13: Don’t Let Me Down
Sie saßen in Mattis Taxi vor dem Haus, in dem die Göktans wohnten. Am Nachmittag waren sie schnell aus der Schule verschwunden, verfolgt von einem verwunderten, dann empörten Blick von Wolfgang Müller. Nun wussten sie, dass es ein Kinderspiel für Ali wäre, eine Bombe zu bauen. Die Lage war klar: Ali hatte ein Motiv, Frau Quasten umzubringen, weil die seinen Vater gedemütigt hatte, verwechselte sie aber mit Rosi. Als er es merkte und mitbekam, dass die WG bei seinen Eltern aufgetaucht war, erfuhr er vom Vater, dass Matti bei Ülcan Taxi fuhr und ihm auf der Spur war. Für Ali war es klar, dass Matti und seine Genossen Rosis Tod rächen wollten. Also baute er Matti eine Bombe ein, um ihn zu töten. Wenn er Matti umbrachte, schüchterte er Twiggy und Dornröschen ein, ein doppelter Nutzen. Lara hatte Pech, dass sie die Tür öffnete. Matti wurde übel, als ihm klar wurde, dass der frühe Verdacht richtig gewesen war. Er, Matti, hätte tot dort liegen müssen. Es ging nicht um einen eifersüchtigen Freund von Lara, sie war in die Sache hineingeraten und dabei umgekommen. Jetzt hatte Ali schon zwei Menschen aus Versehen ermordet.
»Und was wollen wir nun herausfinden?«, fragte Dornröschen. Sie hatte nach dem Gespräch mit Müller nicht viel gesagt, dann war sie angerufen worden und hatte nur ein paar Worte in den Hörer gemault, bevor sie das Gespräch trennte. Sie hatte nicht einmal die Küche verlassen. Aber ihre Laune war am Tiefpunkt, und sie war mehr mitgetrottet als mitgekommen.
»Was sollen wir sonst machen?«, fragte Matti.
»Weiß nicht.«
»Tolle Idee«, sagte Twiggy. »Die beste seit Langem.«
Dornröschen blickte stur nach vorn, als fände sie dort die eine Wahrheit, um die es im Leben ging, die aber die eklige Eigenschaft hatte, nicht gefunden werden zu wollen.
»Wir verfolgen ihn und erwischen ihn beim Bombenbasteln«, sagte Matti. »Ist doch ganz einfach.«
Twiggy schnaubte. »Du hast doch zugestimmt, dass wir herfahren.«
»Ja, ja«, sagte Matti. »Weil mir nichts Besseres eingefallen ist.«
»Wir hätten auch weiter Löcher in den Küchentisch glotzen können.«
»Jungs, wenn ich euch mal aufklären darf«, sagte Dornröschen. »Ali ist vielleicht ein Killer, aber kein Auftragsmörder. Der Schmelzer hat Quatsch erzählt. Ali hatte für beide Morde gute Motive, der braucht keinen Auftraggeber. Kapiert?«
»Und wie beweisen wir das? Sollen wir zu den Bullen gehen? Hallo, wir haben da einen Mörder. Vielleicht könnten Sie den festnehmen?«, fragte Matti.
Twiggy knurrte. »Wir schnappen uns den Kerl wie den Chef und grillen ihn.«
»Beim Chef war das ja auch supererfolgreich«, ätzte Matti.
»War es doch. Wir haben eine Menge rausgekriegt.«
»Auf eine Wiederholung kann ich verzichten«, sagte Dornröschen. »Irgendwann laufen wir mit der Knarre in der Hand durch Kreuzberg und machen auf Wildwest. Nicht, dass mich das Gewissen drücken würde. Besser, wir haben Knarren als die Bullen. Nur irgendwann geht das in die Hose, und wir wandern in den Knast. Und bei den Vorstrafen wird das nicht nur unterhaltsam.« Immerhin war sie erwacht aus ihrer Depression.
»Das heißt, wir wissen, wer der Mörder ist. Aber wir haben keinen Beweis. Okay, er kann Bomben bauen, aber das kann Twiggy auch.« Matti spürte, wie die Verzweiflung ihn packte. Er wehrte sich, aber sie war stärker. »Es ist alles sinnlos. Da kann so ein Arschloch Lara und Rosi umbringen, aber er läuft frei rum.«
»Und wenn die Bullen recht haben, dass er Rosi nicht umgebracht hat?«, fragte Dornröschen. »Er hatte ein deftiges Motiv, stimmt. Aber mehr auch nicht.«
»Aber er kennt bestimmt diese Mafiatypen, Berufsmörder oder so. Und er hat einen Deal mit ihnen laufen. Du tust mir einen Gefallen, und ich tu dir einen. Du bringst die Quasten um und ich …«
»Ja, was denn?«, fragte Dornröschen. »Was hat er getan? Schutzgelderpressung gegen Mord, so einen miesen Tausch gibt es nicht.«
»Woher weißt du das denn?«, fragte Twiggy. »Wenn es einem wurscht ist, Leute umzubringen …«
Das Licht über der Haustür leuchtete auf. Ein Pärchen trat heraus, sie klein und rundlich, er hager. Sie gestikulierte heftig.
»Er hat den Mord an der Quasten in Auftrag gegeben. Und der Killer hat Rosi mit der Quasten verwechselt. Der kannte sie nicht, da ging das mit dem Verwechseln noch leichter.«
»Noch mal: Warum folgen wir ihm jetzt?«, fragte Dornröschen.
»Weil es sein könnte, dass Ali die Typen trifft, mit denen er zusammenarbeitet und zu denen der Spitzentyp gehört hat, den die Bullen abgeknallt haben.«
»Aber wenn es so ist, dass die Bullen Mist erzählen und der Killer es gar nicht war, sondern in beiden Fällen Ali der Mörder ist, was dann? Dann rennen wir ihm nach, ohne dass es irgendwas bringt.«
Der Vollmond hing im Himmel, dessen Schwarz die Stadt ergrauen ließ. Er überstrahlte das Neonlicht des Einkaufszentrums, das den Parkplatz in ein Dämmerweiß tauchte. Gelb leuchteten die Taxischilder von Mattis Kollegen, die auf Kunden warteten. Der Verkehr war abgeflaut, die Scheinwerfer malten Licht und warfen Schatten. Das Verkehrsrauschen wurde mitunter übertönt durch Zweitakterknattern und das Dröhnen von Dieselmotoren. Gerade brummte ein Containerlaster vorbei und zeigte gleich nur noch die Rücklichter. Das Licht über der Haustür war ausgegangen, sie wurde jetzt matt beschienen von der Straßenlaterne. Die drei Fenster der Wohnung, in der die Göktans lebten, leuchteten, als wollten sie zeigen, dass weder Vater noch Sohn durch die Nacht zogen, um Schutzgelder zu erpressen oder Menschen umzubringen.
