Kapitel 2
Ich ging am frühen Morgen ins Merlotte's - was für mich hieß, halb neun -, um zu sehen, ob alles lief, und blieb gleich da, um für Arlene einzuspringen. Ich würde eine Doppelschicht machen müssen. Zum Glück war der Andrang zum Lunch nicht ganz so groß wie sonst. Keine Ahnung, ob das eine Reaktion auf Sams Zweigestaltigkeit war oder einfach der normale Lauf der Dinge. Wenigstens konnte ich so ein paar Telefonate führen, während Terry Bellefleur (der sich mit verschiedenen Teilzeitjobs über Wasser hielt) hinter dem Tresen die Stellung hielt. Terry war guter Stimmung, oder zumindest, was bei ihm als gute Stimmung durchging; er war Vietnamveteran und hatte im Krieg äußerst schlechte Erfahrungen gemacht. Im Grunde seines Herzens war er ein guter Kerl, und wir waren immer miteinander klargekommen. Er war absolut fasziniert von der Großen Offenbarung der Wergeschöpfe, denn nach dem Krieg war Terry stets besser mit Tieren als mit Menschen ausgekommen.
»Wetten, dass ich aus dem Grund immer so gern für Sam gearbeitet habe«, sagte Terry, und ich lächelte ihn an.
»Ich arbeite auch gern für ihn«, erwiderte ich.
Während Terry also für frisches Bier sorgte und ein Auge auf Jane Bodehouse hatte, die einzige Frau unter den Alkoholikern in Bon Temps, setzte ich mich ans Telefon und suchte nach einer neuen Kellnerin. Amelia hatte gesagt, sie würde gelegentlich aushelfen, aber nur abends, weil sie mittlerweile einen befristeten Job als Schwangerschaftsvertretung in einer Versicherungsagentur hatte.
Zuerst rief ich Charlsie Tooten an. Charlsie sagte, wenn auch mit Bedauern, sie würde sich schon den ganzen Tag um ihren Enkel kümmern, während ihre Tochter arbeitete, und wäre abends einfach zu müde zum Kellnern. Und eine weitere frühere Kollegin aus dem Merlotte's, die ich anrief, hatte bereits woanders angefangen. Holly erklärte, sie könne einmal pro Woche eine Doppelschicht übernehmen, aber nicht öfter, wegen ihres kleinen Jungen. Danielle, eine weitere Vollzeitangestellte, sagte dasselbe. (Aber Danielle war gleich doppelt entschuldigt, denn sie hatte zwei Kinder.)
Also rief ich schließlich mit einem tiefen Seufzer, um Sams leeres Büro wissen zu lassen, wie aufgeschmissen ich war, eine meiner Lieblingsfeindinnen an - Tanya Grissom, eine Werfüchsin, die mich früher mal ausspioniert hatte. Es dauerte einige Zeit, bis ich sie ausfindig machen konnte, doch nach ein paar Anrufen draußen in Hotshot erreichte ich sie schließlich bei Calvin Norris. Tanya war schon eine ganze Weile mit ihm zusammen. Ich mochte den Mann, doch wenn ich an die dichtgedrängten kleinen Häuser an dieser uralten Wegkreuzung in Hotshot dachte, gruselte es mich.
»Tanya, wie geht's dir? Hier ist Sookie Stackhouse.«
»Wirklich. Hmmm. Hallo.«
Ich konnte ihr die Wachsamkeit nicht verübeln.
»Eine von Sams Kellnerinnen hat gekündigt - erinnerst du dich noch an Arlene? Sie ist völlig ausgeflippt wegen dieser Sache mit den Wergeschöpfen und einfach abgehauen. Ich wollte dich fragen, ob du ein paar ihrer Schichten übernehmen könntest, nur eine Zeit lang.«
»Bist du inzwischen Sams Geschäftspartnerin?«
Sie wollte es mir auf keinen Fall zu leicht machen. »Nein, ich habe ihm nur die Sucherei abgenommen. Er musste weg, wegen eines Notfalls in der Familie.«
»Ich stand vermutlich ganz unten auf deiner Liste.«
Mein kurzes Schweigen sprach für sich.
»Ich glaube, die Zusammenarbeit wird schon klappen«, sagte ich, weil ich ja irgendwas sagen musste.
»Ich habe mittlerweile einen Job tagsüber, aber ich kann an ein paar Abenden in der Woche aushelfen, bis du jemanden Längerfristiges gefunden hast«, erwiderte Tanya. Es war schwierig, ihrem Tonfall irgendetwas zu entnehmen.
