6: Save Me, I’m Yours
Im Clash dröhnte der Punk. Im Garten war es stiller. Die meisten Plätze waren besetzt. Eine Arbeitsgruppe von Studenten hatte Tische zusammengestellt. Aktenordner, Hefte und Papiere lagen herum. Ein kleine Blonde kaute an ihrem Bleistift, ein Typ starrte auf den Monitor seines Apple-Computers, was Twiggy würgen ließ. Er hasste diese Teile und hielt die Firma, die sie baute, für eine als Computerhersteller getarnte Sekte, deren Jünger sich nicht entblödeten, weltweit die Läden zu belagern, wenn wieder einmal ein Produkt angekündigt wurde, das so überflüssig war wie Liebesfilme oder alkfreies Bier. Sie hatten draußen den letzten freien Tisch in der Ecke am Ausgang zum Mehringhof gefunden. Biergläser standen auf dem Tisch, Dornröschen hatte ein kleines Bier bestellt.
»Unglaublich, diese Ähnlichkeit«, sagte Twiggy.
Ein Hund kläffte. Von Mehringdamm und Gneisenaustraße her rauschte es. Ein Hubschrauber dröhnte am Himmel. Matti konnte die Aufschrift einer Versicherungsgesellschaft lesen.
»Die sieht aus wie Rosi, und vielleicht hat sie recht?«, fragte Matti.
»Du willst sagen, dieser Göktan war’s?« Twiggy grunzte laut. Eine junge Frau am Nebentisch blickte ihn missbilligend an. »Klar, der Türke, wer sonst? Und diese Schweine sind fein raus.« Er schniefte, fing sich den zweiten bösen Blick ein und trank.
»Na, sauer wird der schon sein«, sagte Matti. »Dass die ihm den Laden weggenommen haben, das macht ihn wütend. Würde jeden wütend machen. Und natürlich hat er daran gedacht, diese Kolding-Ärsche umzubringen. Würde mir auch so gehen. Vielleicht hat er Rosi umgebracht, weil er sie für die Quasten hielt. Das würde mir so wenig passen wie dir, aber es hilft nichts.«
»Die Koldings waren es«, brummte Twiggy.
»Wir müssen mit Göktan reden«, sagte Dornröschen. »Es hat keinen Sinn, etwas zu glauben. Außerdem wäre Göktan nicht der erste Türke, der jemanden umbringt. Die Frau sah aus wie Rosi. Und vielleicht hat Göktan sich im Kiez herumgetrieben, gefrustet, geladen, und da lief ihm die Tussi über den Weg, die ihm den Laden weggenommen hat. Den Laden, den er sich abgespart hat mithilfe seiner Verwandten, denen er stolz erzählt, dass er es zu was gebracht hat, auch wenn dieser Rassenforscher meint, dass Gemüseläden nichts zur Berliner Wirtschaft beitrügen.«
»Ich will auch nicht, dass er es war«, sagte Matti leise. »Aber das hilft uns nichts. Dieser Chef bringt keine Leute um, dafür ist er viel zu schlau. Wie er den Runde abserviert hatte, Weltklasse.« Er fluchte, als er sah, dass seine Packung Schwarzer Krauser so gut wie leer war. Aus den letzten Krümeln drehte er sich eine dünne Zigarette und zündete sie an. »Göktan hat ein Motiv, er hasst diese Quasten, sie hat ihn vernichtet, und er ist schon einmal mit dem Messer auf sie losgegangen.«
»Wenn das überhaupt stimmt«, sagte Twiggy.
»Jede Wette«, erwiderte Matti. Ein Zug, und die halbe Zigarette war Asche.
Schweigen. Aus der Kneipe röhrte es, dann ein Stampfen. Motörhead, Lemmy am Bass. In der Arbeitsgruppe wurde gelacht. Der Typ mit der Sektendevotionalie lachte am lautesten. Natürlich. Der Hubschrauber war hoffentlich abgestürzt. Ein Scheißtag.
»Nachts kann man Rosi von dieser Tante nicht unterscheiden«, sagte Dornröschen. »Wenn es Göktan nicht gewesen sein sollte, wer hat sie noch verwechselt? Überlegt mal, die Quasten ist die Plattmacherin, die schickt denen Anwälte auf den Hals und auch die Bullen. Die hat überall Feinde. Alle Mieter, die Kolding verdrängt hat, hatten mit der Quasten zu tun. Die hat ihnen böse Briefe geschickt, Mieterhöhungen, Kündigungen, Mahnungen, Räumungsklagen und so weiter. Für die Opfer ist die Quasten ein Monster.«
»Die arme Rosi«, sagte Matti. »Nur weil sie dem Monster ähnelte.«
»Nicht das erste Mal, dass jemand aus Versehen umgenietet wurde«, sagte Twiggy. »Aber in diesem Fall ist es zum Kotzen.«
Matti grinste.
Twiggys Blick blieb an dem Apple-Jünger hängen. In dem Fall wäre es keine Verwechslung, dachte Matti und lachte leise.
Twiggy guckte Matti an und musste doch grinsen.
»Wenn es eine Verwechslung ist, haben wir das Chaos. Die Quasten hat viele Feinde. Es muss gar nicht Göktan sein, sondern etwa ein unauffälliger Mieter, dem der Kragen geplatzt ist«, sagte Dornröschen. Sie überlegte und warf einen Blick zur Arbeitsgruppe, die kollektiv zu kreischen begonnen hatte, am lautesten natürlich der Sektenfritze. »Aber wir fangen bei Göktan an, der ist schließlich mit dem Messer auf die Quasten los.«
»Das glaubst du der?«, fragte Twiggy. »Die hat nicht mal die Bullen gerufen.« Das war das Letzte, was sie die Quasten gefragt hatten. Sie wolle mit dem Kerl nichts mehr zu tun haben, war ihre Begründung gewesen. Lau, sehr lau.
»Ja«, sagte Dornröschen. »Aus ihrer Sicht ist sie das anständigste Wesen weit und breit. Aber niemand erkennt an, was für gute Taten sie vollbringt. Außer ihrem Chef vielleicht. Aber der lässt sie die bösen Sachen machen, damit er den Gutmenschen geben kann.«
Dornröschen kramte den Zettel aus der Tasche, auf dem sie Adresse und Telefonnummer von Berkan Göktan vermerkt hatte. »Bellermannstraße, das ist in Gesundbrunnen.«
Ecke Behmstraße/Bellermannstraße. Siebenstöckige Betonbauten. »Westplatte«, sagte Twiggy. Fast jeder Balkon trug eine Satellitenschüssel, viele einen Sonnenschirm. Gegenüber, getrennt durch die vierspurige Straße, lud das Gesundbrunnen-Center zum kostenlosen Parken ein, ein paar Meter weiter ratterte die S-Bahn unter der Brücke durch. »Gemütlich«, fügte er trocken hinzu. Das war eine Gegend, vor der Reiseführer warnten. Sie suchten die Klingelschilder ab, bis sie endlich Göktan fanden. Matti drückte sie. Nichts geschah. Er drückte noch einmal.
