Kapitel 4
In dieser Nacht fand ich einfach keine Ruhe. Ich dachte an Eric, und eine wohlig warme Freude durchrieselte mich, doch schon im nächsten Augenblick hätte ich ihn am liebsten ohrfeigen mögen. Ich dachte an Bill, den ersten Mann, mit dem ich mich mehr als einmal getroffen, den ersten Mann, mit dem ich Sex gehabt hatte. Wenn ich an seine ruhige Stimme dachte, seinen kalten Körper, seine zurückhaltende Art und all das mit Eric verglich, konnte ich kaum glauben, dass ich mich in zwei so unterschiedliche Männer verliebt hatte. Und dann war da auch noch die viel zu kurze Episode mit Quinn. Quinn war heißblütig in jeder Hinsicht gewesen, und impulsiv, und herzlich, aber dennoch viel zu gebrochen von seiner Vergangenheit, die er mir auch noch verheimlicht hatte - was, aus meiner Sicht, unsere Beziehung schließlich zerstört hatte. Und eine Zeit lang war ich auch mit Alcide Herveaux, dem Rudelführer von Shreveport, ausgegangen, doch daraus war nie etwas Ernsteres geworden.
Tja, das war sie, die Männer-Revue der Sookie Stackhouse.
Sind diese Nächte nicht schrecklich, in denen man endlos grübelt über all die Fehler, die man gemacht, all die Verletzungen, die man erlitten, und all die Gemeinheiten, die man ausgeteilt hat? Und dann hat man noch nicht einmal etwas davon, es ist völlig sinnlos, und im Grunde genommen braucht man Schlaf. Doch in dieser Nacht tanzten die Männer durch meine Gedanken, und es war kein fröhlicher Tanz.
Als ich meine Probleme mit dem männlichen Geschlecht erschöpfend abgehandelt hatte, begann ich mir Sorgen zu machen, weil ich fürs Merlotte's verantwortlich war. Und erst nachdem ich mir endlich eingestanden hatte, dass es selbst mir unmöglich war, Sams Bar innerhalb weniger Tage völlig herunterzuwirtschaften, fand ich doch noch drei Stunden Schlaf.
Am nächsten Morgen rief Sam an, als ich noch zu Hause war, um mir zu sagen, dass es seiner Mutter schon besser ginge und sie auf jeden Fall wieder gesund werden würde. Sein Bruder und seine Schwester hatten sich mittlerweile über die Offenbarungen innerhalb der Familie beruhigt. Nur Don saß natürlich immer noch im Gefängnis.
»Wenn sie weiter solche Fortschritte macht, kann ich vielleicht schon in ein paar Tagen zurückkommen«, sagte er. »Oder noch früher. Die Ärzte sagen uns natürlich dauernd, dass sie gar nicht fassen können, wie schnell ihre Wunden heilen.« Er seufzte. »Na, wenigstens müssen wir das jetzt nicht mehr verheimlichen.«
»Und wie geht deine Mutter mit ihren Gefühlen um?«, fragte ich.
»Sie hat aufgehört, seine Freilassung zu fordern. Und seit einem offenen Gespräch mit uns drei Geschwistern gibt sie zu, dass eine Scheidung für sie und Don vielleicht das Beste wäre«, erzählte er. »Sie ist nicht glücklich darüber, aber ich weiß nicht, ob man sich mit jemandem, der auf einen geschossen hat, je richtig aussöhnen kann.«
Obwohl ich das Gespräch am Schlafzimmertelefon angenommen hatte und ich noch gemütlich ausgestreckt dalag, konnte ich nicht wieder einschlafen, als wir aufgelegt hatten. Es war schrecklich, den Schmerz in Sams Stimme zu hören. Sam hatte genug Schwierigkeiten, da musste ich ihn nicht auch noch mit meinen Problemen behelligen. Daher hatte ich nicht ernsthaft erwogen, ihm von dem Dolch zu erzählen, auch wenn es mich erleichtert hätte, meine Sorgen mit Sam zu teilen.
