Kapitel 7
Am nächsten Morgen rief Andy Bellefleur an und gab mir grünes Licht: Ich durfte das Merlotte's wieder aufmachen.
Und als schließlich auch das Absperrband um den Tatort entfernt war, kehrte Sam nach Bon Temps zurück. Ich war so froh, meinen Boss wiederzusehen, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Das Merlotte's zu managen war sehr viel schwieriger gewesen, als ich mir vorgestellt hatte. Jeden Tag mussten Entscheidungen getroffen und ein Haufen Leute bei Laune gehalten werden: Gäste, Angestellte, Großhändler, Lieferanten. Sams Steuerberater hatte angerufen und Fragen gestellt, die ich nicht beantworten konnte. In drei Tagen war die Stromrechnung fällig, und ich hatte keine Vollmacht fürs Konto. Es hatte sich jede Menge Bargeld angehäuft, das dringend auf die Bank gebracht werden musste. Und bald war Lohnauszahlung.
Am liebsten wäre ich mit all diesen Problemen gleich in dem Moment herausgeplatzt, als Sam durch die Hintertür des Merlotte's trat. Doch es gelang mir, mich mit einem tiefen Atemzug zu beruhigen und ihn erst mal nach seiner Mutter zu fragen.
Sam umarmte mich kurz zur Begrüßung und ließ sich dann in den quietschenden Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. Er drehte sich herum, sah mich mit Erleichterung im Gesicht an und legte die Beine auf den Tisch. »Sie ist putzmunter und fast wiederhergestellt«, begann er. »Zum ersten Mal müssen wir uns keine Geschichte mehr ausdenken, warum sie so schnell gesund wird. Wir haben sie heute Morgen nach Hause gebracht, und sie versucht bereits, Hausarbeiten zu erledigen. Mein Bruder und meine Schwester löchern sie mit Fragen, seit sie sich an die Vorstellung gewöhnt haben. Sie scheinen sogar irgendwie neidisch zu sein, dass nur ich diese besondere Fähigkeit geerbt habe.«
Ich hätte ihn gern noch nach den rechtlichen Problemen seines Stiefvaters gefragt, doch Sam schien vor allem erst mal in seinen normalen Alltag zurückkehren zu wollen. Ich wartete einen Augenblick, vielleicht würde er das Thema ja selbst anschneiden. Er tat es nicht. Stattdessen fragte er nach der Stromrechnung, und mit einem erleichterten Seufzen wies ich ihn auf die Liste mit den anstehenden Dingen hin. Ich hatte sie ihm in meiner saubersten Schönschrift auf den Schreibtisch gelegt.
Ganz oben auf dieser Liste stand, dass Tanya und Amelia als Aushilfen für die Abende in der Woche eingeteilt waren, die Arlene hingeschmissen hatte.
Sam wirkte traurig. »Seit ich die Bar besitze, hat Arlene für mich gearbeitet«, sagte er. »Wird komisch sein, wenn sie nicht mehr da ist. In den letzten Monaten hat sie zwar ziemlich genervt, aber ich habe immer gehofft, dass sie früher oder später wieder die Alte werden würde. Glaubst du, sie überlegt es sich noch mal?«
»Vielleicht jetzt, wo du wieder da bist«, erwiderte ich, auch wenn ich allergrößte Zweifel hegte. »Aber sie ist so intolerant geworden. Ich glaube eher nicht, dass sie für einen Gestaltwandler arbeiten will. Tut mir leid, Sam.«
Er schüttelte den Kopf. Wenn ich daran dachte, was seiner Mutter widerfahren war und dass die Bevölkerung Amerikas nicht gerade begeistert auf diese seltsame Seite der Welt reagiert hatte, überraschte mich seine düstere Stimmung nicht.
Mich wunderte, dass es mal eine Zeit gab, in der auch ich keine Ahnung gehabt hatte. Ich hatte nicht erkannt, dass einige meiner Freunde und Bekannten Wergeschöpfe waren, weil ich nicht wusste, dass so etwas überhaupt existiert. Man kann jedes Anzeichen falsch interpretieren, wenn man nicht weiß, in welchen Zusammenhang es gehört. Ich hatte mich immer gefragt, warum ich die Gedanken mancher Leute nur schwer entziffern konnte und warum ihre Hirne ein so ganz anderes Muster aufwiesen. Aber auf die Idee, dass diese Hirne Menschen gehörten, die sich im wahrsten Sinn des Wortes in Tiere verwandeln konnten, war ich einfach nicht gekommen.
»Meinst du, das Merlotte's könnte schlechter laufen, weil ich Gestaltwandler bin oder wegen dieses Mordes?«, fragte Sam. Und dann schüttelte er plötzlich wieder den Kopf und fügte hinzu: »Tut mir leid, Sook. Ich habe ganz vergessen, dass Crystal ja deine Schwägerin war.«
»Ich war nie wahnsinnig begeistert von ihr, wie du ja weißt«, erwiderte ich so sachlich wie möglich. »Aber ich finde es schrecklich, was ihr angetan wurde, ganz egal, wie sie war.«
Sam nickte. Ich hatte noch nie einen so bedrückten und ernsten Ausdruck in seinem Gesicht gesehen. Eigentlich war er eine Frohnatur.
»Ach«, sagte ich, als ich schon bei der Tür war und mich noch mal umdrehte. Einen Augenblick stand ich verlegen da, dann holte ich tief Luft. »Ich bin jetzt übrigens mit Eric verheiratet.« Doch meine Hoffnung, mir mit dieser Sentenz einen witzigen Abgang verschaffen zu können, wurde schwer enttäuscht. Sam sprang aus seinem Drehstuhl auf und packte mich bei den Schultern.
»Was hast du getan?«, fragte er. Seine Stimme klang todernst.
»Ich habe gar nichts getan«, erwiderte ich, erschrocken über seine Heftigkeit. »Eric hat das in die Wege geleitet.« Ich erzählte Sam von dem Dolch.
