Es kann gleichermaßen nützlich wie instruktiv sein, einmal einen Blick auf das Ende von Religionen oder religiösen Bewegungen zu werfen. Die Miller-Bewegung etwa hat das Zeitliche gesegnet. Auch Pan, Osiris und viele andere der vielen Tausend Götter, die einst die Menschen vollkommen in ihren Bann zogen, gehören der nostalgischen Vergangenheit an. Im Falle des Sabbatai Zwi allerdings, des imposantesten aller »falschen Erlöser«, kann ich mich eines gewissen Mitgefühls nicht erwehren. Mitte des 17. Jahrhunderts beseelte er jüdische Gemeinden im gesamten Mittelmeerraum – und bis nach Polen, Hamburg und sogar nach Amsterdam, wo damals gerade Spinoza aus der jüdischen Gemeinde verstoßen wurde – mit der Behauptung, er sei der Auserwählte, der die Exilanten ins Heilige Land zurückführen und ein Zeitalter des Friedens auf der Welt einläuten werde. [FUSSNOTE48]

Zwis Schlüssel zur Offenbarung war das Studium der Kabbala, die in jüngster Zeit dank einer Showdiva mit dem exzentrischen Namen Madonna wieder in aller Munde ist. Hysterische jüdische Gemeinden von seiner Heimat Smyrna bis hin nach Thessaloniki, Konstantinopel und Aleppo feierten sein Kommen. Skeptischer waren die Jerusalemer Rabbis, die schon von einer ganzen Reihe angeblicher Erlöser behelligt worden waren. Mit einem kabbalistischen Trick, der seinen Namen über die Entschlüsselung eines hebräischen Anagramms zu »Mosiach« oder »Messias« machte, mag er sich eingeredet haben – und redete es jedenfalls anderen ein –, dass er der erwartete Erlöser sei. Einer seiner Anhänger formulierte es so:

Der Prophet Nathan prophezeite und Sabbatai Zwi predigte, dass, wer sich nicht läutert, den Trost von Zion und Jerusalem nie erblickt, zur Schande verdammt und in alle Ewigkeit verstoßen wird. Und es gab eine Bußfertigkeit, derengleichen die Welt seit ihrer Erschaffung bis zum heutigen Tage nicht gesehen hat.

Das war keine primitive »millersche« Panik. Gelehrte diskutierten die Thematik leidenschaftlich in Wort und Schrift, weshalb sie heute gut dokumentiert ist. Sämtliche Elemente einer wahren (und falschen) Prophezeiung waren vorhanden. Sabbatais Anhänger beriefen sich auf den charismatischen Rabbi Nathan von Gaza, das Äquivalent zu Johannes dem Täufer. Sabbatais Gegner hießen ihn einen Epileptiker und Häretiker und bezichtigten ihn des Verstoßes gegen das Gesetz. Dafür wurden sie von Sabbatais Gefolgsleuten gesteinigt. Auf Versammlungen steigerte sich jede Seite in ihre Empörung hinein und ging auf die jeweilige Gegenseite los. Auf dem Weg nach Konstantinopel, wo er sich als Erlöser vorstellen wollte, geriet Sabbatais Schiff in einen Sturm, dem es aber trotzte. In Konstantinopel angekommen, wurde er eingekerkert, woraufhin das Gefängnis von heiligen Feuern erleuchtet und von süßen Düften erfüllt wurde – oder auch nicht, da sind sich die Quellen nicht einig. In einem Echo auf eine erbitterte Auseinandersetzung innerhalb des Christentums behaupteten Rabbi Nathans und Sabbatais Anhänger, die Kenntnis der Thora und das Vollbringen guter Werke sei ohne Glauben völlig unnütz. Ihre Gegner erwiderten, nichts sei so wichtig wie Thorakenntnisse und gute Werke. Der Streit reichte so weit, dass sogar die Sabbatai feindlich gesinnten Jerusalemer Rabbiner irgendwann um Beweise dafür ersuchten, dass sich Zwi, der die Juden in so einen Freudenrausch versetzte, durch Wunder hervorgetan habe. Männer und Frauen verkauften ihr Hab und Gut, um ihm ins Gelobte Land zu folgen.

