Kapitel 12

Nach Spezialagent Lattestas Aufforderung an die beiden Männer, die Waffen fallen zu lassen, flogen die Kugeln nur so durch die Luft, wie Kieferpollen im Frühling.

Und ich steckte mittendrin! Doch traf mich kein einziger Schuss, was ich höchst erstaunlich fand.

Arlene, die sich nicht so schnell geduckt hatte wie ich, erlitt einen Streifschuss an der Schulter. Und die Kugel - dieselbe, die Arlene nur gestreift hatte - traf Agentin Weiss in die obere rechte Brusthälfte. Andy schoss Whit Spradlin nieder. Spezialagent Lattesta verfehlte mit dem ersten Schuss Donny Boling, doch der zweite saß. Es hat mich Wochen gekostet, das alles aufzudröseln, doch genau so ist es abgelaufen.

Und dann war der Schusswechsel zu Ende. Lattesta wählte 911 und rief den Notarzt, während ich noch flach auf den Boden gepresst dalag und meine Finger und Zehen zählte, um sicherzugehen, dass noch alles dran war. Andy telefonierte sofort mit dem Sheriffbüro und meldete, dass es hier eine Schießerei gegeben hatte und ein Polizist sowie eine Zivilperson zu Boden gegangen waren.

Arlene schrie wegen ihrer kleinen Wunde, als wäre sie schwerst verletzt worden.

Agentin Weiss lag blutend im wuchernden Unkraut, die Augen weit aufgerissen vor Angst und die Lippen fest zusammengepresst. Die Kugel hatte sie auf Höhe der Achselhöhle getroffen. Sie dachte an ihre Kinder und ihren Ehemann und dass sie hier draußen in der Provinz sterben könnte und sie alle dann zurücklassen müsste. Lattesta zog ihr die Weste aus und versuchte einen provisorischen Druckverband anzulegen, während Andy zu den beiden Gewehrschützen hinüberlief.

Ich setzte mich langsam auf, an Aufstehen war gar nicht zu denken. Inmitten von Kiefernnadeln und Schmutz saß ich da und starrte Donny Boling an, der tot war. Sein Gehirn zeigte nicht mehr das geringste Anzeichen von Aktivität. Whit lebte noch, auch wenn es ihm nicht sonderlich gut ging. Andy musterte kurz Arlenes Wunde, befahl ihr, mit dem Schreien aufzuhören, und sie hielt tatsächlich den Mund und begann zu weinen.

Ich hatte mir im Laufe meines Lebens schon oft Vorwürfe machen müssen. Und dieser Vorfall hier ging auch auf mein Konto, dachte ich, während ich zusah, wie das Blut aus Donnys linker Seite in den Schmutz sickerte. Es wäre auf niemanden geschossen worden, wenn ich mich einfach wieder in meinen Wagen gesetzt hätte und weggefahren wäre. Aber nein, ich musste ja versuchen, Crystals Mörder zu fassen. Und dabei hatte ich hier - zu spät - erfahren, dass diese Idioten nicht mal die Täter waren. Ich sagte mir, dass Andy mich um Hilfe gebeten hatte, dass Jason meine Hilfe brauchte... doch in diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich für sehr lange Zeit nicht darüber hinwegkommen würde.

Einen Augenblick lang dachte ich daran, mich wieder hinzulegen und mir den Tod zu wünschen.

»Bist du okay?«, rief Andy herüber, nachdem er Whit Handschellen angelegt und einen Blick auf Donny geworfen hatte.

»Ja«, erwiderte ich. »Andy, es tut mir so leid.« Doch er war schon an die Vorderseite des Wohnwagens gelaufen, um den Krankenwagen heranzuwinken. Und plötzlich waren sehr viele Leute um uns herum.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte mich eine Frau in der Uniform der Rettungssanitäter. Ihre Ärmel waren ordentlich aufgekrempelt und legten Muskeln frei, die ich bei einer Frau nie für möglich gehalten hätte. Man konnte die Bewegung jedes einzelnen unter ihrer mokkafarbenen Haut sehen. »Sie wirken etwas neben der Kappe.«

»Ich bin's nicht gewöhnt zu sehen, wie Leute erschossen werden«, erwiderte ich. Was größtenteils ja stimmte.

