Kapitel 8
Ich war wütend auf fast alle, als ich an diesem Abend nach Hause fuhr. Gelegentlich hatte ich solche Phasen, aber das ging vermutlich jedem so. Es musste etwas Hormonelles oder sonst irgendetwas periodisch Auftretendes sein. Vielleicht lag's aber auch nur an der zufälligen Sternenkonstellation.
Ich war wütend auf Jason, weil ich schon seit Monaten wütend auf ihn war. Ich war wütend auf Sam, weil ich mich irgendwie verletzt fühlte. Ich war stocksauer auf die FBI-Agenten, die hierhergekommen waren, weil sie Druck auf mich ausüben wollten - auch wenn sie es bislang noch nicht getan hatten. Ich war empört über Erics Trick mit dem Dolch und die Arroganz, mit der er Quinn aus seinem Bezirk verbannt hatte. Okay, zugegeben, Eric hatte recht damit, dass ich selbst Quinn schon vorher abgewiesen hatte. Aber das hieß ja nicht, dass ich ihn nie wiedersehen wollte. (Oder doch?) Auf jeden Fall hieß es nicht, dass Eric mir diktieren konnte, mit wem ich mich traf und mit wem nicht.
Und vermutlich war ich sogar wütend auf mich selbst, weil ich wie eine verliebte Närrin seinen Erinnerungen gelauscht hatte, statt die Gelegenheit zu ergreifen und Eric endlich auf alle möglichen Dinge anzusprechen. Wie die Rückblenden in ›Lost‹ hatten sich Erics Wikingererinnerungen in den Fluss der aktuellen Ereignisse geschoben.
Und um meine Wut noch zu steigern, stand ein Wagen vor meinem Haus. Dort parkten nur Besucher. Stirnrunzelnd und ziemlich entnervt stieg ich die Verandastufen zur Hintertür hinauf. Ich wollte keinen Besuch. Ich wollte mir bloß noch den Schlafanzug anziehen, das Gesicht waschen und mich mit einem Buch ins Bett verkriechen.
Am Küchentisch saßen Octavia und ein Mann, den ich nicht kannte. Er war einer der schwärzesten Schwarzen, die ich je gesehen hatte, und sein Gesicht war rund um die Augen mit Tätowierungen verziert. Aber trotz dieser furchterregenden Aufmachung wirkte er ruhig und freundlich. Er stand sogar auf, als ich eintrat.
»Sookie«, sagte Octavia mit bebender Stimme, »das ist mein Freund Louis.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Ich hielt ihm die Hand hin, und er schüttelte sie mit sanftem Druck. Dann setzte ich mich, damit auch er wieder Platz nehmen konnte. Erst da sah ich die Koffer, die in der Diele standen. »Octavia?«, fragte ich und zeigte darauf.
»Nun, Sookie, sogar im Leben von uns alten Ladys gibt es noch die Liebe.« Octavia lächelte. »Louis und ich waren vor Katrina eng befreundet. Er wohnte in New Orleans ungefähr zehn Autominuten entfernt von mir. Nach dem Hurrikan habe ich verzweifelt nach ihm gesucht. Doch irgendwann gab ich auf.«
»Ich habe sehr lange versucht, Octavia zu finden«, sagte Louis, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Und vor zwei Tagen habe ich endlich ihre Nichte ausfindig gemacht, und ihre Nichte gab mir die Telefonnummer dieses Hauses hier. Ich konnte es gar nicht fassen, dass ich sie tatsächlich gefunden hatte.«
»Stand Ihr Haus noch nach ...?« Nach der Katastrophe, dem Unheil, der Apokalypse - welches Wort man auch wählte, sie passten alle.
»Ja, gelobt seien die Götter. Und ich habe sogar Strom. Es ist noch viel zu tun, aber ich habe Licht und Heizung. Und Kochen kann ich auch wieder. Mein Kühlschrank brummt, die Straße ist fast freigeräumt, und mein Dach habe ich selbst wieder gedeckt. Octavia kann zu mir nach Hause kommen, es ist alles bereit für sie.«
»Sookie«, begann Octavia sehr sanft, »es war so lieb von dir, mich hier wohnen zu lassen. Aber ich möchte bei Louis sein, und ich muss zurück nach New Orleans. Dort kann ich bestimmt irgendwie beim Wiederaufbau der Stadt helfen. Es ist mein Zuhause.«
Octavia hatte offenbar das Gefühl, dass sie mir einen herben Schlag versetzte. Und so versuchte ich, angemessen betroffen zu wirken. »Du musst tun, was für dich das Beste ist, Octavia. Ich fand es wunderbar, dich hier zu haben.« Ich war ja so dankbar, dass Octavia nicht Gedanken lesen konnte. »Ist Amelia zu Hause?«
»Ja, sie ist oben und holt etwas. Die Gute hat doch tatsächlich ein Abschiedsgeschenk für mich.«
»Ohhh«, flötete ich und versuchte, nicht allzu sehr zu übertreiben. Louis warf mir einen scharfen Blick zu. Aber Octavia strahlte mich an, wie ich sie noch nie zuvor hatte strahlen sehen. Ein Gesichtsausdruck, der mir sehr gefiel an ihr.
»Ich bin nur froh, dass ich dir so eine Hilfe war«, sagte sie und nickte vielsagend.
Es fiel mir zunehmend schwerer, meine leicht traurige, aber dennoch tapfere Miene aufrechtzuerhalten, doch es gelang mir. Und zum Glück kam in diesem Moment Amelia die Treppe heruntergelaufen, mit einem Umschlag in den Händen, den sie mit einem zur Schleife gebundenen zarten roten Schal umwickelt hatte. Ohne mich anzusehen, ging Amelia auf Octavia zu. »Hier ist ein kleines Geschenk von Sookie und mir. Ich hoffe, es gefällt dir.«
»Oh, wie lieb. Ach, es tut mir so leid, dass ich je an deinen Zauberkünsten gezweifelt habe, Amelia. Du bist eine hervorragende Hexe.«
»Octavia, das aus deinem Mund zu hören, bedeutet mir wirklich sehr viel!« Amelia war ehrlich gerührt und den Tränen nahe.
Und dann brachen Louis und Octavia auf, Gott sei Dank. Ich mochte und achtete die ältere Hexe, doch sie war auch immer wieder mal der Stolperstein im sonst so glatten Ablauf unseres Haushalts gewesen.