»Ja?«, rief es laut. Eine Frauenstimme.
Sie guckten sich um.
»Oben«, sagte Twiggy.
Eine Frau mit Kopftuch guckte aus dem Fenster.
»Wir müssen mit Herrn Göktan sprechen!«, rief Twiggy.
»Was wollen Sie von ihm? Er ist nicht hier.«
»Es geht um seinen Laden in der Urbanstraße«, rief Matti.
Die Frau zögerte, dann verschwand sie im Fenster. Matti ging zur Tür und wartete auf den Summer. Aber der ertönte nicht.
Die Ampel schaltete auf Grün, und der Stau löste sich lärmend auf. Der Diesel eines Lastwagens dröhnte. Die Ansage der S-Bahn wehte über die Straße. Stahlräder quietschten auf Gleisen. Ein milder Wind wärmte mehr, als dass er kühlte.
Der Kopf der Frau erschien wieder im Fenster. »Und?«
»Wir finden, dass Herr Göktan den Laden zu Unrecht aufgeben musste!«, rief Matti.
Der Kopf verschwand. Matti stellte sich an die Haustür.
Der Kopf erschien wieder. »Wer sind Sie?«
Wer waren sie?
»Das möchten wir Ihnen gern in der Wohnung sagen!«, rief Matti.
Der Kopf verschwand.
Dann tauchte ein anderer Kopf auf. Schnurrbart, kurze Haare, kräftige Nase. »Was wollen Sie?«
»Wir haben mit Frau Quasten von Kolding gesprochen. Wir finden, dass sie eine Gangsterin ist!«, rief Matti. Gangsterin, wie kam er auf dieses Wort?
»Sie ist schlimmer!«, rief der Mann. In jedem Wort steckte mehr Wut, als Matti jemals gehabt hatte.
»Sie haben recht!« Twiggys mächtiges Organ hallte vom Beton wider.
Der Kopf verschwand, und der Summer ging. Matti hechtete zur Haustür und öffnete sie.
Sie stiegen die Treppen hoch. Es stank nach Urin und allem Möglichen, das eklig war. Die Wände waren verschmiert mit Graffiti, eines zeigte einen tropfenden Riesenpenis an einem Riesenhoden. Kleine Brüste und Ärsche. Im vierten Stock war eine Wand voller Wasserflecken, im fünften stand eine Wohnungstür offen und der Mann mit dem Bart davor.
Matti schnaufte. »Sie sind Herr Göktan?«
Der Mann nickte, und Matti stellte sich und seine Freunde vor. Göktan musterte sie kurz, dann nickte er, als würde er ein inneres Zwiegespräch abschließen und streckte die Hand aus. Nach der Begrüßung führte er die Freunde ins Wohnzimmer. Plüsch, Samt, Versilbertes, Vergoldetes, Kringel, wo Kringel sein konnten. An der Wand entdeckte Matti das Istanbulbild aus dem Kalender, das auch in Ülcans Büro hing. Fransen am Sofa, auf das Göktan zeigte. In der Küche klapperte es. Göktan setzte sich auf einen der beiden Sessel, die WG-Freunde quetschten sich aufs Sofa, Twiggy in der Mitte.
»Warum kommen Sie?«, fragte Göktan.
Matti überlegte kurz. »Eine Freundin von uns wurde ermordet. Wir glauben, dass es die Kolding-Leute waren, weil sie etwas über die Firma enthüllen wollte.«
»Enthüllen, was heißt das?«
»Sie hatte etwas herausgefunden, etwas Illegales.«
Göktan nickte. »Das wundert mich nicht.«
»Trauen Sie denen einen Mord zu?«, fragte Twiggy, während Matti überlegte, wie er die Kurve kriegen sollte.
»Alles traue ich denen zu! Alles!« Seine Wangen röteten sich, und die Augen blitzten.
Matti fragte: »Frau Quasten …«
»Das ist die Schlimmste, sie ist eine … Verbrecherin. Sie genießt es, andere Menschen zu quälen.«
Die Frau mit dem Kopftuch erschien, in der Hand ein Tablett mit Teegläsern. Sie verteilte sie und stellte auch eine Zuckerdose auf den Tisch.
»Sie ist ein böser Mensch«, sagte sie traurig. »Wir sind schon fast zwanzig Jahre hier, aber so einen bösen Menschen haben wir nie getroffen in Deutschland.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge.
»Sie haben einen Sohn?«, fragte Dornröschen.
»Ja. Warum?«
»Die Quasten hat es uns erzählt.«
Er lehnte sich zurück und beugte sich wieder nach vorn. »Ach so, ich verstehe. Ihnen geht es um Ihre Freundin? Das ist diese Frau von der Admiralbrücke, ich habe es gelesen.«
»Ja«, sagte Dornröschen. »Die Quasten hat behauptet, dass Sie sie umbringen wollten und nur Ihr Sohn es verhindert hätte.«
Er überlegte.
»Sie seien mit einem Stilett auf sie losgegangen, sagt sie«, ergänzte Twiggy.
»Ich würde nicht trauern, wenn jemand sie tötet«, sagte er. Seine Frau nickte, sie hatte sich hinter seinen Sessel gestellt. »Sie hat uns alles genommen. Die Miete stieg um mehr als dreißig Prozent, das kann ich nicht bezahlen. Und sie haben nichts repariert. Der Wasserabfluss war dauernd kaputt, und die Elektroinstallation …«
»Wir haben das ertragen, aber dann kam dieser Brief. Renovierung, Sanierung, Sie kennen das. Und danach …« Die Frau verstummte.
»Wo ist Ihr Sohn?«
»Mit Freunden unterwegs«, sagte Göktan. Und Matti überkam ein merkwürdiges Gefühl.
»Er hat Sie daran gehindert …«, setzte Dornröschen an.
Göktan griff in die Jacketttasche und hatte ein Messer in der Hand. Holzgriff, die Klinge eingeklappt. Er öffnete es, es war eine breite, vorn nach innen gekrümmte Schneide, die Spitze stumpf. »Das ist das Stilett«, sagte Göktan spöttisch. »Damit können Sie einen Apfel zerschneiden …« Er winkte ab und legte das Messer auf den Tisch.
»Sagen Sie, Ihr Sohn ist jetzt nicht unterwegs, um die Kolding-Leute zu … ärgern?«, fragte Matti.
Göktan hob die Augenbrauen.
»Was ist passiert mit der Quasten?«, fragte Dornröschen.