Sie saßen nebeneinander auf der Bullibank und waren ratlos. Dass Ali sie zu der Mörderbande führen würde, war unwahrscheinlich, sofern es die überhaupt gab. Dass sie etwas herausfänden, wenn Ali beide Morde begangen hatte, indem sie ihn verfolgten, war Blödsinn. Matti begriff, dass sie im Begriff waren, ihre Zeit zu verplempern, weil sie sich nicht eingestanden, dass sie feststeckten.
»Das ist doch alles Quatsch«, sagte er.
Die beiden anderen schwiegen.
»Dass wir glauben, Ali würde uns zum Heiligen Gral führen, zeigt nur, dass uns nichts mehr einfällt.«
»Willst du aufgeben?«, fragte Twiggy.
»Nein, aber das heißt nicht, dass wir ohne Sinn und Verstand durch die Gegend eiern.«
»Matti hat recht. Das ist eine Schnapsidee. Das einzige Ergebnis wird sein, dass Ali es merkt und es richtig ernst wird. Noch glaubt er wohl, wir hätten aufgegeben«, sagte Dornröschen.
»Es sei denn, der nette Lehrer ruft seinen Exzögling an und fragt, was er mit der IHK am Hut hat«, sagte Twiggy.
»Das macht er eher nicht«, widersprach Matti. »Der war nämlich froh, den Lausebengel von der Backe zu haben.«
»Lass uns heimfahren«, sagte Dornröschen.
Es klopfte am Fenster der Fahrertür. Ali guckte herein, er beleuchtete sein Gesicht mit einer Taschenlampe und sah lächerlich und gefährlich zugleich aus. »Wollt ihr mich was fragen?«
Die Laderaumtür wurde geöffnet, und an der Beifahrertür zeigte sich noch ein Gesicht, ein junger Türke, der sich ebenfalls mit einer Lampe anstrahlte. Hinten war jemand eingestiegen. »Guten Tag«, sagte er. Und dann: »Ich habe eine Knarre in der Hand, und ich bin nervös.« Er sprach ausgezeichnet Deutsch. »Meine Freunde steigen jetzt auch ein, und sie haben ebenfalls Knarren, und sie sind noch nervöser.«
Der Wagen wankte, als die beiden Gesichter von den Fenstern verschwanden und einstiegen. Die Laderaumtür wurde geschlossen.
»Ich glaube, es gibt eine Art Interessenübereinstimmung zwischen uns, jedenfalls wollt ihr euch mit mir unterhalten«, sagte Ali. »Und inzwischen habe ich auch Lust darauf. Hier finde ich es allerdings ungemütlich. Wir machen eine kleine, wie sagt man, Spritztour, einverstanden?« Als niemand antwortete: »Vorher würde ich mir gern eure Handys ausleihen, ihr kriegt sie wieder. Und wenn wir sie euch ins Grab nachwerfen.« Er lachte leise.
Matti spürte einen harten Druck im Genick und reichte sein Handy nach hinten. Die beiden anderen taten es ihm nach.
»Na, dann wollen wir mal los«, sagte Ali fast fröhlich. »Wenn du vielleicht den Motor starten könntest.«
Twiggy drehte den Schlüssel, und mit einem Spotzen sprang der Boxer an. »Wohin?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Wir fahren auf die 111, Richtung Berliner Ring. Wenn du es genau wissen willst, nach Oranienburg … nicht ganz nach Oranienburg, aber so grob kommt es hin.«
Twiggy nickte und fuhr los.
Matti beunruhigte vor allem die Lässigkeit, mit der Ali und Konsorten auftraten. Sie schienen nicht aufgeregt und hatten einen Plan. Sie wussten genau, was sie taten. Kalter Schweiß nässte den Rücken. Er fror und schwitzte. Matti versuchte sich zu konzentrieren. Auf keinen Fall durfte er in Panik geraten. Es gab immer eine Chance. Was hatten die vor? Die Panik näherte sich. Sie hatten Lara umgebracht, sie hatten Rosi auf dem Gewissen. So jung, wie Ali war, er war ein Doppelmörder, vielleicht noch schlimmer. Es schien ihn nicht zu beeindrucken, dass er Menschen umgebracht hatte. Was hatten sie von einem Mörder zu erwarten, dem sie auf die Schliche gekommen waren?
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Wirst du sehen.«
»Warum entführst du uns?«
»Aber wie kommst du denn darauf? Wir machen eine Spazierfahrt. Entführung, so etwas würden wir nie tun.« Die anderen beiden Typen lachten fröhlich.
Manchen macht es Spaß zu töten. Das hatte Schmelzer gesagt. Ob Ali und seine Komplizen zu dieser ominösen Killerbande gehörten? Sie sahen nicht so aus, aber wie sahen bitteschön Killer aus? Schmelzer hatte sie gewarnt, und er hatte recht gehabt. Diese Killer fielen nicht auf, weil sie wie alle anderen Menschen in der Stadt wohnten, Spießer wie du und ich, der Oberkiller lässt sich von Mama verwöhnen. Wohnt in einer Sozialwohnung in einer elenden Gegend. Killer sind doch reich und genießen den Luxus. Matti wusste natürlich, dass er sich Klischees erzählte, aber Alis Existenz widersprach allem, was man sich über einen Berufsmörder zusammenreimte. Guter Schüler, braver Sohn. Aber Schutzgelderpresser passte auch nicht dazu. Oder hatte Mustafa ihn angelogen? Nein, unmöglich. Dazu war der zu dumm und zu eingeschüchtert von Ali. Ob diese Typen zu seiner ehemaligen Schulbande gehörten?
Twiggy erreichte die Autobahn und fädelte sich in den starken Verkehr Richtung Norden ein. Dornröschen war in sich versunken. Matti legte seine Hand auf ihre und drückte sie. Dornröschen reagierte nicht. Ihre Augen starrten in die Nacht, vielleicht hatte sie schon abgeschlossen mit dem Leben.
Matti überlegte, dass er ohnehin nicht im Bett hatte sterben wollen. Doch Barrikaden, auf denen man die Kugel einfing, gab es nicht mehr, die letzten Revolutionäre würden in ihren Betten sterben, während der Kapitalismus sich selbst zugrunde richtete.