»War dir denn nicht klar, dass dieser Dolch irgendetwas bedeuten musste?«
»Ich wusste ja nicht mal, dass es ein Dolch war«, sagte ich noch in recht sachlichem Ton, auch wenn ich langsam richtig sauer wurde. »Bobby hat's mir nicht gesagt. Er wusste es vermutlich selbst nicht, damit ich es nicht in seinen Gedanken lesen konnte.«
»Wo hattest du bloß deinen Verstand? Sookie, das war absolut idiotisch.«
Das war nicht so ganz die Reaktion, die ich erwartet hatte von einem Mann, um den ich mir echte Sorgen gemacht und für dessen Bar ich tagelang wie eine Irre geschuftet hatte. Also zog ich mich ganz auf meinen verletzten Stolz zurück. »Dann lass mich idiotische Person einfach nach Hause fahren, damit du dich nicht noch länger mit meiner Idiotie abgeben musst«, sagte ich. Mein Ton war immer noch gleichförmig genug, um nicht zu kippen. »Denn jetzt, wo du wieder da bist, kann ich ja wohl nach Hause fahren und muss nicht mehr jede einzelne Minute des Tages dafür sorgen, dass hier alles rund läuft.«
»Tut mir leid«, murmelte Sam, aber es war zu spät. Ich saß schon auf meinem hohen Ross und galoppierte darauf aus dem Merlotte's hinaus.
Ich war aus der Hintertür raus, noch ehe der schlimmste Trinker von Bon Temps bis fünf gezählt hätte. Und dann saß ich auch schon im Auto und war auf dem Weg nach Hause. Ich war wütend, und ich war traurig, und ich hatte den üblen Verdacht, dass Sam völlig recht hatte. Aber gerade dann wird man erst so richtig wütend, stimmt's? Wenn man weiß, dass man etwas total Dummes getan hat. Erics Erklärung hatte meine Bedenken jedenfalls nicht völlig beseitigen können.
Ich war heute für die Abendschicht eingeteilt, mir blieb also noch Zeit, mich wieder zusammenzureißen. Es war keine Frage, dass ich zur Arbeit gehen würde. Ob ich mit Sam nun verkracht war oder nicht, ich musste Geld verdienen.
Aber eigentlich wollte ich gar nicht nach Hause fahren, dort würde ich nur über meine verwirrten Gefühle nachdenken müssen.
Also bog ich ab und fuhr zu Tara's Togs. Ich hatte meine alte Freundin Tara nur noch selten gesehen, seit sie Knall auf Fall JB du Rhone geheiratet hatte. Doch mein innerer Kompass zeigte in ihre Richtung. Zum Glück war Tara allein in ihrer Boutique. McKenna, ihre »Hilfe«, arbeitete nicht Vollzeit. Tara kam aus dem Hinterzimmer, als die Türglocke erklang. Sie wirkte ein wenig überrascht, mich zu sehen, doch dann lächelte sie. Unsere Freundschaft hatte bereits einiges Auf und Ab erlebt, doch momentan schien alles okay zu sein. Großartig.
»Was ist los?«, fragte Tara, die attraktiv aussah in dem eng anliegenden blaugrünen Pullover, den sie trug. Tara ist größer als ich und richtig hübsch, und eine richtig gute Geschäftsfrau noch dazu.
»Ich habe was Dummes getan und weiß jetzt selbst nicht, was ich davon halten soll«, sagte ich.
»Dann erzähl mir alles«, erwiderte Tara. Wir setzten uns an den Tisch, auf dem die Hochzeitskataloge lagen, und sie schob mir Papiertaschentücher zu. Tara wusste immer, ob ich zu weinen beginnen würde.
Und so erzählte ich ihr die lange Geschichte, angefangen mit dem Vorfall in Rhodes, als ich mit Eric Blut tauschte - genau ein Mal zu oft, wie sich dann herausgestellt hatte. Und ich erzählte ihr auch von den seltsamen Blutsbanden, die Eric und mich seitdem verbanden.
»Damit ich das richtig verstehe«, warf Tara ein. »Er hat sich angeboten, dein Blut zu trinken, damit dich nicht ein noch schlimmerer Vampir beißt?«
Ich nickte und tupfte mir die Augen ab.
»Wow, was für eine Selbstaufopferung.« Tara hatte einige richtig schlechte Erfahrungen mit Vampiren gemacht. Ihre sarkastische Zusammenfassung überraschte mich also nicht.
»Glaub mir, dass Eric es getan hat, war bei Weitem das kleinere Übel«, versicherte ich ihr.
Und da fiel mir plötzlich auf, dass ich jetzt frei wäre, wenn Andre in jener Nacht mein Blut getrunken hätte. Denn Andre war noch auf dem Schauplatz der Explosion gestorben. Doch diesen Gedanken verfolgte ich gar nicht erst weiter, ich ließ ihn gleich wieder fallen. So war es nicht gewesen, ich war nicht frei. Und waren die Ketten, die ich jetzt trug, nicht auch viel hübscher?
»Was empfindest du denn für Eric?«, fragte Tara.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Es gibt Dinge an ihm, die ich fast liebe, und andere, die mir eine Höllenangst einjagen. Und ich... weißt du... ich will ihn richtig. Aber er manipuliert mich. Natürlich immer nur zu meinem Besten, sagt er. Ich glaube ihm ja, dass ich ihm etwas bedeute. Aber er selbst bedeutet sich immer noch am meisten.« Ich musste erst mal tief Luft holen. »Tut mir leid, dass ich so vor mich hin fasele.«
»Deshalb habe ich JB geheiratet«, sagte Tara. »Damit ich mich nicht mehr mit solchem Mist herumschlagen muss.« Und wie um ihre eigene gute Entscheidung zu bekräftigen, nickte sie.
»Tja, den kann ich wohl nicht mehr kriegen, weil du ihn schon hast«, erwiderte ich und versuchte zu lächeln. Eine Ehe mit einem Mann, der so einfach gestrickt war wie JB, schien wirklich entspannend zu sein. Aber sollte man sich in eine Ehe zurücklehnen wie in einen gemütlichen Sessel? Wenigstens war es nie langweilig, wenn ich mit Eric Zeit verbrachte, dachte ich. So lieb und nett er auch war, JBs Fähigkeiten, ein unterhaltsames Gespräch zu führen, waren begrenzt.