»Ich habe sie auf der Straße getroffen. Ich wollte ihr sagen, was für eine … böse Frau sie ist … na gut, ich habe ein paar schlimme Wörter gesagt.«
»Sie hätten sie am liebsten abgestochen«, sagte Twiggy.
»Ja«, sagte Göktan sachlich. »Das wäre nur gerecht gewesen. Aber ich hätte es nie getan. Warum soll ich wegen so einer … ins Gefängnis gehen?«
Die Frau krampfte ihre Hand auf seiner Schulter.
Nach einer Weile fragte Twiggy: »Weil es jeder gesehen hätte?«
»Genug Zeugen«, sagte Matti.
Göktan nickte. »Ich würde nie jemanden umbringen, und wenn er es noch so verdient hätte.«
»Und wenn Sie außer sich geraten?«, fragte Matti.
»Ich gerate nie so außer mich …«
»Aber Angst machen wollten Sie ihr schon?« Dornröschen blickte ihn skeptisch an.
»Ja.«
»Unsere Freundin ähnelte Frau Quasten wie ein Zwilling«, sagte Matti.
Es knallte draußen. Frau Göktan eilte zum Fenster. »Unfall«, murmelte sie und kehrte zu ihrem Mann zurück.
Göktan überlegte, während die Bahnsteigansage ertönte: »Zurückbleiben bitte!« Ein kaputter Auspuff schepperte.
»Sie glauben, dass ich aus Versehen Ihre Freundin …?«
»Nein. Aber wenn ich Bulle wäre, dann würde ich Sie für einen Verdächtigen halten. Sie haben ein Motiv …«
»Er war in der Nacht hier«, sagte Frau Göktan.
»Welche Nacht?«, fragte Dornröschen schnell.
»Na …«
»Wenn Sie so was den Bullen erzählen, bringen Sie Ihren Mann ins Gefängnis«, sagte sie. »Sie wissen ja nicht einmal, um welche Nacht es geht.«
Frau Göktan starrte in den Raum.
»Ich finde, dass man die Bullen anlügen darf«, sagte Matti. »Aber nur dann, wenn sie es einem nicht beweisen können. Im anderen Fall kehrt es sich gegen einen selbst.« Matti blickte Frau Göktan an, dann ihn.
»Aber wir sind Türken, die glauben uns nicht«, sagte sie. »Wir sind so … aufbrausend und tragen alle Messer in der Tasche …«
»Wie war es denn nun wirklich?«, fragte Dornröschen.
»Nichts war«, sagte Göktan. Und noch einmal, energisch: »Nichts!«
»Sie sind nicht nachts durch den Gräfekiez gelaufen und haben geglaubt, Frau Quasten zu sehen. Frau Quasten, die Sie um Ihre Existenz gebracht hat?«, fragte Matti.
»Ich war seit Wochen nicht mehr dort. Gut, wir waren einmal in der Hasenheide, im Park, aber näher waren wir nicht dran. Ich schwöre es!« Göktan hob seine Hand.
»Was würden Sie denn tun, wenn Sie die Quasten irgendwo treffen würden?«, fragte Dornröschen.
»Ausspucken würde ich vor ihr«, sagte er.
»Und Ihr Sohn, wie alt ist der?«, fragte Matti.
»Wird nächsten Monat zwanzig«, sagte sie.
»Er hat Sie zurückgehalten …«
»Ja, weil er glaubte, ich würde der was tun«, sagte Göktan. Er seufzte. »Aber ich hätte ihr nichts getan. Ich hätte ihr gewünscht, dass sie in der Hölle brät. Aber das ist nicht verboten.«
»Könnte es sein, dass Ihr Sohn geglaubt hat, Sie wollten zustechen?«, fragte Matti.
Göktan zuckte mit den Achseln.
»Wie heißt Ihr Sohn?«, fragte Dornröschen.
»Ali«, sagte sie.
»Hat er einen Job?«, fragte Matti.
Sie schüttelte den Kopf.
»Vielleicht glaubt Ihr Sohn, dass Sie der Frau den Tod wünschen, und hat Sie nur zurückgehalten, weil es Zeugen gab.« Matti blickte Göktan streng an. Dessen Augen flatterten, und dann zeigten sie Angst. Ihre Hand verkrampfte sich weiter, bis er vor Schmerz die Schulter wegzog.
»Ali war’s«, sagte Twiggy.
Sie saßen in einer Kaffeebar im Gesundbrunnen-Center. Die beiden Jungs tranken Espresso, Dornröschen Tee. Dudelmusik nervte, ein Kind schrie, als würde es gefoltert. Türkische Frauen mit Mänteln und Kopftüchern, manche mit Enkeln an der Hand, zogen durch den Flur. Zwei Machotypen mit Dreitagebart und gegeltem Haar latschten vorbei, in einigem Abstand die dazu passenden Frauen, überschärfte Kleidung, Billigklunker.
»Tja«, sagte Dornröschen. »Kann schon sein.« Sie gähnte.
»Ich glaub es auch«, sagte Matti. »Der wollte seinem Alten einen Gefallen tun. Er hat keinen Job, nichts zu tun …«
»Und bügelt sein Selbstwertgefühl auf, indem er einer Frau den Schädel einschlägt«, unterbrach Dornröschen. »Der würde ein Messer nehmen, oder?«
»Du meinst, der Türke als solcher tendiert zum Messer?«, fragte Matti.
Dornröschen überlegte. »Das ist so ein Gefühl. Junge Machos stechen, alte Machos schlagen.«
»Au Backe«, sagte Matti.
Twiggy grinste.
»Einer hat ihr den Schädel eingeschlagen. Das macht der nur, weil er wütend ist, im Affekt.«
»Wusste gar nicht, dass du unter die Leichenfledderer gegangen bist. Wie nennen sich diese Gerichtsärzte?«, fragte Matti. »Sogar wenn deine steile Messerthese stimmt, lässt sich leicht eine Situation denken, in der es mit dem Schlag geht. Quasten und Ali begegnen sich nachts im Gräfekiez. Er sagt: ›Du Ätztucke, auf dich hab ich gewartet.‹ Sie sagt: ›Türkenbengel, geh heim zu Mama‹, und schon rastet er aus.«
»Laufen Türkenbengel mit Flaschen rum?«, fragte Dornröschen. »Da hätte er ja die Waffe dabei. Manche splittern nicht mal. Sektflaschen …«
Sie schwiegen. Eine Stimme pries die Gratisparkplätze. »Drei Stunden kostenlos!« Die Prozession in Kopftüchern und Mänteln kam zurück. Die Frauen schnatterten miteinander, alle auf einmal.
»Woher willst du wissen, dass es eine Flasche war?«, fragte Twiggy. Er rührte gedankenversunken in seiner Tasse.
