12: Does He Have A Name?

Sie freue sich, wenn Freunde von Rosi sie besuchten in Ahrensbök, sagte Frau Weinert. Dornröschen erklärte nach dem Telefonat, so höre sich eine einsame Frau an. Sie fuhren im Bulli über die Stadtautobahn auf den Ring, dann auf die Autobahn 24 in Richtung Hamburg. Am Dreieck Schwerin führte Twiggys Navi sie über die A 14 auf die A 20. Es war wenig los an diesem Vormittag. Der Sommer ertrank im Regen, die Scheibenwischer wischten wie die Teufel, aber es blieb ein Wasserfilm auf der Scheibe, der Twiggy zwang, langsam zu fahren. Im neuen CD-Player, den er zusammen mit einer kräftigen Bassbox gerade erst eingebaut hatte, dröhnte As Good As It Gets von Gene.

Twiggy hatte noch in der Nacht sein Überwachungssystem aufgebaut, das ihnen schon einmal das Leben gerettet hatte. Er hatte auch den Bulli elektronisch gecheckt, und auf der Fahrt achteten sie darauf, ob ihnen jemand folgte. Aber da war niemand, und Matti glaubte, dass die Typen überzeugt waren, mit dem Bombenanschlag ihr Ziel erreicht zu haben. Die waren gewiss nicht dumm und wussten, dass jedes Verbrechen Spuren hinterließ. Und außerdem dürften die andere Sorgen haben, als einem Taxifahrer und seinen WG-Genossen ans Leder zu wollen. Das hörte sich überzeugend an. Doch die Angst blieb, und sie wurde nur wenig gedämpft von den Makarovs, die sie im Bus versteckt hatten.

Sie hielten nicht an, ließen die Lübecker Ausfahrten hinter sich. Hier regnete es nicht, die Sonne schien aus einem klaren Himmel. Das Navi führte sie von der letzten Ausfahrt vor dem Autobahnende über Dörfer auf die Bundesstraße 432, auf der sie nach ein paar hundert Metern Gnissau erreichten. Sie waren bald am Dorfende und mussten dann rechts abbiegen, um eine Weile auf einem Sträßchen durch eine Siedlung zu fahren, rechts sahen sie schon das reetgedeckte Haus aus roten Klinkern, von dem Frau Weinert gesprochen hatte. Nach einer scharfen Rechtskurve erreichten sie eine Einfahrt am Haus, und Twiggy stellte den VW-Bus hinter einem alten Toyota Corolla ab. Rosen rankten an der Fassade.

Kaum waren sie ausgestiegen, kam ihnen eine kleine Frau mit kurzen weißen Haaren entgegen. Sie trug eine eckige Metallbrille und Clogs an den Füßen. Ein Pferd wieherte irgendwo wie zur Begrüßung.

Matti überlegte, ob Rosi hier aufgewachsen war. Es erschien ihm merkwürdig, Rosi war durch und durch Stadtmensch gewesen. Dass sie außerhalb Berlins aufgewachsen sein könnte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.

Ein Traktor mit Hänger rumpelte vorbei.

»Sie müssen Dornröschen sein!« Frau Weinert hatte eine klare, helle Stimme. Sie gab Dornröschen strahlend die Hand und hielt sie einen Augenblick. Dann blieb ihr Blick an Twiggy hängen, sie lächelte und reichte ihm die Hand. »Sie sind natürlich Twiggy.« Und mit einem Nicken begrüßte sie Matti. »Matti«, sagte sie. »Rosi hat viel von Ihnen erzählt. Vor allem Sie« – wieder ein Blick zu Dornröschen – »hat Rosi sehr bewundert.« Sie schaute noch einmal ins Halbrund, hob die Hände, ihr Gesicht wurde traurig, sie ließ die Hände fallen und zeigte zum Garten, den hinten ein Getreidefeld begrenzte. »Kommen Sie bitte.«

Auf der Wiese stand ein Tisch mit Stühlen, es war gedeckt. Dahinter senkte sich ein sanfter Abhang, links entdeckte Matti einen Teich, auf dem ein gelbes Schlauchboot im Wind trieb. An der Hangsohle schlängelte sich ein Bach, über den eine schmale Brücke führte. Ein großer Kirschbaum, ein Apfelbaum, Büsche, Blumenbeete, alles gepflegt, ein Paradies. Vögel zwitscherten, im Unterholz knackte es, am blauen Himmel trieben Wolken in unendlicher Reihe. Er hörte den Wind in den Blättern, sonst rauschte nichts.

Sie standen eine Weile und bestaunten das Idyll, bis sie Frau Weinerts Bitte folgten und sich an den Tisch setzten. Sie holte Thermoskannen und dann ein Kuchentablett aus dem Haus, dessen Tür sich oben und unten geteilt öffnen ließ. »Gleich kommt Mr. Ed, das sprechende Pferd, und steckt seinen Kopf durch«, sagte Twiggy.