»Danke.« Damit hatte ich zwei Aushilfen, Amelia und Tanya, und ich selbst könnte die Stunden übernehmen, zu denen sie keine Zeit hatten. »Könntest du gleich morgen die Abendschicht übernehmen? Wenn du um fünf, halb sechs hier wärst, könnte dir einer von uns noch mal alles zeigen, und dann arbeitest du, bis die Bar schließt.«
Einen Augenblick herrschte Stille. »Ich werde da sein«, sagte Tanya schließlich. »Eine schwarze Hose habe ich. Hast du ein T-Shirt, das ich anziehen kann?«
»Klar. Größe M?«
»Das passt mir.«
Und damit legte sie auf.
Okay, ich konnte schwerlich erwarten, dass sie sich über meinen Anruf freuen oder mir nur allzu gern einen Gefallen tun würde, wir waren schließlich nie die größten Fans voneinander gewesen. Ich hatte sie sogar - auch wenn sie sich daran sicher nicht erinnern konnte - von Amelia und Amelias Mentorin Octavia behexen lassen. Ich schauderte noch immer, wenn ich daran dachte, wie sehr ich Tanyas Leben verändert hatte. Aber was war mir denn anderes übrig geblieben? Manchmal musste man die Dinge einfach bedauern und dann hinter sich lassen.
Sam rief an, als Terry und ich das Merlotte's gerade schlossen. Ich war unglaublich müde, mein Kopf dröhnte, und mir taten die Füße weh.
»Wie läuft's bei euch?«, fragte Sam. Seine Stimme klang ganz rau vor Erschöpfung.
»Wir kommen klar«, sagte ich und versuchte, munter und sorglos zu klingen. »Wie geht's deiner Mutter?«
»Sie ist noch am Leben«, erwiderte er. »Sie kann sprechen und auch selbstständig atmen. Der Arzt sagt, sie wird wieder vollständig genesen. Mein Stiefvater sitzt im Gefängnis.«
»Wie schrecklich«, sagte ich, aufrichtig erschüttert über Sams Erlebnisse.
»Meine Mutter sagt, sie hätte es ihm vorher erzählen sollen«, fuhr er fort. »Aber sie hatte einfach Angst davor.«
»Aus gutem Grund, hm? Wie sich jetzt gezeigt hat.«
Er schnaubte. »Sie meint, sie hätte erst mal ein langes Gespräch mit ihm führen und sich nach der Fernsehsendung direkt vor seinen Augen verwandeln sollen, dann wäre er damit klargekommen.«
Ich hatte im Merlotte's so viel zu tun gehabt, dass ich noch nicht mal die Fernsehberichte über die Reaktionen rund um den Globus auf diese zweite Große Enthüllung gesehen hatte. Was mochten die Leute in Montana, Indiana, Florida wohl denken? Hatten sich vielleicht sogar einige berühmte Hollywoodstars als Wergeschöpfe geoutet? Was, wenn Ryan Seacrest bei jedem Vollmond ein Fell wuchs? Oder Jennifer Love Hewitt oder Russell Crowe? (Was ich für mehr als wahrscheinlich hielt.) Das würde auf jeden Fall großen Einfluss auf die Akzeptanz in der breiten Bevölkerung haben.
»Hast du deinen Stiefvater schon gesehen oder mit ihm gesprochen?«
»Nein, noch nicht. Ich kann mich einfach nicht dazu durchringen. Mein Bruder ist hingegangen. Er sagte, Don habe angefangen zu weinen. Es war schlimm.«
»Ist deine Schwester auch da?«
»Nun, sie ist auf dem Weg hierher. Es war wohl schwierig, die Kinderbetreuung zu organisieren.« Das klang ein wenig zögerlich.
»Sie wusste doch Bescheid über deine Mutter, oder?« Ich versuchte, meine Ungläubigkeit im Ton nicht durchscheinen zu lassen.
»Nein«, sagte er. »Wergeschöpfe verheimlichen ihren nicht betroffenen Kindern oft ihre wahre Natur. Und weil meine Geschwister über unsere Mutter nicht Bescheid wussten, wussten sie auch das über mich nicht.«
»Tut mir wirklich leid«, erwiderte ich, was vieles heißen konnte.
»Ich wünschte, du wärst hier«, sagte Sam, was mich völlig überrumpelte.
