Mit dem Verweis auf die Offenbarung gibt sich die Religion eine weitere Blöße, denn statt einfach auf den Glauben zu vertrauen, versucht sie »Beweise« im herkömmlichen Sinne zu erbringen. Zu ganz besonderen Anlässen, so heißt es, habe sich der göttliche Wille willkürlich ausgewählten Menschen offenbart und ihnen unabänderliche Gesetze zu übermitteln geruht, die diese dann an ihre weniger privilegierten Mitmenschen weitergeben konnten.
Dagegen ist einiges einzuwenden. Erstens sollen solche Offenbarungen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten sehr unterschiedlichen Propheten und Mittelspersonen zuteil geworden sein. In einigen Fällen – vor allem im Christentum – reicht eine Offenbarung allem Anschein nach nicht aus, sondern muss durch weitere Erscheinungen bekräftigt werden, wobei jeweils eine nächste, die dann auch die letzte sein soll, angekündigt wird. In anderen Fällen liegt das umgekehrte Problem vor: Die göttlichen Anweisungen werden ein einziges Mal und verbindlich einer obskuren Person gegeben, deren banalste Worte fortan Gesetz sind. Da die zum Teil hoffnungslos widersprüchlichen Offenbarungen nicht alle zutreffen können, müssen einige falsch und illusorisch sein. Man könnte auch folgern, dass eine von ihnen authentisch ist, was aber erstens bezweifelt werden muss und zweitens einen Religionskrieg darüber auslösen müsste, welche Offenbarung denn nun die wahre ist. Weiter erschwert wird die Sache dadurch, dass der Allmächtige sich ausschließlich ungebildeten und pseudohistorischen Personen in abgelegenen Gegenden des Nahen Ostens offenbarte, die lange Zeit Heimstatt der Götzenverehrung und des Aberglaubens und in vielen Fällen bereits mit vorhandenen Prophezeiungen gepflastert waren.
Die Tendenz zur Verschmelzung, die in den monotheistischen Religionen zu beobachten ist, und die gemeinsame Herkunft ihrer Geschichten führen letztendlich dazu, dass mit einer Religion alle widerlegt werden. So erbittert und hasserfüllt sie miteinander gekämpft haben mögen, so pochen doch alle drei auf die gemeinsame Herkunft aus dem Pentateuch des Mose. Der Koran bescheinigt den Juden, das »Volk des Buches« zu sein, und bestätigt, dass Jesus ein Prophet und seine Mutter eine Jungfrau war; interessanterweise gibt er den Juden auch nicht die Schuld an der Ermordung Jesu, wie es ein Buch des christlichen Neuen Testamentes tut – was allerdings daran liegt, dass er die groteske Behauptung aufstellt, die Juden hätten an Jesu Stelle einen andern gekreuzigt.
Die Stiftungsgeschichten aller drei Religionen handeln von der Begegnung zwischen Mose und Gott auf dem Berge Sinai mit der Übergabe der Zehn Gebote. Berichtet wird davon in den Kapiteln 20 bis 40 des 2. Buchs Mose, das auch als Buch Exodus bekannt ist. Im Mittelpunkt steht dabei das Kapitel 20 mit den einzelnen Geboten. Es wäre vielleicht nicht nötig, sie im Einzelnen aufzuzählen, ist aber durchaus die Mühe wert.
Zunächst sticht ins Auge, dass wir es nicht mit einer einheitlichen Liste von zehn Geboten oder Verboten zu tun haben. Die ersten drei Gebote sind Variationen eines einzigen, mit dem Gott seine Vormachtstellung und Ausschließlichkeit betont und das Anfertigen von Götzenbildern sowie den Missbrauch seines Namens verbietet. Diese ausgedehnten Präliminarien werden von nachdrücklichen Ermahnungen begleitet, etwa der Warnung, dass Gott »Missetaten der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern«. Das widerspricht allerdings der moralischen und vernunftgemäßen Vorstellung, dass Kinder für die Untaten ihrer Eltern nichts können. Das vierte Gebot fordert die Einhaltung des heiligen Sabbats und untersagt es allen Gläubigen, ihren Sklaven und Dienern, an diesem Tag irgendwelche Arbeiten zu verrichten. Erklärend wird hinzugefügt, was schon im 1. Buch Mose steht, dass nämlich Gott die Welt in sechs Tagen erschuf und am siebten Tage ruhte (was die Frage aufwirft, was er wohl am achten Tag gemacht haben mag). Die nun folgenden Gebote sind knapper gehalten. »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren«, ein Gebot, das nicht ganz zweckfrei ist, denn es heißt weiter, »auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird«. Erst dann folgen die vier berühmten Verbote von Mord, Ehebruch, Diebstahl und Falschaussage. Ihnen schließt sich das Verbot an, »deines Nächsten« Haus, Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel und Eigentum zu begehren.