Um acht Uhr war ich aufgestanden und angezogen, früh für mich. Ich bewegte mich zwar und konnte auch denken, doch ich fühlte mich genauso zerwühlt und verknittert wie meine Bettlaken. Wenn doch nur einer käme, der mich genauso glatt zog und strich wie ich diese Laken, dachte ich. Amelia war zu Hause (ich warf einen Blick aus dem Fenster, ob ihr Auto draußen stand, als ich Kaffee kochte), und Octavia hatte ich auch schon flüchtig gesehen, als sie über die Diele ins Badezimmer unten schlappte. Es war also ein ganz normaler Morgen, ein Morgen, wie er in letzter Zeit bei mir zu Hause typisch war.
Ein Klopfen an der Haustür durchbrach diese Normalität. Gewöhnlich machte mich das Knirschen der Kiesauffahrt auf anrückende Besucher aufmerksam, doch in meiner heutigen extremen morgendlichen Benommenheit hatte ich es wohl überhört.
Ich spähte durch den Spion und sah einen Mann und eine Frau, beide in seriöser Geschäftskleidung. Sie wirkten nicht wie die Zeugen Jehovas oder Eindringlinge. Ich prüfte ihre Gedanken und traf weder auf Feindseligkeit noch auf Wut, nur auf Neugier.
Schließlich öffnete ich mit einem strahlenden Lächeln.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich. Kalte Luft strich mir um die nackten Füße.
Die Frau war vermutlich Anfang vierzig und erwiderte mein Lächeln. In ihrem braunen Haar, das sie exakt gescheitelt und kinnlang trug, zeichneten sich ein paar graue Strähnen ab. Unter ihrem rabenschwarzen Hosenanzug trug sie einen ebenso schwarzen Pullover, und auch ihre Schuhe waren schwarz. Und sie hielt eine schwarze Tasche in der Hand, keine Handtasche, eher so eine Art Notebooktasche.
Sie streckte mir die Rechte entgegen, und als ich sie ergriff, wusste ich mehr. Es war schwer, mir den Schock nicht anmerken zu lassen. »Ich komme vom FBI-Büro in New Orleans«, sagte sie - ein echter Knaller, um damit eine ganz gewöhnliche Unterhaltung zu eröffnen. »Agentin Sarah Weiss. Und das ist Spezialagent Tom Lattesta aus unserem Büro in Rhodes.«
»Und Sie kommen aus welchem Grund ...?« Ich verzog keine Miene. Immer schön ausdruckslos dreinschauen, sagte ich mir.
»Dürfen wir reinkommen? Tom ist den ganzen Weg von Rhodes heruntergekommen, um mit Ihnen zu sprechen, und wir lassen die ganze Wärme aus Ihrem Haus.«
»Sicher«, sagte ich, auch wenn ich mir längst nicht so sicher war. Ich suchte angestrengt nach einem Anhaltspunkt für den Grund ihres Besuchs, aber das war nicht so einfach. Nur eins bekam ich heraus: Sie waren nicht hier, um mich zu verhaften oder etwas ähnlich Drastisches.
»Kommen wir auch gelegen?«, fragte Agentin Weiss. Sie tat so, als käme sie gern später noch mal wieder, obwohl das, wie ich wusste, gar nicht stimmte.
»So gelegen wie zu jeder anderen Zeit«, erwiderte ich.
Meine Großmutter hätte mir einen warnenden Blick zugeworfen für diese schroffe Antwort, aber meine Großmutter war ja auch nie vom FBI verhört worden. Das hier war beileibe kein Höflichkeitsbesuch. »Ich muss aber recht bald zur Arbeit aufbrechen«, fügte ich hinzu, um mir ein Hintertürchen offenzuhalten.
»Das sind schlechte Nachrichten über die Mutter Ihres Bosses«, sagte Lattesta. »Ist die Bekanntgabe in Ihrer Bar gut verlaufen?« Seinem Akzent nach war er jenseits der Mason-Dixon-Linie irgendwo in den Nordstaaten geboren, und seinem Wissen über Sams Angelegenheiten nach hatte er seine Hausaufgaben gemacht, bis hin zu den Nachforschungen über meinen Arbeitsplatz.