Außerdem würde immer Tara diejenige sein müssen, die die Verantwortung übernahm. Tara war nicht dumm, und sie hätte sich nie von der Liebe blenden lassen. Von anderen Dingen vielleicht, aber nicht von der Liebe. Ich wusste, dass Tara die Bedingungen ihrer Ehe mit JB völlig klar waren, und es schien ihr nichts auszumachen. Für sie hatte die Rolle des Steuermanns oder Kapitäns etwas Beruhigendes, so lag die Kontrolle immer bei ihr. Aber so etwas wollte ich nicht, und auch über mich sollte keiner bestimmen - ich trug die Verantwortung für mein Leben definitiv selbst. Mein Konzept von Ehe lief eher auf so eine Art gleichberechtigte Partnerschaft hinaus.
»Fassen wir also zusammen«, sagte Tara und imitierte eine unserer Highschool-Lehrerinnen perfekt. »Die unanständigen Dinge hast du mit Eric schon getrieben.«
Ich nickte. Aber hallo, und wie.
»Zurzeit schuldet die gesamte Vampirgemeinde dir etwas für irgendwelche Dienste, die du ihnen geleistet hast. Und ich will gar nicht wissen, was genau es war und warum du es getan hast.«
Wieder nickte ich.
»Außerdem besitzt Eric dich mehr oder weniger ein Stück weit wegen dieser Sache mit den Blutsbanden. Was er aber nicht unbedingt im Voraus geplant haben muss, das sollten wir ihm zumindest zugestehen.«
»Mhm.«
»Und dann hat er dich in eine Situation gebracht, in der du seine Verlobte wurdest? Oder seine Ehefrau? Aber du hast nicht gewusst, was du da tust.«
»Richtig.«
»Und Sam hat dich eine Idiotin genannt, weil du Eric gehorcht hast.«
Ich zuckte die Achseln. »Ja, irgendwie schon.«
Dann musste Tara erst mal eine Kundin bedienen, was aber nur ein paar Minuten dauerte. (Rikki Cunningham wollte das Kleid anzahlen, das sie für ihre Tochter zum Abschlussball der Highschool hatte zurücklegen lassen.) Als Tara sich wieder auf ihren Stuhl setzte, hatte sie sich eine Meinung gebildet. »Sookie, Eric macht sich wenigstens überhaupt Gedanken um dich, und er hat dich nie verletzt. Natürlich, du hättest dich klüger verhalten sollen. Aber vielleicht konntest du das gar nicht, wegen dieser Blutsbande, oder weil du so verknallt in ihn bist, dass du nicht genug Fragen stellst. Das kannst nur du selbst wissen. Aber es könnte alles schlimmer sein. Nicht-Supras müssen von dieser Sache mit dem Dolch doch gar nichts erfahren. Und Eric muss sich tagsüber zurückziehen, so dass dir genug Eric-freie Zeit zum Nachdenken bleibt. Außerdem hat er geschäftlich viel zu tun und wird dir nicht auf Schritt und Tritt folgen. Und die neuen Vampir-Bürokraten werden dich in Ruhe lassen, weil sie Eric bei Laune halten wollen. Ist doch gar nicht so schlecht, oder?« Tara lächelte mich an, und nach einem Augenblick versuchte ich, ihr Lächeln zu erwidern.
Es ging mir schon wieder besser. »Danke, Tara. Glaubst du, Sams Wut auf mich wird sich legen?«
»Ich würde nicht unbedingt eine Entschuldigung von ihm erwarten dafür, dass er dein Verhalten idiotisch genannt hat«, warnte Tara mich. »Denn zum einen ist es wahr, und zum anderen ist er ein Mann. Er hat eben dieses Chromosom. Aber ihr beide habt euch doch immer bestens verstanden, und er schuldet dir etwas dafür, dass du dich ums Merlotte's gekümmert hast. Er wird sicher einlenken.«
Ich warf mein benutztes Papiertaschentuch in den kleinen Mülleimer beim Tisch. Dann lächelte ich, auch wenn mir das wahrscheinlich schon besser gelungen war.
»Und jetzt«, sagte Tara, »habe ich noch eine Neuigkeit für dich.« Sie holte tief Luft.
»Was denn?«, fragte ich erfreut, weil wir wieder ganz auf dem Beste-Freundinnen-Terrain waren.
»Ich bekomme ein Baby«, erzählte Tara, und ihr Gesicht erstarrte zu einer Grimasse.
Ah, oh. Gefährliches Terrain. »Du wirkst nicht allzu glücklich«, erwiderte ich vorsichtig.
»Ich hatte nicht vor, Kinder zu kriegen«, sagte Tara. »Was für JB okay war.«
»Aber...?«
»Aber auch mehrere Verhütungsmethoden auf einmal wirken nicht immer.« Tara sah auf ihre Hände hinab, die gefaltet auf einer Brautzeitschrift lagen. »Und ich kann's nicht einfach wegmachen lassen. Es ist unseres.«
»Könnte ... könnte es nicht sein, dass du dich irgendwann sogar darüber freust?«
Tara versuchte zu lächeln. »JB freut sich schon so sehr, dass es ihm schwerfällt, es für sich zu behalten. Aber ich wollte auf jeden Fall die ersten drei Monate abwarten. Du bist die Erste, die es erfährt.«
»Ich versichere dir«, begann ich und klopfte ihr auf die Schulter, »dass du eine gute Mutter sein wirst.«
»Glaubst du wirklich?« Sie wirkte ängstlich und hatte wohl auch Angst. Taras Mutter und Vater waren die Sorte Eltern gewesen, die bisweilen von den eigenen Kindern erschossen werden. Allein ihre Abscheu vor Gewalt hatte Tara vor diesem Weg bewahrt. Aber ich glaube, in Bon Temps hätte sich auch keiner gewundert, wenn die alten Thorntons eines Nachts verschwunden wären. Da hätten einige Leute sogar applaudiert.