»Ein Hammer, ein Baseballschläger, ein dicker Ast …«, sagte Matti. »Alles, was man tragen oder finden kann.«
»Er war’s nicht«, sagte Dornröschen.
»Was bist du stur«, erwiderte Matti genervt. »Du kennst den Kerl doch gar nicht.«
»Intuition.«
»Schluss mit dem Quatsch!«, schnauzte Twiggy. »Es nutzt uns nichts, wild zu spekulieren. Wir brauchen einen Plan.«
»Gut«, sagte Dornröschen. »Dann machen wir einen Plan.«
»Wir verfolgen Ali«, sagte Matti.
»Ach, du lieber Himmel«, rutschte es Dornröschen heraus.
Matti blickte sie finster an.
Dornröschens Handy tönte. Sie nahm das Gespräch an, erhob sich und ging weg. Twiggy und Matti hörten sie noch glucksen. Die beiden blickten sich an, zornig, traurig. Sie stand vor einem Schuhladen, mit dem Rücken zu ihnen. Aber im Spiegelbild des Schaufensters sahen sie, wie sie redete, lachte, Grimassen zog.
Als sie endlich aufgehört hatte und zurückgekehrt war, trug sie ein Lächeln im Gesicht.
»Wer war das, wenn ich fragen darf?« Twiggy blickte sie ernst an.
»Also, wir verfolgen Ali«, sagte Dornröschen. »Dann wollen wir mal.« Und es klang so, als wollte sie sagen: Gut, Jungs, ihr wollt es so, ihr kriegt es. Aber meckert nicht, wenn es in die Hose geht.
Matti mühte sich, seine Wut zu zügeln.
»Wir stellen uns vors Haus und warten, bis der Wonneproppen auftaucht, und traben hinterher. Und was verrät uns das? Dass er seine Kumpel trifft und das Maul aufreißt: He, ich habe da so ’ne Alte kalt gemacht. War echt geil«, sagte Dornröschen.«
Matti knurrte: »Hast du eine bessere Idee? Immerhin denken wir nach und turteln nicht nur rum.«
Sie kicherte. »Wenn ihr so tolle Ideen ausheckt, wenn ich weg bin, sollte ich öfter verschwinden.«
Die Karawane der Türkenfrauen mit Enkeln marschierte heran. Der kleine Kevin suchte seine Eltern. Elvis sang »Love Me Tender«. Zwei Typen glotzten einer jungen Frau nach und rasselten mit ihren Einkaufswagen zusammen. Elvis sang einfach weiter.
Dornröschen grinste nicht mehr.
»Was sonst?«, fragte Matti.
»Keine Ahnung«, sagte Dornröschen. »Vielleicht war es Göktan. Vielleicht war es Ali. Vielleicht war es der Chef. Vielleicht war es Runde. Vielleicht Spiel und Rademacher. Habe ich einen vergessen?«
»Was soll das?«, fragte Twiggy angefressen.
»Ich wollte nur höflich andeuten, dass wir uns aufführen wie die letzten Idioten.«
»Ganz neue Erkenntnis, Glückwunsch«, brummte Matti.
»Wir fahren nach Hause und schlafen erst mal aus«, sagte Dornröschen. »Morgen gehe ich in die Redaktion, Matti fährt Taxi, und Twiggy verwöhnt den Prinzen.«
Wie kann man Robespierre einen Prinzen nennen?, dachte Matti. Aber darauf kam es nun auch nicht mehr an.
Am Abend saßen Matti und Twiggy im Bäreneck in der Hermannstraße. Hinter dem Tresen stand die Wirtin mit schweißglänzendem Gesicht, die Haare hochgesteckt, um die Möglichkeit einer Frisur anzudeuten. Am Tresen saßen zwei Säufer, einer trug eine Baseballkappe mit der Aufschrift Eisbären Berlin. Der andere ein fleckiges T-Shirt, auf dem Ballermann geschrieben stand. Aus den Lautsprechern dröhnte Schlagerscheiße.
Matti und Twiggy tranken Bier und Doppelkorn.
Nach der ersten schweigenden Runde sagte Twiggy: »Was die treibt, ist eine Sauerei. Unsolidarisch. Hinter unserem Rücken.«
Matti wiegte seinen Kopf. »Eigentlich ist das ’ne tolle Frau.«
Twiggy: »Die verarscht uns nach Strich und Faden.«
Matti: »Hätte ich früher daran gedacht, wäre alles anders gekommen. Ich wär nicht auf Lily hereingefallen und überhaupt.«
Twiggy: »Was sagst du?«
Matti: »Ach Scheiße.«
Die verschwitzte Wirtin stellte die zweite Runde auf den Tisch. Sie stießen mit den Schnapsgläsern an und tranken sie leer. Den Korn verdünnten sie mit Bier. Matti stützte sein Kinn auf die Faust.
»Wär doch Scheiße, der Türke wär’s«, sagte Twiggy. Er kratzte sich an der Schläfe, wo eine blassrote Schwellung daran erinnerte, dass sie verprügelt worden waren.
»Klar, aber wenn er es war, dann kriegen wir ihn.«
»Darauf«, sagte Twiggy und hob sein Glas.
Matti stieß an und trank das Bier aus. Twiggy zog gleich.
Matti hob den Finger und winkte zum Tresen. Der Säufer mit der Kappe grinste. Der Ballermann zündete sich eine Zigarette an.
Nachdem die Wirtin die Getränke mit einem skeptischen Gesicht abgestellt hatte, rieb Matti am Bierglas. Ruhe und Klarheit zogen in sein Hirn ein. Er sah die Dinge, wie sie waren. Mit Dornröschen war irgendetwas nicht in Ordnung, ein anderer Typ, was sonst? Wahrscheinlich hatte Göktan oder Ali Rosi umgebracht. Aus Versehen. Was für ein dummer Tod. Bei der Quasten wäre der Schaden begrenzt gewesen. Natürlich war er dagegen, Leute umzubringen, außer in einer Revolution. Aber die war abgesagt worden, und damit entfielen auch die Ausnahmegründe.
»Dieser Chef«, sagte Twiggy, »der hat uns eingeseift. Ein ausgekochter Gauner. Tut freundlich und ist beinhart. Wie der den Runde abserviert hat …«
Matti rief sich den Auftritt des Chefs in Erinnerung. »Ja«, sagte er und spürte, dass er sich anstrengen musste, nicht zu lallen. Er stellte sich vor, wie er seiner Zunge befahl zu funktionieren. »Je länger wir herumbohren, desto mehr Verdächtige haben wir. Vielleicht sollten wir nicht fragen, sondern warten. Dann bleibt einer übrig und …«
»Was machen wir mit dem?«, fragte Twiggy.
»Tja«, sagte Matti.