»Es tut uns sehr leid, was mit Rosi passiert ist«, sagte Dornröschen, als Frau Weinert endlich saß.

Frau Weinert nickte und guckte traurig. »Aber immerhin wurde der Mörder gefasst.«

»Ja«, sagte Dornröschen, »wahrscheinlich.«

Frau Weinert brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was Dornröschen angedeutet hatte. »Aber die Polizei hat den Mörder erschossen, das hat man mir gesagt.«

»Wir glauben auch, dass die Polizei den Mann getötet hat, der Ihre Tochter umbrachte. Allerdings gibt es da Leute im Hintergrund. Vermuten wir jedenfalls. Leute, die diesen Mörder beauftragt haben«, sagte Dornröschen.

Frau Weinert erhob sich halb und griff eine der beiden Thermoskannen. »Wer möchte Kaffee?«

Matti und Twiggy.

Dornröschen ließ sich Tee aus der zweiten Kanne einschenken.

Dann erst fragte Frau Weinert mit blassem Gesicht. »Das war ein Auftragsmord?«

»Das wollen wir herausbekommen«, sagte Matti.

»Könnte sein, dass wir etwas in der … Hinterlassenschaft finden«, fügte Twiggy leise hinzu.

Frau Weinert teilte Apfelkuchen aus. »Selbst gebacken.« Als sie wieder saß, erstarrte sie, dann mühte sie sich, mit der Gabel ein Stück Kuchen zu nehmen. »Was soll das sein?«, fragte sie.

»Wir glauben, dass Rosi etwas entdeckt hat, dessen Enthüllung irgendwer um jeden Preis verhindern will.« Matti trank einen Schluck Kaffee.

Ein Auto fuhr vorbei.

»Sie können gern in den Kisten suchen, ich fürchte nur, es herrscht ein ziemliches Durcheinander darin.« Sie blickte ihre Gäste an. »Sie sind ungeduldig. Wollen Sie etwa heute Abend noch zurück nach Berlin? Das ist nicht nötig, Sie können bei mir übernachten, ich habe Platz genug. Ein Zelt müssen Sie nicht aufbauen.«

Die Kisten standen in einem halb leeren Raum neben einer Pritsche. Sonst gab es noch eine verstaubte Kommode mit schnörkeligen Messinggriffen und drei Stühle mit verschlissenen Korbflechten an der Wand. Das Fenster lag an der Straßenseite, dahinter begann ein Feld, das an einem Wald endete. Rechts am Wald stand ein Hochsitz. Es waren fünfzehn Umzugskartons, wie Twiggy gleich gezählt hatte. Keiner war beschriftet.

»Na toll«, sagte Matti. Ihm fiel ein Laotse-Spruch ein, den er mehrfach gelesen hatte, als er in Schönefeld eine Ewigkeit wartete. Er murmelte:

Wenn man zu regeln beginnt, gibt es Namen.
Gibt es jedoch Namen,
muss man lernen, innezuhalten.
Wer innezuhalten weiß, der kennt keinen Schaden.

Twiggy blickte ihn fragend an. »Hä?«

Matti winkte ab, und Twiggy schüttelte den Kopf.

»Alle Mappen, Ordner und so weiter, die beschriftet sind, sortieren wir raus und stapeln sie auf der Kommode«, sagte Dornröschen. »Oder hat jemand einen besseren Vorschlag?«

Frau Weinert stand in der Tür und beobachtete sie. Dann seufzte sie und wandte sich ab.

In der ersten Umzugskiste fanden sie ein Sammelsurium aus Klamotten, Schuhen, Badutensilien und drei Fotoalben mit Kunstledereinband. Matti setzte sich auf einen Stuhl und blätterte in den Alben. Bilder aus der Kindheit, Frau Weinert als junge Frau mit Rosi auf dem Arm, Rosi im Kinderwagen, Rosi mit Vater und Mutter, Häuser, Gärten, Schwimmbad, vor einem Auto auf einem Berg, vielleicht bei einem Zwischenhalt in der Schweiz auf der Reise nach Italien. Rosi war in Lüneburg aufgewachsen und in einem nicht bestimmbaren Dorf, dann muss die Familie in Hamburg gewohnt haben, auf einem Schild entdeckte Matti Barmbek. Im letzten Album waren Bilder vom Studium an der FU, Demos, Büchertische. Rosi hatte nie erzählt, dass sie politisch so aktiv gewesen ist. Vielleicht schämte sie sich ihres Rückzugs wegen. Wann wurde aus der Politaktivistin Platten-Rosi? Aber in der Ini war sie aufgelebt. Matti legte die Alben auf den Boden neben die Kiste und kramte weiter.