»Ja, das glaube ich wirklich.« Und das meinte ich auch so. In ihren verborgensten Gedanken konnte ich lesen, dass Tara wild entschlossen war, alles, was ihre Mutter ihr angetan hatte, auszulöschen, indem sie selbst ihrem Kind die beste aller Mütter sein würde. Was in Taras Fall hieß, dass sie keinen Alkohol trinken, nie fluchend herumschreien und immer loben würde.
»Ich werde zu jedem Elternsprechtag und zu jedem Tag der offenen Tür in die Schule gehen«, sagte sie, jetzt in einem Ton, der schon fast beängstigend entschlossen klang. »Ich werde Brownies backen. Mein Kind wird nagelneue Sachen zum Anziehen haben. Seine Schuhe werden passen. Es wird geimpft werden, und es kriegt eine Zahnspange. Nächste Woche wollen wir ein Sparbuch fürs College anlegen. Und ich werde meinem Kind jeden verdammten Tag sagen, dass ich es liebe.«
Also wenn das kein großartiger Plan war, eine gute Mutter zu werden, dann weiß ich es auch nicht.
Als wir beide aufgestanden waren, umarmten wir uns zum Abschied. Genau so sollte es sein, dachte ich.
Dann fuhr ich nach Hause. Ich aß einen späten Lunch, zog meine Arbeitskleidung an, und als das Telefon klingelte, hoffte ich, dass Sam dran wäre und die Wogen etwas glätten wollte. Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung war die eines älteren Mannes, den ich nicht kannte.
»Hallo? Ich würde gern mit Octavia Fant sprechen.«
»Sie ist nicht da, Sir. Kann ich etwas ausrichten?«
»Wenn Sie so nett wären.«
»Natürlich.« Ich war in der Küche ans Telefon gegangen, Stift und Papier lagen also bereit.
»Sagen Sie ihr bitte, das Louis Chambers angerufen hat. Hier meine Nummer.« Langsam und sorgfältig diktierte er sie mir, und ich wiederholte die Zahlen, um mich zu vergewissern, dass ich sie richtig aufgeschrieben hatte. »Octavia soll mich bitte zurückrufen. Natürlich gern per R-Gespräch.«
»Ich sorge dafür, dass sie Ihre Nachricht erhält.«
»Vielen Dank.«
Hmmm. Über das Telefon konnte ich keine Gedanken lesen, worüber ich meistens sehr froh war. Aber über diesen Mr Chambers hätte ich doch zu gern etwas mehr gewusst.
Als Amelia kurz nach fünf nach Hause kam, saß Octavia bei ihr im Wagen. Octavia hatte sich in Bon Temps wohl auf die Suche nach einem Job gemacht, dachte ich, während Amelia heute Nachmittag in der Versicherungsagentur gearbeitet hatte. Amelia war mit Abendessenkochen dran, und auch wenn ich bald ins Merlotte's aufbrechen musste, machte es Spaß, zuzusehen, mit welchem Schwung sie eine Spaghettisoße fabrizierte. Ich reichte Octavia den Notizzettel mit der Nachricht für sie, als Amelia Zwiebeln und eine Paprika schnitt.
Octavia stieß einen erstickten Laut aus. Amelia ließ das Gemüsemesser sinken und wartete gemeinsam mit mir darauf, dass die alte Frau den Blick wieder von dem Zettel heben und uns über die Hintergründe aufklären würde. Doch das geschah nicht.
Nach einem Moment erkannte ich, dass Octavia weinte. Ich lief in mein Schlafzimmer und holte ein Papiertaschentuch. Taktvoll versuchte ich, es Octavia zu reichen, so als hätte ich gar nichts bemerkt und nur rein zufällig gerade ein Papiertaschentuch zur Hand.
Amelia blickte angelegentlich auf das Schneidebrett und schnitt weiter Gemüse, während ich auf die Uhr sah und in meiner Handtasche nach meinen Schlüsseln zu wühlen begann, womit ich eine Unmenge Zeit vertat.
»Hat er gesund geklungen?«, fragte Octavia schließlich mit immer noch erstickter Stimme.
»Ja«, sagte ich. Aber was konnte man schon an einer Stimme am anderen Ende einer Telefonleitung erkennen? »Es klang, als wollte er dich unbedingt sprechen.«
»Oh, ich muss ihn zurückrufen«, rief sie ungestüm.
»Natürlich«, erwiderte ich. »Wähl einfach die Nummer. Und halt dich nicht mit R-Gespräch oder solchen Sachen auf. Wir können auf der Telefonrechnung sehen, wie teuer es war.« Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich Amelia an. Doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie wusste auch nicht, was zum Teufel hier los war.
Mit zitternden Fingern wählte Octavia. Gleich beim ersten Klingeln drückte sie den Hörer ans Ohr. Ich erkannte es sofort, als Louis Chambers abhob. Octavia presste die Augen zusammen und umklammerte den Hörer so fest, dass ihre Fingerknöchel hervortraten.
»Oh, Louis!«, rief sie mit einer Stimme, die überfloss von riesiger Erleichterung und großem Staunen. »Oh, Gott sei Dank! Geht es dir gut?«
In diesem Moment schlichen Amelia und ich aus der Küche. Amelia brachte mich zu meinem Auto. »Hast du je von diesem Louis gehört?«, fragte ich.
»Sie hat nie über ihr Privatleben geredet, als ich bei ihr zaubern lernte. Aber andere Hexen haben mir erzählt, dass Octavia einen festen Freund hat. Seit sie hier ist, hat sie ihn allerdings nie erwähnt. Es scheint, als hätte sie seit Katrina nichts mehr von ihm gehört.«
»Vielleicht hatte sie angenommen, dass er den Hurrikan nicht überlebt hat«, meinte ich, und mit aufgerissenen Augen sahen wir uns an.