Am Morgen wachte Matti mit einem schweren Kater auf, und der Brechreiz lauerte. Vorsichtig aß er ein paar Bissen, während Dornröschen schon in der Redaktion war und Twiggy nach einer Restnacht mit Splattervideos pennte, bis Robbi ihn jaulend und kratzend wecken würde. Matti hatte eine Dreiviertelstunde, um den Alkohol, die Übelkeit und seine schlechte Laune zu besiegen. Dann musste er Ülcans Gemecker ertragen. Immerhin hatte er keine Nachtschicht, weil er mit Aldi-Klaus getauscht hatte, was ihn neben guten Worten ein paar Gramm von Dornröschens Balkonplantage gekostet hatte.
Nachdem er sicher war, das Kräfteverhältnis im Kampf mit dem Restalkohol zu seinen Gunsten verändert zu haben, stieg er aufs Rad und fuhr zur Manitiusstraße. Es nieselte warm, und die Tröpfchen verdampften auf dem Asphalt. Ein Typ überholte ihn, er fuhr ein Geckenrad, ohne Schaltung, superdünne Reifen, weißer Leichtbaurahmen. Er riss den Lenker hoch und hüpfte auf den Bürgersteig, um an einem funkelnagelneuen Audi A8 vorbeizubrettern, der den Radweg zuparkte. Matti zog den Schlüsselbund aus der Tasche, verpasste dem Falschparker einen Kratzer über die Flanke, steckte den Schlüssel ein und war zufrieden.
In der Manitiusstraße saß Ülcan in seiner Qualmwolke und meckerte vor sich hin. Er hob nicht einmal das Gesicht, als Matti eintrat, um den Schlüssel zu holen. Aldi-Klaus saß auf der Treppe und rauchte. »Die Bremse zieht schief«, sagte er, als Matti das Büro verließ. »Der Boss weiß Bescheid.« Matti verkniff sich den Kommentar, dass er gewiss erst eine halbe Schulkasse totfahren musste, bevor Ülcan die Bremse reparieren ließ. Er fröstelte und suchte im Kofferraum die alte Lederjacke, die er auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Aber sie lag nicht drin. Er fuhr zum Taxistand in der Bevernstraße, am U-Bahnhof Schlesisches Tor. Fünf Wagen warteten vor ihm. Er kramte in der Mittelablage. Unter dem zerfledderten Konfuziusband lag das Büchlein mit Texten von Laotse, das er für einen Euro im Antiquariat in der Wrangelstraße gekauft hatte. »Lass fahren die Klügelei, verwirf die Spitzfindigkeit«, las er. Und: »Wer in sich ruht, macht das Trübe rein.« Offensichtlich ruhe ich nicht in mir, ich blicke nicht mehr durch, dachte Matti. Und genauso offensichtlich will hier niemand Taxi fahren. Er zündete den Diesel und fuhr in die Skalitzer Straße, Richtung Mehringdamm.
Eine Frau winkte vor dem Que Pasa an der Kreuzung mit der Manteuffelstraße. Sie war jünger als er, hatte kurz geschnittenes braunes Haar und trug nur Jeans und T-Shirt. Als sie einstieg, roch er ihr Parfüm, dezent, frisch. Als er sie fragte, wohin es gehen sollte, sah er im Rückspiegel ihre Sommersprossen und blickte in große schwarze Augen.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wie weit kommt man für zwanzig Euro?« Sie hatte eine klare Stimme, aber sie klang traurig.
Matti lachte.
»Weißt du es nicht?«, fragte sie.
»Wohin du willst.«
»Gut, wenn das so ist.«
»Und wo willst du hin?«
»Nach Paris.«
Matti lachte.
»Siehst du«, sagte sie.
»Überall in Berlin«, sagte er.
Hinter ihm hupte es. Ein Riesenlastwagen mit Anhänger, Matti sah nur einen Teil des Kühlers im Spiegel.
Und ihr Gesicht.
»Du bist ein seltsamer Taxifahrer«, sagte sie.
»Das stimmt.« Er rollte ein Stück vor auf die Skalitzer und fand eine Lücke am Rand.
»Was kann man für zwanzig Euro noch machen?«
»Ins Kino gehen. Spaghetti essen. Aufs Badeschiff.«
»Wie heißt du?«
»Matti.«
»Matthias also.«
»Ja.«
»Warst du immer Taxifahrer?«
Ein Kleinbus schlich vorbei, dahinter wütende Autofahrer. Am Steuer des Busses saß eine Frau im Tschador, neben und hinter ihr wimmelten Kinder.
»Ich hab’s Studium abgebrochen.«
Sie sahen sich lange an im Spiegel.
»Das ist schlecht.«
»Weiß nicht«, sagte Matti.
Sie schwiegen, nur ihre Augen unterhielten sich.
»Wohnst du in Berlin?«
»Oppelner«, sagte sie. »Neben der Kuchenkiste.«
»Die Kuchenkiste ist die beste Konditorei weltweit«, sagte Matti.
»Stimmt.« Sie lächelte.
»Für zwanzig Euro kriegen wir dort ein paar Stücke Himbeerschokotorte.«
Sie überlegte. »Gut.«
Matti fuhr ein Stück Richtung Kotti und wendete unter der Überführung der U 1. Sie standen eine Weile im Stau, dann krochen zwei Autos nebeneinander vor ihnen her. Sie hatte sich in die Mitte der Rückbank gesetzt und nach vorn gebeugt. Er hörte sie atmen.
»Wo wohnst du?«
»Okerstraße«, sagte er. »Neukölln, nahe am Flughafen Tempelhof. Wie heißt du eigentlich?«
»Lara.«
Der Name passte wie angegossen.
»Gefällt er dir?«
»Ja.«
»Matti ist aber auch gut.«
Er fuhr rechts ab in die Wrangelstraße, bremste auf Schrittgeschwindigkeit ab, dann rechts hinein in die Oppelner, eine Allee, deren Bäume das Vormittagslicht brachen. Er fand einen Parkplatz nahe der Kuchenkiste, sie stiegen aus. Sie streckte sich, als wären sie Stunden unterwegs gewesen.
Vor der Kuchenkiste stand ein großes Spielzeug-Feuerwehrauto. Hinter dem Steuer saß ein Knirps von vielleicht drei Jahren. Zwei Frauen hatten einen Tisch neben dem Eingang belegt. Drinnen warteten hinter dem Tresen ein Mann, keine Vierzig, und eine jüngere Frau. Neben dem Tresen war die Tortenauslage, mehrstöckig hinter Glas.
Lara lächelte die Frau an, die lächelte zurück. »Zwei Stücke Himbeerschoko und zwei Milchkaffee«, sagte Lara und ging hinaus. Eine Frau mit zerrissener Strumpfhose stolzierte hochhackig vorbei.
Sie setzten sich. Ein Sonnenstrahl fand Laras Gesicht.