»Ich wünschte, ich könnte dir mehr helfen«, erwiderte ich. »Wenn dir irgendwas einfällt, das ich tun kann, ruf mich jederzeit an.«
»Du hältst das Merlotte's am Laufen. Das ist schon sehr viel«, sagte er. »Ich leg mich jetzt besser erst mal schlafen.«
»Okay, Sam. Wir sprechen uns morgen wieder, ja?«
»Sicher«, erwiderte er so ausgelaugt und traurig, dass es mir schwerfiel, nicht in Tränen auszubrechen.
Ein Glück, dachte ich nach diesem Gespräch erleichtert, dass ich meine persönlichen Gefühle zurückgestellt und Tanya angerufen hatte. Es war genau das Richtige gewesen. Sams Mutter war niedergeschossen worden, nur weil sie war, was sie war - na, wenn das meine Abneigung gegen Tanya Grissom nicht gründlich relativierte.
An diesem Abend fiel ich geradezu ins Bett und habe mich danach vermutlich nicht einmal mehr gerührt.
Ich war sicher gewesen, dass die Wärme, die mich seit Sams Anruf durchflutete, mich durch den nächsten Tag tragen würde, doch der Morgen begann schlecht.
Sam hatte einen Überblick über all seine Vorräte und bestellte den Nachschub natürlich immer selbst. Aber leider hatte er - im Moment ebenso natürlich - vergessen, mir zu sagen, dass er eine Lieferung Bierfässer erwartete. Ich bekam einen Anruf von dem Lastwagenfahrer Duff und musste aus dem Bett springen, um schnellsten ins Merlotte's zu fahren. Auf dem Weg zur Tür hinaus sah ich im Augenwinkel das Blinken meines Anrufbeantworters, den ich gestern Abend aus lauter Müdigkeit nicht mehr abgehört hatte. Aber jetzt hatte ich keine Zeit, mir über entgangene Nachrichten Gedanken zu machen. Ich war bloß froh, dass Duff überhaupt auf die Idee gekommen war, mich anzurufen, nachdem bei Sam keiner aufgemacht hatte.
Ich schloss die Hintertür des Merlotte's auf, und Duff rollte die Fässer hinein und verstaute sie dort, wo sie hingehörten. Leicht nervös unterschrieb ich für Sam. Als das erledigt war und der Lastwagen gerade vom Parkplatz fuhr, kam Sarah Jen, die Postbotin, mit der Geschäftspost fürs Merlotte's und Sams Privatbriefen. Sie hatte (schon) gehört, dass Sams Mutter im Krankenhaus lag, aber ich fand nicht, dass ich sie auch noch über die Umstände aufklären musste. Das war Sams Angelegenheit. Aber Sarah Jen wollte ohnehin vor allem loswerden, wie wenig es sie wundere, dass Sam ein Gestaltwandler war, denn sie habe sich immer schon gedacht, dass etwas Seltsames um ihn sei.
»Er ist ein netter Kerl«, fügte Sarah Jen eilig hinzu. »Nicht, dass wir uns falsch verstehen. Nur... eben etwas seltsam. Ich war kein bisschen überrascht.«
»Wirklich? Er sagt auch immer so nette Sachen über Sie«, erwiderte ich zuckersüß und sah zu Boden, um meinen banalen Worten Bedeutung zu verleihen. Ich konnte die Freude, die Sarah Jens Gedanken durchflutete, so deutlich wahrnehmen, als hätte sie mir ein Bild gemalt.
»Er ist stets so höflich.« Sie sah in Sam plötzlich einen höchst einfühlsamen Mann. »Nun, ich muss weiter und meine Runde beenden. Wenn Sie mit Sam sprechen, sagen Sie ihm, ich denke an seine Mutter.«
Als ich Sams Post auf seinen Schreibtisch legte, rief Amelia aus der Versicherungsagentur an und erzählte mir, dass Octavia bei ihr telefonisch nachgefragt habe, ob eine von uns beiden sie zu Wal-Mart fahren könnte. Octavia, die den Großteil ihrer Sachen im Hurrikan Katrina verloren hatte, saß zu Hause ohne Auto fest.