»Du fährst gut«, sagte Ali.
Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Twiggy mich zur eigenen Beerdigung fahren würde. Mattis Gefühle hatten sich seltsam gemischt: Trotz, Angst, Hoffnungslosigkeit, Entsetzen, Wut. Ich will nicht, dass Twiggy und Dornröschen sterben. Wenn ich dran glauben muss, wäre es ein Abschluss. Ich habe es mir so nicht gewünscht, aber ich finde mich damit ab. Nicht schön, dass drei Hosenscheißer sie reingelegt hatten, aber man kann sich seine Mörder nicht aussuchen. Erschießen, das geht schnell. Ein kurzer furchtbarer Augenblick, und dann wäre alles schwarz. Lara ist mir vorausgegangen, wie schade, dass ich nicht ans Jenseits glaube. Nicht einmal jetzt. Mein Leben war einigermaßen in Ordnung. Ich habe nicht erreicht, was ich hätte schaffen können, doch ich bin mir treu geblieben. Gewiss war ich manchmal feige. Er erinnerte sich, wie er bei einer Demo am Kotti abgehauen war vor der Bullenübermacht, obwohl er eine Zwille und eine Hosentasche voll Krampen gehabt hatte. Andere waren standhaft geblieben und niedergeknüppelt worden. Aber insgesamt hatte er sich gut geschlagen. Vor allem hatte er nie einen Genossen verraten. Er hat sich nicht eingelassen auf die Verlockungen der Bullen: Ermittlungen einstellen, Strafminderung und überhaupt. Er hatte sich nie eingelassen auf die Verlockung, zum Feuilletonlinken zu werden, wortradikal mit Augenzwinkern, was die Salonbolschewisten als superschick bejubelten, auch weil es so schön folgenlos war. Es war Revolutionär geblieben, obwohl die Revolution abgesagt worden war, ohne dass ihn einer gefragt hatte.
Der Boxermotor schnurrte, und Matti hätte sich so gewünscht, dass er diesmal in einer Rauchwolke explodieren würde. Eine Chance, sie brauchten nur eine einzige Chance. Die Makarovs waren unter der Bank im Laderaum. Eine einzige Chance. Vielleicht könnte Twiggy scharf bremsen, aber da würde sich ein Schuss lösen und womöglich nicht nur einer. Wenn Twiggy gegen einen Brückenpfeiler oder Baum führe oder sonst einen Unfall verursachte, wäre es das Gleiche. Matti zweifelte nicht, dass der Freund fieberhaft nachdachte, was er tun konnte, um die drei Typen loszuwerden. Twiggy starrte nach vorn wie Dornröschen. Die sah aus, als wäre sie nicht anwesend, aber natürlich suchte auch sie einen Plan.
Wenn nicht auf der Fahrt, dann beim Aussteigen. Nein, er wollte nicht sterben. Es war zu früh. Einen Augenblick dachte er: Du bist zu feige, zu sterben. Du wirst immer Schiss haben. Nimm es an, es ist besser, als im Bett zu sterben. Es geht schnell. Kein Leiden, kein Krankenhaus, keine Pflege. Und Matti staunte, was für einen Mist sich ein Hirn ausdenken konnte, um mit der Angst fertig zu werden.
»Und dann die B 96, Richtung Oranienburg«, sagte Ali vergnügt.
Der Typ ist pervers, dachte Matti.
Twiggy fuhr auf die Bundesstraße. Es begann zu regnen. Er schaltete den Scheibenwischer ein. Die Straße glänzte. Vor ihnen fuhr ein Tanklaster mit grellen Rücklichtern. Ein Sportwagen überholte sie auf der linken Spur, er lag so flach auf der Fahrbahn, dass Matti sich fragte, wie es darin einer hinters Steuer schaffte.
Die Typen hinter ihnen tuschelten etwas auf Türkisch, und Matti hätte alles darum gegeben, Fremdsprachengenie zu sein, einer, der eine andere Sprache im Vorübergehen aufschnappte.
»Erste Ausfahrt raus«, sagte Ali.
Matti las auf einem Schild etwas von einem Gewerbepark Alter Flugplatz oder so ähnlich. Die Ausfahrt wurde angezeigt. Der Regen schluckte Licht. Sie kamen auf eine zweispurige Straße. Birkenallee.
Sie fuhren am Gewerbegebiet entlang in Richtung Oranienburg.
»Vor der Brücke rechts und am Kanal entlang«, sagte Ali.
Ein Holperweg. Links glänzte das Wasser im spärlichen Licht, das vom anderen Ufer schien.
»Aussteigen.«
Alles spannte sich in Matti, Muskeln, Nerven, Hirn. Eine kleine Chance nur. Er stieg aus und stand neben der Beifahrertür. Hinter ihm war einer von Alis Komplizen. Der Typ benutzte ein aufdringliches Deo oder Rasierwasser. Auf der Fahrerseite stieg Twiggy gemächlich aus, niemand drängte zur Eile. Dann rutschte Dornröschen vom Sitz. Sie ging zwei Schritte nach vorn und hatte nun beide Genossen im Blick. Sie schüttelte kaum sichtbar den Kopf. Es wäre ohnehin nicht möglich gewesen. Den einen Typen hätte ich vielleicht überrascht, aber dann hätten die anderen losgeballert, dachte Matti. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance.
»Los geht’s«, sagte Ali vergnügt. »Immer am Kanal entlang.«
Twiggy hatte es nicht eilig zu sterben. Dornröschen trottete ihm nach. Sie war geistig woanders, vielleicht versöhnte sie sich gerade mit dem Tod.
Matti überlegte, ob sie den drei Typen einfach davonlaufen könnten, aber sie hätten auf jeden Fall Twiggy erwischt, sie waren jünger und schneller.
»Kann ich mir eine drehen?«, fragte Matti.
»Klar«, sagte Ali.
Matti drehte zwei Zigaretten und ging zu Twiggy. Er reichte ihm eine und flüsterte: »Hast du eine Idee?«
Twiggy schüttelte nur leicht den Kopf. Er zündete sich die Zigarette an. Sie gingen nebeneinander, Dornröschen lief ein paar Schritte vor ihnen. Ali hatte sich auch eine angezündet.
Matti wischte sich Regenwasser aus dem Gesicht. Das Wasser schmeckte salzig.