Es dürfte schwerfallen, einen klareren Beweis dafür aufzutreiben, dass die Religion von Menschen gemacht wurde. Da ist zunächst das monarchische Geknurre von Respekt und Furcht, begleitet von einem energischen Hinweis auf Gottes Allmacht und seine grenzenlose Rache, das auch ein babylonischer oder assyrischer König seinen Schreibern als Vorspann zu einer Bekanntmachung hätte diktieren können. Es folgt die scharfe Ermahnung, fleißig zu arbeiten und nur zu ruhen, wenn es der Herrscher befiehlt. Daran schließen sich knappe legalistische Verbote an, deren eines meist falsch wiedergegeben wird, denn im hebräischen Original heißt es »Du sollst keinen Mord begehen«. Egal wie gering man die jüdische Tradition achtet, so ist es schon eine Beleidigung für Moses Volk, dass es bis dahin unter dem Eindruck gestanden haben soll, Mord, Ehebruch, Diebstahl und Falschaussage seien erlaubt. Der gleiche unwiderlegbare Vorwurf lässt sich übrigens gegen die späteren Lehren Jesu erheben: Seine Geschichte vom barmherzigen Samariter auf der Straße nach Jericho handelt von einem Mann, der human und großzügig handelte, ohne je vom Christentum gehört zu haben, geschweige denn den unbarmherzigen Lehren des alttestamentlichen Gottes gefolgt zu sein, der menschliche Solidarität und Mitleid mit keinem Wort erwähnt. Jede Gesellschaft, die je erforscht wurde, hat sich vor so offensichtlichen Verbrechen wie denen, die auf dem Berg Sinai verboten wurden, geschützt. Statt einer Verurteilung böser Taten folgt am Schluss eine seltsam formulierte Verurteilung unreiner Gedanken. Auch sie entpuppt sich als menschgemachtes Produkt der zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten, denn die »Frau« wird in einer Reihe mit den anderen Besitztümern des Nachbarn genannt, seien sie tierisch, menschlich oder materiell. Vor allem aber wird hier das Unmögliche gefordert – ein wiederkehrendes Problem religiöser Edikte. Der Mensch mag sich durch die Androhung von Gewalt davon abhalten lassen, Verbrechen zu begehen, doch den Leuten zu verbieten, auch nur darüber nachzudenken, geht zu weit. Besonders absurd ist es, den Neid auf anderer Leute Besitz oder Reichtümer zu untersagen, und sei es nur, weil Neid zu Nachahmung und Ehrgeiz anspornt, mithin also Positives bewirken kann; die amerikanischen Fundamentalisten, die die Zehn Gebote – fast wie ein Götzenbild – an der Wand eines jeden Klassenzimmers und eines jeden Gerichtssaals sehen wollen, stehen dem Geist des Kapitalismus wahrscheinlich nicht so ablehnend gegenüber. Wenn Gott wirklich wollte, dass die Menschen keine solchen Gedanken hegen, hätte er sich bei der Erfindung der Spezies etwas mehr Mühe geben sollen.