»Sie sollten sich besser da drüben hinsetzen«, sagte sie und zeigte auf einen Klappstuhl, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. »Wenn ich mit den blutenden Verletzten fertig bin, kümmere ich mich um Sie.«

»Audrey!«, rief einer ihrer Kollegen, ein Mann mit einem kugelrunden Bauch. »Ich brauche hier noch ein Paar Hände.« Audrey eilte ihm zu Hilfe, und ein weiteres Team Sanitäter kam um den Wohnwagen herum herbeigerannt. Mit ihnen führte ich noch einmal fast das gleiche Gespräch.

Agentin Weiss wurde als Erste abtransportiert, und soweit ich mitbekam, sollte sie zunächst im Krankenhaus von Clarice stabilisiert und dann mit dem Rettungshubschrauber nach Shreveport geflogen werden. Whit wurde in den zweiten Krankenwagen eingeladen. Und es kam sogar noch ein dritter für Arlene. Nur der Tote musste warten - auf das Eintreffen des Gerichtsmediziners.

Ich wartete auf das, was als Nächstes passieren würde.

Lattesta stand nur da und starrte ausdruckslos auf die Kiefern. Seine Hände waren blutbefleckt von dem Versuch, Weiss' blutende Wunde durch Druck zu stillen. Ich sah, wie er sich schüttelte. Die Entschlossenheit kehrte in sein Gesicht zurück, und seine Gedanken begannen wieder zu fließen. Er beriet sich mit Andy.

Inzwischen wimmelte es in dem Garten von Gesetzeshütern, die alle sehr aufgeregt zu sein schienen. Schusswechsel, bei denen Polizisten verletzt wurden, waren in Bon Temps oder im Landkreis Renard nicht gerade an der Tagesordnung. Und weil auch noch das FBI vor Ort war, hatten sich die Aufregung und die Anspannung praktisch vervierfacht.

Noch einige andere Leute fragten mich, ob es mir gut ginge, doch keiner schien mir sagen zu wollen, was ich tun oder dass ich gehen sollte, und so saß ich mit den Händen im Schoss auf dem klapprigen Stuhl da. Ich betrachtete all die Aktivitäten um mich herum und versuchte, gar nichts zu denken. Doch das war unmöglich.

Ich machte mir Sorgen um Agentin Weiss und spürte immer noch die Erschütterung von der abebbenden Woge der Schuld, die über mir zusammengeschlagen war. Über den Tod des Kerls von der Bruderschaft hätte ich vermutlich traurig sein sollen. Doch ich war es nicht.

Nach einer Weile fiel mir ein, dass ich noch zu spät zur Arbeit kommen würde, wenn hier nicht langsam mal was voran ging. Okay, das war ein trivialer Gedanke, wenn ich mir all das in den Boden gesickerte Blut ansah. Doch ich wusste auch, dass mein Boss es überhaupt nicht trivial finden würde.

Also rief ich Sam an. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, aber ich erinnere mich, dass ich ihm ausreden musste, herzukommen und mich abzuholen. Ich erzählte Sam, dass jede Menge Leute vor Ort waren, und die meisten davon bewaffnet. Danach hatte ich nichts weiter zu tun, als in den Wald zu starren: ein einziges Gewirr aus abgebrochenen Ästen, Blättern und verschiedenen Brauntönen, in die sich mutig aufstrebende Kiefern verschiedener Höhe mischten. Im strahlenden Tageslicht wirkten die Muster von Schatten und Schattierungen faszinierend.

Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass aus dem Wald etwas zurückblickte. Einige Meter hinter der Baumgrenze stand ein Mann; nein, kein Mann - ein Elf. Die Gedanken der Elfen kann ich nicht deutlich lesen. Es breitete sich zwar keine tiefe Stille um sie herum aus wie bei den Vampiren, aber dem kam es noch am nächsten.