»Wo wolltest du hinfahren?«
»Weiß nicht«, sagte Lara.
Warum ist sie aufgetaucht? Er erinnerte sich an Lily, ein ähnlicher Typ, sein Typ. Auch Lily war zufällig aufgetaucht, und dann hatten sie sich gar nicht zufällig wiedergetroffen. Das verfolgte ihn manche Nacht. Aber woher konnte Lara wissen, dass er an der Ecke vorbeifahren würde? Er hatte es am Morgen selbst noch nicht gewusst. Scheißmisstrauen.
»Was machst du so?«
Lara lächelte. »Die Frage war jetzt dran.«
Es war ihm, als hätte sie ihn zurechtgewiesen. »Stimmt.«
»Es interessiert dich wirklich?«
»Ja.«
Ein zweifelnder Blick aus schwarzen Augen.
»Ich bin arbeitslos. Ich habe in einer Kunstgalerie in Mitte gearbeitet, Mädchen für alles: Pressearbeit, Aufpasserin und so weiter. War gut, aber nach drei Jahren hatte der Typ keinen Bock mehr. Hat nur Stücke aus seiner Kunstsammlung ausgestellt, nichts verkauft. Schon seltsam. Stinkt vor Geld, der Kerl. Und ist irre. Aber der Job war wirklich prima.«
»Und jetzt suchst du was Neues.«
»Du bist ein Blitzmerker.«
Die Kuchenkistenfrau kam mit den Torten und dem Kaffee. Sie grinste, als sie es abstellte. Warum grinst sie? Baggert Laura jeden Tag einen Typen an und lässt sich aushalten? Begrab das Misstrauen. Lily verstand es, einem das Leben noch zu versauen, wenn sie längst verschwunden war.
»Du glaubst mir nicht«, sagte Lara.
»Doch. Warum sollte ich nicht?«
»Weil du so guckst. Du traust niemandem.«
»Ich traue meinen Freunden.«
»Und wer sind die?«
Matti erzählte von Dornröschen, Twiggy und Robbi. Lara hörte aufmerksam zu. Die Tortenstücke waren unberührt.
»Solche Freunde hätte ich auch gern.«
Dann redete Matti über seine Angst, dass Dornröschen sie verlassen könnte. Warum erzählte er das einer wildfremden Frau, die er auf der Straße aufgelesen hatte?
Sie fand es offenbar nicht ungewöhnlich. Sie hörte aufmerksam zu, nickte, schüttelte den Kopf, und als er von Robbis geheimnisvoller Krankheit berichtete, seufzte sie leise.
Sie fragte, ob er in Dornröschen verliebt sei.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Und wenn, es würde die WG zerstören. Also ginge es sowieso nicht.«
Sie nickte. »Die Gewichte verschöben sich, das klappt nie.«
»Wo wolltest du hinfahren?«, fragte Matti.
Sie blickte ihn an. »Keine Ahnung«, sagte sie leise. »Ich wollte aus dem Rhythmus raus. Vorstellungsgespräch, Termin bei der Arbeitsagentur. ›Besuchen Sie eine Fortbildungsmaßnahme, Buchhaltung, das wird verlangt‹«, äffte sie nach. »Vorstellungsgespräch, Agentur … Es macht einen müde.«
»Du wolltest was Verrücktes machen?«
»So ähnlich.« Sie hatte ein schönes Lächeln. »Dich hat eine enttäuscht«, sagte sie.
»Ja, aber woher …?«
»Das sehe ich dir an.«
Sie aßen die Tortenstücke. Manchmal wechselten sie kurze Blicke. Einmal lächelte sie ihn an, während sie an irgendetwas dachte und ein paar Sekunden aufhörte zu kauen.
»Es ist die Stimme«, sagte sie. »Ich stehe auf Stimmen. Deine ist gut. Männlich, aber es fehlt der Machoton.«
Matti grinste. »Dir fehlt auch der Machoton.«
Sie lachte.
Als sie aufgegessen hatten, teilten sie die Rechnung. »Einen Spaziergang, oder musst du los?«
»Ich habe einen wichtigen Fahrgast.«
Sie gingen in den Görlitzer Park. Qualmsäulen, der Geruch der Grills. Krähen, überall Krähen. Menschen sonnten sich. Andere saßen da, die Flasche in der Hand. Hunde tollten umher. Eine Gruppe in der Senke, darunter ein bärtiger Mann mit Gitarre, der sich an Townshends Drowned besser nicht versucht hätte. Sie blieben am Rand des kleinen Tals stehen und betrachteten das provisorische Bretterhaus, an dem Plakate gegen die Privatisierung von Immobilien protestierten.
»Ist echt ’ne Sauerei«, sagte Lara. »Wie hieß sie?«
Matti stutzte. »Lily.«
»Ach, du lieber Himmel«, sagte Lara.
Sie schlenderten zum nördlichen Ausgang an der Wiener Straße. Ein Pulk von Schwarzafrikanern, lässiges Outfit. Dunkle Augen musterten Matti und Lara.
»Die kontrollieren diesen Teil des Parks«, sagte Lara. »Das sieht gar nicht danach aus, ist aber organisiert. Ein paar Typen lungern rum, stehen in Wahrheit aber Schmiere, einer dealt, die anderen sind das Wachpersonal. Die checken einen, wenn man hier lang läuft. Und ich möchte nicht gecheckt werden, von niemandem.« Sie nahm kurz seine Hand und ließ wieder los. »Am Schwimmbad besetzen die manchmal den Bürgersteig. Ist ein seltsames Gefühl, da durchzulaufen.«
Als sie zum Spreewaldbad kamen, war der Bürgersteig tatsächlich aufgeteilt. An beiden Enden lungerten Typen, die so taten, als langweilten sie sich. Am Zaun zum Kinderzirkus stand eine Gruppe von Schwarzen, die mit einem Weißen redeten. Der gab Geld, erhielt ein Päckchen und eilte davon in Richtung Kanal.
Am Spreewaldplatz tippte Lara ihm an die Schulter. »Kaffee im Marx?«
»Du lebst auf Koffeinbasis?«
Sie nickte. »Außerdem hast du keine Wahl, schließlich habe ich dich fürstlich bezahlt.«
»Aber nur als Taxifahrer.«
»Wir leben in einer Dienstleistungsgesellschaft. Nichts geht über den Service am Kunden.«
»Ach, du lieber Himmel.«
Sie hatten Glück, im Café wurde draußen ein Tisch neben dem Eingang frei. Stühle aus Korb und Stahl unter einer blauen Markise.