»Du wirst sie in deiner Mittagspause hinfahren müssen«, erwiderte ich und konnte mich kaum zurückhalten, Amelia anzublaffen. »Ich bin vollauf beschäftigt heute. Und da taucht schon das nächste Problem auf«, sagte ich, als ein Auto neben meinem auf den Stellplätzen für Angestellte parkte. »Bobby Burnham, Erics Mann für tagsüber, beehrt mich.«
»Oh, was ich dir noch erzählen wollte. Octavia sagt, Eric habe schon zweimal versucht, dich zu Hause anzurufen. Also hat sie Bobby schließlich gesagt, wo du heute Morgen bist«, erzählte Amelia. »Sie meinte, es sei vielleicht wichtig. Du Glückliche. Okay, dann kümmere ich mich also um Octavia. Irgendwie.«
»Gut«, erwiderte ich und versuchte, meine Schroffheit nicht zu sehr nach außen zu kehren. »Wir sprechen uns später.«
Bobby Burnham stieg aus seinem Chevy Impala und kam zu mir ins Büro. Sein Boss Eric Northman und ich waren durch eine höchst komplizierte Beziehung aneinander gebunden, die nicht allein auf unserer gemeinsamen Vergangenheit beruhte, sondern auch darauf, dass wir mehrmals das Blut des anderen gehabt hatten.
Was übrigens nie eine wohlüberlegte Entscheidung meinerseits gewesen war.
Bobby Burnham war ein Arschloch. Ob Eric ihn vielleicht im Ausverkauf ergattert hatte?
»Miss Stackhouse«, begann er und trug die Höflichkeit ganz dick auf. »Mein Meister bittet Sie, heute Abend zu einem netten Beisammensein mit dem Lieutenant des neuen Königs ins Fangtasia zu kommen.«
Das war nicht ganz die Art Aufforderung oder Gespräch, die ich vom Sheriff des Bezirks Fünf erwartet hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass wir einige persönliche Dinge zu besprechen hatten, hätte ich erwartet, dass Eric mich anruft, sobald sich der Wirbel um das neue Regime gelegt hatte, und sich mit mir verabredet - womöglich zu einem Dinner -, um mit mir über ein paar unserer gemeinsamen Probleme zu reden. Diese unpersönliche Übermittlung einer Nachricht durch einen Lakaien passte mir überhaupt nicht.
»Schon mal was vom Telefon gehört?«, fragte ich.
»Er hat Ihnen gestern Abend Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Und er hat mir befohlen, heute persönlich mit Ihnen zu sprechen, komme, was da wolle. Ich folge nur seinen Anordnungen.«
»Eric hat Ihnen also befohlen, Ihre Zeit mit einer Fahrt hier heraus zu verschwenden und mich zu bitten, heute Abend in seine Bar zu kommen.« Meine ruhige Stimme klang selbst in meinen Ohren höchst unglaubwürdig.
»Ja. Er sagte: ›Finde sie, überbringe ihr die Nachricht persönlich und sei höflich.‹ Und hier bin ich. Äußerst höflich.«
Er sagte die Wahrheit, denn es brachte ihn beinahe um. Schon allein das reichte, um mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Bobby Burnham konnte mich absolut nicht leiden. Als wahrscheinlichster Grund dafür erschien mir noch, dass Bobby meinte, ich sei Erics Aufmerksamkeit nicht würdig. Ihm missfiel meine alles andere als ehrfürchtige Haltung Eric gegenüber, und er konnte nicht verstehen, warum Pam einen solchen Narren an mir gefressen hatte, wenn sie ihm nicht mal ihre Tagesgeschäfte anvertraute.
Doch an all dem konnte ich nichts ändern, nicht mal dann, wenn Bobbys Missfallen mich beunruhigt hätte... aber das tat es nicht. Doch Erics Verhalten beunruhigte mich sehr. Ich musste mit ihm reden, und ich wollte es gern hinter mich bringen. Ende Oktober hatte ich ihn zuletzt gesehen, und jetzt war es Mitte Januar. »Das geht erst, wenn ich hier weg kann. Ich trage vorübergehend die Verantwortung für den Geschäftsbetrieb«, sagte ich, ohne zu erfreut oder herablassend zu klingen.
»Um wie viel Uhr? Er möchte, dass Sie um sieben dort sind. Dann kommt Victor.«
Victor Madden war der Repräsentant des neuen Königs Felipe de Castro. Es war eine blutige Übernahme gewesen, und Eric war der einzige Sheriff des alten Regimes, der noch im Amt war. Sich das Wohlwollen des neuen Regimes zu erhalten war daher äußerst wichtig für ihn. Ich war mir nur nicht so sicher, inwiefern das mein Problem war. Doch durch einen glücklichen Zufall stand ich mit Felipe de Castro auf bestem Fuße, und dabei wollte ich es auch belassen.