»Guck mal«, sagte Twiggy. Er hatte eine Mao-Bibel in der Hand und ein paar Nummern der Peking-Rundschau. »Habt ihr gewusst, dass sie bei den Halbirren war?«

Dornröschen schüttelte den Kopf. Sie blätterte gerade Bücher durch, die sie in einer anderen Kiste entdeckt hatte. »Ich hatte dieses Zeug früher auch gebunkert und war nie bei denen. Vielleicht hat sich Rosi mit Sektenforschung beschäftigt, wer weiß? Ist auch egal.« Sie wühlte und stutzte. »Ich glaube, ich habe so etwas wie ein Tagebuch gefunden.« Zwei kräftige schwarze Pappdeckel, verbunden mit einem winzigen Vorhängeschloss.

»Gib mal«, sagte Twiggy. Er betrachtete das Schloss, grinste und nahm es mit hinaus zum Bulli. Zwei Minuten später kehrte er mit dem Buch zurück, das Schloss hatte er entfernt.

Dornröschen setzte sich und schlug den Band vorsichtig auf. »Es beginnt 1997«, sagte sie. »Warum 1997? Am 6. April. Ihr erster Eintrag ist: ›Ein Tagebuch belügt mich nicht. Ich kann ihm alles anvertrauen. Es ist wie die beste Freundin, nur antwortet es nicht. Aber wenn ich meine Sorgen und Ängste aufschreibe, begreife ich sie. Und insofern antwortet ein Tagebuch doch. Es zwingt mich, genau zu denken. Wenn man etwas aufschreibt, muss man es vorher verstanden haben.‹« Sie blickte Matti an. »Was mag ihr geschehen sein an diesem 6. April oder am Tag davor?« Sie blätterte, fand aber nichts, das darüber aufklärte.

»Es hat ja nichts mit unserem Fall zu tun«, sagte Twiggy.

»Ich weiß nicht, womöglich hilft es uns weiter, wenn wir Rosi besser verstehen. Wir kannten sie als Platten-Rosi und dann als Mitglied dieser Ini. Sie hat offenbar Geld genommen, angeblich von diesen Vestingslandtypen, in Wahrheit von Kolding. Sie glaubte, die Vestingslandheinis wollten Kolding eine reinwürgen. Liegt auf der Hand. Und das hat ihr natürlich Spaß gemacht. Aber warum lässt sie sich kaufen?«

»Wenn mir jemand erzählt, Rosi habe sich kaufen lassen, ich hätte es nicht geglaubt«, sagte Matti. »Vielleicht war es auch ganz anders.«

»Kann doch sein, dass sie pleite war und Geld für etwas bekommen hat, das sie sowieso machen wollte«, brummte Twiggy vor sich hin. »Mein Gott, sie war auch nur ein Mensch.«

»Jetzt geht’s aber los«, sagte Dornröschen.

»Oder sie hat Informationen an Vestingsland verkauft, also in Wahrheit an Kolding. Und Kolding wollte so herausfinden, was die Ini über sie weiß, vor allem Rosi. Informationen können einen Haufen Geld wert sein«, sagte Matti. Er hatte eine Mappe in der Hand. »Wie viel, kann davon abhängen, was Kolding verbergen wollte. Je nachdem können zehntausend Euro auch ein Taschengeld sein.«

»Oder es war Schweigegeld«, sagte Matti. »Das glaube ich aber nicht. Sonst hätte Rosi Dornröschen nicht angerufen, um ihr einen Artikel über Kolding anzubieten.«

Im Flur erklang ein Schluchzen. Dornröschen verließ den Raum, dann Matti. Frau Weinert lehnte an der Wand neben der Tür und weinte in ein Taschentuch. Dornröschen stellte sich zu ihr, aber Frau Weinert hob die Hand, ohne hinzuschauen. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so … über meine Tochter sprechen … Sie wurde ermordet … und Sie reden so, als wäre sie eine Verbrecherin.«

»Nein«, sagte Dornröschen. »Sie war eine Freundin von uns. Aber wenn wir herausfinden wollen, wer den Mord angeordnet hat, müssen wir alles für möglich halten. Vielleicht hat Rosi tatsächlich einen … Fehler gemacht, und vielleicht führt uns das auf eine Spur zum Mörder. Verstehen Sie?«

»Rosi war der ehrlichste Mensch der Welt, das müssen Sie mir glauben.«

Matti stellte sich neben Dornröschen. »Das wissen wir, und wir haben ihr Geheimnisse anvertraut. Wir würden es immer wieder tun, wenn sie noch lebte. Sie war absolut zuverlässig, und wer mit ihr zusammengearbeitet hat, wusste, dass sie die beste … Mitstreiterin war, die man sich denken konnte.« Nach einer Pause fügte er leise hinzu: »Aber vielleicht hat sie einen Fehler gemacht. Hab ich auch schon.«

Frau Weinert guckte ihn dankbar an aus glänzenden Augen. »Welchen Fehler?«

»Ich? Ich hab das Studium abgebrochen, zum Beispiel. Und seitdem bin ich Taxifahrer.«

»Ja, Rosi hat gesagt, Sie seien sehr intelligent, würden sich aber … Entschuldigung … dümmer stellen.«

»Das schafft der nicht«, dröhnte Twiggy aus dem Zimmer.