Ich stieß tatsächlich einen erleichterten Stoßseufzer aus, als endlich die Tür hinter Octavia und ihrem Freund ins Schloss fiel. Wir hatten uns alle ein ums andere Mal voneinander verabschiedet, und Octavia hatte uns beiden wiederholt für Verschiedenstes gedankt, natürlich nicht, ohne uns auch immer wieder an alle möglichen mysteriösen Dinge zu erinnern, die sie für uns getan hatte und an die wir uns gar nicht erinnern konnten.
»Der Himmel sei gepriesen«, stöhnte Amelia und sank auf die Treppenstufen. Sie war nicht religiös, oder zumindest nicht im traditionellen christlichen Sinne, so dass allein schon diese Worte aus ihrem Munde einiges bedeuteten.
Ich sackte in eine Sofaecke. »Herrje«, stöhnte ich, »die beiden leben hoffentlich glücklich miteinander bis an ihr Ende.«
»Oh, meinst du, wir hätten Louis noch irgendwie überprüfen sollen?«
»Eine so machtvolle Hexe wie Octavia dürfte wohl auf sich selbst aufpassen können.«
»Auch wieder richtig. Aber hast du diese Tätowierungen gesehen?«
»Die waren echt beeindruckend, was? Vermutlich ist er so eine Art Hexenmeister.«
Amelia nickte. »Ja, ich glaube, er praktiziert irgendeine Form afrikanischer Magie«, sagte sie. »Wir müssen uns sicher keine Sorgen machen, dass Octavia und Louis unter der hohen Kriminalitätsrate in New Orleans leiden werden. Die beiden werden von niemandem überfallen.«
»Was haben wir ihr eigentlich geschenkt?«
»Ich habe meinen Dad angerufen, und er hat mir einen Geschenkgutschein für einen seiner Baumärkte gefaxt.«
»Hey, gute Idee. Was schulde ich dir dafür?«
»Keinen Cent. Er hat darauf bestanden, die Kosten zu übernehmen.«
Na, immerhin hatte dieses glückliche Ereignis meine allumfassende Wut abgekühlt. Und ich fühlte mich auch Amelia wieder verbundener, jetzt, da ich ihr nicht mehr unterschwellig verübelte, dass sie mir Octavia ins Haus gebracht hatte. Wir saßen noch über eine Stunde in der Küche und plauderten, ehe ich schlafen ging, auch wenn ich zu erledigt war, um all die Geschehnisse der letzten Zeit ausführlich zu erzählen. Doch als wir in unsere Zimmer gingen, waren wir so gute Freundinnen wie schon lange nicht mehr.
Während ich mich bettfertig machte, dachte ich an unser praktisches Geschenk für Octavia, und das erinnerte mich an den Briefumschlag, den Bobby Burnham mir ausgehändigt hatte. Ich holte ihn aus der Handtasche und riss mit dem Fingernagel den Falz auf. Als ich die Karte aufklappte, lag darin ein Foto, das ich noch nie gesehen hatte. Offenbar war es auch während Erics Fotoshooting für den Vampir-Kalender gemacht worden, den man in dem kleinen Geschenkeshop des Fangtasia kaufen konnte. Auf dem Kalenderfoto posierte Eric als Mr Januar mit nichts als einer weißen Pelzrobe neben einem zerwühlten Bett vor hellgrauem Hintergrund, vor dem riesige, glitzernde Schneeflocken herabfielen. Ein Knie angewinkelt auf dem Bett, den Fuß des anderen Beins auf dem Boden stand er aufrecht da und zog sich die aufs Bett geworfene Pelzrobe gerade weit genug heran, um sein bestes Stück zu verdecken. Auf dem Foto, das Eric mir heute geschickt hatte, stand er ungefähr in der gleichen Pose da, nur dass er dem Betrachter eine Hand entgegenstreckte, als wollte er ihn zu sich ins Bett locken. Und die weiße Pelzrobe verdeckte auch nicht mehr wirklich alles. »Ich warte auf die Nacht, in der du zu mir kommst«, hatte er in seiner engen Handschrift auf die sonst leere Karte geschrieben.
Etwas zu kitschig? Ja. Verführerisch? Oh, und wie. Ich spürte geradezu, wie mein Blut zu brodeln begann. Blöd nur, dass ich den Umschlag direkt vor dem Schlafengehen geöffnet hatte. Es dauerte definitiv sehr viel länger, bis ich an diesem Abend endlich eingeschlafen war.
Es war schon komisch, Octavia am nächsten Morgen nicht im Haus herumwuseln zu hören. Tja, sie war aus meinem Leben genauso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Blieb nur zu hoffen, dass Octavia und Amelia in dieser gemeinsamen Zeit auch mal über Amelias Stand im Hexenzirkel von New Orleans - oder dem, was davon übrig war - geredet hatten. Kaum zu glauben, dass Amelia tatsächlich einen jungen Mann in einen Kater verhext hatte (bei irgendeinem abenteuerlichen Sexspielchen), dachte ich, als ich meine Mitbewohnerin auf dem Weg in die Versicherungsagentur aus der Hintertür eilen sah. In ihrer marineblauen Hose und dem braun-marineblau gestreiften Pullover wirkte sie wie eine Pfadfinderin, die für einen guten Zweck Kekse verkaufen ging. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Heute Morgen war ich allein im Haus, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Aber der Friede währte nicht lange. Ich trank gerade meinen zweiten Becher Kaffee und aß einen Butterkeks, als Andy Bellefleur und Spezialagent Tom Lattesta vor dem Haus auftauchten. Hastig zog ich irgendeine Jeans über und ein T-Shirt, ehe ich an die Tür ging.
»Andy, Mr Lattesta«, sagte ich. »Kommen Sie doch herein.« Ich führte sie in die Küche, denn auf meinen Kaffee wollte ich ihretwegen nicht verzichten. »Möchten Sie auch eine Tasse?«, fragte ich, doch sie schüttelten beide den Kopf.