»Könnte sein, dass ich's bis sieben schaffe«, sagte ich daher nach einigem Abwägen und versuchte den Gedanken zu verdrängen, wie sehr ich mich über ein Wiedersehen mit Eric freuen würde. Mindestens zehnmal hatte ich mich in den letzten Wochen zurückgepfiffen, damit ich mich nicht ins Auto setzte und einfach zu ihm fuhr. Doch ich hatte diesen Impulsen erfolgreich widerstanden, denn ich wusste, dass er unter dem neuen König um die Beibehaltung seines Postens zu kämpfen hatte. »Ich muss erst die Neue noch einweisen ... Ja, sieben sollte machbar sein.«
»Da wird er aber erleichtert sein«, erwiderte Bobby, dem es gelang, auch noch ein spöttisches Lächeln anzubringen.
Mach nur weiter so, Arschloch, dachte ich. Und vielleicht übertrug die Art, wie ich ihn ansah, diesen Gedanken, denn Bobby fügte in einem so ernsthaften Ton, wie er ihn nur zustande bringen konnte, hinzu: »Wirklich erleichtert.«
»Okay, Nachricht angekommen«, sagte ich. »Jetzt muss ich wieder an die Arbeit.«
»Wo ist denn Ihr Boss?«
»Er hat familiäre Probleme in Texas.«
»Oh, und ich dachte schon, der Hundefänger hätte ihn erwischt.«
Was für ein Brüller. »Auf Wiedersehen, Bobby«, erwiderte ich und wandte ihm den Rücken zu.
»Hier«, sagte er, und genervt drehte ich mich noch mal um. »Eric meinte, das würden Sie brauchen.« Er reichte mir ein in schwarzen Samt eingeschlagenes Bündel. Vampire konnten einem nicht einfach etwas in einer Wal-Mart-Tüte oder eingewickelt in Packpapier geben, oh nein. Schwarzer Samt. Und das Bündel war noch mit einer quastengeschmückten Goldkordel umwickelt, so einer, mit der man Übergardinen rafft.
Schon als ich es entgegennahm, hatte ich ein schlechtes Gefühl. »Und was ist das?«
»Ich weiß nicht. Ich war nicht befugt, es zu öffnen.«
Wenn ich eins hasste, dann das Wort »befugt«, sogar noch mehr als »begnadet«. »Und was soll ich damit machen?«, fragte ich.
»Eric sagte: ›Sie soll es mir heute Abend vor Victors Augen überreichen‹«
Eric tat nichts ohne guten Grund. »Okay«, erwiderte ich zögernd. »Betrachten Sie es als angekommen.«
Die nächste Schicht meisterte ich ganz gut. Jeder sprang ein, um zu helfen, was wirklich nett war. Und auch der Koch hatte den ganzen Tag hart gearbeitet. Er war ungefähr der fünfzehnte Schnellimbisskoch, den wir hatten, seit ich im Merlotte's angefangen hatte. Und es war wirklich alles darunter gewesen, was man sich nur vorstellen kann: Schwarze, Weiße, Männer, Frauen, Alte, Junge, Untote (ja, ein Vampirkoch), Leute mit Hang zur Lykanthropie (ein Werwolf) und vermutlich ein oder zwei, die ich völlig vergessen hatte. Dieser Koch, Antoine Lebrun, war richtig nett. Er war nach Hurrikan Katrina nach Bon Temps evakuiert worden und länger geblieben als die anderen Flüchtlinge, die es bald an die Golfküste zurück - oder weitergezogen hatte.
Antoine war Mitte fünfzig, und in seinem lockigen Haar zeigten sich bereits ein, zwei graue Strähnen. In New Orleans hatte er die Imbissbuden im Louisiana Superdome betrieben, erzählte er mir am Tag, als er angestellt wurde, und es hatte uns beide geschaudert. Und auch mit unserer Hilfskraft D'Eriq, der gleichzeitig Küchenjunge war, kam Antoine prächtig aus.
Als ich in die Küche kam, um nachzusehen, ob er alles Benötigte hatte, erklärte Antoine mir, dass er richtig stolz sei, für einen Gestaltwandler zu arbeiten; und D'Eriq konnte sich gar nicht darüber beruhigen, wie sehr ihn Sams und Trays Verwandlung beeindruckt hatte. D'Eriq hatte nach Dienstschluss sogar noch einen Anruf von seinem Cousin aus Monroe bekommen, und jetzt wollte er uns unbedingt alles über die Frau seines Cousins erzählen, die eine Werwölfin war.