Ich spürte, wie Übelkeit in mir aufzusteigen begann. Einen Augenblick lang wünschte ich mir so sehnlich Eric herbei, dass mir ein wenig schwindlig wurde. Doch als ich aus dem Fenster und in den hellen Sonnenschein sah, empfand ich nichts als Wut über meine eigene Sehnsucht. Du bist auf dich allein gestellt, sagte ich mir.
»Die Existenz von Werwölfen macht die Welt doch noch viel interessanter, nicht?«, sagte ich und knipste mein Lächeln an. Das Lächeln, das besagte, dass ich wirklich angespannt war. »Ich nehme Ihnen die Mäntel ab. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Ich zeigte zum Sofa hinüber, und sie setzten sich. »Kann ich Ihnen einen Kaffee oder etwas Eistee anbieten?«, fragte ich und dankte meiner Großmutter, die mir all diese Höflichkeitsfloskeln beigebracht hatte.
»Oh, etwas Eistee wäre wunderbar«, sagte Weiss. »Ich weiß, es ist kalt draußen, aber ich trinke ihn das ganze Jahr. Ich bin ein Mädchen aus den Südstaaten, dort geboren und aufgewachsen.«
Was sie, wie ich fand, ein wenig zu dick auftrug. Agentin Weiss würde wohl kaum meine beste Freundin werden, und ich hatte auch nicht vor, irgendwelche Rezepte auszutauschen. »Für Sie auch?« Ich sah Lattesta an.
»Sicher, großartig«, sagte er.
»Mit Zucker oder ohne?« Lattesta dachte, es wäre doch interessant, mal den berühmten Süßen Tee der Südstaaten zu probieren, und Weiss entschied sich für süß, um nicht aus der Reihe zu tanzen. »Lassen Sie mich nur schnell meinen Mitbewohnerinnen erzählen, dass wir Besuch haben«, sagte ich und rief die Treppe hinauf: »Amelia, das FBI ist da!«
»Ich komme gleich herunter«, rief sie zurück, ohne im Geringsten überrascht zu klingen. Ich wusste, dass sie oben am Treppenabsatz gelauscht hatte.
Und hier kam Octavia in ihrer Lieblingskombination, einer grünen Hose mit gestreifter langärmliger Bluse, in der sie so würdevoll und hübsch aussah, wie eine ältere weißhaarige Schwarze nur aussehen konnte. Ruby Dee war nichts gegen Octavia.
»Hallo«, grüßte sie strahlend. Octavia sah zwar aus wie jedermanns Lieblingsoma, doch sie war vor allem auch eine machtvolle Hexe, die mit fast chirurgischer Präzision über alles einen Zauberbann legen konnte. Und mit all der Übung eines langen Lebens war sie eine Meisterin darin, diese Fähigkeit zu verbergen. »Sookie hat uns gar nicht gesagt, dass sie Besuch erwartet, sonst hätten wir das Haus geputzt.« Octavia lächelte noch etwas strahlender und wies mit ausladender Geste durch das makellose Wohnzimmer. Okay, es würde nie für eine Reportage in ›Southern Living‹ fotografiert werden, aber es war völlig sauber, Herrgott noch mal.
»Ich finde es großartig«, bemerkte Weiss respektvoll. »Wenn nur bei mir alles so picobello wäre.« Sie sagte die Wahrheit. Weiss hatte zwei Teenager, einen Ehemann und drei Hunde zu Hause, was mir die Agentin sogleich sympathischer machte - und vielleicht war sogar ein wenig Neid darunter.