»Sookie«, begann Andy mit ernster Miene, »wir sind wegen Crystal hier.«
»Natürlich.« Ich biss von meinem Butterkeks ab, kaute bedächtig und schluckte. Nanu, war Lattesta etwa auf Diät, fragte ich mich, er folgte ja jeder meiner Bewegungen. Da musste ich mir gleich mal seine Gedanken ansehen. Aha, ihm gefiel nicht, dass ich keinen BH trug, denn meine Brüste lenkten ihn ab. Allerdings war ich sowieso etwas zu kurvig für seinen Geschmack. Er fand, dass er sich solche Gedanken besser gar nicht über mich machen sollte. Und er vermisste seine Ehefrau. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Andy und fügte hinzu: »Ich habe mir schon gedacht, dass das erst mal wichtiger ist als die andere Sache.«
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Andy wusste - oder wie viel Lattesta ihm erzählt hatte - von den Ereignissen in Rhodes. Doch Andy nickte. »Wir nehmen an«, begann er nach einem Blickwechsel mit Lattesta, »dass Crystal irgendwann nachts zwischen ein und drei Uhr früh gestorben ist.«
»Natürlich«, wiederholte ich.
»Das wussten Sie?« Lattesta nahm sofort seine Fährte auf, wie ein Spürhund.
»Liegt doch nahe. Irgendwelche Gäste sind immer bis eins oder zwei im Merlotte's, und zwischen sechs und acht Uhr morgens kommt dann normalerweise Terry zum Saubermachen. An dem Morgen war er allerdings nicht so früh dran, weil er den Abend vorher hinterm Tresen gestanden hatte und Schlaf brauchte. Aber daran hätten die meisten Leute wohl nicht gedacht, oder?«
»Richtig«, erwiderte Andy nach einer merklichen Pause.
»Na dann.« Ich hatte gesagt, was ich zu sagen hatte, und schenkte mir Kaffee nach.
»Wie gut kennst du Tray Dawson?«, fragte Andy.
Das war eine vieldeutige Frage. Die ehrliche Antwort lautete: »Nicht so gut, wie du denkst.« Ich hatte mal mit Tray Dawson in einer kleinen Gasse festgesessen und er war nackt gewesen, doch es war nicht so, wie die Leute dachten. (Ich hatte natürlich mitbekommen, dass sie sich so einiges dachten.) »Er ist mit Amelia zusammen«, sagte ich, was ja der Wahrheit entsprach. »Mit meiner Mitbewohnerin«, half ich Lattesta auf die Sprünge, der verständnislos dreinsah. »Sie haben sie vor zwei Tagen hier getroffen. Im Moment ist sie in der Arbeit. Ach ja, und Tray ist ein Werwolf.«
Lattesta blinzelte. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er sich daran gewöhnt hatte, dass die Menschen so etwas mit völlig ernstem Gesichtsausdruck einfach so aussprachen. Andy dagegen verzog keine Miene.
»Okay«, sagte Andy. »Ist Amelia mit Tray ausgegangen an dem Abend vor Crystals Tod?«
»Das weiß ich nicht mehr. Frag sie.«
»Werde ich tun. Hat Tray sich dir gegenüber je über deine Schwägerin geäußert?«
»Nicht, dass ich wüsste. Sie kannten sich natürlich, flüchtig zumindest, da sie beide Gestaltwandler waren.«
»Wie lange weißt du eigentlich schon von ... von den Werwölfen? Und den anderen Gestaltwandlern?«, fragte Andy, als könnte er sich diese Frage einfach nicht verkneifen.
»Oh, eine Weile«, erwiderte ich. »Zuerst wusste ich von Sam, und dann auch von ein paar anderen.«
»Und du hast keinem davon erzählt?«, fragte Andy ungläubig.
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Die Leute halten mich auch so schon für verrückt genug. Außerdem war es nicht meine Sache, das Geheimnis zu lüften. Und, Andy -« Jetzt konnte ich ihm mal einen dieser Blicke zuwerfen. »Du hast es doch auch gewusst.« Denn zumindest in jener Nacht, als wir in der kleinen Gasse von einer Werwolf-Hasserin angegriffen worden waren, hatte Andy Tray in seiner Tiergestalt heulen gehört und danach als nackten Menschen daliegen sehen. Er musste nur noch die einzelnen Punkte Strich um Strich miteinander verbinden, um das Bild eines Werwolfs zu erhalten.
Andy sah auf den Notizblock, den er aus der Hosentasche gezogen hatte. Er schrieb nichts auf, sondern holte einmal tief Luft. »Tray hatte sich also gerade zurückverwandelt, als ich ihn damals in dieser Gasse sah? Freut mich, das zu hören. Ich habe dich nie für eine dieser Frauen gehalten, die in aller Öffentlichkeit Sex mit Männern haben, die sie kaum kennen.« (Na, so eine Überraschung; ich hatte Andy immer für einen dieser Männer gehalten, die jedes üble Gerücht über mich glaubten.) »Und was war mit diesem Bluthund, den du dabei hattest?«
»Das war Sam.« Ich stand vom Küchentisch auf, um meinen Kaffeebecher auszuspülen.
»Aber im Merlotte's hat er sich doch in einen Collie verwandelt.«
»Collies sind süß«, sagte ich. »Er dachte wohl, damit könnten die Leute am meisten anfangen. Und es ist seine liebste Tiergestalt.«
Lattesta verdrehte entnervt die Augen. Er war einer dieser leicht reizbaren Menschen. »Kommen wir zurück zum Thema.«
»Das Alibi deines Bruders scheint zu stimmen«, erzählte Andy. »Wir haben zwei-, dreimal mit Jason gesprochen, und zweimal mit Michele Schubert, und sie beharrt darauf, dass sie die ganze Nacht mit Jason verbracht hat. Sie hat uns sogar in allen Einzelheiten geschildert, was sie in dieser Nacht getrieben haben.« Andy lächelte leicht schief. »In zu vielen Einzelheiten.«
Tja, so war Michele, immer freimütig und geradeheraus. Und ihre Mutter war genauso. Als ich in den Sommerferien mal in der Bibelschule war, unterrichtete Mrs Schubert meine Altersklasse. »Sagt die Wahrheit und beschämt den Teufel«, lehrte sie uns. Michele hatte sich diesen Rat wahrlich zu Herzen genommen, wenn auch vielleicht nicht ganz so, wie ihre Mutter es gemeint hatte.
»Ich bin froh, dass du ihr glaubst«, sagte ich.
»Wir haben auch mit Calvin gesprochen.« Andy stützte sich auf den Ellenbogen. »Er hat uns über die Hintergründe von Crystals Affäre mit Dove aufgeklärt. Laut Calvin wusste Jason davon.«
»Stimmt.« Ich presste die Lippen aufeinander, denn mehr würde ich dazu nicht sagen, wenn ich es verhindern konnte.
