irgendjemanden: Lewis ist eines der wichtigsten christlichen Propagandavehikel unserer Tage. Doch seine wirren übernatürlichen Kategorien wie den Teufel oder den Dämon kann ich nicht akzeptieren. Am wenigsten aber kann ich seiner Argumentation folgen, deren Armseligkeit jeder Beschreibung spottet: Ausgehend von zwei unzutreffenden Alternativen, die er einander als Antithesen gegenüberstellt, fabriziert er eine primitive unlogische Folgerung: »Nun scheint es mir allerdings klar, dass er weder ein Irrer noch ein Teufel war; das bedeutet dann aber, dass ich anerkennen muss, dass er Gott war und ist.« Allerdings zolle ich Lewis Respekt für seine Ehrlichkeit und seinen Mut. Entweder, so Lewis, sprechen die Evangelien irgendwie die reine Wahrheit, oder die ganze Sache ist im Wesentlichen ein Schwindel und womöglich ein unmoralischer dazu. Nun, es lässt sich zweifelsfrei feststellen – und die Beweise liefern sie selbst –, dass die Evangelien nicht die reine Wahrheit sprechen. Das liegt daran, dass viele der »Aussagen« und Lehren Jesu aus zweiter, dritter oder vierter Hand kommen, was den Wirrwarr und die Widersprüchlichkeit erklärt. Besonders eklatante Beispiele sind, zumindest im Rückblick und gewiss aus Sicht der Gläubigen, Christi bevorstehende Wiederkehr und seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Gründung einer irdischen Kirche. Die Logia oder Worte Jesu werden von Bischöfen der frühen Kirche, die gern dabei gewesen wären, es aber eben nicht waren, immer wieder als Kommentare aus dritter Hand zitiert. Ich will dafür ein augenfälliges Beispiel nennen. Viele Jahre, nachdem C. S. Lewis das Zeitliche gesegnet hatte, begann ein sehr ernsthafter junger Mann namens Bart Ehrman, seinen eigenen fundamentalistischen Annahmen auf den Grund zu gehen. Er hatte die beiden angesehensten christlich-fundamentalistischen Akademien der USA besucht und galt unter den Gläubigen als einer ihrer Besten. Ehrman sprach fließend Griechisch und Hebräisch – heute hat er als Religionswissenschaftler einen Lehrstuhl inne –, konnte aber seinen Glauben bald nicht mehr mit seinen Forschungen vereinbaren. Überrascht stellte er fest, dass die bekanntesten Geschichten Jesu erheblich später in den Kanon gekritzelt wurden, darunter auch die vielleicht berühmteste.

Es handelt sich um die hoch gelobte Geschichte von der Ehebrecherin (Johannes 8, 3-11). Wer hat nicht schon davon gehört oder darüber gelesen, wie die jüdischen Pharisäer, kunstfertige Rabulisten, die arme Frau vor Jesus zerrten und zu wissen verlangten, ob er mit der mosaischen Todesstrafe der Steinigung einverstanden sei? Wenn nicht, so verstoße er gegen das Recht. Wenn ja, führe er seine eigenen Lehren ad absurdum. Man kann sich gut den blinden Eifer vorstellen, mit dem sie sich auf die Frau stürzen. Und die gelassene Antwort Jesu, nachdem er mit dem Finger etwas auf die Erde geschrieben hat: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.« Dieser Satz hat Eingang in unsere Literatur und unser Bewusstsein gefunden.

Die Episode wird sogar auf Zelluloid gefeiert. In einer Rückblende taucht sie auch in Mel Gibsons Travestie auf, und sie bildet einen wunderbaren Moment in David Leans Dr. Schiwago, wo Lara in ihrer Not zu einem Priester geht und gefragt wird, was Jesus zu der gefallenen Frau gesagt hat. »Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr«, lautet ihre Antwort. »Und, hat sie, Kind?«, fragt der Priester. »Ich weiß es nicht, Vater.« »Niemand weiß das«, erwidert der Priester, wenig hilfreich in dieser Situation.