Die Haltung der Feindseligkeit war jedoch unverkennbar. Dieser Elf stand nicht auf der Seite meines Urgroßvaters. Dieser Elf wäre glücklich gewesen, wenn ich hier blutend auf dem Boden gelegen hätte. Ich setzte mich aufrechter hin, weil mich plötzlich der Gedanke überfiel, dass mich vermutlich nicht mal alle Polizisten der Welt zusammen vor einem Elf schützen könnten. Mein Herz hämmerte erneut vor Angst, auch wenn es irgendwie ermüdet auf den Adrenalinstoß zu reagieren schien. Ich wollte jemandem sagen, dass ich in Gefahr schwebte, doch ich wusste, dass der Elf sich nicht nur in den Wald zurückziehen würde, sobald ich mit dem Finger auf ihn zeigte, sondern dass ich damit auch die Menschen um mich herum gefährden würde. Und das hatte ich heute wahrlich schon zur Genüge getan.

Als ich mich halb aus dem Klappstuhl erhob, ohne einen wirklich guten Plan im Kopf, drehte der Elf sich um und verschwand.

Herrje, kann ich nicht mal einen Moment lang Ruhe haben? Bei diesem Gedanken sank ich in den Stuhl zurück, musste mich vornüberbeugen und mein Gesicht in den Händen verbergen, denn ich lachte. Aber es war ein sehr unfrohes Lachen. Andy kam zu mir, ging in die Hocke und versuchte, mir ins Gesicht zu sehen. »Sookie«, sagte er, und sein Ton war ausnahmsweise mal sanft. »Hey, Mädchen, nicht schlappmachen. Du sollst zu Sheriff Dearborn kommen.«

Und ich musste nicht nur mit Sheriff Dearborn reden, sondern auch noch mit jeder Menge anderer Leute. Später konnte ich mich an kein einziges dieser Gespräche mehr erinnern. Aber ich sagte allen, die mir Fragen stellten, die Wahrheit.

Dass ich im Wald einen Elf gesehen hatte, erwähnte ich allerdings nicht, einfach weil keiner fragte: »Haben Sie heute Nachmittag sonst noch jemanden hier gesehen?« Als ich mich einen Augenblick lang mal etwas weniger geschockt und elend fühlte, wunderte ich mich, warum er sich überhaupt gezeigt hatte und warum er gekommen war. Verfolgte er mich etwa irgendwie? Wurde ich mithilfe einer Art Supra-Wanze ausspioniert?

»Sookie«, sagte Bud Dearborn. Ich blinzelte.

»Ja, Sir?« Ich stand auf, meine Muskeln zitterten.

»Sie können jetzt gehen, wir werden später noch mal mit Ihnen sprechen.«

»Danke«, sagte ich, ohne richtig wahrzunehmen, was ich eigentlich sagte. Ich fühlte mich wie benommen. Dennoch stieg ich in meinen Wagen. Fahr nach Hause, sagte ich mir, zieh dein Kellnerinnen-Outfit an und geh zur Arbeit. Mit Drinks durchs Merlotte's zu eilen war besser, als zu Hause zu sitzen und die Ereignisse des Tages zu rekapitulieren. Falls es mir gelingen würde, noch lange genug auf den Beinen zu bleiben.

Amelia war in der Arbeit, und so hatte ich das Haus für mich, als ich meine Arbeitshose anzog und mein langärmliges T-Shirt mit dem Merlotte's-Logo. Mir war kalt bis auf die Knochen, und zum ersten Mal wünschte ich mir, Sam hätte uns auch ein Merlotte's-Sweatshirt zur Verfügung gestellt. Mein Spiegelbild im Badezimmer sah fürchterlich aus: Ich war bleich wie ein Vampir, hatte tiefe Ringe unter den Augen und sah vermutlich genau so aus wie jemand, der an diesem Tag schon viele blutende Leute gesehen hatte.

Der Spätnachmittag war kalt und still, als ich hinaus zu meinem Wagen ging. Bald würde es dunkel werden. Seit ich durch Blutsbande an Eric gebunden war, musste ich jeden Tag bei hereinbrechender Dämmerung an ihn denken. Und weil wir nun miteinander geschlafen hatten, war aus meinen Gedanken ein heftiges Verlangen geworden. Ich versuchte, ihn auf der Fahrt zur Arbeit in den hintersten Winkel meines Hirns zu verbannen, doch er bestand darauf, sich immer wieder in den Vordergrund zu drängen.