»Und wir haben mit Dove gesprochen.«
»Natürlich.«
»Dove Beck«, las Lattesta von seinem eigenen Notizblock ab. »Sechsundzwanzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder.«
Da ich all das schon wusste, gab's dazu nichts zu sagen.
»Sein Cousin Alcee bestand darauf, bei dem Gespräch dabei zu sein«, fuhr Lattesta fort. »Dove behauptet, er sei den ganzen Abend zu Hause gewesen, und seine Frau bestätigt diese Aussage.«
»Ich glaube nicht, dass Dove es getan hat«, erwiderte ich, und die beiden sahen mich verdutzt an.
»Aber du selbst hast uns doch den Hinweis gegeben, dass Crystal eine Affäre mit Dove hatte«, warf Andy ein.
Ich wurde rot und wäre am liebsten im Boden versunken. »Tut mir leid, das hätte ich besser bleiben lassen. Aber ich konnte es nicht ertragen, dass alle auf Jason starrten, als wäre er auf jeden Fall der Mörder. Ich bin sicher, dass er es nicht getan hat. Und ich glaube auch nicht, dass Dove Crystal umgebracht hat. Sie war ihm einfach nicht wichtig genug, um ihr so was anzutun.«
»Aber vielleicht hat sie seine Ehe zerstört?«
»Trotzdem, so was würde er nicht tun. Dove wäre auf sich selbst sauer, nicht auf Crystal. Und sie war schwanger. Dove würde nie eine Schwangere töten.«
»Wie kannst du da so sicher sein?«, fragte Andy.
Weil ich seine Gedanken lesen kann und weiß, dass er unschuldig ist, dachte ich. Aber nicht ich, sondern die Vampire und die Wergeschöpfe waren an die Öffentlichkeit getreten. Schließlich war ich keine Supra. Ich war nur eine Spielart der menschlichen Natur. »So etwas traue ich Dove nicht zu«, sagte ich stattdessen. »Der Typ ist er einfach nicht.«
»Und das sollen wir als Beweis akzeptieren?«, fragte Lattesta.
»Es ist mir egal, was Sie damit machen«, sagte ich und konnte mir gerade noch verkneifen, ihm zu erklären, was genau er tun könnte. »Sie haben mir Fragen gestellt, und ich habe sie beantwortet.«
»Sie halten es also für ein Verbrechen aus Hass und Vorurteilen?«
Jetzt senkte ich meinen Blick auf die Tischplatte. Ich hatte zwar keinen Notizblock, von dem ich ablesen konnte, doch ich wollte mir gut überlegen, was ich sagte. »Ja«, begann ich schließlich. »Ich glaube, es war ein Verbrechen aus Hass und Vorurteilen. Auch wenn ich nicht weiß, ob es aus persönlichem Hass geschah, weil Crystal so eine Schlampe war ... oder aus rassistischem Vorurteil, weil sie zu den Werpanthern gehörte.« Ich zuckte die Achseln. »Falls ich was höre, werde ich es Ihnen sagen. Ich will, dass dieser Mord aufgeklärt wird.«
»Könnten Sie denn irgendwo was hören? Im Merlotte's?«, hakte Lattesta mit lebhaftem Interesse nach. Endlich mal ein Mann, der kein Supra war und mich als höchst wertvoll einschätzte. Pech nur, dass er verheiratet war und mich für eine Verrückte hielt.
»Ja«, sagte ich. »Im Merlotte's könnte ich was hören.«
Danach gingen die beiden, worüber ich mehr als froh war, denn heute war mein freier Tag. Eigentlich hätte ich zur Abwechslung mal etwas Besonderes unternehmen sollen, zumal ich in letzter Zeit so viele Schwierigkeiten hatte. Doch mir fiel nichts ein. Ich schaltete den Wetterkanal ein und sah, dass die Höchsttemperaturen heute um die 20 Grad liegen sollten. Damit war der Winter offiziell vorbei, beschloss ich, auch wenn erst Januar war. Es würde sicher noch wieder kälter werden, aber diesen Tag wollte ich nutzen.
Ich holte meine alte Liege aus dem Schuppen und stellte sie in den Garten. Mein Haar band ich zurück und zog es noch einmal halb durchs Haargummi, damit es nicht im Pferdeschwanz herunterhing. Dann zog ich meinen kleinsten Bikini an, den hellorange-türkis gemusterten, rieb mich mit Sonnencreme ein, schnappte mir ein Radio und das Buch, das ich gerade las, und ging mit einem Handtuch hinaus in den Garten. Ja, es war kühl. Ja, ich kriegte eine Gänsehaut, als Wind aufkam. Aber diesen Tag strich ich mir immer rot im Kalender an: den Tag, an dem ich mein erstes Sonnenbad im Jahr nahm. Und ich wollte diesen Tag genießen. Ich hatte ihn bitter nötig.
Jedes Jahr wieder dachte ich über all die Gründe nach, warum ich mich nicht in die Sonne legen sollte. Und jedes Jahr wieder zählte ich all meine Tugenden auf: Ich trank nicht, ich rauchte nicht, und ich hatte sehr selten Sex, obwohl ich gewillt war, das zu ändern. Ich liebte die Sonne nun mal, und es war ein klarer wolkenloser Tag heute. Okay, früher oder später würde ich dafür zahlen müssen, aber es war und blieb eben einfach meine Schwäche. Ob mir mein Elfenblut vielleicht den möglichen Hautkrebs ersparen würde? Nein, meine Tante Linda war an Krebs gestorben, und sie hatte noch viel mehr Elfenblut gehabt als ich. Hm ... ach, zum Teufel damit.
Ich legte mich auf den Rücken und schloss die Augen, die ich noch mit einer dunklen Sonnenbrille vor dem grellen Licht schützte. Selig seufzend lag ich da und ignorierte die Tatsache einfach, dass es doch ein wenig zu kalt war. Ich verbannte so einiges sorgfältig aus meinen Gedanken: Crystal, mysteriöse, bösartige Elfen, das FBI. Nach einer Viertelstunde drehte ich mich auf den Bauch und sang hin und wieder die Songs des Country-und-Western-Senders aus Shreveport mit, weil keiner da war und mich hören konnte. Es klang einfach schrecklich, wenn ich sang.
»Was-machn-Sie-'n-da?«, ratterte plötzlich eine Stimme an meinem Ohr.
Mich hatte es vorher noch nie in die Höhe gerissen, doch diesmal schwebte ich buchstäblich zehn Zentimeter über der Liege. Und ich kreischte natürlich wie verrückt.