»Das ist ja 'n Ding«, sagte Amelia. »Nun, dann werden wir Octavia wohl bald verlieren.« Sie versuchte zu verbergen, wie erleichtert sie war, aber ich konnte es natürlich in ihren Gedanken lesen. So sehr Amelia ihre Mentorin auch mochte, für Amelia war das Zusammenwohnen mit Octavia immer wie das Zusammenwohnen mit der eigenen Grundschullehrerin gewesen.
»Ich muss los«, sagte ich. »Halt mich auf dem Laufenden. Schick mir eine SMS, wenn's große Neuigkeiten gibt.« Das Schreiben von SMS war eine meiner neuen Fertigkeiten, die ich von Amelia gelernt hatte.
Trotz der kühlen Luft setzte Amelia sich in einen der Gartenstühle, die wir vor Kurzem aus dem Schuppen geholt hatten, um mutig den anstehenden Frühling vorwegzunehmen. »Sobald ich etwas erfahre«, versicherte sie mir. »Ich warte hier noch eine Weile, dann gehe ich nach ihr sehen.«
Ich stieg ins Auto und hoffte, die Heizung würde bald warm werden. In der aufkommenden Abenddämmerung fuhr ich ins Merlotte's. Auf dem Weg sah ich einen Kojoten. Meistens waren sie zu schlau, sich sehen zu lassen, doch dieser hier trottete am Straßenrand entlang, als hätte er in der Stadt eine Verabredung. Vielleicht war es wirklich ein Kojote, vielleicht aber auch ein Mensch in anderer Gestalt. Ich dachte an all die Opossums, Waschbären und gelegentlich auch Gürteltiere, die ich jeden Morgen zerquetscht an der Straße liegen sah, und fragte mich, wie viele Wergeschöpfe wohl schon in ihrer Tiergestalt so achtlos getötet worden waren. Vielleicht waren einige der Leichen, die die Polizei für Mordopfer hielt, in Wirklichkeit Menschen, die zufällig in ihrer gewandelten Gestalt ums Leben gekommen waren. Von Crystals Leiche waren die Merkmale ihrer Tiergestalt ja auch gewichen, als die Nägel entfernt wurden und man sie vom Kreuz nahm. Ich hätte schwören mögen, dass diese Nägel aus Silber waren. Aber es gab so vieles, was ich nicht wusste.
Als ich voll guter Vorsätze, mich mit Sam zu versöhnen, durch die Hintertür des Merlotte's trat, sah ich meinen Boss mit Bobby Burnham streiten. Inzwischen war es fast dunkel und Bobbys Dienst sollte eigentlich schon beendet sein. Doch stattdessen stand er im Flur vor Sams Büro, mit hochrotem Kopf und auf Hundertachtzig.
»Was ist los?«, fragte ich. »Bobby, wollten Sie mich sprechen?«
»Ja. Dieser Kerl wollte mir nicht sagen, wann Sie wieder herkommen«, erwiderte Bobby.
»Dieser Kerl ist mein Boss, und er muss Ihnen gar nichts sagen«, gab ich zurück. »Hier bin ich. Was haben Sie mir also zu sagen?«
»Eric schickt Ihnen diese Karte und hat mir befohlen, Ihnen zu sagen, dass ich zu Ihrer Verfügung stehe, wann immer Sie mich brauchen. Ich müsste sogar Ihren Wagen waschen, wenn Sie es wollten.« Bei diesen Worten lief Bobbys Gesicht noch roter an.
Wenn Eric meinte, Bobby würde nach einer öffentlichen Erniedrigung demütiger und fügsamer sein, war er wirklich verrückt. Jetzt würde Bobby mich die nächsten hundert Jahre hassen, falls er so lange leben sollte. Ich griff nach dem Umschlag, den Bobby mir hinhielt. »Danke, Bobby. Fahren Sie zurück nach Shreveport.«
Ich hatte die letzte Silbe kaum ausgesprochen, da war Bobby auch schon zur Hintertür hinaus. Ich musterte den einfachen weißen Umschlag und steckte ihn dann in meine Handtasche. Als ich aufblickte, sah ich in Sams Augen.
»Als würdest du noch einen Feind brauchen«, sagte er und stapfte in sein Büro.
Als würde ich noch einen Freund brauchen, der sich wie ein Arschloch aufführt, dachte ich. Tja, so viel dazu, dass wir beide über unseren Streit in fröhliches Gelächter ausbrechen würden. Ich folgte Sam und verstaute meine Handtasche in der Schublade, die er für uns Kellnerinnen frei hielt. Wir sprachen kein Wort miteinander. Dann ging ich in den Lagerraum und holte mir eine Schürze. Antoine tauschte seine fleckige gerade gegen eine saubere aus.
»D'Eriq ist mit 'nem vollen Glas Jalapenos in mich reingerannt, und die Flüssigkeit ist rausgeschwappt«, erzählte er. »Ich kann den Geruch der Dinger nicht ab.«
»Uuuh«, machte ich, als mich der Gestank anwehte. »Kann ich dir nicht verdenken.«
»Ist mit Sams Mutter alles okay?«
»Ja, sie wurde aus dem Krankenhaus entlassen«, sagte ich.
»Klingt gut.«
Ich band mir die Schürzenbänder zu und meinte, Antoine wollte noch etwas sagen. Doch falls es so war, änderte er seine Meinung. Er ging den Flur hinunter und klopfte an die Küchentür, die D'Eriq von innen öffnete. Diese Tür blieb stets abgeschlossen, weil zu oft Gäste auf dem Weg zur Toilette aus Versehen in die Küche hineingeraten waren. Aber die Küche hatte noch eine andere Tür, die direkt nach draußen hinters Haus führte, wo auch der Müllcontainer stand.
Ich warf keinen Blick mehr in Sams Büro, als ich daran vorbeiging. Er wollte nicht mit mir reden - okay, dann wollte ich auch nicht mit ihm reden. Aber ich merkte selbst, wie kindisch ich mich verhielt.