Vielleicht lag es daran, dass mein Tag so ein Albtraum gewesen war, aber ich hätte all meine Ersparnisse gegeben, um Eric jetzt sofort treffen zu können. Langsam trottete ich auf den Eingang für Angestellte zu, den Griff des Handspatens in meiner Umhängetasche fest umklammert. Ich dachte, so wäre ich gegen jeden Angriff gewappnet. Doch ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mit meinen telepathischen Fühlern nach anderen Lebewesen Ausschau hielt und Antoine erst dann im Schatten des Müllcontainers stehen sah, als er grüßend auf mich zukam. Er rauchte eine Zigarette.

»Herrgott, Antoine, du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Tut mir leid, Sookie. Willst du irgendwas einpflanzen?« Er beäugte den Handspaten, den ich aus der Tasche gezogen hatte. »Ist nicht allzu viel los heute Abend. Ich gönn mir grad 'ne Zigarettenpause.«

»Sind alle friedlich heute Abend?« Ich steckte den Handspaten wieder in die Handtasche, ohne auch nur den Versuch einer Erklärung zu machen. Vielleicht würde Antoine es einfach meiner allgemeinen Sonderlichkeit zurechnen.

»Ja, keiner hält uns Moralpredigten und keiner wurde getötet.« Er lächelte. »Nur D'Eriq quasselt dauernd von so 'nem Kerl, der vorhin hier war. Er hält ihn für einen Elf. D'Eriq ist eher schlicht gestrickt und sieht Sachen, die sonst keiner sieht. Aber - Elfen?«

»Nicht Elf für Schwuler, sondern Elf für Tinker Bell?« Ich hatte gedacht, meine Energie würde nicht mehr ausreichen, um mich noch einmal zu erschrecken. Doch da hatte ich mich getäuscht. Aufs Höchste alarmiert sah ich mich auf dem Parkplatz nach allen Seiten um.

»Sookie? Stimmt das etwa?« Antoine starrte mich an.

Kraftlos zuckte ich die Achseln. Ich war völlig fertig.

»Mist!«, rief Antoine. »Oh, Mist! Das ist nicht mehr die Welt, in die ich geboren wurde, was?«

»Nein, Antoine, ist sie nicht. Wenn D'Eriq wieder mal was sagt, erzähl's mir bitte. Es ist wichtig.« Es hätten mein Urgroßvater oder sein Sohn Dillon sein können, die nach mir sehen wollten. Oder auch der durch den Wald schleichende Mr Feindselig. Was war in der Elfenwelt bloß los? Jahrelang hatte sich nie einer blicken lassen. Und jetzt konnte man nicht mal mehr mit einem Handspaten fuchteln, ohne einen Elf zu treffen.

Antoine musterte mich fragend. »Klar, Sookie. Hast du irgendwelchen Ärger, von dem du erzählen willst?«

Vielleicht: Ich stecke hüfttief in einem Sumpf voller Alligatoren? »Nein, nein. Ich versuche nur, einem Problem aus dem Weg zu gehen«, sagte ich, weil Antoine sich keine Sorgen machen und vor allem Sam nichts davon berichten sollte. Sam hatte bereits genug Probleme.

Sam hatte natürlich schon verschiedene Versionen von den Ereignissen bei Arlenes Wohnwagen gehört, und ich musste ihm eine kurze Zusammenfassung geben, während ich mich für die Arbeit fertig machte. Er war geradezu erschüttert über das Vorhaben von Donny und Whit, und als ich ihm erzählte, dass Donny tot war, sagte er: »Whit hätte auch draufgehen sollen.«

Ich dachte zuerst, ich höre nicht richtig. Aber als ich Sam ins Gesicht blickte, sah ich, dass er richtig wütend, ja sogar rachsüchtig war. »Ich finde, es sind schon genug Leute gestorben, Sam«, erwiderte ich. »Ich habe den Kerlen nicht vergeben, und das werde ich wohl auch nie. Aber ich glaube nicht, dass sie Crystal getötet haben.«

Mit einem Schnauben wandte Sam sich ab und stellte eine Flasche Rum mit einer solchen Wucht weg, dass ich schon fürchtete, sie würde zu Bruch gehen.

Trotz einer gewissen erhöhten Alarmbereitschaft gefiel mir der Abend dann sehr gut... weil nichts passierte.