»Sookie, ich hole den Tee für deine Gäste, unterhaltet ihr euch ruhig«, sagte Octavia in ihrem reizendsten Ton. »Setz dich und lass mich machen.« Die beiden Agenten saßen auf dem Sofa und sahen sich noch interessiert in meinem schäbigen Wohnzimmer um, als Octavia schon mit Servietten und zwei Gläsern Süßem Tee, in denen die Eiswürfel angenehm klirrten, zurückkam. Ich stand aus dem Sessel dem Sofa gegenüber auf, um den beiden die Servietten hinzulegen, und Octavia stellte die Gläser darauf. Lattesta nahm einen großen Schluck. Octavias Mundwinkel zuckte nur leicht, als er entsetzt das Gesicht verzog und dann sein Bestes tat, um seiner Miene einen Anstrich von freudiger Überraschung zu verleihen.
»Was genau wollten Sie mich denn nun fragen?« Zeit, um zur Sache zu kommen. Ich lächelte sie munter an, die Hände im Schoß gefaltet, die Beine parallel gestellt und die Knie züchtig zusammengepresst.
Lattesta hatte einen Aktenkoffer mitgebracht, den legte er jetzt auf den Couchtisch, öffnete ihn und holte ein Foto heraus, das er mir reichte. Es war vor ein paar Monaten am Nachmittag in Rhodes aufgenommen worden. Die Aufnahme war recht scharf, auch wenn die Luft um die Personen darauf voller Staubwolken hing, die von der eingestürzten Pyramide von Gizeh aufgewirbelt worden waren.
Ich hielt den Blick auf das Foto gerichtet und zwang mich, weiter zu lächeln. Aber dagegen, dass mir das Herz in die Hose rutschte, konnte ich nichts tun.
Auf dem Foto standen Barry Bellboy und ich inmitten der Trümmer der Pyramide, jenes Vampirhotels, das im letzten Oktober von einer Splittergruppe der Bruderschaft der Sonne in die Luft gesprengt worden war. Ich war etwas besser zu erkennen als mein Begleiter, weil Barry nur im Profil zu sehen war. Ich stand mit dem Gesicht zur Kamera, ohne sie zu bemerken, den Blick auf Barry gerichtet. Und wir waren beide voller Schmutz und Blut, Asche und Staub.
»Das sind Sie, Miss Stackhouse«, sagte Lattesta.
»Ja, stimmt.« Es war sinnlos, es zu leugnen, auch wenn ich es liebend gern getan hätte. Beim Anblick des Fotos wurde mir richtig übel, weil es mich unweigerlich an alle Einzelheiten jenes Tages erinnerte.
»Sie haben also zum Zeitpunkt der Explosion im Hotel Pyramide von Gizeh gewohnt?«
»Ja.«
»Sie haben für Sophie-Anne Leclerq, eine Vampirin und Geschäftsfrau, gearbeitet. Die sogenannte Königin von Louisiana.«
Ich wollte Spezialagent Lattesta schon erklären, dass Sophie-Anne alles andere als eine »sogenannte« Königin war, doch aus Gründen der Diskretion schwieg ich. »Ich bin mit ihr zusammen hingeflogen«, erwiderte ich stattdessen.
»Und Sophie-Anne Leclerq erlitt schwere Verletzungen bei dem Anschlag auf das Hotel?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Sie haben sie nach der Explosion nicht mehr gesehen?«
»Nein.«
»Wer ist der Mann, der hier auf dem Foto neben Ihnen steht?«
Lattesta hatte Barry also noch nicht identifiziert. Ich musste mich zwingen, aufrecht sitzen zu bleiben, damit ich nicht vor Erleichterung in mich zusammensackte. Ich zuckte die Achseln. »Er kam nach der Explosion auf mich zu«, sagte ich. »Im Gegensatz zu den meisten anderen waren wir beide in einigermaßen guter Verfassung und konnten bei der Suche nach Überlebenden helfen.« Es war die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. Ich hatte Barry schon monatelang gekannt, als ich ihn beim Gipfeltreffen der Vampire in der Pyramide wiedersah. Er war in Diensten des Königs von Texas dort hingekommen. Ich fragte mich, wie viel das FBI eigentlich über die Vampirhierarchie wusste.