Die beiden FBI-Agenten waren immer noch in Bon Temps, was mich nicht allzu sehr überraschte. Heute Abend saßen Weiss und Lattesta über einen Krug Bier und einen Korb frittierte Pickles gebeugt im Merlotte's und sprachen konzentriert miteinander. Und an einem Tisch ganz in ihrer Nähe saß, majestätisch, schön und unnahbar, mein Urgroßvater Niall Brigant.
Dieser Tag würde noch den Preis für den seltsamsten Tag meines Lebens gewinnen. Ich stieß einen Stoßseufzer aus. Und dann ging ich zu meinem Urgroßvater, um ihn zuerst zu bedienen. Er stand auf, als ich näher kam. Sein helles glattes Haar war im Nacken zusammengebunden, und er trug wie immer einen eleganten schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Nur die übliche rabenschwarze Krawatte hatte er heute ersetzt durch eine, die ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Eine rot-gold-schwarz gestreifte, die ihm fabelhaft stand. Alles an ihm glänzte und leuchtete. Sein Hemd war nicht einfach nur weiß - es war schneeweiß und gestärkt; und sein Jackett war nicht einfach nur schwarz - es war makellos tiefschwarz. Seine Schuhe wiesen nicht den kleinsten Staubpartikel auf, und die unzähligen hauchfeinen Fältchen in seinem schönen Gesicht betonten nur dessen Vollkommenheit und das prachtvolle Grün seiner Augen. Sein Alter unterstrich sein Aussehen eher noch statt es zu beeinträchtigen. Es tat beinahe weh, ihn anzusehen. Niall legte mir den Arm um die Schulter und küsste mich auf die Wange.
»Blut von meinem Blut«, sagte er, und ich lächelte seine weiße gestärkte Brust an. Er war einfach spektakulär. Und dabei gab er sich noch Mühe, nur wie ein Mensch auszusehen. Ein einziges Mal hatte ich flüchtig seine wahre Gestalt erblickt, und es hätte mich beinahe geblendet. Da außer mir keiner in der Bar bei seinem Anblick nach Luft schnappte, wusste ich, dass die anderen ihn nicht genauso sahen wie ich.
»Niall, wie schön, dass du hier bist.« Ich freute mich immer und fühlte mich geschmeichelt, wenn er mich besuchen kam. Nialls Urenkelin zu sein war etwa so, als wäre man mit einem Rockstar verwandt: Er lebte ein Leben, das ich mir nicht vorstellen konnte; reiste an Orte, die ich nie sehen würde; und besaß eine Macht, die ich nicht mal ansatzweise zu ermessen vermochte. Doch hin und wieder verbrachte er Zeit mit mir, und das war stets wie Weihnachten für mich.
Sehr leise flüsterte er mir zu: »Diese Leute dort drüben sprechen von nichts anderem als von dir.«
»Weißt du, was das FBI ist?« Niall hatte zwar einen unglaublichen Wissensfundus, aber weil er so alt war, dass er bei tausend mit Zählen aufgehört hatte und sich bei exakten Daten manchmal um mehrere Jahrhunderte verschätzte, wusste ich nicht, wie detailliert seine Informationen über die Gegenwart waren.
»Ja«, sagte er. »FBI. Eine Regierungsbehörde, die Daten über alle Gesetzesbrecher und Terroristen innerhalb der Vereinigten Staaten sammelt.«
Ich nickte.
»Aber du bist so ein guter Mensch. Du bist weder eine Mörderin noch eine Terroristin«, fuhr Niall fort. Es klang allerdings nicht so, als glaubte er, dass meine Unschuld mich schützen würde.
»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Aber verhaften wollen sie mich wohl nicht. Ich vermute eher, sie wollen herausfinden, wie mein kleines geistiges Talent funktioniert, und wenn sie mich nicht als verrückt einstufen, soll ich für sie arbeiten. Deshalb sind sie nach Bon Temps gekommen ... doch dann wurden sie abgelenkt.« Was mich auf das schmerzliche Thema brachte. »Weißt du, was Crystal zugestoßen ist?«
In diesem Augenblick riefen leider einige andere Gäste nach mir, und es dauerte eine Weile, ehe ich zu dem schon ungeduldig wartenden Niall zurückkehren konnte. Er griff das Gespräch genau dort wieder auf, wo wir unterbrochen worden waren.
»Ja, ich weiß, was ihr zugestoßen ist.« Nialls Miene schien sich nicht zu verändern, doch ich spürte die Kälte, die von ihm ausging. Hätte ich irgendetwas mit dem Mord an Crystal zu tun gehabt, es wäre mir vor Angst eiskalt den Rücken heruntergelaufen.
»Warum das denn?«, fragte ich. Er hatte sich nie für Jason interessiert, ja, Niall schien meinen Bruder nicht mal zu mögen.
»Es interessiert mich immer«, sagte Niall, »aus welchem Grund jemand, der eine Verbindung zu mir hatte, gestorben ist.« Niall sprach zwar in völlig unpersönlichem Ton von Crystals Tod, doch wenn ihre Ermordung ihn interessierte, würde er uns vielleicht auch helfen. Wollte er Jason vom Tatverdacht befreien, weil Jason ebenso sein Urenkel war wie ich seine Urenkelin? Bislang hatte Niall nie Anstalten gemacht, sich mit Jason zu treffen, geschweige denn ihn kennenzulernen.
Antoine drückte auf die Küchenklingel, weil eine meiner Bestellungen fertig war, und ich eilte los, um Sid Matt Lancaster und Bud Dearborn ihre mit Käse, Schinken und Chili überbackenen Pommes frites zu servieren. Der seit Kurzem verwitwete Sid Matt war so alt, dass er vermutlich dachte, seine Arterien könnten gar nicht noch schlimmer verkalken, und Bud Dearborn war noch nie ein Fan gesunden Essens gewesen.
Als ich wieder zu Niall zurückkehren konnte, fragte ich: »Kannst du dir vorstellen, wer es getan hat? Die Werpanther suchen auch nach dem Mörder.« Ich legte noch eine Serviette vor ihn auf den Tisch, damit ich beschäftigt aussah.