Niemand verkündete plötzlich, dass er ein Kobold sei und auch am Tisch der amerikanischen Nation Platz nehmen wolle.

Niemand stürmte mit einer Schimpftirade hinaus. Niemand versuchte mich zu töten, zu warnen oder mich anzulügen. Niemand schenkte mir besondere Aufmerksamkeit. Ich war wieder Teil der kleinen Welt des Merlotte's, eine Rolle, die mich oft genug gelangweilt hatte. Ich dachte an die Abende, als ich Bill Compton noch nicht kannte, als ich von Vampiren zwar schon wusste, aber noch nie einen getroffen hatte. Herrje, wie sehr hatte ich mir damals gewünscht, tatsächlich mal einen kennenzulernen. Ich hatte geglaubt, was in den Artikeln ihrer Zeitungen behauptet wurde: dass sie Opfer einer Virusinfektion seien, die sie auf vieles allergisch reagieren ließ (Sonnenlicht, Knoblauch, Essen), und dass sie nur überleben könnten, wenn sie Blut trinken.

Der letzte Teil zumindest entsprach nur allzu sehr der Wahrheit.

Während ich arbeitete, dachte ich über die Elfen nach. Sie waren ganz anders als Vampire und Wergeschöpfe. Elfen konnten jederzeit in ihre eigene Welt entschwinden, wie immer das auch geschah. Es war eine Welt, die ich weder besuchen noch sehen wollte. Elfen waren nie Menschen gewesen. Vampire konnten sich wenigstens daran erinnern, wie es war, ein Mensch zu sein. Und Wergeschöpfe waren die meiste Zeit sowieso Menschen, selbst wenn sie eine andere Kultur hatten; ein Wergeschöpf zu sein war wohl in etwa so, wie eine doppelte Staatsbürgerschaft zu besitzen, stellte ich mir vor. Dies war ein wichtiger Unterschied zwischen den Elfen und den anderen Supras, und es machte die Elfen furchterregender. Als der Abend voranschritt und ich von Tisch zu Tisch eilte, stets bemüht, alle Bestellungen richtig aufzunehmen und immer mit einem Lächeln zu servieren, fragte ich mich hin und wieder, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich meinen Urgroßvater gar nicht kennengelernt hätte. Eine Vorstellung, die einiges für sich hatte.

Ich brachte Jane Bodehouse ihren vierten Drink und gab Sam ein Zeichen, dass wir sie langsam rausschaffen mussten. Jane würde trinken, ob wir sie bedienten oder nicht. Ihr Entschluss, mit dem Trinken aufzuhören, hatte keine Woche angehalten, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Solche Vorsätze hatte sie schon früher gefasst, und immer mit demselben Ergebnis.

Wenigstens würde Jane gut nach Hause kommen, wenn sie bei uns trank. Gestern habe ich einen Mann getötet. Vielleicht würde ihr Sohn sie abholen kommen, ein netter Kerl, der keinen einzigen Schluck Alkohol anrührte. Heute habe ich gesehen, wie ein Mann erschossen wurde. Ich musste einen Augenblick stehen bleiben, denn der Raum schien ein wenig in Schieflage zu geraten.

Ein, zwei Sekunden danach fühlte ich mich schon wieder besser. Ich fragte mich, ob ich wirklich den ganzen Abend überstehen würde. Doch indem ich einen Fuß vor den anderen setzte und die schrecklichen Dinge einfach aus meinen Gedanken verbannte (darin war ich inzwischen dank allerlei Erfahrungen Expertin), überstand ich ihn. Ich dachte sogar noch daran, Sam zu fragen, wie es seiner Mutter ging.

»Jeden Tag etwas besser«, sagte er und buchte die Kasse aus. »Mein Stiefvater hat jetzt auch die Scheidung eingereicht. Er sagt, sie habe keinen Unterhalt verdient, weil sie ihn bei der Heirat über ihre wahre Natur im Unklaren gelassen hat.«

Ich stand stets auf Sams Seite, was immer es auch war, doch diesmal musste ich zugeben (nur mir selbst gegenüber), dass ich das Argument seines Stiefvaters nachvollziehen konnte.

»Tut mir leid«, sagte ich etwas scheinheilig. »Das ist wirklich eine harte Zeit für deine Mutter, für deine ganze Familie.«

»Die Verlobte meines Bruders ist auch nicht sonderlich froh darüber«, sagte Sam.