»Was beschäftigt dich gerade außer dem Arbeitsamt, oder wie das Ding gerade heißt?«
Lara lächelte. »Ich lese, alles Mögliche. Am liebsten historischen Kram. Schlögel über Moskau 1937, hab schließlich Geschichte studiert.«
»Abgeschlossen?«
»Magister.«
Das erinnerte ihn an sein Versagen, an den Abbruch, von dem er sich eingeredet hatte, der sei nur eine Pause. Doch die Pause hatte nicht aufgehört. »Ich habe auch mal studiert …«
»Aber abgebrochen«, sagte sie. »Ist ein Klischee, Taxifahrer ohne Abschluss. Das klassische Karriereende ist Außenminister.«
»Komm mir nicht mit dem«, sagte er. »NATO-Krieger …«
Sie grinste. »Daher weht der Wind.«
Als die Kellnerin erschien, bestellte sie einen Eisbecher und er eine Apfelschorle. »Doch keinen Kaffee?«
»Dein Gerede ist aufregend genug. O Gott, ein Radikalinski.«
»Pech gehabt.«
Sie grinste. »Ich bin tolerant. Außerdem finde ich es lustig, wenn Leute wegen jedem Scheiß Randale machen.«
»Nun ist’s aber gut. Ich mach keine Randale. Aber manchmal muss man auf die Straße gehen. Außerdem labere ich nicht herum, sondern nenn die Dinge beim Namen.«
»Klar. Ein Held!«
»Besser, als nur herumzueiern.«
Sie gackerte wie ein Huhn. In ihren Augen blitzten zwei Tränen. »Du musst weiter, Geld verdienen«, sagte sie. »Auch die einzig wahren Revolutionäre müssen mal zu Kaiser’s.«
»Nö«, sagte er. »Ich muss erst die zwanzig Euro abarbeiten. Auch wenn ich die noch nicht gekriegt habe.«
Sie kramte in ihrer Tasche und hatte einen Schein und Münzen in der Hand. Sie klemmte den Schein unter einen Bierdeckel und schob die Münzen zu Häufchen zusammen. »Sind nur zwölf Euro und zweiundfünfzig Cent. Tja, da hab ich also gelogen. Aber so einen Radikalinski wundert das nicht, der wird pausenlos betrogen: von der Regierung, vom Kapital, vom Imperialismus, von Zionisten und Nazis, Liberalen und Sozis …«
Er winkte ab. »Ist das alles?«
»Ich hab noch was im Sparschwein. Ich nehme immer wenig mit, damit ich nichts ausgebe. Ich kann nicht an Juweliergeschäften vorbeigehen, die Diamanten und Brillanten, du weißt …« Sie griff mit zitternden Händen in die Luft.
Das Eis kam und die Schorle.
»Behalt die Knete«, sagte er.
»Nein, ich bezahle die Fahrt und du das Eis.«
Er nickte.
Sie hatte Lachfalten an den Augenwinkeln und auf der Nasenspitze eine auffällige Sommersprosse. Lara grinste ihn an. »Bin ich Kino oder was?«
»Nein, hübsch.«
Ihr Gesicht rötete sich. Sie nahm den Löffel und schob sich Eis in den Mund.
»Eine Freundin ist ermordet worden«, sagte Matti. »Rosi.«
Sie schaute ihn erschrocken an.
»Im Gräfekiez, kurz bevor sie Enthüllungen über die Firma Kolding, diesen Immohai, veröffentlichen konnte.«
»Ach, du lieber Schreck. Ermordet?«
»Jemand hat ihr den Schädel zertrümmert.«
Sie atmete laut aus, lehnte sich zurück und überlegte. »Du meinst, die Immofritzen …«
Er zeigte seine Handflächen.
»Was sagt die Polizei?«
»Nichts, bisher.«
»Aber die kriegen den bestimmt. Die kriegen die meisten Mörder.«
»Ja, aber den nicht.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Könnte sein, dass der Staat drinhängt. Sie wollte auch aufdecken, dass Typen vom Senat sich haben bestechen lassen, und zwar von Kolding.«
»Ach, du lieber Himmel. Sicher?« Sie beugte sich nach vorn und schaute ihm in die Augen. »Das klingt nach Verschwörungskacke.«
»Die wurden sogar fotografiert, im Puff. Und einen Zeugen gibt es auch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Unfassbar.«
»Und wir müssen das aufklären.«
»Die WG?«
»Die WG. Auf die Bullen verlassen wir uns nicht.«
»Hm. Mörder suchen ist gefährlich.«
»Kann sein.«
»Habt ihr Spuren?«
»Verschiedene. Die Typen vom Senat, die Kolding-Opfer, vielleicht war es auch eine Verwechslung. So ’ne Managerin von Kolding sieht genauso aus wie Rosi. Und es war Nacht.«
»Und sonst?«
»Eine Türkenfamilie, die wurde aus dem Kiez verdrängt, und der Vater ist schon mal auf die Kolding-Tante losgegangen. Sohn arbeitslos und gewiss nicht frei von Rachegedanken.«
»Kann man verstehen«, sagte sie.
Sie aß ihr Eis, und er schaute zu. War die Begegnung wirklich Zufall? Nicht noch einmal hereinfallen, bloß nicht. Aber wie sollte sie es gedeichselt haben? »Warum hast du am Que Pasa gestanden?«
Sie blickte ihn erstaunt an. »Ich habe jemanden besucht in der Obentrautstraße, du weißt … ach, du bist ja Taxifahrer … und bin mit der U 1 zum Görlitzer Bahnhof gefahren, und von dort bin ich zur Kreuzung gelaufen. Noch Fragen?«
»Warum bist du dorthin gefahren?«
Wieder dieser Blick. »Weil ich Bock hatte … vielleicht. Erst wollte ich zum Kotti, dann bin ich aber weitergefahren, weil der Kotti abgefuckt ist …«
»Du fährst einfach rum?«
»Ja.«
»Rausgeschmissenes Geld«, sagte Matti.
»Quatsch, die BVG fährt mich umsonst.«
»Und wenn sie dich erwischen?«
Sie deutete auf ihre Taschen. »Nix Kohle, nix zu holen. Außerdem erwischen die mich nicht. Ich habe einen Anti-BVG-Schutzengel.«
Matti lachte.
»Ist echt wahr«, sagte sie.
»Ist ja gut.«
Und wie weiter?, fragte er sich. Er durfte sie nicht gehen lassen. »Soll ich dich ein bisschen herumfahren?«
»Au ja, aber ich habe …«
»Bist eingeladen.«
Sie strahlte ihn an.
»Ich will nicht, dass du weggehst«, sagte er.
»Ich geh nicht.« Es klang wie selbstverständlich.
Und er dachte, das ist zu simpel. Es konnte nicht sein, dass so eine Frau sich einfach auf ihn einließ. Da war ein Haken.
»Du hast einen merkwürdigen Blick, manchmal«, sagte sie.