Niall verachtete die Panther nicht. Elfen schienen sich zwar als etwas Besonderes und allen anderen übernatürlichen Geschöpfen überlegen zu fühlen, doch Niall respektierte die Gestaltwandler zumindest - im Gegensatz zu den Vampiren, die in ihnen Bürger zweiter Klasse sahen.
»Ich werde mich ein wenig umhören. In letzter Zeit war ich sehr beschäftigt, weshalb ich dich auch nicht besucht habe. Es gibt Schwierigkeiten«, erwiderte Niall und sah bei diesen Worten sogar noch ernster aus als sonst.
Oh, Mist. Noch mehr Probleme.
»Aber du musst dir keine Sorgen machen«, fügte er majestätisch hinzu. »Ich werde mich darum kümmern.«
Habe ich schon erwähnt, dass Niall etwas zu viel Stolz hat? Aber ich konnte nicht anders, ich machte mir Sorgen. Jeden Augenblick musste ich wieder los, um die anderen Gäste zu bedienen, und ich wollte sicher sein, dass ich ihn richtig verstanden hatte. Niall kam nicht oft vorbei, und wenn, dann hielt er sich nie lange auf. Wer weiß, vielleicht hatte ich nachher keine Gelegenheit mehr, ihn zu sprechen. »Was ist los, Niall?«, fragte ich daher geradeheraus.
»Ich möchte, dass du ganz besonders auf dich aufpasst. Falls dir irgendwelche anderen Elfen außer Claudine und Claude oder ich selbst begegnen, ruf mich sofort an.«
»Warum sollte ich mir wegen anderer Elfen Sorgen machen?« Und dann fiel der Groschen. »Warum sollten andere Elfen mir etwas antun wollen?«
»Weil du meine Urenkelin bist.« Niall stand auf, und ich wusste, dass ich keine weiteren Erklärungen erhalten würde.
Niall umarmte und küsste mich noch einmal (Elfen sind sehr gefühlsduselig), und dann verließ er mit dem Gehstock in der Hand das Merlotte's. Ich hatte ihn den Stock noch nie als Gehhilfe benutzen sehen, aber er hatte ihn immer dabei. Ob wohl ein Dolch darin verborgen war, fragte ich mich, als ich ihm hinterhersah. Oder vielleicht war es ein besonders langer Zauberstab. Oder beides. Ach, wenn er doch nur noch eine Weile geblieben wäre oder die drohende Gefahr wenigstens etwas genauer beschrieben hätte.
»Miss Stackhouse«, sagte da hinter mir ein Mann höflich, »würden Sie uns bitte noch einen Krug Bier und einen Korb frittierte Pickles bringen?«
Ich drehte mich zu Spezialagent Lattesta um. »Natürlich, gern«, erwiderte ich und lächelte automatisch.
»Das war ein sehr gut aussehender Mann«, sagte Sarah Weiss, die die Wirkung der beiden Gläser Bier, die sie getrunken hatte, bereits spürte. »Er sah irgendwie anders aus. Kommt er aus Europa?«
»Er sieht wirklich wie ein Ausländer aus«, stimmte ich zu, nahm den leeren Bierkrug und brachte ihnen einen neuen, ohne ein einziges Mal das Lächeln einzustellen. Dann stieß Catfish, der Boss meines Bruders, mit dem Ellenbogen eine Cola-Rum um, und ich musste D'Eriq sagen gehen, dass er einen Wischlappen für den Tisch und einen Putzlappen für den Boden mitbringen sollte.
Danach gerieten zwei Dummköpfe, die mit mir in eine Schulklasse gegangen waren, in einen so heftigen Streit über die Frage, wer den besseren Jagdhund habe, dass Sam schließlich einschreiten musste. Und schneller als sonst kamen sie wieder zur Vernunft, jetzt, da sie wussten, was Sam war - ein unerwarteter Vorteil.
Viele der Gespräche an diesem Abend im Merlotte's drehten sich natürlich um Crystals Tod. Dass sie eine Werpantherin gewesen war, hatte sich in der Stadt herumgesprochen. Etwa die Hälfte der Gäste war überzeugt, dass sie von jemandem ermordet wurde, der die eben erst bekannt gewordenen Supras hasste. Die andere Hälfte war nicht so sicher, dass Crystal wegen ihrer Werpanther-Natur getötet wurde. Für diese Gäste war ihre sexuelle Freizügigkeit schon Grund genug. Und die meisten von ihnen hielten Jason für den Täter. Manche hatten sogar Verständnis für ihn. Andere hatten Crystal oder ihren Ruf gekannt und meinten, Jason habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Fast alle diese Leute dachten an Crystal nur noch im Zusammenhang mit der Frage, ob Jason schuldig war oder nicht. Wirklich traurig, dachte ich, dass die meisten sie nur wegen der Art ihres Todes in Erinnerung behalten würden.
Ich hätte Jason besuchen oder anrufen sollen, doch ich hatte kein Bedürfnis danach gespürt. Jasons Verhalten in den letzten Monaten hatte etwas in mir abgetötet. Jason war zwar mein Bruder, ich liebte ihn und er wurde anscheinend endlich erwachsen, aber ich fand, dass ich ihm nicht mehr in allen Herausforderungen seines Lebens beistehen musste. Was mich zu einer schlechten Christin machte, tja, stimmt. Ich war sicher keine tiefgründige theologische Denkerin, doch ich hatte mich schon so manches Mal gefragt, ob die Krisen in meinem Leben nicht immer wieder auf die eine Alternative hinausliefen: Sei eine schlechte Christin oder stirb.
Und ich hatte mich jedes Mal fürs Leben entschieden.