»Oh, nein, Sam. Ist sie etwa durchgedreht, weil deine Mutter -?«

»Ja, und natürlich weiß sie jetzt auch über mich Bescheid. Mein Bruder und meine Schwester gewöhnen sich langsam dran. Und sie kommen damit zurecht - aber Deidra nicht. Und ihre Eltern auch nicht, glaube ich.«

Ich klopfte Sam auf die Schulter, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Sam lächelte und nahm mich in die Arme. »Du bist der Fels in der Brandung, Sookie«, sagte er, doch dann erstarrte er plötzlich. Seine Nasenflügel bebten. »Du riechst wie - du hast Vampirgeruch an dir«, stellte er fest, und alle Wärme war aus seiner Stimme geschwunden. Er ließ mich los und sah mich mit hartem Blick an.

Ich hatte mich unter der Dusche gründlich abgeseift und danach all meine üblichen Hauptpflegemittel benutzt, doch Sams feiner Nase waren die Spuren von Erics Geruch nicht entgangen.

»Na ja«, begann ich und hielt unvermittelt inne. Ich versuchte zu sortieren, was ich sagen wollte, doch die letzten vierzig Stunden hatten mich einfach erschöpft. »Ja«, sagte ich, »Eric war letzte Nacht bei mir.« Und dabei beließ ich es. Mir sank das Herz. Eigentlich hatte ich Sam noch von meinem Urgroßvater und den Schwierigkeiten, in denen wir steckten, erzählen wollen. Doch Sam hatte genug eigene Sorgen. Und außerdem waren im Merlotte's sowieso schon alle ziemlich bedrückt wegen Arlenes Verhaftung.

Es passierte einfach viel zu viel.

Wieder überkam mich einen Augenblick lang eine furchtbare Benommenheit, doch sie verschwand so schnell wie zuvor. Sam nahm nicht mal Notiz davon. Er war in düstere Grübelei versunken, zumindest soweit ich seine verworrenen Gestaltwandlergedanken entziffern konnte.

»Bring mich doch zum Wagen«, bat ich spontan. Ich musste nach Hause und erst mal ausschlafen, und ich hatte keine Ahnung, ob Eric heute Nacht kommen würde. Ich wollte nicht, dass irgendwer einfach auftauchte und mich überraschte, wie Murry es getan hatte. Ich wollte nicht, dass mich irgendwer ins Verderben lockte oder in meiner Nähe Gewehre abfeuerte. Und ich wollte auch keinen Verrat mehr erleben von Leuten, die ich mochte.

Meine Liste der Anforderungen war lang, und ich wusste, dass das kein gutes Zeichen war.

Als ich meine Handtasche aus der Schublade in Sams Büro holte und Antoine, der immer noch die Küche putzte, gute Nacht zurief, wusste ich, dass es für mich nur noch ein einziges Ziel gab: nach Hause zu kommen und ins Bett zu gehen, ohne mit irgendwem reden zu müssen, und die ganze Nacht ungestört zu schlafen.

Ob das wohl möglich wäre?

Sam verlor kein weiteres Wort über Eric und schien meine Bitte, mich zu begleiten, als eine Folge der nervliehen Belastung nach dem Vorfall bei Arlenes Wohnwagen anzusehen. Ich hätte einfach in der Hintertür des Merlotte's stehen bleiben und mit meinem außergewöhnlichen Sinn hinausschauen können, doch doppelt hielt besser. Meine telepathischen Fähigkeiten und Sams feiner Geruchssinn ergaben eine gute Kombination. Aufmerksam suchte er den Parkplatz ab und klang beinahe enttäuscht, als er verkündete, dass niemand außer uns da sei.

Als ich davonfuhr, sah ich im Rückspiegel Sam an der Motorhaube seines Pick-up lehnen, der vor seinem Wohnwagen parkte. Mit den Händen in den Hosentaschen starrte er in den Kies am Boden, als würde er dessen Anblick hassen. Und just in dem Moment, in dem ich abbog, schlug Sam mit der flachen Hand gedankenverloren auf die Motorhaube und ging mit gebeugten Schultern zurück ins Merlotte's.