Vor ihnen tauchten rechts, an einem sanften Abhang, Umrisse auf. Eine starke Taschenlampe zitterte ihren Lichtkegel vorweg. Er blieb an einer bewachsenen Klinkermauer hängen, ein halb heruntergerutschtes Dach hing mit einer Ecke fast auf dem Boden. Nasses Moos glänzte auf zerbrochenen Ziegeln. Das Lampenlicht deutete auf eine Tür, ein Vorhängeschloss baumelte an einem offenen Bügel aus rostigem Stahl.
»Rein da.«
Twiggy stapfte über Zweige zu der Tür und zog sie auf. Sie knarrte, schliff am Boden und hing nach ein paar Zentimetern fest. »Streng dich an, du bist stark.« Ali schnippte seine Zigarette weg. Twiggy zog kräftiger oder tat so, er kriegte die Tür nicht auf.
»So groß, so fett, so schwach.«
Ein Komplize trat ins Licht. Er war groß und durchtrainiert, Typ Boxer. Er hatte halb lange, gegelte Haare und trug ein helles Jackett mit aufgekrempelten Ärmeln. Darunter ein schwarzes T-Shirt. Er packte die Tür am oberen Rahmen und riss sie auf. Dann rieb er sich grinsend die Hände.
Die Taschenlampe winkte in das Schwarze. »Nur hinein, meine Dame, meine Herren.« Ein Singsang. Morden machte ihm Spaß, klar. Da hatte Schmelzer recht gehabt. Sadisten.
Sie werden uns foltern, dachte Matti, und der Schrecken presste seine Brust zusammen. Er konnte kaum atmen. Er schlich zur Tür, die drei Türken hatten sich daneben aufgebaut. Der dritte hatte einen Bürstenschnitt, eine Gangstervisage und einen Dreitagebart. Er grinste dreckig, die Pistole lässig in der Hand, der Lauf zeigte auf die Wiese. Es war ein feuchter großer Raum mit Lücken im Dach. Es stank nach Schimmel. Es regnete herein, dünne Fäden im Schein der Taschenlampe.
»An die Wand!« Die Lampe leuchtete an eine Klinkermauer, darüber war der Himmel. Sie standen im Regen und im Licht, die drei Typen tuschelten in zwei Meter Abstand vor ihnen. Der Bürstenkopf rauchte nervös.
Der hat noch nie einen erschossen, dachte Matti.
Der Boxertyp tat obercool.
Der auch noch nicht, dachte Matti. Zu cool. Aber Ali, der ist ein Mörder. Und die anderen sind seine Mörderlehrlinge.
Der Regen durchnässte sie. Matti sah ein Flugzeug am schwarzen Himmel blinken. Der letzte Gruß.
Ali trat eine Zigarette aus.
Eine Spur, er hinterlässt eine Spur, der Dummkopf. Doch kein Profi.
Ali lächelte. »Warum folgt ihr mir?«
»Quatsch«, sagte Dornröschen mit fester Stimme.
»Ihr habt mich auch in die Kneipe von Mustafa verfolgt. Diese Tussi gehört zu euch. Geht’s ihr einigermaßen?«
Geht so, dachte Matti. Gaby sehe ich auch nicht wieder. Lara sowieso nicht. Lara. Lara. Lara. Ihn packte der Zorn. Was bildet sich dieser Pisser eigentlich ein?
»Ich gehe jetzt«, sagte Matti. »Ich mach den Scheiß nicht mit. Kommt mit!«
Der Schein der Taschenlampe traf ihn im Gesicht.
»Du bleibst«, sagte Ali gelassen.
Irgendetwas hielt Matti am Boden fest, wie ein Krampf.
»Noch einmal, warum folgt ihr mir?« Ali spielte lässig mit seiner Pistole, die silbern glänzte. Sogar die Knarre ist protzig, dachte Matti.
»Wir suchen den Mörder einer Freundin«, sagte Dornröschen.
»Und dann folgt ihr mir?« Alis Gesicht zeigte Erstaunen.
Schweigen. Die drei Typen wechselten Blicke. Matti bildete sich ein, Ratlosigkeit in den Augen des Boxers zu lesen.
»Rosi, so hieß die Freundin, sah aus wie Frau Quasten …«
»Diese Drecksau«, sagte Ali und spuckte auf den Boden.
»Ich weiß, die hat den Laden deines Vaters in den Ruin getrieben«, sagte Dornröschen.
»Die Quasten ist doch nur eine … Marionette von diesem Typen, diesem Chef von dem Laden. Den Chef müsste man umbringen, wenn man schon einen umbringen will. Ich vergreif mich doch nicht an solchen Figuren wie der Quasten. Obwohl sie eine Abreibung verdient hätte.«
»Und dein Vater hat die Quasten auch nicht umgebracht?«, fragte Matti.
»Bist du verrückt? Mein Vater ist ein frommer Mann. Er würde nie jemanden töten.«
»Na klar«, sagte Twiggy.
Tauwetter, irgendwie, dachte Matti. Vielleicht foltern sie ja nicht. Er bekam Angst wegen Dornröschen. Wenn die Typen sich sie vorknöpfen würden … Ja, was dann?
Ali guckte verzweifelt zum Himmel. »Mein Vater hat niemanden umgebracht und ich auch nicht.«
»Du hast mir eine Bombe ins Taxi gebaut«, sagte Matti.
Ali glotzte ihn an. »Was habe ich?«
»Eine Bombe ins Auto gebaut. Du kannst doch Bomben bauen?«
Ali zuckte mit den Achseln. »Ist, glaube ich, nicht so schwer. Kannst du auch. Oder der.« Der Pistolenlauf zeigte auf Twiggy.
Ali überlegte, die beiden Typen guckten ihm dabei zu. »Wann habe ich denn eure Freundin umgebracht?«
Matti überlegte kurz und nannte Datum und Uhrzeit.
Ali holte ein Smartphone aus einer Gürteltasche, tippte auf dem Bildschirm und begann zu grinsen. »Da war ich in Ankara, habe meinen Onkel besucht. Es ging um … Geschäfte.«
»Klar«, sagte Twiggy.
»Ich hab den Flugschein, mein Onkel kann es bestätigen, außerdem wurde ich in Schönefeld gefilzt, das werden die noch wissen.«
»Hm«, sagte Matti. »Den Flugschein würde ich gern sehen.«
Ali zuckte mit den Achseln. »Okay. Den Ausdruck hab ich noch.«
Er wechselte wieder Blicke mit seinen Kumpanen und grinste. »Und die Bombe?«
Matti nannte die Zeit, in der das Taxi in die Luft geflogen war.