»Jesus Christus, Hirte von Judäa«, keuchte ich, als ich schließlich erkannte, dass es die Stimme von Diantha war, der Halbdämonin und Nichte des Rechtsanwalts Cataliades. »Diantha, Sie haben mich fast zu Tode erschreckt.«
Diantha lachte lautlos, und ihr schmaler, dürrer Körper bebte geradezu. Mit überkreuzten Beinen saß sie auf dem Rasen, in knielangen roten Lycra-Laufhosen und einem grün-schwarz gemusterten T-Shirt. Knallrote Converse und gelbe Socken vervollkommneten das Ensemble. Und sie hatte eine frische Narbe, eine lange, wulstig rote, die sich über die ganze linke Wade zog.
»Explosion«, sagte sie nur, als sie sah, dass mein Blick darauf ruhte. Diantha hatte auch die Haarfarbe gewechselt; sie war jetzt schimmernd platinblond. Doch die Narbe sah so schlimm aus, dass sie all meine Aufmerksamkeit fesselte.
»Wie geht's?«, fragte ich. Man verfiel im Gespräch mit Diantha ziemlich schnell in eine knappe Sprechweise, denn sie redete meist nur im Telegrammstil.
»Besser«, sagte sie und warf selbst einen Blick auf ihre Narbe, ehe sie mich mit ihren seltsamen grünen Augen direkt ansah. »Mein Onkel schickt mich.« Das musste die Ouvertüre der Nachricht sein, die sie überbringen sollte, dachte ich, weil sie die Wörter so langsam und deutlich ausgesprochen hatte.
»Was will Ihr Onkel mir mitteilen?« Ich lag noch immer auf dem Bauch da, aufgestützt auf die Ellenbogen. Mein Atem hatte sich inzwischen wieder beruhigt.
»Er sagt, die Elfen schweifen in dieser Welt umher, und Sie müssen vorsichtig sein. Er sagt, sie werden sich Ihrer bemächtigen, wenn sie können, und Ihnen wehtun.« Diantha blinzelte mich an.
»Aber warum denn?« Mein vergnüglicher Tag in der Sonne verpuffte gerade, als hätte es ihn nie gegeben. Mir wurde kalt, und nervös warf ich einen Blick durch den Garten.
»Ihr Urgroßvater hat viele Feinde«, sagte Diantha langsam und sorgfältig.
»Diantha, wissen Sie, warum er so viele Feinde hat?« Das war eine Frage, die ich meinem Urgroßvater so direkt nicht stellen konnte, oder zumindest hatte ich den Mut dazu noch nicht aufgebracht.
Diantha musterte mich spöttisch. »Die sind auf der einen Seite und er ist auf der anderen«, sagte sie, als wäre ich etwas zurückgeblieben. »Die-ham-Ihrn-Großvater-erledigt.«
»Die... diese anderen Elfen haben meinen Großvater Fintan getötet?«
Sie nickte heftig. »Er-hat's-also-nich-erzählt.«
»Niall? Er hat nur gesagt, dass sein Sohn gestorben sei.«
Diantha brach in schrilles Gelächter aus. »Kann-man-so-sagn«, rief sie und krümmte sich schier vor Lachen. »Die-ham-ihn-zerhackt!« Ausgelassen vor Vergnügen schlug sie mir die Hand auf den Arm. Ich zuckte zusammen.
»Entschuldigung!« rief sie. »'tschuldigung-'tschuldigung-'tschuldigung!«
»Schon gut, ist ja gleich wieder vorbei.« Ich rieb meinen Arm kräftig, damit ich ihn wieder spürte. Wie schützte man sich eigentlich, wenn marodierende Elfen hinter einem her waren?
»Vor wem genau sollte ich denn Angst haben?«, fragte ich.
»Breandan«, sagte Diantha. »Das-heißt-irgndwas, hab's-vergessn.«
»Ach. Und ›Niall‹, heißt das auch etwas?« Ja, so war ich, immer leicht abzulenken.
»Wolke«, sagte Diantha, jetzt wieder deutlicher. »Nialls Leute haben alle Himmelsnamen.«
»Aha. Ein Breandan ist also hinter mir her. Aber wer ist das?«
Diantha blinzelte. Dies war ein sehr langes Gespräch für ihre Verhältnisse. »Der Feind Ihres Urgroßvaters«, erklärte sie wieder so langsam, als sei ich völlig unterbelichtet. »Der einzige andere Elfenprinz.«
»Und warum hat Mr Cataliades Sie geschickt?«
»Sie-ham-Ihr-Bestes-getan«, sagte sie, jetzt wieder in einem einzigen Atemzug. Mit weit aufgerissenen grünen Augen sah sie mich an, nickte dann und tätschelte mir sehr sanft die Hand.
Ich hatte wirklich mein Bestes getan, um alle lebend aus der Pyramide zu retten. Aber es hatte nicht funktioniert. Es tat gut zu hören, dass der Rechtsanwalt meine Bemühungen würdigte. Ich war eine Woche wütend auf mich selbst gewesen, weil ich die Verschwörung zu diesem Bombenattentat nicht früher aufgedeckt hatte. Wäre ich aufmerksamer gewesen und hätte mich nicht so sehr von all den anderen Dingen ablenken lassen...
»Und-Sie-bekomm-auch-Ihr-Geld.«
»Oh, prima!« Trotz meiner wachsenden Sorgen über Dianthas andere Nachricht stieg meine Laune sofort. »Haben Sie einen Brief oder so etwas für mich dabei?«, fragte ich, weil ich noch Konkreteres zu erfahren hoffte.
Doch Diantha schüttelte den Kopf, und ihr zu Igelstacheln gegeltes platinblondes Haar umzitterte ihr Haupt so sehr, dass sie aussah wie ein wildgewordenes Stachelschwein. »Mein Onkel muss neutral bleiben«, sagte sie sehr deutlich. »Nix-Schriftliches-kein-Anruf-keine-Mails. Deshalb hat er mich geschickt.«
Cataliades hatte also tatsächlich seinen Kopf riskiert für mich. Nein, er hatte Dianthas Kopf riskiert. »Und was, wenn die Elfen Sie erwischen, Diantha?«
Sie zuckte die knochigen Achseln und sagte mit trauriger Miene: »Kämpfn-bis-zuletzt.« Die Gedanken der Dämonen sind nicht so leicht zu lesen wie die der Menschen, aber jeder Dummkopf konnte erkennen, dass Diantha jetzt gerade an ihre Schwester Gladiola dachte, die durch den Schwerthieb eines Vampirs gestorben war. Doch schon im nächsten Moment wirkte Diantha wieder lebensgefährlich und rief: »Abfackeln!«
Ich setzte mich auf und hob fragend die Augenbrauen, denn ich verstand nicht.