Jetzt musste Frau Weinert lächeln.

»Wir wissen nur, dass Rosi Geld genommen hat von einem Immobilienkonzern. Zehntausend Euro. Sie dachte, es sei von einem Konkurrenzunternehmen des Konzerns, mit dem sie sich angelegt hatte. Wissen Sie, wo das Geld ist?«

»Nein.« Frau Weinert schüttelte den Kopf. »Für was hat sie so viel Geld bekommen? Sie hatte doch nie welches. Diese CD-Verkauferei auf Flohmärkten, das hat doch nicht viel gebracht.«

»Auf ihrem Konto war nichts?«, fragte Matti.

»Nur Schulden«, sagte Frau Weinert. »Zweihundertsiebenundneunzig Euro und dreiundfünfzig Cent.«

Matti und Dornröschen blickten sich an.

»Ich zeige Ihnen die Auszüge«, sagte Frau Weinert und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Ihre ersten Schritte waren unsicher, wurden aber fester. Als sie zurückkehrte, hatte sie einen schmalen Hefter in der Hand und gab ihn Dornröschen. Die blätterte kurz und reichte Frau Weinert den Hefter zurück. »Da ist wirklich nichts.«

Sie schwiegen einige Sekunden.

»Irgendetwas muss es geben in Rosis Unterlagen. Irgendetwas, das wenigstens hinweist auf eine Sache, die sie herausgekriegt hat. Vielleicht ohne dass sie wusste, wie wichtig es ist. So wichtig, dass irgendwer Mörder kauft und sie umbringen lässt. Und Lara.« Es lag ihm wie ein Kloß im Magen. Er würde sie nie vergessen, seine Liebe für ein paar Stunden.

»Lara?«, fragte Weinert.

»Meine Freundin wurde auch ermordet, und zwar von denselben Typen, die Rosi umgebracht haben. Das kann ich zwar nicht beweisen, aber ich habe keinen Zweifel daran. Die wollten mich töten und haben Lara erwischt.«

Patti Smith röhrte, alle erschraken. Außer Dornröschen. Die guckte seelenruhig auf die Anzeige ihres Handys und wies den Anruf ab.

Nicht das erste Mal, dachte Matti. Vielleicht ist die Gefahr vorbei.

Twiggy stellte sich zu ihnen.

»Sie drei sollten sich verstecken. Wenn Sie wollen, können Sie eine Weile hierbleiben.«

»Vielen Dank«, sagte Dornröschen. »Aber hier finden wir keine Mörder.«

»Wir hoffen, dass die Mörder noch nicht mitbekommen haben, dass wir sie suchen«, sagte Twiggy. »Wenn doch …« Er ging zurück ins Zimmer. »Auf jeden Fall müssen wir uns beeilen«, dröhnte es aus dem Zimmer mit den Kisten.

»Weiter geht’s«, sagte Matti und folgte Twiggy. Dann setzte auch Dornröschen die Suche fort.

Nach zwei weiteren Kartons stieß Matti auf eine Kiste mit Küchenutensilien, unter denen er Aktenordner und Mappen entdeckte. »Wer diese Kisten gepackt hat, gehört gevierteilt«, schimpfte er.

Frau Weinert erschien mit einem Tablett, darauf Gläser, eine Flasche Sprudel und Saft. »Von den eigenen Äpfeln«, sagte sie.

»Wer hat Rosis Sachen eingepackt?«

»Die Polizei hat ein Unternehmen beauftragt. Sie haben mich gefragt … wenn ich gewusst hätte … aber ich hatte nicht die Kraft.«

Sie stellte das Tablett auf die Fensterbank. »Schauen Sie«, sagte sie. Ihr Finger wies aufs Fenster. »Damwild.«

Am Waldrand zogen gemächlich Damhirsche entlang, wie an einer Kette geschnürt.

»Die ahnen, dass Schonzeit ist, sie sind ziemlich schlau.«

»Schlauer als wir«, sagte Matti. »Die wissen, wo’s langgeht.«

»Nicht reden, handeln, Genosse! Nur Taten zählen!« Twiggy zog ächzend eine Kiste vom Stapel. »Marx, Engels komplett, tipp ich mal.«

»Oder die zehntausend Euronen in Gold«, sagte Matti.