Ali blickte wieder auf sein Handy. Sein Grinsen wurde noch breiter. »Da war ich auf der Arbeitsagentur, Storkower Straße. Die hatten mich vorgeladen … Hatte es vergessen. Aber ich war dann da. Die können das bestätigen. Verstanden?«
Dornröschen blickte nach links, zu Matti, und nickte. Dann blickte sie zu Twiggy und nickte noch einmal. »Wir haben uns geirrt«, sagte sie. »Dann können wir diese Veranstaltung jetzt beenden.«
»Noch nicht ganz«, sagte Ali. »Ich bestehe darauf, euch das Ticket und die Einladung zur Agentur zu zeigen. Und dann will ich, dass ihr morgen bei der Agentur und beim Flughafen anruft und es euch bestätigen lasst.«
Matti wusste, dass weder die Agentur noch der Flughafen irgendwas bestätigen würde. »Ich glaube es dir auch so.«
»Ja, ja, das sagst du jetzt.«
Matti spürte, wie eine Zentnerlast von ihm abfiel. Er würde überleben. Er schaute nach oben, in die nasse Schwärze des Himmels, und es war die schönste Regennacht seines Lebens. Und obwohl er durchnässt war, fror er nicht, sondern fand es herrlich. Nie hatte er lieber im Regen gestanden. Er winkte ab. »Die dürfen uns das nicht bestätigen und tun es auch nicht. Aber wir glauben dir das. Du lässt uns in Ruhe und wir dich auch.«
»So schnell nicht«, sagte Dornröschen, und Matti schien es, als hätte sie keine Sekunde Angst gehabt. Ob sie nichts dagegen gehabt hätte zu sterben? Und wenn ja, warum? Waren ihr ihre Freunde so gleichgültig? Wenn man tot ist, hat man keine Freunde mehr. Endgültig. Es war weniger der Tod, der Matti abschreckte, als dessen Endgültigkeit, obwohl das ein und dasselbe war.
»Wisst ihr was über den Mord an unserer Freundin Rosi?«, fragte Dornröschen.
Matti beobachtete, wie Ali und seine Kumpane die Knarren wegsteckten, mehr so nebenbei.
Ali überlegte und schüttelte den Kopf.
»Und ihr wolltet der Quasten keine Abreibung verpassen? Oder dein Vater?«
Ali schüttelte wieder den Kopf. »Na ja, es hat Tage gegeben … aber mein Vater würde so etwas nie tun. Ich werf ihm oft vor, dass er sich alles gefallen lässt. Wenn einer käme, um ihn auszurauben, würde er sich noch bedanken.«
»Wenn er eine Kneipe hätte und ihr kämt, um ihn abzukassieren, bestimmt«, brummte Twiggy.
Ali starrte ihn an, einer seiner Komplizen legte die Hand an den Pistolengriff, aber Alis Blick ließ ihn die Hand wieder in die Hosentasche stecken.
»Kennt ihr so Typen, na, sagen wir mal, Mörder, Berufsmörder, die durch die Gegend ziehen und Leute umbringen? Typen, denen es Spaß macht, andere zu quälen? Vielleicht aus Osteuropa?«, fragte Dornröschen.
»Ich finde es hier ziemlich nass«, sagte Matti unvermittelt. Nur wer lebt, kann frieren.
Mustafa glotzte, als die sechs seine Kneipe betraten. Es stank nach Bier und Zigaretten, das Licht war schummerig. Auf einem Flachbildschirm an der Wand lief ein Fußballspiel aus der Süper Lig. An einem Tisch neben der Tür saßen vier Männer mit Teegläsern und verfolgten das Spiel, das, ihren Gesichtern nach, schlecht stand.
Mustafa schnauzte etwas auf Türkisch in Richtung des Tisches. Die vier Männer guckten ihn erstaunt an und sahen dann Ali und die anderen. Einer stand auf, spuckte auf den Boden und ging. Die Tür knallte. Die anderen drei folgten, der Letzte guckte Ali finster an und flüsterte etwas vor sich hin.
Mustafa rückte die Stühle am Mitteltisch zurecht, und Matti erkannte in dieser Geste die Angst, die er vor Ali hatte. Der setzte sich und bestellte etwas.
Mustafa trat zu Matti und reichte ihm die Hand. »Wie geht’s Freundin?«
»Viel besser«, sagte Matti.
»Das ist gut«, sagte Mustafa. »Du willst Weinbrand?«
»Um Himmels willen«, entfuhr es Matti. »Tee, bitte.«
Alle bestellten Tee und setzten sich. Mustafa brachte gleich eine Kanne, eine Zuckerdose und Gläser, dazu Gebäck.
Ali winkte ihn weg. Er rührte einen Haufen Zucker in sein Glas, dann schob er die Zuckerdose Matti zu, als wäre es eine Auszeichnung, als Zweiter nehmen zu dürfen.
»Du meinst Profis?«, fragte Ali in Mattis Richtung.
»Berufskiller, arbeiten in ganz Europa, vielleicht aus Russland, Bulgarien, Rumänien oder so«, sagte Dornröschen.
»Wie kommt ihr drauf?«, fragte Ali bedächtig.
»Der Typ, den die Bullen als Rosis Mörder erschossen haben, kam aus Rumänien. Wenn er denn der Mörder war. Und wir haben eine … Warnung bekommen von einem, der es wissen müsste.«
»Polizei?«, fragte Ali Matti.
Der hob nur die Augenbraue.
Dornröschen sagte: »Tut nichts zur Sache. Habt ihr von diesen … Profis gehört?«
Ali schnitt dem Gegelten das Wort ab, als der den Mund öffnete. Der Typ lief rot an und lachte verklemmt. »Es gibt solche Leute, und natürlich kennen wir die.«
»Wer ist es?«, fragte Twiggy ungeduldig.
»Lasst die Finger von denen. Das ist eine große Nummer.«
»Aber ihr kennt die?«, fragte Matti. Ihm ging das Gehabe auf den Keks.
»Klar, ich kenn die. Nur ich. Ich bin auch ’ne Nummer.«
»Klar bist du ’ne Nummer«, sagte Dornröschen. »Fragt sich nur, was für eine.«
Ali zog Falten um die Nase. »Pass du auf!«, sagte er. Seine Hand wanderte unter den Tisch und tauchte wieder auf.
»Du bist ein Angeber«, sagte Dornröschen unbeeindruckt. »Wenn du die Knarre ziehen willst, Django, bitteschön.«
»Wer ist Django?«, fragte Ali, der offenbar nicht wusste, ob er verdattert oder böse sein sollte.