Nun drängt sich natürlich die Frage auf, was die Zehn Gebote nicht sagen. Ist es allzu modern gedacht, wenn auffällt, dass kein Wort über den Schutz von Kindern vor Grausamkeit verloren wird, kein Wort über Vergewaltigung, Sklaverei und Völkermord? Oder ist es allzu »kontextbezogen«, anzumerken, dass einige dieser Vergehen im Weiteren sogar geradezu empfohlen werden? In Vers 2 des unmittelbar folgenden Kapitels bittet Gott Mose, seinen Anhängern die Bedingungen für den Kauf und Verkauf von Sklaven (und das Durchbohren des Ohrs mit einem Pfriem) sowie die Regeln für den Verkauf ihrer Töchter mitzuteilen. Dem folgen die berühmten Verse »Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn« sowie weitschweifige Erklärungen zu Rindern, die Menschen oder sich gegenseitig mit den Hörnern stoßen. Die detaillierten Vorschriften zum Thema Landwirtschaft brechen in 22,17 plötzlich mit der Aufforderung ab: »Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen«, die Christen jahrhundertelang einen Freibrief zum Foltern und Verbrennen unangepasster Frauen ausstellte. Einige Richtlinien sind moralisch einwandfrei und überdies recht hübsch formuliert: »Du sollst der Menge nicht auf dem Weg zum Bösen folgen«, lernte Bertrand Russell von seiner Großmutter – ein Satz, den der alte Häretiker sein Leben lang beherzigte. Hier und da überkommt den Leser aber auch Mitleid für die ausgelöschten und in Vergessenheit geratenen Völker der Hiwiter, Kanaaniter und Hittiter, die vermutlich ebenfalls Bestandteil von Gottes einstiger Schöpfung waren, nun aber erbarmungslos aus ihren Häusern vertrieben wurden, um Platz zu schaffen für die undankbaren und rebellischen Kinder Israels. Auf diesen »Bund« beriefen sich auch die Irredentisten, als sie im 19. Jahrhundert Palästina beanspruchten, was bis zum heutigen Tag nichts als Ärger einbringt.
Sodann begegnen vierundsiebzig Stammesälteste, unter ihnen Mose und Aaron, Gott von Angesicht zu Angesicht. Mehrere Kapitel sind nun den minutiösen Vorschriften zu den üppigen und umfangreichen Opfer- und Besänftigungszeremonien gewidmet, die der Herr von seinem neuen Volk erwartet, bis sich alles in Tränen und Chaos auflöst: Als Mose von seiner Unterredung auf dem Berge zurückkehrt, muss er feststellen, dass der Eindruck, den die Begegnung mit Gott hinterlassen hat, zumindest bei Aaron bereits verblasst ist und dass die Kinder Israels aus ihrem Schmuck ein Götzenbild gefertigt haben. Daraufhin zerschmettert er erzürnt die beiden Steintafeln vom Berge Sinai – die demnach von Menschen, und nicht von Gott, gefertigt sein müssen und die später eilends wieder rekonstruiert werden – und befiehlt:
Ein jeder gürte sein Schwert um die Lenden und gehe durch das Lager hin und her von einem Tor zum anderen und erschlage seinen Bruder, Freund und Nächsten.
Die Söhne Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und es fielen an dem Tage vom Volk dreitausend Mann.
Eine kleine Zahl verglichen mit den ägyptischen Neugeborenen, deren Ermordung durch Gott Voraussetzung für diese Geschehnisse war, aber durchaus ein Argument für den »Antitheismus«. Mit diesem Begriff meine ich die Erleichterung darüber, dass keiner der religiösen Mythen wahr ist. Die Bibel gibt zwar einen Freibrief für Menschenhandel, ethnische Säuberungen, Sklaverei, Zwangsehe und willkürliche Massaker, doch wir sind nicht daran gebunden, denn er wurde von primitiven, unkultivierten menschlichen Säugetieren ausgestellt.
Selbstverständlich fand keines der im 2. Buch Mose beschriebenen schaurigen und geistesgestörten Ereignisse je statt. Die israelischen Archäologen zählen zu den professionellsten der Welt, obwohl ihre Forschungen bisweilen von dem Wunsch beseelt waren, zu beweisen, dass der »Bund« Gottes mit Mose auf Fakten basiert. Niemand hat so hart daran gearbeitet wie die Israelis, die jedes Sandkorn Kanaans und der Wüste Sinai einzeln durchgesiebt haben. Der Erste war Jigael Jadin, dessen berühmteste Ausgrabung die von Masada war und der von David Ben Gurion den Auftrag erhalten hatte, die »Besitzurkunde« zu finden, den Nachweis für den Anspruch Israels auf das Heilige Land. Bis vor nicht allzu langer Zeit galten seine so offensichtlich politisch geleiteten Arbeiten zumindest oberflächlich betrachtet als plausibel. Doch dann präsentierten insbesondere Israel Finkelstein vom Archäologischen Institut der Universität Tel Aviv und sein Kollege Neil Asher Silberman erheblich umfangreichere und objektivere Arbeiten. [FUSSNOTE27]