»Wär ein gutes Geschäft, wenn man sich das Finanzchaos anschaut.«

»Alles, was helfen könnte, auf die Kommode!«, befahl Dornröschen.

»Du wiederholst dich, Genossin Parteisekretärin. In deinem ersten Leben warst du Stalinistin«, sagte Matti. »Und zwar eine schlimmere als der Vater der Völker.«

Allmählich stapelten sich Ordner, Papierstapel, Mappen, Schreibblöcke, Zeitungsausschnitte auf der Kommode. Irgendwo in dem Stapel steckt die Wahrheit, dachte Matti. Wenn nicht, waren sie aufgeschmissen.

Am Morgen gegen halb zwei Uhr hatten sie die Kisten durchsucht. Sie hatten jedes Kleid, jedes T-Shirt, jede Dose, jedes Gerät in die Hand genommen. Matti hatte sich die Kopfhörer des MP3-Players in die Ohren gesteckt und kannte nun wirklich jedes Stück von Gene. In die CD Revelations hörte er zweimal hinein.

When red became blue
Hopes denied
Our dreams swept away with the tide
So get out of the way.

Twiggy und Matti saßen auf der zweistufigen Eingangstreppe und rauchten, über ihnen unzählige Sterne, von denen der Himmel über Berlin die meisten verschluckt hätte. Der Wind rauschte sanft, ein Rascheln vom Teich her, ein Augenpaar glühte und verschwand, Fledermäuse zischten schemenhaft durch die Nacht. Dornröschen trat in den Garten, in der Hand einen Becher Tee. Sie hatten Rosis Leben durchwühlt, und Matti kam sich mies vor. Sie war noch nicht einmal beerdigt, und ihre Freunde zerfledderten schon die Hinterlassenschaft. Rosi war Döschenfan gewesen, sie waren aus Holz, Blech, Plastik, Korb, Stein und rund, eckig, länglich, flach und hoch, breit und schmal. Nur wenige waren gefüllt. Eine runde mit Knöpfen, eine ellipsenförmige mit Reißzwecken, in einer großen, langen Dose aus Plastik fanden sie Buntstifte. Sonst hatte es Unmengen von Musik-CDs gegeben, ein kleines Vermögen, wenn man die Einkaufspreise schätzte. Aber ihre Quellen dürften günstiger gewesen sein. Viele Bücher hatte Rosi nicht gehabt: Hesses Glasperlenspiel zerlesen, fast schon aufgelöst, Frischs Montauk, Antigentrifizierungsbroschüren, Che Guevaras Bolivianisches Tagebuch, einen Krimi namens Mann ohne Makel, ungelesen, offenbar stinklangweilig.

»Morgen geht’s weiter«, sagte Dornröschen. Sie verschwand in einem der Zimmer, die Frau Weinert für sie gerichtet hatte.

In der Restnacht schlief Matti unruhig. Ab und zu knackte das Gebälk in seinem Schlafzimmer unter dem Reetdach. Es erschien ihm ungeheuer laut in der Stille. Es erinnerte ihn an seine Kindheit in einem Odenwalddorf. Seine Ohren fanden die Geräusche des Gartens. Es knackte, ein entferntes Heulen, es schnatterte, klapperte, jeder Laut deutlich und ein Ereignis. Etwas prustete. Matti stand auf und blickte hinaus. Drei Hirsche, einer mit mächtigem Geweih, plünderten die Beete am Haus. Er vermied jedes Geräusch und jede Bewegung. Der große Hirsch äugte umher, nahm den Menschen aber nicht wahr und äste weiter. Es erschien Matti selbstverständlich, dass Laras Bild in seinem Hirn aufschien und er sich vorstellte, sie wäre bei ihm.

Er legte sich wieder hin. Sein Leben war aus den Fugen geraten, längst. Seine Träume waren verschwunden wie Tintentropfen im Meer. Und es war nichts an ihre Stelle getreten. Er lebte vor sich hin, klammerte sich an die alten Zeiten, die ihm Halt gaben. Statt der Gewissheit folgte er der Erinnerung an die Gewissheit, schöpfte sein Selbstbewusstsein immer noch daraus, es einmal besser gewusst zu haben, obwohl es falsch gewesen war. Das Einzige, was übrig blieb, war die Solidarität, befreit jedoch von dem Ziel, das sie geeint hatte. Er wusste ziemlich genau, was er nicht wollte, aber das war schon alles. Es fehlte der Sinn. Die Suche nach Rosis und Laras Mörder gab ihm einen Teilzeitsinn, was würde danach kommen? Taxi fahren, freitags Mau-Mau spielen, keine Demo auslassen, Veranstaltungen besuchen, debattieren. Bis zum Lebensende. Halt gab ihm die WG, umso quälender die Angst, dass Dornröschen ausziehen würde. Er konnte es sich nicht vorstellen. Danach wartete die Leere. Er mochte Twiggy, aber ohne Dornröschen konnte es die WG nicht geben. Für Twiggy auch nicht. Aber konnte Dornröschen überhaupt leben ohne ihre WG? Undenkbar, aber manchmal trat das Undenkbare ein.

