Kapitel 17

Ich dachte, ich wäre in einer Höhle. Denn es fühlte sich an wie eine Höhle: kalt und feucht. Und es hallte so komisch.

Meine Gedanken bewegten sich alles andere als schnell. Doch der Eindruck, dass ich mich irrte, drängte sich mir mit bestürzender Gewissheit ins Bewusstsein. Ich war nicht dort, wo ich sein sollte, und ich sollte nicht sein, wo ich war. In diesem Moment erschienen mir diese beiden Gedanken wie zwei völlig voneinander getrennte und eigenständige Ideen.

Irgendwer hatte mir einen Schlag auf den Kopf versetzt.

Ich dachte darüber nach. Mein Kopf tat nicht weh, genau genommen: Ich fühlte mich eher benebelt, so als hätte ich eine schlimme Erkältung und irgendein starkes Grippemittel eingenommen. Und so folgerte ich (mit all dem Tempo, das eine Schildkröte aufbringen kann), dass ich eher durch einen Zauber als körperlich ausgeknockt worden war. Das Ergebnis war allerdings dasselbe. Ich fühlte mich miserabel und stand Todesängste aus. Dennoch wollte ich wissen, wer mit mir in diesem seltsamen Raum war. Ich nahm all meine Kraft zusammen, zwang mich die Augenlider zu heben, und sah flüchtig ein liebreizendes, aber gleichgültiges Gesicht. Dann fielen mir die Augenlider wieder zu. Sie schienen ein Eigenleben zu führen.

»Sie erwacht«, sagte jemand.

»Gut, dann geht der Spaß los«, erwiderte eine andere Stimme.

Das klang nicht allzu vielversprechend. Der »Spaß« war vermutlich nichts, an dem auch ich meine Freude haben würde.

Vermutlich würde ich sowieso jeden Augenblick gerettet werden, dachte ich, genau zum richtigen Zeitpunkt.

Doch die Kavallerie ritt nicht heran. Ich seufzte und zwang mich noch mal, die Augen zu öffnen. Diesmal blieben die Augenlider oben, und im Schein einer Fackel - einer richtigen Holzfackel, aus der echte Flammen schlugen - musterte ich meine Kidnapper. Einer war ein Elf, der ganz genauso schön war wie Claudines Bruder Claude und ganz genauso charmant - nämlich gar nicht, um genau zu sein. Er hatte dunkles, welliges Haar wie Claude, noble Gesichtszüge wie Claude, einen durchtrainierten Körper wie Claude. Doch sein Gesicht konnte nicht einmal Interesse an mir heucheln. Claude war wenigstens in der Lage, so zu tun als ob, wenn's drauf ankam.

Dann fiel mein Blick auf Kidnapper Zwei: eine Frau, die kein bisschen vertrauenerweckender wirkte. Weil auch sie eine Elfe war, sah sie ebenfalls wunderschön aus. Doch sie schien genauso wenig liebenswürdig oder vergnügt zu sein wie ihr Gefährte. Außerdem trug sie einen Catsuit, oder so was Ähnliches, und sah großartig darin aus - was an sich schon ausreichte, um sie zu hassen.

»Es ist die richtige«, sagte Zwei. »Die Vampirschlampe. Ich fand die mit dem kurzen Haar ja etwas attraktiver.«

»Als ob irgendein Mensch wirklich schön sein könnte«, erwiderte Eins.

Aha, es reichte also nicht, dass ich gekidnappt war, ich musste mir auch noch Beschimpfungen anhören. Obwohl ihre Worte das Letzte auf der Welt waren, worüber ich mir Sorgen machen sollte, loderte Wut in mir auf. Mach nur weiter so, du Miststück, dachte ich. Warte nur, bis mein Urgroßvater dich erwischt.

Hoffentlich hatten sie Amelia und Bubba nichts angetan.

Hoffentlich ging es Bill gut.

Hoffentlich hatte er sich an Eric und meinen Urgroßvater gewandt.

Ziemlich viele Hoffnungen auf einmal. Und weil ich gerade meinen Wunschträumen nachhing, wünschte ich mir auch noch, dass Eric meine große Not und meine sehr reale Angst fühlen möge. Konnte er mich anhand meiner Gefühle aufspüren? Das wäre wunderbar, denn ich barst fast vor Gefühlen. Das hier war das Schlimmste, was mir je zugestoßen war. Als Bill und ich damals Blut getauscht hatten, sagte er mir, dass er nun fähig sei, mich überall zu finden. Hoffentlich hatte er die Wahrheit gesagt, und hoffentlich war diese Fähigkeit mit der Zeit nicht verblasst. Ich war bereit, mich von jedem retten zu lassen, wenn es nur bald geschah.