»Wie haben sie beide nach Überlebenden gesucht?«, fragte Lattesta.
Diese Frage war sehr schwer zu beantworten. Zu der Zeit war Barry der einzige andere Telepath, dem ich je begegnet war. Wir hatten einfach experimentiert, uns an den Händen gehalten, um unsere »Wattleistung« zu erhöhen, und in den Trümmern nach Anzeichen von Hirnströmen gesucht. Ich holte tief Luft. »Mir fällt es leicht, Dinge zu finden«, sagte ich. »Und es wurden dringend Helfer gebraucht. Es waren so viele Menschen schwer verletzt.«
»Der Feuerwehrhauptmann vor Ort meinte, Sie hätten anscheinend gewisse übersinnliche Fähigkeiten«, sagte Lattesta. Agentin Weiss betrachtete ihr Teeglas, um ihren Gesichtsausdruck zu verbergen.
»Ich bin keine Hellseherin«, sagte ich wahrheitsgetreu, und Weiss war wirklich enttäuscht. Doch nur eine weitere Wichtigtuerin oder Verrückte, dachte sie, dabei hatte sie so gehofft, ich würde mich als echt erweisen.
»Feuerwehrhauptmann Trochek meinte, Sie hätten ihm sagen können, wo Überlebende zu finden waren, ja, Sie hätten die Rettungsteams geradezu zu den Lebenden hingeführt.«
In diesem Moment kam Amelia die Treppe herunter, die in ihrem hellroten Pullover und den Designerjeans hochseriös wirkte. Ich blickte ihr in die Augen in der Hoffnung, sie möge erkennen, dass ich sie stumm um Hilfe bat. Ich war in Rhodes einfach nicht fähig gewesen, einer Situation den Rücken zu kehren, in der ich Leben retten konnte. Als mir klar wurde, dass ich Menschen finden - und gemeinsam mit Barry Leben retten - könnte, musste ich mich der Aufgabe stellen, auch wenn ich Angst davor hatte, vor aller Welt als Freak dazustehen.
Es ist schwer zu erklären, was ich wahrnehme. Vermutlich ist es so, als würde man durch eine Infrarotbrille oder so was blicken. Ich sehe die Wärme lebendiger Hirne, und ich kann zum Beispiel die lebenden Menschen in einem Gebäude zählen, wenn ich Zeit genug habe. Vampirhirne hinterlassen ein Loch, eine Leerstelle, und die kann ich gewöhnlich auch zählen. Normale Tote dagegen nehme ich überhaupt nicht wahr. Als Barry und ich uns an jenem Tag in Rhodes an den Händen hielten, steigerte das unsere Fähigkeiten noch. Wir konnten die Lebenden finden und die letzten Gedanken der Sterbenden lesen. Das wünsche ich allerdings keinem. Und ich wollte das auch auf keinen Fall noch mal durchmachen müssen, niemals.
»Wir hatten einfach Glück«, sagte ich wenig überzeugend.
Amelia ging mit ausgestreckter Hand auf die beiden FBI-Agenten zu. »Ich bin Amelia Broadway«, sagte sie, als erwartete sie, dass sie wüssten, wer sie war.
Und sie wussten es.
»Sie sind Copleys Tochter, nicht wahr?«, fragte Weiss. »Ich habe ihn vor zwei Wochen im Zusammenhang mit einem Gemeindeprojekt getroffen.«
»Er engagiert sich wirklich sehr für die Stadt«, sagte Amelia mit einem strahlenden Lächeln. »Vermutlich hat er seine Finger überall drin. Und Dad hält große Stücke auf unsere Sookie hier.« Nicht allzu subtil, aber hoffentlich wirksam. Lassen Sie meine Mitbewohnerin in Ruhe. Mein Vater ist ein mächtiger Mann.
Weiss nickte liebenswürdig. »Und wie hat es Sie nach Bon Temps verschlagen, Miss Broadway?«, fragte sie. »Es muss Ihnen hier doch recht ruhig erscheinen, nach New Orleans.« Was macht ein reiches Miststück wie Sie hier in so einem Kaff? Und übrigens, Ihr Vater ist nicht in der Nähe, um sich für Sie zu verwenden.