Für beide ist die »hebräische Bibel« oder der Pentateuch ein wundervoller Text und die Geschichte des modernen Israel eine Quelle der Inspiration – in beiden Fällen möchte ich bescheiden meine gegenteilige Ansicht zum Ausdruck bringen. Doch ihre Schlussfolgerung ist endgültig und umso glaubwürdiger, als sie die Beweise über das Eigeninteresse stellen. Es gab keine Flucht aus Ägypten, keine Wanderung durch die Wüste – geschweige denn eine, die vier Jahrzehnte dauerte, wie es im Pentateuch heißt – und auch keine dramatische Inbesitznahme des Heiligen Landes. Das alles wurde kurzerhand und durchaus unbeholfen erheblich später erfunden. In keiner ägyptischen Chronik sind die Ereignisse auch nur in einem Nebensatz erwähnt, und Ägypten war für Kanaan und die nilotische Region in allen relevanten Zeiträumen Besatzungsmacht. Ja, viele Hinweise deuten sogar in entgegengesetzte Richtung: Archäologische Funde bestätigen, dass es bereits seit vielen Tausend Jahren jüdische Siedlungen in Palästina gab, was sich unter anderem daraus schließen lässt, dass in den Abfallhaufen keine Schweineknochen gefunden wurden. Nachgewiesen ist überdies ein, wenngleich eher bescheidenes, »Königreich Davids«, wohingegen alle mosaischen Mythen bedenkenlos verworfen werden können. Diese Schlussfolgerung halte ich nicht, wie manche religiöse Kritiker säuerlich anmerken, für »reduktionistisch«. Aus der Archäologie und den alten Texten lässt sich nicht nur großes Vergnügen, sondern auch großer Nutzen ziehen. Und sie führen uns Stück für Stück näher an die Wahrheit heran. Andererseits werfen sie auch erneut die Frage nach dem Antitheismus auf. In Die Zukunft einer Illusion führte Freud ein recht naheliegendes Argument ins Feld: Die Religion leide unter der irreparablen Schwäche, dass sie allzu klar aus unserem Wunsch erwachse, dem Tod zu entgehen oder ihn zu überleben. [FUSSNOTE28]
Diese Kritik am Wunschdenken ist stark und unwiderlegbar, spart aber die Schrecken, Grausamkeiten und Wahnsinnstaten des Alten Testamentes aus. Wer – einmal abgesehen von einem Priester alter Zeiten, der mit dem erprobten Mittel der Angst Macht ausüben wollte – würde sich wohl ernsthaft wünschen, dass dieses hoffnungslos verquere Lügengebilde auch nur ein Körnchen Wahrheit in sich trüge?
Nun, auch die Christen haben sich vom Wunschdenken leiten lassen und nach »Beweisen« gesucht, und zwar schon lange bevor die Vertreter der zionistischen Archäologieschule zum Spaten griffen. Paulus hatte in seinem Brief an die Galater Gottes Versprechen an die jüdischen Patriarchen den Christen sozusagen vererbt, und im 19. und 20. Jahrhundert stolperte man im Heiligen Land alle paar Meter über einen eifrigen Ausgräber. Der britische General Gordon, der später im Kampf gegen den Mahdi in Khartoum fiel, war in dieser Hinsicht federführend. Der Orientalist und Bibelgelehrte William Albright aus Baltimore machte sich unbeirrt für Josuas Jericho und andere Mythen stark. Einige dieser Ausgräber galten vor dem Hintergrund der primitiven Techniken jener Zeit nicht als Opportunisten, sondern wurden durchaus ernst genommen. Auch moralisch: Der französische Dominikanermönch und Archäologe Roland de Vaux begab sich völlig in die Hände des Schicksals, als er sagte: »Wenn der historische Glaube Israels nicht in der Geschichte begründet ist, so ist dieser Glaube und damit auch unser Glaube irrig.« Ein bewundernswertes und ehrliches Wort, auf das man den guten Ordensmann heute festlegen kann.