Das weiß wirklich niemand. Lange bevor ich Ehrman las, hatte ich mir bereits meine eigenen Fragen gestellt. Wenn das Neue Testament Mose bekräftigen soll, warum unterminiert es dann die grausigen Gesetze des Pentateuch? Das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn und die Ermordung von Hexen mögen uns brutal und töricht vorkommen, doch wenn nur der das Recht zur Bestrafung hat, wer nicht gesündigt hat, wie kann dann eine unvollkommene Gesellschaft ihre Straftäter überhaupt strafrechtlich verfolgen? Wir müssten allesamt Heuchler sein. Und welches Recht hatte Jesus, zu »vergeben«? Sicher fühlte sich doch irgendwo in der Stadt eine Ehefrau oder ein Ehemann betrogen und war empört. Steht das Christentum denn für völlige Freizügigkeit? Wenn dem so ist, so wurde es seither jedenfalls aufs Gröbste missverstanden. Und was hat Jesus auf die Erde geschrieben? Auch das weiß niemand. Der Geschichte zufolge bleiben, nachdem die Pharisäer gegangen sind und die Menschenmenge sich, vermutlich peinlich berührt, aufgelöst hat, nur Jesus und die Frau zurück. Wer ist in diesem Fall der Erzähler, der berichtet, was er zu ihr sagte? Ungeachtet all dieser Einwände fand ich die Geschichte nicht schlecht.

Doch Professor Ehrman geht noch einen Schritt weiter. Er stellt einige Fragen, die auf der Hand liegen. Wenn die Frau »im Ehebruch ergriffen«, also in flagranti erwischt wurde, wo ist dann ihr Partner? Nach dem im 3. Buch Mose dargelegten mosaischen Gesetz müssen beide gesteinigt werden. Plötzlich wurde mir bewusst, dass die Geschichte ihren Charme aus der zitternden verlassenen jungen Frau bezieht, die, von einer Horde sexuell ausgehungerter Fanatiker beschimpft und fortgezerrt, endlich einem freundlichen Menschen begegnet. Zu der Schrift im Staub führt Ehrman eine alte Tradition an, nach der Jesus die bekannten Vergehen der übrigen Anwesenden aufschrieb, woraufhin diese rot anliefen, verlegen von einem Fuß auf den anderen traten und dann schnell das Weite suchten. Mir gefällt diese Vorstellung, obwohl sie ein Maß an weltlicher Neugier und Lüsternheit – und Weitblick – aufseiten Jesu voraussetzt, das wiederum nicht ganz unproblematisch ist.

Über alldem liegt, wie Ehrman einräumt, ein schockierender Tatbestand:

Die Geschichte fehlt in den ältesten und am besten erhaltenen Manuskripten des Johannesevangeliums; stilistisch unterscheidet sie sich vom Rest des Evangeliums (einschließlich der Geschichten unmittelbar davor und danach), und es kommen zahlreiche Wörter und Wendungen vor, die dem Evangelium ansonsten fremd sind. Das lässt nur einen Schluss zu: Die Passage gehörte ursprünglich nicht zum Evangelium. [FUSSNOTE33]

Wieder berufe ich mich auf eine Quelle, in der die Beweise sozusagen zum eigenen Schaden erbracht werden, nämlich von jemandem, dessen wissenschaftliche und intellektuelle Reise ursprünglich überhaupt nicht darauf abzielte, die Heilige Schrift in Zweifel zu ziehen. Die Beweise für eine Konsistenz, Authentizität oder »Inspiration« der Bibel bröckeln schon seit geraumer Zeit, und da die wissenschaftlichen Fortschritte die Lücken und Brüche immer deutlicher hervortreten lassen, ist von dieser Seite keine »Offenbarung« zu erwarten. So sollen denn die Vertreter und Verfechter der Religion allein auf ihren Glauben vertrauen. Und mögen sie so mutig sein, dies auch einzugestehen.