»Großes Westernheld«, erwiderte Dornröschen kühl. »Großes Kanone, großes Faust und großes schwarzes Hut. Du verstehen?«
Alis Begleitschutzkommando guckte erst wütend, fing dann an zu grinsen, dann lachten die beiden Hirnis los.
Ali warf den beiden böse Blicke zu.
»Du großes Nummer«, sagte Dornröschen.
»Ich spreche besser Deutsch als du und deine Pekinesen«, sagte Ali.
»Du sprechen Deutsch. Das Neuigkeit.«
Ali erhob sich und zog die Pistole.
»Oh, großes silbernes Pistole. Fast wie Django.«
Ali spannte den Hahn, guckte zu Dornröschen, löste ihn wieder und steckte die Waffe in den Hosenbund. Er stand noch ein paar Sekunden und guckte grimmig.
Mustafa betrachtete hinterm Tresen die Szene, und in seinem Gesicht wechselten Angst, Erstaunen und Bewunderung einander ab.
»Wenn du weiter so herumdönst, hilft es nichts«, sagte Dornröschen kühl. »Also, wie ist das mit den Berufskillern? Kennst du die oder nicht? So viele wird’s davon ja nicht geben.«
Ali setzte sich und schwieg.
»Hallo, ist jemand da?«, höhnte Dornröschen.
Sie verblüfft einen immer wieder. Sagt den geschlagenen Tag kein Wort und macht dann so nebenbei einen Bengel mit Knarre zur Minna. Matti grinste.
Ali guckte nach links und rechts zu seinen Kumpeln. »Klar kenn ich die«, sagte er endlich.
»Danke für die Auskunft«, erwiderte Dornröschen. »Und mal so nebenbei. Vor so richtig großen Gangstern hab ich irgendwie Respekt. Jedenfalls im Kino. Aber vor dir nicht. Du bist ein Pisser, der sich nur stark fühlt mit der Knarre in der Hand. Schutzgelderpressung ist so ziemlich das Erbärmlichste, was es gibt. Leute, die keine Waffe haben, abzuzocken, klasse. Echte Helden. Supercoole Typen.«
Die beiden Kumpane glotzten Ali an. Der erhob sich wieder, zog die Pistole und ballerte in die Decke. »Du, du, du hältst das Maul!«
»Ist ja gut«, sagte Dornröschen. »Steck das Ding wieder ein.«
Matti kroch der Schreck mit Verzögerung in die Glieder. Mustafa duckte sich hinter dem Tresen. Twiggy saß bleich und starr. Aber Dornröschen begann in ihrem Tee zu rühren. Ali stand da mit der Knarre in der Hand und wusste nicht, was er tun sollte. Er hob die Pistole und zielte auf Dornröschen, die so tat, als würde sie nichts bemerken. Der Gegelte flüsterte was auf Türkisch. Matti überlegte fieberhaft, was Dornröschen vorhaben mochte. Vielleicht kitzelte sie das Risiko, fehlten ihr die Kloppereien mit den Bullen, der Kampf gegen Schlagstock und Wasserwerfer, den sie so genossen hatte und den es nicht mehr gab.
»Du sollst das Ding einstecken! Setz dich hin und trink deinen Tee, sonst wird er kalt!«
Die beiden Kumpane hätten sich fast verkrümelt vor Schreck.
Ali glotzte Dornröschen an, zielte auf sie, dann richtete er die Waffe ins Leere, blickte sie eine Weile an und steckte sie in den Hosenbund.
»So fünfzehn, zwanzig Jahre im Knast sind eher langweilig«, sagte Dornröschen und trank einen Schluck Tee. »Das Zeug kriegt man sogar runter.« Sie setzte das Glas ab. Sie wandte sich an Ali. »Mit dieser Großmäuligkeit kommst du nicht weit«, sagte sie. »Und jetzt kriegen wir unsere Handys wieder, ja?«
Die Kumpane guckten Ali an, und als der schwieg, schoben sie die Handys auf den Tisch. Die wurden gleich weggesteckt, während Ali trübsinnig vor sich hin starrte.
Matti wandte sich an den Gegelten und deutete auf Ali. »Der kennt diese Killer gar nicht, oder?«
Der Gegelte hob nur die Augenbrauen.
»Danke für die Auskunft«, sagte Matti. Er wunderte sich, dass die drei Türken noch nicht abgehauen waren.
In diesem Augenblick brachen die Aliens herein. Bullen in Schutzkleidung, mit Gasmasken und Schilden, Maschinenpistolen und einem gewaltigen Krach. Als ihnen kein Kugelhagel aus tausend MPis entgegenprasselte, blieben sie stehen, fast schien es, als wären sie enttäuscht, dass sie nichts in Klump ballern durften. Aber was sollte man über Leute sagen, die um einen Tisch saßen und Tee tranken?
»Was ist los, Herr Wachtmeister?«, fragte Dornröschen den erstbesten Bullen.
Matti hörte, wie einer per Funk die Einsatzleitung rief. »Alles unter Kontrolle.«
»Meinen Glückwunsch, Sie haben Mut bewiesen, Einsatzfreude und Disziplin. Und immerhin haben wir überlebt«, sagte Dornröschen.
Zwei Männer in Zivil erschienen. Einer hatte einen schmalen Oberlippenbart und trug eine Hakennase im Gesicht, der andere sah aus wie ein graumäusiger Verwaltungsbeamter, der noch nie ein Molekül frischer Luft geschnuppert hatte, bevor er diesen Einsatz leitete.
Der Oberlippenbart stellte sich an den Tisch, den Bullen mit Schwerstbewaffnung umzingelten.
»Kriminalrat Sonnenschein, weisen Sie sich bitte aus.« Drei weitere Zivilisten betraten den Gastraum. Sonnenschein winkte sie zu sich. »Wenn Sie die Dame und die Herren bitte durchsuchen könnten. Wir wollen doch Missverständnisse vermeiden.«
»Huch, ich bin kitzelig«, sagte Dornröschen.
»Ich auch«, sagte Twiggy.
»Und ich erst.« Matti begann zu kichern.
Die Bullen im verschärften Trachtenanzug gafften sich an, Matti hörte ersticktes Gelächter aus einer Ecke.
Der Kriminalrat flüsterte etwas zu seinem Adlatus. Matti hörte Wortfetzen und kombinierte, dass er eine Polizistin angefordert hatte.