Das Osmanische Reich, das damals der Republik Venedig gerade Kreta entriss, hatte im Umgang mit Unruhen religiöser Minderheiten viel Erfahrung und verhielt sich erheblich umsichtiger als die Römer vor ihnen. Wenn Sabbatai die Herrschaft über alle Könige für sich beanspruchte oder gar ein großes Gebiet ihrer Provinz in Palästina einforderte, das war der Reichsführung klar, war er nicht nur ein religiöser, sondern auch ein weltlicher Gegner. Als er aber in Konstantinopel eintraf, sperrte man ihn lediglich ein. Auch der Rat der islamischen Rechtsgelehrten blieb gelassen. Um zu verhindern, dass seine begeisterten Anhänger eine neue Religion gründeten, rieten die Rechtsgelehrten von einer Hinrichtung des aufrührerischen Untertanen ab.

Besiegelt wurde Sabbatais Schicksal, als sein ehemaliger Weggefährte Nehemiah Kohen zum Großwesir nach Edirne kam und seinen früheren Meister der Unmoral und Häresie beschuldigte. Der Messias wurde in den Palast zitiert, wobei er den Weg vom Gefängnis in einer Prozession Hymnen singender Anhänger zurücklegen durfte. Im Palast teilte man ihm mit, man werde die höfischen Bogenschützen auf ihn schießen lassen. Falls der Himmel die Pfeile ablenkte, sollte er für echt befunden werden. Wenn er ablehnte, würde man ihn pfählen. Sollten ihm beide Alternativen nicht genehm sein, so gebe es noch die Möglichkeit, zum Islam überzutreten und am Leben zu bleiben. Sabbatai Zwi tat, was wohl jeder normale Mensch getan hätte. Er gelobte, an den einen Gott und seinen Boten zu glauben, und erhielt als Gegenleistung eine Sinekure. Später wurde er in einen fast »judenreinen« Teil des Reiches an der albanisch-montenegrinischen Grenze verbracht, wo er 1676 angeblich an Jom Kippur zur Stunde des Abendgebetes, zu der auch Mose seinen letzten Atemzug getan haben soll, verstarb. Sein Grab konnte trotz intensiver Suche nie eindeutig identifiziert werden.

Seine verzweifelte Anhängerschaft zerfiel umgehend in zahlreiche Grüppchen. Die einen weigerten sich schlichtweg, an seine Bekehrung oder Apostasie zu glauben. Andere behaupteten, er sei zum Islam übergetreten, um ein noch großartigerer Messias zu sein. Wieder andere meinten, das Ganze sei nur eine Tarnung. Und natürlich gab es auch solche, die sagten, er sei in den Himmel aufgefahren. Seine wahren Anhänger schließlich übernahmen die Doktrin der »Okkultation«, der zufolge – wer hätte das gedacht? – der Messias durchaus nicht gestorben ist, sondern im Verborgenen auf den Augenblick wartet, da die Menschheit bereit ist für seine glorreiche Rückkehr. »Okkultation« ist übrigens der Begriff, den die frommen Schiiten für den seit Langem anhaltenden Zustand des Zwölften Imam oder Mahdi verwenden, der im Jahr 873 im Alter von fünf Jahren verschwand.

Das war das Ende der Religion des Sabbatai Zwi, die nur in einer winzigen Mischsekte in der Türkei fortlebt. Die sogenannten Dönme folgen nach außen hin islamischen Glaubensregeln, sind aber heimlich dem Judentum verpflichtet. Wäre ihr Stifter hingerichtet worden, so wäre die Religion sicher noch in aller Munde, gäbe es Schismen, Steinigungen und wohlbegründete gegenseitige Exkommunizierungen. Am ähnlichsten ist ihr heute die chassidische Sekte der Chabad, auch als Lubawitscher bekannt, die einst – manche sagen, bis heute – von Menachem Schneerson geführt wurde. Mit Schneersons Tod 1994 in Brooklyn sollte ein Zeitalter der Erlösung anbrechen, das bis heute auf sich warten lässt. Im Jahr 1983 hatte der US-Kongress Schneerson geehrt, indem er seinen Geburtstag offiziell zum Tag der Bildung erklärte. So, wie bis heute einige jüdische Sekten behaupten, die nationalsozialistische »Endlösung« sei eine Strafe für das Exil außerhalb Jerusalems gewesen, gibt es auch solche, die weiter für eine Gettopolitik eintreten und wie ehedem einen Wächter ans Stadttor stellen, der die anderen bei der Ankunft des Messias sofort benachrichtigen soll – eine »dauerhafte Anstellung«, wie einer dieser Wächter einmal rechtfertigend gesagt haben soll. Beim Blick auf diese Religionen, die noch keine sind oder nie eine wurden, könnte sich fast so etwas wie innere Ergriffenheit einstellen, wäre da nicht das dauernde Getöse anderer Prediger, die verlangen, ihren und nur ihren Messias demütig und ehrfürchtig zu erwarten.