Diantha hob eine Hand, drehte sie herum und starrte auf die Handfläche. Und plötzlich schwebte eine winzige Flamme darüber.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie so was können.« Ich war wirklich schwer beeindruckt. Unbedingt immer freundlich sein zu Diantha, ermahnte ich mich.
»Kleinkram«, erwiderte Diantha achselzuckend, was wohl heißen sollte, dass sie keine großen, sondern nur kleine Flammen entzünden konnte. Gladiola musste von dem Vampir, der sie getötet hatte, vollkommen überrascht worden sein, denn Vampire waren leicht entflammbar, viel leichter als Menschen jedenfalls.
»Brennen Elfen genauso schnell wie Vampire?«
Diantha schüttelte den Kopf. »Aber-alles-brennt«, fügte sie dann in bestimmtem, ernstem Ton hinzu. »Früher-oder-später.«
Ich unterdrückte ein Schaudern. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken oder vielleicht zu essen anbieten?«
»Nee.« Sie stand auf und klopfte ihr grell leuchtendes Outfit ab. »Muss-los.« Zum Abschied strich sie mir einmal sachte über den Kopf. Dann drehte sie sich herum, und weg war sie. Diantha rannte schneller als jedes Rotwild.
Ich legte mich wieder hin. Über all das musste ich erst mal nachdenken. Jetzt hatte mich nicht nur Niall, sondern auch noch Mr Cataliades gewarnt. So langsam bekam ich es wirklich und wahrhaftig mit der Angst zu tun.
Die Warnungen kamen zwar frühzeitig, enthielten jedoch überhaupt keinen Hinweis darauf, wie ich mich gegen eine solche Gefahr schützen sollte. Sie könnte zu jeder Zeit und an jedem Ort auftreten, soweit ich verstanden hatte. Okay, die feindlichen Elfen würden sicher nicht ins Merlotte's stürmen, um mich dort herauszuzerren. Dazu machten sie ein zu großes Geheimnis um sich. Aber ansonsten hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie sie mich angreifen könnten oder wie ich mich wehren sollte. Hielten verschlossene Haustüren auch Elfen draußen? Musste man ihnen, wie den Vampiren, erst erlauben, das Haus zu betreten? Ach, nein. Niall hatte ich ja auch nicht extra hereinbitten müssen, als er mich zu Hause besuchen kam.
Was wusste ich denn eigentlich? Ich wusste, dass Elfen, anders als Vampire, nicht auf die Nacht beschränkt waren; dass sie sehr stark, ja genauso stark wie Vampire waren; und dass die Elfen, die echten Elfen (im Gegensatz zu Elfenvölkern wie den Heinzelmännchen, Kobolden oder Feen), wunderschön und derart rücksichtslos waren, dass sogar die Vampire Respekt vor ihrer Grausamkeit hatten. Die ältesten Elfen lebten, anders als Claude und Claudine, nicht immer in dieser Welt. Sie konnten noch woandershin gehen, in eine schrumpfende und verborgene Welt, die sie der unseren bei Weitem vorzogen: eine Welt ohne Eisen. Denn wenn sie nicht allzu häufig mit Eisen in Berührung kamen, konnten Elfen so lange leben, dass sie nicht mal mehr die Jahre zählten. So irrte sich Niall zum Beispiel in Gesprächen immer wieder mal um ein paar Jahrhunderte und warf vieles durcheinander. Es konnte ihm passieren, dass er ein Ereignis fünfhundert Jahre zurückdatierte, obwohl ein anderes, älteres Ereignis nachweislich erst vor zweihundert Jahren stattgefunden hatte. Es gelang Niall einfach nicht, mit dem Lauf der Zeit Schritt zu halten, wohl auch deshalb, weil er den Großteil der Zeit nicht in unserer Welt verbrachte.
Ich zerbrach mir den Kopf. Wusste ich sonst nichts weiter über Elfen? Doch, eines noch. Herrje, wie hatte ich das nur vergessen können, und sei es auch bloß vorübergehend. Eisen war schon schlimm für Elfen, doch eines war noch schlimmer: Zitronensaft. Die Schwester von Claude und Claudine war mit Zitronensaft getötet worden.
Genau, Claude und Claudine - das war überhaupt die Idee! Ein Gespräch mit den beiden könnte mir sicher helfen. Und sie waren ja auch nicht nur Cousin und Cousine von mir, Claudine war sogar mein Schutzengel und sollte auf mich aufpassen. Aber um diese Uhrzeit war sie bestimmt in der Arbeit. Claudine kümmerte sich in einem großen Kaufhaus um Reklamationen, Geschenkverpackungen und die Anzahlungen für zurückgelegte Ware. Claude war vermutlich in dem Strip-Club, den er managte und mittlerweile auch besaß, und würde sicher leichter zu erreichen sein. Also ging ich ins Haus und suchte die Nummer heraus. Claude ging sogar selbst ans Telefon.
»Ja«, sagte er, und es gelang ihm, sogar in diesem einen Wort Desinteresse, Missachtung und Langeweile zu vereinen.
»Hi, mein Lieber!«, erwiderte ich extra fröhlich. »Ich muss dich mal unter vier Augen sprechen. Kann ich bei dir vorbeikommen, oder hast du zu tun?«
»Nein, komm nicht her!« Claude klang beinah erschrocken über meinen Vorschlag. »Ich komme in die Mall.«
Die Zwillinge wohnten in Monroe, das sich eines sehr schönen Einkaufszentrums rühmen konnte.
»Okay«, erwiderte ich. »Wo und wann?«
Eine Weile herrschte Schweigen. »Claudine kann einen verspäteten Lunch einlegen. Wir treffen uns in anderthalb Stunden im Restaurantbereich der Mall, bei Chick-fil-A.«
»Dann bis nachher«, sagte ich, und Claude legte auf. Mr Charme persönlich. Ich schlüpfte in meine Lieblingsjeans und ein grün-weißes T-Shirt und bürstete mir kräftig das Haar. Es war so lang geworden, dass ich kaum noch damit fertig wurde, aber zum Abschneiden konnte ich mich auch nicht durchringen.