»Die Hände bleiben auf dem Tisch!«, blökte Sonnenschein.
»Ob die Idioten weiter auf Schutzgeld machen?«, fragte Twiggy und nuckelte an seiner Bierflasche, die er zum routinierten Entsetzen von Dornröschen mit den Zähnen geöffnet hatte. Robbi malträtierte zwischenzeitlich den Blaumann mit seinen Krallen im Milchtritt und sabberte. Er hatte die Thunfischbestände der Weltmeere weiter dramatisch gelichtet und fühlte sich sauwohl angesichts dieses Verbrechens gegen die Umwelt und überhaupt.
»Weiß ich nicht, glaub ich nicht«, sagte Matti, der sich für Rotwein entschieden hatte. »Nö, die sind erst mal ruhiggestellt.« Die Bullen hatten die Türkenknaben rangekriegt wegen der Knarren, wobei die WG dichtgehalten hatte. Kein Wort über die Vorgeschichte. Man hatte eben in einer Kneipe zusammengesessen, was Mustafa in unüberbietbarer Eilfertigkeit bestätigte. »Seeeehr gute Gäste, immer höflich.«
»Und jetzt?« Matti schenkte sich Rotwein nach und drehte sich eine.
»Diese Berufskillerstory ist vielleicht Quatsch«, sagte Dornröschen. »Aber ich kann mir die Geschichte anders nicht erklären. Immer vorausgesetzt, dieser Rumäne ist Rosis Mörder.«
»Und wenn es doch ein blöder Zufall war?«, fragte Matti.
»Das könnte man glauben, wenn dir nicht jemand eine Bombe ins Auto gelegt hätte.« Dornröschen gähnte ausgiebig.
»Und was nun?«, fragte Twiggy.
Ja, was nun?, dachte Matti. Noch einmal die Ini durchforsten? Aber wer von denen legte einem eine Bombe ins Auto? Und warum hätte einer von denen das tun sollen? Aus Eifersucht? Man kann’s auch übertreiben. Warum versuchen sie nicht Dornröschen oder Twiggy umzubringen?
Als hätte sie Mattis Gedanken gehört, sagte Dornröschen: »Wir machen es wie Sherlock Holmes und benutzen die Ausschlussmethode. Die Ini ist raus, weil ich nicht glaube, dass einer von denen einen Killer verpflichtet. Die würden es selbst tun, wenn überhaupt.«
»Aber einer von denen könnte ein Motiv haben, Eifersucht«, sagte Twiggy. »Und wenn der technisch begabt ist, könnte er auch Matti eine Bombe verpassen.«
»Das stimmt und stimmt nicht. Völlig auszuschließen ist es nicht, aber es ist so unwahrscheinlich und unsere Möglichkeiten sind so begrenzt, dass es unvernünftig wäre, dieser Spur zu folgen.«
»Ja, ja, ist schon gut«, brummte Twiggy.
»Also die Killerbande?«, fragte Matti.
»Es kommt mir so … exotisch vor.« Dornröschen grübelte.
Robbi legte eine schwarz-weiße Pfote auf den Tisch, die Krallen krümmten und streckten sich in einem unhörbaren Takt.
Twiggy schnipste nach einer Zigarette, und Matti begann zu drehen.
»Doch Kolding?«, fragte er dabei.
»Tja«, sagte Dornröschen. »Der Chef, vielleicht ist er doch der Supergangster.«
»So einer Firma kann man wenigstens zutrauen, dass sie Killer anheuert«, sagte Twiggy. Er zündete sich die Selbstgedrehte an, die Matti über den Tisch geschoben hatte.
»Gut, wir unterstellen, die Kolding-Leute waren es«, sagte Dornröschen. »Dann gibt es wenigstens zwei Fragen. Erstens: Warum sollen die wegen eines Artikels für die Stadtteilzeitung, in dem nur Murks steht, jemanden umbringen. Ihr erinnert euch freundlicherweise, dass Kolding die Herren Rademacher und Spiel keineswegs bestochen hat. Wenn Rosi solche Lügen verbreitet hätte, dann wäre sie bis zum Ende ihres Lebens unglaubwürdig geworden.«
»Halt mal. Die haben nur wegen Rosi so ein Theaterstück aufgeführt?«, fragte Matti. »Ein bisschen viel Aufwand vielleicht.«
»Keineswegs«, sagte Dornröschen. »Die wissen, dass sie irgendwo eine Leiche im Keller haben, und sie trauen es Rosi zu, die zu finden. Also machen die sie lächerlich. Außerdem war Rosi die Radikalste in der Ini, und wenn sie Rosi auflaufen lassen, lassen sie die Ini auflaufen. Eine Supergeschichte, wir hätten es nicht besser machen können.«
»Was für eine Leiche im Keller?«, fragte Twiggy, um gleich »Au!« zu rufen, als Robbi seine Krallen in die Hand rammte, die unverschämterweise eine Kraulpause eingelegt hatte.
»Immerhin wollten sie die Ini bestechen«, sagte Matti. »Und wer so was macht, macht auch was anderes.«
»Allein die Bestechungsgeschichte reicht doch aus als Grund für so ein Spielchen. Und als Zugabe haben sie auch uns verscheißert. Eigentlich brauchen die keinen Mord«, sagte Dornröschen. »Fanden die bestimmt lustig. Und der Chef ist der Oberkomiker.«
»Und nun?«, fragte Twiggy.
»Tja«, sagte Dornröschen. »Nun weiß das Liesel keinen Rat mehr.«
»Vielleicht sollten wir uns betrinken«, sagte Matti. »Das erweitert das Bewusstsein.«
Twiggy lachte. »Du willst nur nicht aus der Übung kommen. Wir können ja deinen Freund Mustafa einladen.«
Mattis Handy klingelte. »Du bist echt treulos«, maulte Gaby.
»Wenn du wüsstest. Uns hat mal wieder jemand eine Knarre vor die Nase gehalten.«
»Ach so. Falls es dich interessiert, die haben mich aus dem Krankenhaus entlassen.«
»Komm vorbei, wir wollen uns besaufen.«
»Spitzenidee«, sagte Gaby. Sie klang jetzt fröhlich. »Bin schon unterwegs.«
»Bring eine Pulle Wodka mit«, sagte Matti.
»Zu Befehl.«
Der Wodka war warm und von einer deutschen Brennerei verbrochen worden, aber der Alkoholgehalt stand außerhalb jeder Kritik. Sie hatten Schnapsgläser vor sich stehen und tranken die erste Runde auf Gaby, der ein paar Haarbüschel fehlten, wofür sie ein Pflaster eingetauscht hatte. Aber ihrer Laune schadete das nicht.