Kidnapper Eins griff mir unter die Achseln und brachte mich in eine sitzende Position. Jetzt erst bemerkte ich, dass meine Hände taub waren. Ich saß an eine Wand gelehnt da und konnte erkennen, dass ich gar nicht in einer Höhle war. Wir waren in einem verlassenen Haus, einer echten Bruchbude. Im Dach war ein Loch, durch das ich die Sterne sehen konnte. Ein strenger Geruch von Schimmel lag in der Luft, der einem fast den Atem nahm, und darunter waberte noch ein Gestank von verrottendem Holz und Tapeten. Der Raum war völlig leer, bis auf meine Handtasche, die in einer Ecke gelandet war, und einem alten gerahmten Foto, das schief an der Wand hinter den beiden Elfen hing. Das Foto war draußen aufgenommen worden, vermutlich in den 1920er- oder 1930er-Jahren, und zeigte eine Familie Schwarzer, die sich für den großen Anlass des Fotografiert-Werdens extra schick angezogen hatte. Sie sahen aus wie Bauern. Wenigstens war ich immer noch in meiner Welt, dachte ich, wenn auch vielleicht nicht mehr lange.

Weil es mir gelang, lächelte ich Elf Eins und Elfe Zwei an. »Mein Urgroßvater wird euch töten«, stieß ich hervor und brachte es sogar fertig, erfreut darüber zu klingen. »Wartet nur ab.«

Eins lachte und warf sein schwarzes Haar mit der Geste eines Dressman zurück. »Der findet uns nie. Der ergibt sich lieber und tritt ab, als dich auf langsame und schmerzvolle Weise sterben zu sehen. Er liiiiiebt die Menschen ja so.«

»Der hätte schon vor langer Zeit ins Sommerland abtreten sollen«, warf Zwei ein. »Der Umgang mit den Menschen wird uns schneller umbringen als wir sowieso schon aussterben. Breandan will die Elfenwelt versiegeln, dann sind wir in Sicherheit. Niall ist einfach nicht mehr aktuell.«

Herrje, als wäre er ein Auslaufmodell oder so was.

»Ihr habt also einen Boss und seid nicht selbst der Kopf der Operation.« Mir war irgendwie klar, dass ich stark benebelt war, wahrscheinlich infolge des Zaubers, der mich ausgeknockt hatte. Doch selbst die Gewissheit, dass ich nicht ganz bei mir war, hielt mich nicht vom Reden ab - schade eigentlich.

»Wir haben Breandan Treue geschworen«, sagte Eins stolz, als wäre das die Erklärung für alles.

Doch statt den Namen mit dem Erzfeind meines Urgroßvaters in Verbindung zu bringen, sah ich Brandon vor mir, einen früheren Mitschüler, der ein super Footballspieler gewesen war. Er war auf die Louisiana Tech University gegangen und später zur Luftwaffe. »Hat er die Armee wieder verlassen?«

Die beiden starrten mich völlig verständnislos an. Was ich ihnen nicht unbedingt vorwerfen konnte. »Und was sieht der Plan vor?«, fragte ich Eins.

»Wir warten, bis Niall Breandans Forderungen nachkommt«, sagte er. »Und dann wird Breandan die Elfenwelt versiegeln, und wir müssen uns nie wieder mit solchen wie dir abgeben.«

In diesem Augenblick klang das wie ein ganz großartiger Plan, und einen Moment lang stand ich auf Breandans Seite.

»Niall will also nicht, dass das geschieht?«, fragte ich und versuchte, ruhig zu sprechen.

»Nein, er will solche wie dich auch weiterhin besuchen können. Solange Fintan das Wissen um dich und deinen Bruder vor ihm verbarg, verhielt Niall sich völlig normal. Doch als wir Fintan beseitigten -«

»Eins nach dem anderen!«, rief Zwei und lachte.

»Niall konnte sich genug Informationen beschaffen, um dich ausfindig zu machen. Wir aber auch. Und irgendwann haben wir dann sogar das Haus deines Bruders gefunden, vor dem in einem Pick-up ein Geschenk wartete. Und mit diesem Geschenk haben wir uns dann ein wenig amüsiert. Später sind wir deinem Geruch bis zu deiner Arbeit gefolgt und haben die Ehefrau deines Bruders dort zurückgelassen, damit alle ihre Abscheulichkeit sehen konnten. Und jetzt werden wir uns ein wenig mit dir amüsieren. Breandan hat gesagt, wir können mit dir machen, was wir wollen, solange wir dich am Leben lassen.«

Vielleicht erwachte mein träger Geist langsam etwas, denn ich begriff, dass sie die Handlanger des Erzfeindes meines Urgroßvaters waren, meinen Großvater Fintan ermordet und die arme Crystal ans Kreuz geschlagen hatten.