Seitdem ich mehrmals Erics Blut gehabt hatte, bekam ich nicht mal mehr Erkältungen, und Spliss in den Haarspitzen gehörte auch der Vergangenheit an. Und mein Haar glänzte viel schöner, ja, es wirkte sogar dicker.
Es wunderte mich nicht, dass die Leute auf dem Schwarzen Markt Vampirblut kauften. Mich wunderte nur, dass die Leute dumm genug waren und darauf vertrauten, dass das rote Zeug, das die Dealer ihnen andrehten, echtes Vampirblut war. Oft waren die Phiolen mit TrueBlood gefüllt, mit Schweineblut oder sogar mit dem eigenen Blut der Ausbluter. Und falls die Leute mal echtes Vampirblut ergatterten, war es oft so alt, dass sie davon richtiggehend wahnsinnig wurden. Ich hätte nie von einem Ausbluter Vampirblut gekauft. Doch jetzt, seitdem ich es mehrmals (und äußerst frisch) bekommen hatte, musste ich nicht mal mehr Make-up auflegen. Meine Haut war makellos. Danke, Eric!
Aber wieso machte ich mir überhaupt Gedanken über mein Aussehen? In Claudes Gesellschaft würde mir sowieso keiner mehr einen zweiten Blick schenken. Claude war 1,85 Meter groß, hatte welliges, dunkles Haar, braune Augen, den Körper eines Strippers (mit Sixpack und allem Drum und Dran) und das Kinn und die Wangenknochen einer Renaissancestatue. Er hatte allerdings auch den Charakter einer Statue.
Heute trug Claude Khakihosen und ein enges Trägershirt unter einem offenen grünen Seidenhemd. Und er spielte mit einer dunklen Sonnenbrille herum. Wenn Claude nicht auf der Stripbühne stand, reichte sein Mienenspiel von ausdruckslos bis beleidigt, doch heute schien er irgendwie nervös zu sein. Misstrauisch blickte er sich im Restaurant um, als wäre ihm jemand gefolgt, und er entspannte sich auch nicht, als ich mich auf einen Stuhl an seinem Tisch fallen ließ. Vor ihm stand ein Becher mit dem Logo des Chick-fil-A, aber zu essen hatte er sich nichts geholt. Also tat ich es auch nicht.
»Sookie. Geht's dir gut?« Claude versuchte nicht mal, ernsthaft interessiert zu klingen. Immerhin wählte er wenigstens die richtigen Worte. Er war minimal höflicher geworden, seit er wusste, dass sein Großvater Niall mein Urgroßvater war, obwohl er natürlich nie vergaß, dass ich (größtenteils) bloß ein Mensch war. Wie die meisten Elfen hatte auch Claude für Menschen nur Verachtung übrig, aber er hatte definitiv großen Spaß daran, sie in sein Bett zu ziehen - solange sie Bartstoppeln hatten jedenfalls.
»Ja, danke, Claude. Ist schon eine Weile her.«
»Seit wir uns zuletzt gesehen haben? Ja.« Und genau so war es ihm auch recht. »Womit kann ich dir helfen? Oh, da kommt Claudine schon.« Er wirkte erleichtert.
Claudine trug ein braunes Kostüm mit großen Goldknöpfen und dazu eine Bluse mit dunkelbraunen, hellbraunen und cremefarbenen Streifen. Für die Arbeit kleidete sie sich immer höchst konservativ und das Kostüm stand ihr gut, doch der Schnitt ließ sie irgendwie nicht ganz so schlank wie sonst erscheinen. Claude und Claudine waren Zwillinge, ursprünglich sogar Drillinge, denn die beiden hatten noch eine Schwester gehabt, Claudette, die aber ermordet wurde. Man nennt die übrig gebliebenen zwei Geschwister von dreien doch »Zwillinge«, oder? Claudine war fast genauso groß wie ihr Bruder, und als sie sich jetzt zu ihm hinunterbeugte und ihn auf die Wange küsste, verschmolzen ihre Haare zu einer einzigen Kaskade langer, dunkler Wellen. Und auch ich bekam einen Kuss. Waren eigentlich alle Elfen so sehr auf Körperkontakt versessen wie meine zwei Verwandten? Meine Cousine hatte sich ihr ganzes Tablett voll Essen gehäuft: Pommes frites, Hühnchen-Nuggets, ein Dessert und eine große süße Limonade.
»Welche Schwierigkeiten hat Niall?«, fragte ich sogleich ohne lange Vorrede. »Wer sind seine Feinde? Sind das alles echte Elfen? Oder gehören sie einem der anderen Elfenvölker an?«
Einen Augenblick schwiegen Claude und Claudine angesichts meines forschen Vorpreschens. Meine Fragen überraschten sie allerdings nicht, was ja auch schon etwas heißen wollte.
»Unsere Feinde sind echte Elfen«, erwiderte Claudine. »Die anderen Elfenvölker mischen sich grundsätzlich nicht in unsere Politik ein, auch wenn wir alle nur Variationen desselben Leitmotivs sind - so wie Pygmäen, Weiße oder Asiaten verschiedene Spielarten des Menschen.« Sie wirkte traurig. »Aber wir alle sind nicht mehr, was wir einst waren.« Und dann riss Claudine ein Tütchen Ketchup auf, verteilte ihn auf ihren Pommes frites und steckte sich gleich drei auf einmal in den Mund. Wow, ganz schön hungrig.
»Es würde Stunden dauern, unsere verzweigte Herkunft zu erklären«, sagte Claude, als hätte er dazu sowieso keine Lust. Er stellte einfach eine Tatsache fest. »Wir sind Nachkommen jener Linie, die Elfen des Himmels sind. Und unser Großvater, dein Urgroßvater, ist eines der wenigen noch lebenden Mitglieder unserer königlichen Familie.«
»Er ist ein Prinz«, warf ich ein, denn das war eins der wenigen Details, die ich kannte. Erbprinz, Kronprinz, Prinzregent. Ein Titel von großem Gewicht.
»Ja. Und es gibt noch einen anderen Prinzen, Breandan.« Claude sprach es »Bren-DOHN« aus. Diesen Breandan hatte Diantha auch schon erwähnt. »Er ist der Sohn von Nialls älterem Bruder Rogan. Rogan war ein Elf des Meeres und besaß deshalb großen Einfluss auf alle Wassergeschöpfe. Doch Rogan ist vor Kurzem ins Sommerland eingegangen.«
»Ins Jenseits«, übersetzte Claudine, ehe sie sich ein weiteres Stück Hühnchen in den Mund schob.