»Wir haben Rosis Kram komplett durchwühlt und nichts gefunden«, klagte Twiggy. »Vielleicht haben wir den falschen Ordner in Ahrensbök gelassen?«
»Quatsch«, sagte Matti.
»Kann doch sein«, maulte Twiggy.
»Kann sein«, sagte Dornröschen. »Glaub ich aber nicht.«
»Morgen ist ihre Beerdigung«, sagte Matti. »Im engsten Familienkreis, in Ahrensbök.«
»Woher weißt du das?«, fragte Gaby.
»Wir haben eine Karte gekriegt, eine Art Ausladung.«
»Wie bitte?«
»Nein«, widersprach Dornröschen. »Die Mutter hat uns eine Karte geschickt und die Beerdigung angezeigt. Von Kränzen bitte ich abzusehen und so weiter. Und im engsten Familienkreis, das ist in Ordnung. So dicke waren wir mit ihr nicht. Sag nichts gegen Frau Weinert.« Sie hob den Finger.
»Hm.« Matti goss die Gläser wieder voll. »Die Flasche wird nicht reichen.«
Sie stießen an und tranken die zweite Runde.
»Ihr habt also keinen Schimmer, wie der Hase läuft«, sagte Gaby.
»Nee, die Schutzgelderpresser sind Hanswürste« – ein Zeichen des Bedauerns in Richtung Gaby –, »die Berufsmörder AG eine Erfindung eines Bullen, der dank unserer Hilfe größenwahnsinnig geworden ist. Die Kolding-Typen haben uns gelinkt, dass es eine Freude ist. Alles Quatsch.« Dornröschen schnupperte am Glas und schluckte den Rest, um gleich das Gesicht zu verziehen.
»Mein heroischer Einsatz war also umsonst«, sagte Gaby etwas schnippisch.
»Nein, er hat Matti ein paar Liter Weinbrand umsonst eingebracht und eine neue Freundschaft«, sagte Twiggy. Robbi maunzte, um es zu unterstreichen.
»Dann hat es sich ja gelohnt.« Sie tatschte nach dem Pflaster und zog eine Grimasse.
»Man muss auch mal ein Opfer bringen«, sagte Matti und hatte schon Gabys Faust an der Schulter.
»Au, verdammt! Spinnst du?«
»Man muss auch mal ein Opfer bringen«, sagte Gaby lächelnd.
»Das grenzt an Körperverletzung.« Er rieb sich die Schulter.
»Hol die Bullen.«
»Wir haben die falschen Papiere mitgenommen, oder anders gesagt, die richtigen sind noch in Ahrensbök.« Twiggys Blick suchte Bestätigung bei Robbi, aber der wälzte sich auf den Rücken und schloss die Augen in Erwartung dessen, was kommen musste. Natürlich war Robbi davon überzeugt, dass er Twiggy einen Gefallen tat, wenn er es zuließ, gekrault zu werden. »Und, Robbi, was sagst du dazu?«, fragte Twiggy.
Aber Robbi schwieg.
»Du bist vielleicht penetrant«, sagte Matti.
»Besser als aufgeben, besser als aufgeben«, deklamierte Twiggy.
»Gut, wir rufen Frau Weinert an, sobald die Beerdigung vorbei ist«, sagte Dornröschen.
»Nein, jetzt«, nörgelte Twiggy.
Wie ein Kleinkind, dachte Matti. Aber vielleicht hat er recht?
»Gut, gut.« Dornröschen nahm ihr Handy. »Ja, hallo, Frau Weinert? … Nein, Sie sind eine Verwandte, kann ich Frau Weinert sprechen? … Was ist passiert?« Dornröschen hörte eine Weile zu. Sie wurde bleich. »Aber sie lebt … ja, Gott sei Dank … und die … Polizei?« Sie hörte wieder zu, dann verabschiedete sie sich und legte auf. Sie saß verdattert da und schob ihr Glas zu Matti. Der schenkte ein.
»Sie wurde überfallen und niedergeschlagen. Ein Einbrecher. Er hat die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, aber nichts mitgenommen, sagt die Schwester. Jedenfalls nichts Wertvolles, das habe man gleich überprüft. Die Bullen behaupten, dass der Typ sich im Datum der Beerdigung geirrt hat. Der sei eher debil oder so.«
»Ich sage dir, was der gesucht und gefunden hat: die Akten, die wir übersehen haben«, erklärte Twiggy im Ton dessen, der es schon immer gewusst hatte. »Wir standen vor der Lösung und haben es verschlampt. Wir hätten alle Papiere mitnehmen sollen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du das vorgeschlagen hast«, sagte Matti.
»Wenn du nicht zuhörst …«
»Ruhe«, befahl Dornröschen.
»Nun ist’s aber gut. Ich sag meine Meinung, wann es mir passt«, dröhnte Twiggy. Robbi hob den Kopf und blickte ihn strafend an. Dann senkte sich der Kopf wieder.
»Ja, ja. Aber wenn wir was vergessen haben, dann ist das jetzt wahrscheinlich auch weg«, sagte Dornröschen. »Es ist ein Elend.«
Twiggy setzte an: »Ich …«
Dornröschens Blick brachte ihn zum Schweigen.
Gaby guckte von einem zum anderen und hielt sich raus.
»Aber es ist doch klar, dass der Einbrecher Beweise gesucht hat«, warf Matti ein.
Dornröschen schüttelte den Kopf. »Das glaub ich nicht. Seit wann schicken Kolding-Typen oder Killer Debile los, um Beweise wegzuschaffen.«
»Seit wann sagen die Bullen die Wahrheit?«, widersprach Twiggy. »Ich hab denen noch nie ein Wort geglaubt, und ich lag fast immer richtig. Bullenlügen, wohin das Auge blickt.«
»Und nun?«, fragte Matti.
»Okay«, sagte Dornröschen. »Wir fahren noch einmal hin.«
My Generation donnerte los, sie blickte auf die Anzeige, erhob sich und ging in ihr Zimmer.
Gaby guckte ihr staunend nach.
»Das geht schon eine Weile so«, sagte Twiggy. »Am anderen Ende ist ein Kerl, vermuten wir.«
Sie hörten Laute aus Dornröschens Zimmer, sie klangen nicht mehr fröhlich wie früher.
»Sie darf doch einen Geliebten haben, oder?«, fragte Gaby.