Am Morgen war er gerädert, und als er die anderen sah, wusste er, es ging ihnen wie ihm. Ihnen fehlte die Stadt, die Stille war fremd, ohne das Rauschen der Stadt fühlten sie sich wie auf einem anderen Planeten.

Frau Weinert hatte in der Essecke im Wohnzimmer reich gedeckt. Twiggy saß als Erster. Als die anderen am Tisch waren und auch Frau Weinert Platz genommen hatte, sagte er: »Ohne Robbi kann ich nicht schlafen. Der arme Kerl.«

Sie hatten Robbi ein paar Tonnen Trockenfutter und geschätzte siebenundzwanzig Wasserschälchen hinterlassen, falls er sechsundzwanzig umkippen sollte. Er hatte noch nie ein Schälchen umgekippt.

»Der wird uns ganz schön böse sein«, stöhnte Twiggy.

»Du kannst die Trennungskrise heute Abend gemeinsam mit ihm aufarbeiten und Entschädigung leisten«, sagte Matti.

Twiggy schüttelte nur wissend den Kopf.

»Wenn Sie einverstanden sind, Frau Weinert, dann sortieren wir Rosis schriftlichen Nachlass und nehmen mit, was wir vielleicht gebrauchen können. Sie erhalten es zurück, versprochen.«

Frau Weinert nickte. Sie hatte keinen Bissen gegessen und nur an ihrer Teetasse genippt. »Rosi hat mir immer alles erzählt. Das habe ich bis gestern jedenfalls geglaubt. Aber jetzt weiß ich nicht mehr. Dieses Geld, sie hat kein Wort davon gesagt. Und dass sie irgendwas enthüllen wollte … Sie hat mal angedeutet, dass sie Journalistin werden wolle. Aber sie hatte immer Pläne, und keiner ist aufgegangen. Immer kam etwas dazwischen. Sie wollte ein Buch schreiben, aber sie hat nicht mehr als ein paar Seiten geschrieben, schon hatte sie die Zuversicht verloren. Sie wollte Malerin werden, war sogar begabt, finde ich, und Fotografin … Sie wollte so viel und hat so wenig erreicht.«

»Sie hatte viele Freunde. Uns auf jeden Fall. Dann Rudi, der sie geliebt hat, Konny, aber der ist leider auch tot.«

»Von Konny hat sie viel erzählt«, sagte Frau Weinert. »Ich glaube, sie war ein bisschen verliebt in ihn.«

Stille.

Draußen ratterte ein Moped vorbei, darauf ein alter Mann, die Haare verborgen unter einer Lederkappe mit Ohrenklappen.

Sie hatten ein paar Stapel Papier vor sich. Dornröschen nahm jedes Stück in die Hand und zeigte es den anderen. Broschüren packte sie nach kurzer Durchsicht und Rücksprache auf den Stapel der Materialien, die sie nicht mitnehmen wollten. Es kamen die Aktenordner dran.

»Eine Auflistung von CDs mitsamt Titellisten«, sagte Dornröschen und legte den Ordner weg.

»Seminarunterlagen, Zeug von der Uni.« Auf den Stapel.

»Broschüren und Papiere über Mietfragen, darunter ein Berliner Mietspiegel mit mehr als sieben Prozent Steigerung, Wohnungsbaupläne oder, genauer gesagt, Wohnungsbauverweigerungspläne, Materialien zur Luxussanierung, ein toller Prospekt über Lofts mit angebauter Garage und Autoaufzug, das wäre doch was für uns, Kopien von einer Debatte im Abgeordnetenhaus über Mietsteigerungen der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften kurz vor den letzten Senatswahlen, wie ungeschickt, manches hat Rosi angestrichen, hier und da gibt es Anmerkungen, aber so wichtig ist das nicht …«

»Stopp«, sagte Twiggy. »Das nehmen wir mit.«

Das erste Stück auf dem Stapel mit den wichtigen Materialien.