Claude zuckte die Achseln. »Ja, Rogan ist tot. Und er war der Einzige, der Breandan bändigen konnte. Du solltest nämlich wissen, dass Breandan der ist, der -« Claude brach mitten im Satz ab, weil seine Schwester ihn mit einem energischen Griff am Arm gepackt hatte. Eine Frau, die ihren kleinen Sohn mit Pommes fütterte, hatte Claudines heftige Geste bemerkt und sah neugierig zu uns herüber. Claudine warf Claude einen eindringlichen Blick zu. Er nickte, machte sich wieder los und sprach weiter. »Breandan vertritt in der Elfenpolitik eine völlig andere Meinung als Niall. Er...«
Wieder blickten die Zwillinge einander an. Schließlich nickte Claudine.
»Breandan ist der Überzeugung, dass alle Menschen mit Elfenblut ausgelöscht gehören. Er glaubt, dass wir jedes Mal, wenn sich einer von uns mit einem Menschen verbindet, einen Teil unserer magischen Kraft einbüßen.«
Ich räusperte mich, um den Angstkloß im Hals loszuwerden. »Breandan ist also ein Feind. Gibt es irgendwelche anderen Mitglieder der königlichen Familie, die auf Nialls Seite stehen?«, fragte ich mit erstickter Stimme.
»Einer aus dem niederen Adel, dessen Titel sich nicht übersetzen lässt«, sagte Claude. »Unser Vater Dillon, Sohn des Niall, seine Mutter Brartna, erste Ehefrau des Niall, und unsere Mutter Binne. Und sollte Niall ins Sommerland eingehen, wird Dillon den Prinzentitel von ihm erben. Aber er muss natürlich warten.«
Die Namen klangen fremd. Der ihres Vaters hörte sich an wie Dylan und der ihrer Mutter wie Bii-nah. »Buchstabiert die Namen eurer Eltern doch mal«, bat ich, und Claudine tat mir den Gefallen: »B-I-N-N-E. D-I-L-L-O-N. Niall war nicht glücklich mit Branna, und es dauerte sehr lange, bis er unseren Vater lieb gewann. Niall hatte immer eine Vorliebe für seine halbmenschlichen Söhne.« Sie lächelte mich an, wie um mir zu versichern, dass Menschen für sie schon okay wären.
Niall hatte mir mal erzählt, dass ich seine einzige noch lebende Verwandte sei. Das stimmte also gar nicht. Offenbar ließ er sich ganz von seinen Gefühlen leiten und nicht von Tatsachen. Das musste ich mir merken. Claude und Claudine schienen mir aber keinen Strick aus Nialls Vorliebe drehen zu wollen, ein Glück.
»Und wer steht auf Breandans Seite?«, fragte ich.
»Dermot«, sagte Claudine und sah mich erwartungsvoll an.
Den Namen hatte ich schon mal gehört. Aber wo?
»Er hat irgendwas mit meinem Großvater Fintan zu tun«, erinnerte ich mich dunkel. »Genau, er ist sein Bruder, Nialls anderer Sohn von Einin. Aber er ist halb Mensch.« Einin war eine Menschenfrau, die Niall vor Jahrhunderten verführt hatte. (Sie hatte ihn für einen Engel gehalten. Woran man mal sieht, wie gut Elfen aussehen können, wenn sie sich kein Menschenantlitz geben müssen.) Hieß das etwa, dass mein halbmenschlicher Großonkel versuchte, seinen Vater umzubringen?
»Hat Niall dir erzählt, dass Fintan und Dermot Zwillinge waren?«, fragte Claude.
»Ich weiß nicht, ich glaube schon«, sagte ich verwirrt.
»Dermot war ein paar Minuten jünger, und sie waren keine eineiigen Zwillinge, wie du dich ja vielleicht erinnerst.« Claude genoss es anscheinend, dass ich auf dem Schlauch stand. »Sie waren...« Er hielt inne und sah jetzt selbst verwirrt drein. »Wie heißt das gleich wieder?«, fragte er.
»Zweieiige Zwillinge. Okay, alles sehr interessant soweit. Und?«
»Und«, sagte Claudine und sah angelegentlich auf ihre Hühnchen-Nuggets hinunter, »dein Bruder Jason ist Dermot wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Willst du damit etwa sagen, dass... Was willst du damit sagen?« Ich wartete wohl besser erst mal ab, worüber genau ich mich empören wollte.
»Wir wollen damit nur sagen, dass Niall dich aus diesem Grund ganz instinktiv deinem Bruder vorgezogen hat«, sagte Claude. »Niall hat Fintan geliebt, Dermot aber hat sich Niall bei jeder Gelegenheit widersetzt. Er hat offen gegen unseren Großvater rebelliert und schließlich Breandan Treue geschworen, obwohl Breandan ihn verachtet. Denn Dermot sieht Jason aufgrund irgendeiner Laune der Natur nicht nur enorm ähnlich, Dermot ist auch genauso ein Arschloch wie Jason. Jetzt weißt du, warum Niall deinen Bruder als Urenkel ablehnt.«
Einen Augenblick lang tat Jason mir leid. Doch dann erwachte mein gesunder Menschenverstand wieder. »Und hat Niall noch andere Feinde außer Breandan und Dermot?«
»Sie haben beide eigene Gefolgsleute und Verbündete, und darunter auch einige Attentäter.«
»Aber eure Eltern stehen auf Nialls Seite?«
»Ja. Und andere natürlich auch. Alle Elfen des Himmels.«
»Also muss ich nach anrückenden Elfen Ausschau halten, die mich jederzeit angreifen könnten, nur weil ich mit Niall blutsverwandt bin.«
»Ja. Die Elfenwelt ist sehr gefährlich. Vor allem jetzt. Das ist auch einer der Gründe, warum wir in der Welt der Menschen leben.« Claude warf seiner Schwester, die wie eine Verhungernde ihre Hühnchen-Nuggets verschlang, einen Blick zu.
Claudine schluckte und tupfte sich den Mund mit einer Papierserviette. »Und jetzt das Wichtigste«, sagte sie, steckte sich noch ein Nugget in den Mund und sah wieder Claude an, damit er übernahm.
»Wenn du jemanden siehst, der wie dein Bruder aussieht, es aber nicht ist...«, begann Claude.
Claudine schluckte. »... dann renn um dein Leben.«