»Das würde ich an eurer Stelle nicht tun«, erwiderte ich ziemlich verzweifelt. »Denn was ist, wenn dieser Breandan schließlich doch nicht bekommt, was er will? Was ist, wenn Niall gewinnt?«

»Das ist höchst unwahrscheinlich«, sagte Elfe Zwei. Sie lächelte. »Wir haben vor, zu gewinnen, und wir haben vor, uns dabei bestens zu amüsieren. Vor allem, weil Niall dich bestimmt sehen will. Er wird einen Beweis dafür wollen, dass du noch am Leben bist, ehe er sich ergibt. Du musst also immer noch atmen können... doch je schrecklicher deine Notlage ist, desto eher wird dieser Krieg vorüber sein.« Sie hatte die längsten und spitzesten Zähne, die ich je gesehen hatte. Und manche waren mit silbrig blitzenden Kappen versehen. Echt gruselig.

Beim Anblick dieser Zähne, dieser schrecklich blitzenden Zähne, fielen die letzten Reste des Zaubers, mit dem diese Elfen mich gebannt hatten, von mir ab - was erst recht schrecklich war.

Denn so war ich in der nächsten Stunde, die die längste meines Lebens wurde, bei vollem Bewusstsein.

Es verstörte mich - und schockierte mich zutiefst -, dass ich derartige Schmerzen aushalten konnte, ohne daran sofort zu sterben.

Und ich wäre froh gewesen, wenn ich hätte sterben dürfen.

Ich wusste eine Menge über die Menschen, da ich jeden Tag ihre Gedanken las, aber ich wusste so gut wie nichts über die Elfenkultur. Aber vermutlich spielten Elf Eins und Elfe Zwei sowieso in einer Liga der Grausamkeit für sich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Urgroßvater gelacht hätte, als ich zu bluten begann. Und ich konnte nur hoffen, dass es ihm keinen Spaß gemacht hätte, einem Menschen mit einem Dolch ins Fleisch zu schneiden, so wie Eins und Zwei es taten.

Ich hatte Bücher gelesen, in denen Menschen unter Folter während ihrer Höllenqualen im Geiste »an einen anderen Ort« gingen. Ich tat mein Bestes, diesen geistigen Ort irgendwo zu finden. Doch ich blieb leider einfach hier in diesem Raum. Ich konzentrierte mich auf die ausdrucksstarken Gesichter der Bauernfamilie auf dem Foto und wünschte nur, es wäre nicht so staubig gewesen, damit ich die Leute besser hätte sehen können. Und wenn das Foto bloß gerade gehangen hätte. Diese gute Familie wäre sicher entsetzt gewesen, wenn sie erfahren hätte, wovon sie hier Zeuge wurde.

In den kurzen Momenten, in denen das Elfenduo mir keine Schmerzen zufügte, konnte ich mir kaum vorstellen, dass ich bei Bewusstsein war und mir das alles wirklich passierte. Ich gab die Hoffnung nicht auf, dass das alles nur ein besonders schrecklicher Albtraum war, aus dem ich erwachen würde ... besser früher als später. Ich hatte in sehr jungen Jahren schon erfahren, dass es Grausamkeit auf der Welt gab - und wer hätte das besser gewusst als ich -, aber dennoch war ich schockiert, dass diese Elfenmonster sich tatsächlich amüsierten. Ich war kein lebendes, empfindendes Wesen für sie, besaß keine Identität. Meine Pläne für mein Leben, die Freuden, die ich zu erleben hoffte, das alles war ihnen vollkommen gleichgültig. Ich hätte ebenso eine Strohpuppe sein können oder ein Frosch, den sie an einem Bach eingefangen hatten.

Doch ich selbst hätte es sogar entsetzlich gefunden, so etwas einer Strohpuppe oder einem Frosch anzutun.

»Ist das nicht die Tochter von denen, die wir ermordet haben?«, fragte Elf Eins Elfe Zwei, während ich schrie.

»Ja, die beiden, die während einer Flut versucht haben, mit dem Auto zu fahren«, sagte Zwei, als würde sie sich an einen großen Spaß erinnern. »Wasser! Obwohl der Mann doch Himmelsblut hatte! Die glaubten, ihr Eisenkäfig würde sie schützen.«

»Die Wasserelfen haben sie sehr gern herabgezogen«, sagte Eins.

Meine Eltern waren also nicht bei einem Unfall gestorben, sondern ermordet worden. Selbst durch all meinen Schmerz hindurch registrierte ich das, auch wenn es mir in diesem Augenblick unmöglich war, irgendein Gefühl zu empfinden.