Dornröschen griff sich den nächsten Aktenordner. »Wachstumstheorien, Club of Rome – wie retten wir den Kapitalismus oder tun, was niemals klappt –, eine Skriptsammlung Marx über Wachstum, Materialien der Ökologischen Plattform der seligen PDS/SED – lang, lang ist’s her –, Malthus – na klar, durfte nicht fehlen –, Blätter über bürgerliche Wachstumskritik, eine Kritik der Grünen – irgendwas mit Mainstream, mal was ganz Neues –, eine Arbeit über Profitrate und Wachstum im Kapitalismus und so weiter und so fort.«

Keiner erhob Einspruch, der Ordner konnte hierbleiben.

»Jetzt wird es spannend. Einen Teil davon kennen wir schon, diesmal aber gründlich. Alle drei Ordner mit Ini-Materialien kommen mit.«

»Klare Sache«, sagte Twiggy. »Weiter, Robbi wartet.«

Ein Ordner mit Kochrezepten. Dornröschen blätterte und fand nur Eintöpfe, Fleischgerichte, Nachspeisen. »Gott sei Dank war sie keine Vegetarierin«, sagte Matti.

Ein Ordner mit der Aufschrift Pol war gefüllt mit Seminarmaterialien ihres Politologiestudiums. »Jesse, ach herrje«, sagte Dornröschen.

Mattis Daumen zeigte nach unten.

Ein Ordner mit dem Etikett Euro, darin aber nur ein paar Seiten. »Agrarsubventionen im Agrarhaushalt der Europäischen Union«, las Dornröschen mit gelangweilter Stimme vor. »Öder geht’s nicht.«

Dieser Ordner wurde auch zum Bleiben verurteilt.

Im nächsten fand sich eine Sammlung von Kopien historischer Karten. »Die Mayas, was hatte Rosi mit denen im Sinn? Dann was« – sie klappte eine gefaltete Doppelseite auf – »über Saladins Reich und die Kreuzzüge, das ist doch ein Chaos.« Sie blickte zu Frau Weinert, die sich in die Tür gestellt hatte. »Sagt Ihnen das was?«

Frau Weinert seufzte. »Sie hatte so viele Interessen. Und sie war, ich muss ja ehrlich sein, ein bisschen sprunghaft.« Sie überlegte traurig. »Vielleicht war das sogar ein Wesenszug von ihr. Deswegen stand sie sich oft selbst im Weg. Über die Mayas hat sie mir erzählt …«

»Auch über Saladin?«, fragte Matti.

»Sie war fasziniert von der mittelalterlichen islamischen Welt und glaubte, darin Neues zu entdecken … Ich weiß aber nicht, was.«

»Und die Kreuzzüge?«, fragte Matti. Er freute sich, wie Frau Weinert etwas auftaute aus ihrer Trauer.

»Ja, über die konnte sie sich richtig empören. Und als Bush von einem Kreuzzug gegen den Terror sprach, war sie so zornig. Zeitweise hatte ich sowieso die Angst, sie könnte … was Schlimmes machen.«

»Sie würden nicht ausschließen, dass sie in den Untergrund hätte gehen können?«

Frau Weinert guckte ratlos. »Sie hatte so viele Ideen. Und manche waren erschreckend. Sie hatte die Hoffnung verloren, dass sie auf … normalem Weg etwas erreichen könne. Ich erinnere mich, wie sie einmal sagte: ›Diese Terroristen sind finstere Gestalten, aber sie verändern die Welt, nicht wir. Offenbar benutzen sie die richtigen Waffen, nicht wir.‹ Es war gespenstisch, als wäre sie nicht sie selbst. Aber es war Verzweiflung, ich habe es inzwischen verstanden.«

»Ob sie deswegen ermordet wurde?«, fragte Twiggy.

Sie grübelten.

»Vielleicht hat Rosi etwas geplant, und der Staatsschutz oder der VS hat sie umgebracht. Und dann haben sie zur Tarnung einen Mörder präsentiert, ihn sicherheitshalber getötet und ihn mit Spuren vom Mord an Rosi gespickt«, sagte Twiggy.

»Puh«, erwiderte Dornröschen. »Eine ganz steile These. Aber zutrauen würde ich es denen auch.«

Wieder Schweigen.

Ein Schwarm Stare zog irrlichternd vorbei.

»Ich glaube nicht, dass Rosi es wirklich gemacht hat. Sie hat sich ja oft gemeldet, und wir haben gesprochen. Ich hätte es ihr angemerkt, wenn sie sich so stark verändert hätte.« Frau Weinert schüttelte energisch den Kopf. »Nein, so war es nicht.«

Matti nahm einen Ordner, auf dem stand RK. Als er ihn öffnete, sah er, dass es um Revolutionstheorien ging. Exzerpte und Texte, auch Quellen zu Trotzkis Permanenter Revolution, Lenins Revolutionstheorie, Guevara und Castro, Strategie der Tupamaros, Maos Volkskrieg, Meinhof, eine Kritik der Strategie und Taktik der kommunistischen Parteien, eine Studie über die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg, eine Thesensammlung über Antifaschismus und revolutionäre Gewalt. »Na, dieser Ordner sagt ein bisschen was anderes.«

Dornröschen gähnte. »Ach, wir haben doch alle solche Ordner. Und sind wir im Untergrund? Du denkst schon wie die Bullen.«

Matti streckte ihr die Zunge raus, Frau Weinert lächelte.