D'Eriqs Reaktion war hoffentlich typisch, dachte ich. Erst am Abend zuvor hatten viele Leute erfahren, dass jemand, den sie persönlich kannten, ein Wergeschöpf war. Doch wenn diese Wergeschöpfe nie Anzeichen von Irrsinn oder Gewalt gezeigt hatten, würden die Leute hoffentlich einsehen, dass die Verwandlung nichts weiter als ein völlig harmloser Baustein ihres Wissens um diese Welt war. Das Ganze war doch sogar aufregend.
Ich hatte keine Zeit gehabt, die Reaktionen weltweit zu verfolgen, aber soweit es unsere Kleinstadt betraf, schien die Große Offenbarung reibungslos zu verlaufen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass jemand Brandbomben aufs Merlotte's werfen wollte wegen Sams Zweigestaltigkeit, und auch Trays Motorradwerkstatt hielt ich für absolut sicher.
Tanya kam zwanzig Minuten zu früh, was ihr Ansehen bei mir sogleich hob, und ich lächelte sie aufrichtig an. Nachdem wir ein paar grundsätzliche Dinge wie Arbeitsstunden, Bezahlung und Sams Hausregeln durchgegangen waren, fragte ich sie: »Gefällt es dir eigentlich da draußen in Hotshot?«
»Ja«, erwiderte sie ein wenig überrascht. »Die Familien in Hotshot verstehen sich wirklich gut. Und wenn was schief läuft, treffen sie sich und besprechen es. Und die, denen dieses Leben nicht gefällt, gehen einfach, so wie Mel Hart.« Fast jeder in Hotshot war entweder ein Norris oder ein Hart.
»Er hat sich in letzter Zeit richtig mit meinem Bruder angefreundet«, sagte ich, weil ich ein wenig neugierig auf Jasons neuen Freund war.
»Ja, das habe ich auch gehört. Alle sind froh, dass Mel endlich jemanden gefunden hat, nachdem er so lange allein herumgehangen hat.«
»Warum hat er sich denn in Hotshot nicht wohlgefühlt?«, fragte ich direkt.
»Soweit ich weiß«, sagte Tanya, »hält Mel nichts vom Teilen. Das muss man aber, wenn man in so einem kleinen Dorf wohnt. Er ist eher der Typ ... Na, eben: ›Was mir gehört, gehört mir.‹« Sie zuckte die Achseln. »Heißt es wenigstens.«
»Jason ist genauso«, erwiderte ich. Ich konnte Tanyas Gedanken wegen ihrer Zweigestaltigkeit nicht allzu deutlich lesen, aber ich fing ihre allgemeine Stimmung und ihre Gefühle auf und erkannte, dass die anderen Werpanther sich Sorgen machten um Mel Hart.
Vermutlich fragten sie sich, ob er in der großen Welt von Bon Temps wohl zurechtkommen würde, dachte ich. Hotshot war ein eigenes kleines Universum.
Mir wurde etwas leichter ums Herz, als ich Tanya (die definitiv Erfahrung mitbrachte) in alles eingewiesen hatte. Und so nahm ich die Schürze ab, holte meine Handtasche und das Bündel, das Bobby Burnham mir ausgehändigt hatte, und eilte durch den Angestellteneingang hinaus, um nach Shreveport zu fahren.
Auf der Fahrt versuchte ich, Nachrichten zu hören, doch ich hatte schnell genug von der harten Realität. Ich legte eine CD von Mariah Carey auf und fühlte mich sogleich besser. Ich kann keinen einzigen Ton halten, doch ich liebe es, auf Autofahrten die Songtexte lauthals mitzusingen. Die Anspannungen des Tages wichen langsam, und mich ergriff eine optimistische Stimmung.
Sam würde zurückkommen, wenn seine Mutter genesen war und sein Stiefvater Buße getan und geschworen hatte, dass er sie immerdar lieben werde. Überall auf der Welt würden die Menschen noch eine Weile in Ooohs und Aaahs ausbrechen über die Werwölfe und alle anderen Gestaltwandler, und dann würde alles wieder seinen normalen Gang gehen.
Aber sind solche Wunschvorstellungen nicht immer zum Scheitern verurteilt?