»Stimmt. Dafür bin ich berüchtigt.« Er lachte gezwungen, sie blickte ihn nur ernst an.
»Ich werde es rauskriegen«, sagte sie.
Sie erhob sich, und er ging ins Marx, um zu bezahlen. Als er hinauskam, nahm sie ihn an der Hand. So gingen sie zum Taxi in der Oppelner Straße.
»Du wohnst hier?«
»Sag ich doch, direkt neben der Kuchenkiste.«
»Und die Chefin von der sieht dich hier jeden Tag mit einem anderen Mann.«
»Klar.«
Er blickte aufs Haus. »Welcher Stock?«
»Wir fahren Taxi«, sagte sie.
Er lachte. »Wir fahren Taxi. Wohin wünschen Madame kutschiert zu werden?«
»Strandbad Wannsee«, sagte sie.
»Badezeug dabei?«
»Immer.«
Gitschiner Straße, Mehringdamm, Tempelhofer Damm, die Stadtautobahn. Sie saß auf der Rückbank, in der Mitte, nach vorn gebeugt und beobachtete den Verkehr. »Vielleicht können Sie sich ein bisschen beeilen. Außerdem glaube ich nicht, dass Sie den kürzesten Weg fahren. Sie wollen mich wohl betrügen?«
»Niemals, Madame. Sie würden es doch merken.«
»Sie glauben offenbar, Sie seien ein Oberschlauer, was?«
»Das würde ich nie denken. Wissen Sie, ich komme vom Lande, bin eher einfältig.«
Er fuhr auf die Avus.
»Einfältig gewiss, aber bauernschlau. Raffiniert, und wenn es nicht klappt, brutal.«
»Da haben Sie natürlich recht, Madame.«
»Aber ich werde mich wehren.« Sie gackerte. »Mach’s Radio an!«
»Sie sind der Fahrgast«, sagte er.
»Radio 1«, sagte sie.
Er schaltete das Radio ein. Die Nachrichten: Europa pleite, Sprengstoffanschläge im Irak, Zoff bei den Grünen. Musik. Dann berichtete ein Sprecher, dass der Mordfall auf der Admiralbrücke offenbar aufgeklärt sei. Die Polizei habe den Täter gestellt, der bei einem Schusswechsel schwer verletzt worden sei. Der Tatverdächtige stamme vermutlich aus dem Milieu einer rumänischen Drogenbande.
Matti fühlte ungeheure Erleichterung. Es war vorbei. Sie hatten den Kerl erwischt. Das normale Leben konnte zurückkehren. Und vielleicht würde Dornröschen doch nicht ausziehen, und sie könnten wieder so leben wie all die Jahre, mit Robbi, Mau-Mau, Demos und Veranstaltungen, bei denen es zur Sache ging. Er lachte. Was für ein Tag! Am Morgen stieg Lara ein, dann erwischten sie Rosis Mörder. Einfach so. Er schaltete das Radio ein, und die Meldung kam wie bestellt.
»Was ist?«
»Sie haben den Mörder, wie es aussieht.«
»Spitze«, sagte sie. »Ein Grund mehr, baden zu gehen.«
Als sie am Strandbadweg auf dem Parkplatz vor dem Bad anhielten, zog sie ihn zart am Ohr und stieg aus. Das Eingangsgebäude: unten Klinker, oben beigefarben verputzt.
Ihr Badezeug bestand aus ihrem Slip. Sie zogen sich aus. Als sie seinen Blick bemerkte, grinste sie, und er war froh, dass er Boxershorts trug.
Sie tippte auf eine Rippe. »Rot, geschwollen … ach, da auch.« Lara streichelte seine Schulter. »Bist ein Schläger, dacht ich’s mir doch.«
»Im Gegenteil.« Sie wurde blass, als sie hörte, wovon es stammte.
»Und ihr könnt nichts gegen die machen?«
»Wenn wir die fragen, warum sie uns haben verprügeln lassen, die Herren Spiel und Rademacher, das würde nichts bringen. Die haben ja nicht mal ein Geheimnis daraus gemacht …«
Sie schüttelte den Kopf. »Kannst du wenigstens einen von den Schlägern beschreiben?«
Matti überlegte. Er spürte den Schmerz der Schläge, als er sich zurückversetzte. Dieser Goldkettentyp, südeuropäischer Macho, Maßanzug.
»Und wenn ihr Rademacher und Spiel auch verprügelt?«
Matti blickte sie erstaunt an. »Das hilft nicht.« Er überlegte. »Es ist gefährlich genug, dass wir an der Sache dranbleiben. Die haben uns verprügeln lassen, damit wir nicht aufdecken, wie korrupt sie sind.«
»Schlimm genug.«
»Aber deswegen haben die Typen nicht unbedingt was zu tun mit dem Mord.«
Sie stand auf und rannte zum Wasser. Er fand sie umwerfend schön. Sie würden die Nacht miteinander verbringen, das war sonnenklar. Es spürte Wärme und Zärtlichkeit in sich. Es spritzte, als sie mit einem Freudeschrei ins Wasser platschte. Sie tauchte unter und auf, immer wieder. Matti saß da und genoss das Bild. Er nahm seine sonstige Umgebung nicht wahr, nicht die arabische Familie neben sich, die aß und trank. Nicht das verliebte Paar auf der anderen Seite, wo er ihr nicht nur den Rücken einrieb, was sie prusten ließ. Er sah nicht den Heißluftballon der Welt, den Twiggy am liebsten vom Himmel geholt hätte, wenn er ihn entdeckte. Und auch nicht die drei muskulösen Männer, die zum Wasser stolzierten, als wären sie auf dem Laufsteg für hirnlose Fleischmassen.
Lara kam aus dem Wasser gerannt, schnitt den Muskeldeppen den Weg ab, was einer von denen mit einem anerkennenden Pfeifen quittierte, stellte sich vor Matti mit ihrem vor Nässe durchsichtigen Slip und sagte: »Du bist ein fauler Sack. Hast du wenigstens eine Decke?«
»Im Auto«, fiel ihm ein. Er sprang auf, um seine Sportlichkeit zu beweisen, den Schlüssel in der Hand.
»Bleib sitzen, alter Mann, deine Kraft brauche ich nachher noch.« Sie lachte laut auf und schnappte sich den Schlüssel. Sie zog ihr T-Shirt über, das gleich halb durchnässt war, und rannte los. Matti blickte ihr nach, bewunderte ihren Po und ihre flinken Beine. Dann überfiel ihn die Angst, sie könnte wegfahren, irgendwohin. Er starrte aufs Wasser, erblickte aber nur Lara.
Matti sah erst den Blitz, dann hörte er den Knall. Er rannte los. Eine schwarze Qualmwolke weitete sich über dem Parkplatz. Sie stieg dort auf, wo er den Daimler geparkt hatte.