Schon lange bevor die moderne Forschung sowie exakte Übersetzungen und genaue Ausgrabungen Erhellendes zutage brachten, lag es durchaus im Vermögen eines denkenden Menschen, zu erkennen, dass es sich bei der »Offenbarung« am Sinai und beim Rest des Pentateuch um eine zusammengeschusterte Fiktion handelt, verfasst geraume Zeit nach den Pseudoereignissen, die sie weder überzeugend noch plausibel schildert. Seit die Bibel in der Schule gelesen wird, ärgern aufgeweckte Schulkinder ihre Lehrer mit unschuldigen, aber nicht zu beantwortenden Fragen. Thomas Paine wurde nie widerlegt, seit er, während er unter der grausamen Verfolgung durch die antireligiösen französischen Jakobiner litt, feststellte,
...dass diese Bücher höchst zweifelhaft sind und dass Mose nicht ihr Autor ist, und weiter, dass sie nicht in Moses Zeit verfasst wurden, sondern erst mehrere Hundert Jahre später, und dass sie als Versuch einer Chronik der Lebensgeschichte Moses und seiner angeblichen Lebenszeit sowie der Zeit davor mehrere Hundert Jahre nach dem Tode Moses von sehr unwissenden und törichten Heuchlern aufgeschrieben wurden, so, wie heutzutage Leute die Geschichte von Ereignissen aufschreiben, die vor vielen Hundert oder vielen Tausend Jahren geschahen oder geschehen sein sollen. [FUSSNOTE29]
Die mittleren Bücher des Pentateuch – das zweite, dritte und vierte; im ersten kommt Mose nicht vor – sprechen von Mose in der dritten Person: »Und Gott redete mit Mose.« Man könnte nun argumentieren, dass Mose von sich selbst lieber in der dritten Person sprach, auch wenn diese Haltung heute gern mit Größenwahn assoziiert wird. Doch Aussagen wie »Aber Mose war ein sehr demütiger Mensch, mehr als alle Menschen auf Erden« (1. Mose 12, 3) wären unter dieser Voraussetzung geradezu lachhaft. Abgesehen davon, dass es aberwitzig wäre, sich als demütig zu beschreiben, indem man sich in seiner Demut als allen anderen Menschen überlegen geriert, dürfen wir nicht vergessen, wie autoritär und blutrünstig Moses Verhalten in nahezu allen anderen Kapiteln geschildert wird. Wir haben somit die Wahl zwischen hochgradiger Ichbezogenheit und falschester Bescheidenheit.
Aber vielleicht kann man Mose auch von beiden Vorwürfen freisprechen, denn für die Verrenkungen des 5. Buchs Mose kann er gar nicht verantwortlich sein. Das Buch gibt eine Einführung in das Thema, der eine Rede Moses folgt; an einen Einschub durch den Erzähler schließt sich eine weitere Rede des Mose an, gefolgt von der Schilderung seines Todes, seiner Bestattung und seiner Großartigkeit – man kann wohl davon ausgehen, dass der Bericht über die Beerdigung nicht von dem Mann stammt, der beerdigt wurde, obwohl das Problem dem Verfasser des Textes offenbar nicht auffiel.
Dass der Verfasser diesen Bericht viele Jahre später aufschrieb, ist ziemlich eindeutig. Wir erfahren, dass Mose einhundertzehn Jahre alt wurde; seine »Augen waren nicht schwach geworden und seine Kraft war nicht verfallen«, als er den Berg Nebo bestieg, von dem aus er einen guten Blick über das Gelobte Land hatte, das er nie betreten sollte. Plötzlich schwinden die Kräfte des Propheten, er stirbt im Lande Moab und wird dort bestattet. Niemand weiß, sagt der Autor, »bis auf den heutigen Tag«, wo das Grab des Mose liegt. Auch habe es, so fügt er hinzu, »hinfort« keinen vergleichbaren Propheten in Israel mehr gegeben. Diese beiden Formulierungen ergeben nur dann einen Sinn, wenn sie sich auf das Verstreichen einer großen Zeitspanne beziehen. Weiter sollen wir glauben, dass ein nicht näher bestimmter »er« Mose begrub: Wenn das wieder Mose selbst in der dritten Person gewesen sein soll, so scheint es höchst unglaubwürdig, und wenn Gott höchstselbst die Trauerfeier gestaltete, so kann es der Verfasser des Deuteronomiums nicht gewusst haben. Der Autor hat überhaupt nur wenig Konkretes darüber zu berichten, was nicht anders zu erwarten ist, wenn er ein schon beinahe in Vergessenheit geratenes Ereignis rekonstruierte. Dasselbe gilt für unzählige weitere Anachronismen, wenn Mose Ereignisse schildert – den Verzehr des »Manna« in Kanaan, die Eroberung des gewaltigen Steinsarges des »Riesen«-Königs Og von Basan –, die womöglich nie stattfanden, von denen aber auch gar nicht erst behauptet wird, dass sie vor Moses Tod geschahen.