Aber sah ich das richtig? Gab es noch andere Sichtweisen, die mich erleuchten könnten? Doch an wen sollte ich mich wenden? Ich sah das Gesicht des Methodistenpredigers schon vor mir, wenn ich ihn fragte: »Wäre es besser, einen Gegner gewähren zu lassen und von ihm getötet zu werden statt ihn selbst zu erstechen und sich zu retten? Wäre es besser, ein vor Gott abgegebenes Gelöbnis zu brechen statt einem guten Bekannten den Finger zu zertrümmern?« Das waren Konflikte, denen ich mich bereits stellen musste. Vielleicht hatte ich vor Gott große Schuld auf mich geladen. Aber vielleicht schützte ich mich auch nur genau so, wie Gott es wollte. Ich wusste es einfach nicht, und mein Denken war nun mal nicht so tiefgründig, dass ich auf Fragen wie diese die ewig gültige Antwort finden konnte.
Würden die Leute, die ich hier im Merlotte's bediente, lachen, wenn sie von meinen Skrupeln wüssten? Würde meine Sorge um meinen Seelenfrieden sie amüsieren? Viele würden vermutlich sagen, dass in der Bibel alle Lebenssituationen beschrieben seien und ich meine Antworten dort schon fände, wenn ich nur öfter im Buch der Bücher lesen würde.
Bislang hatte das zwar nicht funktioniert, aber ich hatte noch nicht aufgegeben. Und damit meine Gedanken sich nicht weiter im Kreis drehten, ließ ich jetzt zur Abwechslung mal meine Schutzbarrieren herunter, um zu sehen, was die Leute so dachten.
Sarah Weiss hielt mich für eine einfache junge Frau, die das unglaubliche Glück hatte, mit einer solchen Gabe (wie sie es nannte) gesegnet zu sein. Sie glaubte alles, was Lattesta ihr über die Ereignisse nach dem Einsturz der Pyramide erzählt hatte, denn hinter ihrer pragmatischen Lebenshaltung verbarg sich ein Hang zum Mystischen. Und auch Lattesta hielt es für höchst wahrscheinlich, dass ich Hellseherin war. Er hatte die Berichte der Notfallhelfer in Rhodes mit großem Interesse angehört, und seit unserer Begegnung war er der Ansicht, dass sie die Wahrheit gesagt hatten. Er wollte unbedingt herausfinden, wie ich meinem Land und seiner Karriere dienlich sein könnte, denn ihm würde eine dicke Beförderung winken, wenn er mein Vertrauen gewinnen und mein FBI-Führungsoffizier werden könnte. Und wenn er diesen anderen Mann auch noch auftreiben könnte, wäre sein kometenhafter beruflicher Aufstieg gesichert. Dann würde er quasi die Leiter hinauffallen und gleich in die FBI-Zentrale in Washington versetzt werden.
Ob ich Amelia bitten sollte, die FBI-Agenten mit einem Zauberbann zu belegen? Nein, irgendwie erschien mir das wie Betrug. Immerhin waren die beiden keine Supras. Sie taten nur, was man ihnen aufgetragen hatte, und sie wollten mir nichts Böses. Lattesta glaubte sogar, er würde mir einen Gefallen tun, weil er mich aus diesem kleinen Provinznest hier herausholen und mir ins Rampenlicht der Öffentlichkeit verhelfen konnte - oder zumindest zu hohem Ansehen beim FBI.
Als wenn mich das irgendwie interessieren würde.
Während ich unentwegt lächelnd meine Arbeit erledigte und mit den Gästen plauderte, versuchte ich mir auszumalen, wie es wäre, mit Lattesta Bon Temps zu verlassen. Das FBI würde sicher irgendwelche Tests entwickeln, um meine Genauigkeit zu prüfen, und herausfinden, dass ich keine Hellseherin, sondern Telepathin war. Und wenn sie erst die Beschränkung meines Talents erkannt hätten, würden sie mich an all die Schauplätze schrecklicher Katastrophen bringen, wo ich nach Überlebenden suchen sollte. Sie würden mich in Räume mit Geheimagenten fremder Länder stecken oder mit Amerikanern, die sie entsetzlicher Taten verdächtigten. Ich würde dem FBI sagen müssen, ob diese Leute der Verbrechen schuldig waren, deren man sie verdächtigte. Ich würde es vielleicht sogar mit Serienmördern zu tun kriegen. Herrgott, mir wurde jetzt schon übel, wenn ich mir vorstellte, was ich in den Gedanken solcher Menschen lesen würde.
Aber würde das Wissen, das nur mir zugänglich war, nicht eine große Hilfe sein und Leben retten? Vielleicht könnte ich weit im Voraus von verbrecherischen Plänen erfahren und so den Tod vieler Menschen verhindern.
Ich schüttelte den Kopf. Meine Gedanken wanderten in zu weite Gefilde. All das könnte geschehen. Ein Serienmörder könnte gerade in dem Moment, in dem ich seine Gedanken las, daran denken, wo er seine Opfer begraben hatte. Doch meiner Erfahrung nach dachten die Leute höchst selten: »Ja, diese Leiche habe ich am Clover Drive 1218 unter einem Rosenbusch verscharrt« oder »Das gestohlene Geld liegt auf meinem Nummernkonto 12345 bei der Schweizerischen Nationalbank«. Und schon gar nicht: »Ich plane, Gebäude XYZ am 4. Mai in die Luft zu sprengen, und meine sechs Komplizen heißen...«
Klar, ich könnte natürlich eine Menge Gutes tun. Aber was immer ich auch erreichte, es würde nie den Erwartungen der Regierung genügen. Und ich wäre nie wieder frei. Sie würden mich sicher nicht in einer Zelle festhalten oder so was - so paranoid, dass ich damit rechnete, war ich auch wieder nicht. Aber ich könnte nie wieder ein eigenes Leben führen, so wie ich es mir wünsche.
Also entschied ich mich einmal mehr dafür, eine schlechte Christin - oder zumindest eine schlechte Amerikanerin - zu sein. Doch solange man mich nicht dazu zwang, würde ich Bon Temps weder mit Agentin Sarah Weiss noch mit Spezialagent Tom Lattesta verlassen. Da war's ja noch besser, mit einem Vampir verheiratet zu sein.