»Mein Haus wurde während des Hurrikans beschädigt«, sagte Amelia und beließ es dabei. Sie erzählte ihnen nicht, dass sie schon vor Hurrikan Katrina nach Bon Temps gekommen war.
»Und Sie Miss Fant?«, fragte Lattesta. »Sind Sie auch als Flüchtling hierhergekommen?« Er hatte keineswegs das Thema meiner Fähigkeiten fallen gelassen, sondern ließ sich nur bereitwillig auf den Verlauf des Gesprächs ein.
»Ja«, erwiderte Octavia. »Ich habe unter sehr beengten Verhältnissen bei meiner Nichte gewohnt, und Sookie hat mir freundlicherweise ihr leer stehendes Zimmer angeboten.«
»Woher kennen Sie sich eigentlich?«, fragte Weiss, als erwartete sie, eine unterhaltsame Geschichte zu hören.
»Über Amelia«, sagte ich und erwiderte ihr Lächeln ganz genauso erfreut.
»Und Sie und Amelia kennen sich... ?«
»... aus New Orleans«, sagte Amelia entschlossen, allen Fragen in dieser Richtung damit ein Ende zu bereiten.
»Möchten Sie noch etwas Eistee?«, fragte Octavia Lattesta.
»Oh nein, vielen Dank«, erwiderte er beinahe schaudernd. Octavia war dran gewesen, den Tee anzusetzen, und sie hatte wirklich eine extreme Vorliebe für Zucker. »Miss Stackhouse, Sie wissen also auch nicht, wie wir mit diesem Mann Kontakt aufnehmen können?« Lattesta zeigte auf das Foto.
Ich zuckte die Achseln. »Wir haben zusammen bei der Suche nach Halbtoten geholfen. Es war ein schrecklicher Tag. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welchen Namen er nannte.«
»Seltsam«, erwiderte Lattesta, und ich dachte: Oh, Mist. »Denn am Abend desselben Tages haben eine Frau, auf die Ihre Beschreibung passt, und ein Mann, auf den seine Beschreibung passt, in einiger Entfernung des Geschehens gemeinsam ein Motelzimmer genommen.«
»Nun, man muss nicht unbedingt wissen, wie jemand heißt, um die Nacht mit ihm zu verbringen«, warf Amelia, ganz die Logik in Person, ein.
Ich zuckte die Achseln und versuchte, einen verlegenen Eindruck zu machen, was nicht allzu schwer war.
Besser sie hielten mich für eine, die mit jedem ins Bett stieg, als für eine, die einer näheren Betrachtung wert war. »Wir hatten gemeinsam ein schreckliches, aufwühlendes Ereignis durchgemacht. Und danach haben wir uns einander sehr nahe gefühlt. So haben wir eben reagiert.« In Wirklichkeit war Barry fast umgehend aufs Bett gesunken, und ich bald darauf eingeschlafen. Ein Techtelmechtel wäre das Letzte gewesen, woran wir gedacht hätten.
Die beiden Agenten sahen mich zweifelnd an. Weiss dachte, dass ich mit Sicherheit log, und Lattesta vermutete es. Er war der Ansicht, dass ich Barry sehr gut kannte.
Das Telefon klingelte, und Amelia eilte in die Küche, um dranzugehen. Als sie zurückkehrte, war sie ganz grün im Gesicht.
»Sookie, das war Antoine, von seinem Handy aus. Sie brauchen dich im Merlotte's«, sagte sie. Und dann wandte sie sich an die FBI-Agenten. »Sie sollten besser gleich mitfahren.«
»Warum?«, fragte Weiss. »Was gibt's?« Sie war bereits aufgestanden. Lattesta legte das Foto wieder in seinen Aktenkoffer.
»Eine Leiche«, sagte Amelia. »Hinter dem Merlotte's wurde eine Frau gekreuzigt.«