Immer wahrscheinlicher wird diese Interpretation im vierten und fünften Kapitel des 5. Buchs Mose, wo Mose seine Anhänger um sich schart und ihnen noch einmal die Gebote des Herrn verkündet – was erst einmal nicht weiter verwunderlich ist, denn der Pentateuch enthält bereits zwei voneinander abweichende Schöpfungsberichte, zwei Stammbäume Adams und zwei Schilderungen der Sintflut. In einem dieser beiden Kapitel spricht Mose sehr ausführlich über sich selbst, in dem anderen wird er in indirekter Rede zitiert. Im vierten Kapitel wird das Verbot, Götzenfiguren anzufertigen, dahin gehend ergänzt, dass sie keinem Menschen oder Tier »gleich« sein dürften. Im fünften Kapitel wird der Inhalt der beiden Steintafeln in etwa so wiederholt, wie er schon im 2. Buch Mose wiedergegeben wurde, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Dieses Mal vergisst der Verfasser, dass der Sabbattag heilig ist, weil Gott den Himmel und die Erde in sechs Tagen erschaffen und am siebten Tag geruht hat. Hier nun ist der Sabbat plötzlich heilig, weil Gott sein Volk aus dem Lande Ägypten geführt hat.
Kommen wir nun zu den Geschehnissen, die wahrscheinlich – und darüber können wir nur froh sein – nie stattgefunden haben. Im 5. Buch Mose gebietet Mose Eltern, ihre Kinder für Disziplinlosigkeit zu Tode steinigen zu lassen (was mindestens einem der Gebote zuwiderzulaufen scheint), und trifft eine Reihe von Aussagen, eine irrwitziger als die andere: »Es soll kein Zerstoßener noch Verschnittener in die Gemeinde des HERRN kommen.« Im 4. Buch Mose empört er sich nach einer Schlacht vor den Generälen darüber, dass sie so viele Zivilisten verschont haben:
So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.
Das ist sicher nicht die krasseste Aufforderung zum Völkermord, die im Alten Testament zu finden ist – israelische Rabbis diskutieren bis zum heutigen Tag darüber, ob die Aufforderung zur Vernichtung der Amalekiter ein verschlüsselter Befehl zur Beseitigung der Palästinenser ist. Doch die wollüstige Komponente macht allzu offensichtlich, welche Art von Belohnung einen plündernden Soldaten erwartete. Das finde ich jedenfalls, und das fand auch Thomas Paine, der mit seiner Schrift nicht die Religion widerlegen, sondern den Deismus gegen das Alte Testament in Schutz nehmen wollte. Hier handle es sich, so Paine, um die Anordnung, »die Knaben abzuschlachten, die Mütter zu massakrieren und die Töchter zu schänden«. Diese Bemerkung brachte ihm die verletzte Reaktion eines prominenten Kirchenmannes seiner Zeit ein, des Bischofs von Llandaff. Entrüstet entgegnete der walisische Bischof, aus dem Kontext gehe keineswegs klar hervor, dass die jungen Frauen unmoralischen Zwecken und nicht zum Beispiel unbezahlter Arbeit zugeführt werden sollten. Gegen solch tumbe Unschuld mag jeder Widerspruch herzlos sein, wäre da nicht auch noch die unglaubliche Gleichgültigkeit des Kirchenmannes gegenüber dem Schicksal der Knaben und natürlich ihrer Mütter.
Man könnte das Alte Testament Buch für Buch durchgehen, hier über eine kernige Formulierung stutzen – »Der Mensch erzeugt sich selbst das Unheil«, heißt es im Buch Hiob, »wie Funken hoch emporfliegen« sich dort an einem schönen Vers erfreuen, doch immer wieder wird man den gleichen Schwierigkeiten begegnen. Die Leute werden unwahrscheinlich alt und bekommen immer noch Kinder. Durchschnittsmenschen bestreiten mutterseelenallein einen Kampf oder eine Auseinandersetzung mit Gott oder seinen Abgesandten und werfen damit immer aufs Neue die Frage nach der göttlichen Allmacht oder gar der göttlichen Vernunft auf. Und immer ist der Boden durchtränkt mit dem Blut Unschuldiger. Zudem ist der Kontext bedrückend beschränkt und örtlich begrenzt. Weder diese Provinzler noch ihre Gottheit scheinen eine Ahnung davon zu haben, wie die Welt jenseits der Wüste aussieht, jenseits der kleinen Horden und ihrer Herden und der Erfordernisse ihrer nomadischen Lebensweise. Den einfachen Bauern ist das selbstverständlich nachzusehen, aber was ist mit ihrem höchsten Anführer und zornigen Tyrannen? Vielleicht wurde er nicht als Götzenbild, aber doch nach ihrem Bild geschaffen?