Ich versuchte, in Gedanken mit Eric zu reden, in der Hoffnung, dass er mich durch unsere Blutsbande finden würde. Ich dachte an den einzigen anderen mir bekannten erwachsenen Telepathen, Barry, und sandte ihm Nachrichten - obwohl ich nur zu gut wusste, dass wir für ein in Gedanken geführtes Gespräch viel zu weit voneinander entfernt waren. Und zu meiner ewigwährenden Schande muss ich gestehen, dass ich gegen Ende dieser Stunde sogar erwog, Kontakt zu meinem kleinen Cousin Hunter aufzunehmen. Ich wusste, dass Hunter nicht nur zu jung war, um mich zu verstehen, sondern dass ich ... dem Kind so etwas einfach nicht antun durfte.

Dann gab ich die Hoffnung auf und wartete auf den Tod.

Während die beiden Elfen Sex miteinander hatten, dachte ich an Sam und daran, wie glücklich ich wäre, wenn ich ihn jetzt sehen könnte. Ich wollte den Namen einer Person aussprechen, die mich liebte, doch meine Stimme war zu heiser vom Schreien.

Ich dachte an Rache. Mit brennendem Verlangen wünschte ich Eins und Zwei den Tod. Ich hoffte, dass irgendeiner meiner Supra-Freunde - Claude und Claudine, Niall, Alcide, Bill, Quinn, Tray, Pam, Eric, Calvin, Jason - diesen beiden hier die Gliedmaße einzeln ausreißen würde. Und vielleicht könnten die Elfen unter ihnen ganz genauso viel Zeit darauf verwenden wie diese beiden auf mich.

Eins und Zwei hatten gesagt, dass Breandan mich lebend wollte. Doch man musste keine Gedanken lesen können, um zu erkennen, dass sie sich wohl nicht beherrschen konnten. Sie ließen sich einfach fortreißen von ihrem Vergnügen, so wie schon bei meinen Eltern und Crystal, und es bestand keine Aussicht auf Regeneration mehr für mich.

Jetzt war ich absolut sicher, dass ich sterben musste.

Ich begann zu halluzinieren. Ich sah Bill, was überhaupt keinen Sinn ergab. Er stand wahrscheinlich hinter meinem Haus und wunderte sich, wo ich abgeblieben war. Er war in einer Welt, die Sinn ergab. Aber ich hätte schwören mögen, dass ich ihn hinter diesen Kreaturen, die sich gerade mit einem Paar Rasierklingen vergnügten, heranschleichen sah. Er hatte den Finger über den Mund gelegt, als wollte er mich auffordern, zu schweigen. Und weil er sowieso nicht dort stand und meine Kehle viel zu heiser war zum Schreien (ich konnte nicht mal mehr anständig schreien), fiel mir das nicht schwer. Ein schwarzer Schatten folgte ihm, ein Schatten, den eine helle Flamme krönte.

Elfe Zwei stach mich mit einem scharfen Dolch, den sie gerade aus ihrem Stiefelschaft gezogen hatte, ein Dolch, der blitzte wie ihre Zähne. Sie beugten sich beide über mich, um keine meiner Reaktionen zu versäumen. Ich konnte nur einen krächzenden Laut von mir geben. Mein Gesicht war tränen- und blutverkrustet.

»Sie quakt wie ein kleiner Frosch«, sagte Eins.

»Hör sie dir an. Quake, kleiner Frosch. Quake für uns.«

Ich öffnete die Lider und sah ihnen direkt in die Augen, zum ersten Mal seit ziemlich langer Zeit. Dann schluckte ich und nahm all meine verbliebenen Kräfte zusammen.

»Ihr sterbt«, krächzte ich mit absoluter Gewissheit. Doch das hatte ich zuvor schon gesagt, und sie schenkten meinen Worten diesmal nicht mehr Aufmerksamkeit als beim ersten Mal.

Ich zwang mich, die Mundwinkel zu einem Lächeln zu heben.

Dem Elf blieb gerade noch Zeit genug, entsetzt die Miene zu verziehen, ehe etwas Gleißendes ihm zwischen Kopf und Schultern fuhr. Und dann brach er zu meiner unermesslichen Freude in zwei Teile auseinander und ein Schwall frischen, roten Blutes ergoss sich über mich. Es regnete auf mich herab und weichte sogar die Blutkrusten wieder auf, die meine Haut bedeckten. Doch mein Blick blieb klar, und ich konnte sehen, wie eine bleiche Hand Elfe Zwei am Nacken packte und herumwirbelte. Und vor allem ihr Entsetzen, als sich weiß funkelnde Zähne, die fast genauso spitz waren wie ihre eigenen, in ihren langen Hals gruben, bereitete mir größte Genugtuung.