Als sie zurück in der Okerstraße waren, verteilten sie die Ordner untereinander. Jeder sollte seine Akten Zeile für Zeile lesen. Irgendwo in diesen Papieren musste die Lösung stecken und wenn nicht, dann doch wenigstens eine Spur.

»Oder es geht wirklich nur um die Schutzgeldsache. Wenn in den Akten nichts ist, wäre das auch eine Auskunft. Dann hängen wir uns an Ali und Berkan.«

Nach zwei Tagen hatte Matti seinen Teil gelesen und nichts gefunden. In der anderen Zeit fuhr er lustlos Taxi. Auch die anderen entdeckten nichts. Sie hatten schon alles Wichtige gefunden, als sie Rosis Wohnung durchsuchten. Sie saßen enttäuscht am Küchentisch, Robbi fühlte sich vernachlässigt und jaulte. Die erste Ferkelei war gewesen, dass sie ihn fast zwei Tage allein gelassen hatten, aber dann einfach so mit einem Stapel Papier aufzutauchen und sich nur noch damit zu beschäftigen – das war die Höhe! Robbi hatte angefangen, Akten zu hassen, sinnloses Papier, das sein Personal übermäßig beanspruchte, sodass gerade mal eine Streicheleinheit hier und ein kurzes, wenn auch einseitiges Gespräch mit ihm dort abfiel. Hätte nicht mehr viel gefehlt, und dieses Pack, das er in seiner Wohnung duldete, hätte vergessen, ihm Thunfischfutter zu servieren. Er war richtig stinkig, verkroch sich auf Twiggys Bett und cancelte seinen Entschluss, das Schweigegelübde endlich zu beenden. Die würden schon sehen, was ihnen diese Akte der Missachtung eintrugen.

Am Morgen stöhnte Twiggy auf, als er wach wurde. Er lag in einer Wolke von Katzenhaaren. Am Frühstückstisch klagte er, Robbi sei wieder krank.

»Der ist nicht krank, der hat es im Kopf«, sagte Matti. »Sobald er nicht verpimpelt wird, macht er auf halb tot.«

Twiggy blickte ihn böse an. »Er leidet. Guck dir ihn mal an.«

Matti dachte nicht daran. Er konnte sich auch so vorstellen, wie Robbi auf Twiggys Bett genüsslich das Thunfischfutter leer fraß, das Twiggy ihm gebracht hatte, als könnte der arme Kater schon nicht mehr laufen.

»Willst du ihn wieder zum Tierarzt schleppen?«

»Nicht zu dem vom letzten Mal.«

Dornröschen war abwesend, körperlich und geistig. Sie hatten am Morgen wieder so einen Anruf bekommen, aber sie hatte nicht mehr gezwitschert, sondern wenig gesagt. Sie hätten ihre Worte nicht verstehen können, da sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, aber es drang auch sonst kein Laut nach draußen.

»Dicke Luft«, hatte Twiggy hoffnungsfroh gesagt.

Matti hatte nur seine Hände ein wenig gedreht.

Als Dornröschen erschien, ließ sie sich nichts anmerken. Sie bereitete ihren Tee, guckte hin und wieder auf die Uhr, und dann sagte sie: »Wir haben keine Wahl. Berkan und/oder Ali sind mit von der Partie. Vielleicht erpressen die Typen die Kneipiers im Auftrag von Schmelzers mysteriösen Killern, obwohl ich diese Verschwörungstheorie ziemlich wild finde.«

»Aber wir haben in Rosis Unterlagen nichts dazu gefunden«, sagte Matti.

»Vielleicht haben es die Bullen, vielleicht hat Rosi es woanders aufbewahrt«, sagte Twiggy. »Aber dann hätte es im Päckchen sein müssen, das Rudi uns gegeben hat. Warum sollte sie ein zweites Geheimdepot anlegen?«, fragte Dornröschen.

»Na, was in dem Päckchen war, Rademacher und Spiel im Bordell und so weiter, vielen Dank, auf solche Päckchen kann ich verzichten. Wir müssen auch einkalkulieren, dass Rosi leichtgläubig war. Das gibt es doch, dass Leute alles glauben, was ihnen in den Kram passt.« Dornröschen sprach leise, als würde sie sich beim Nachdenken stören, wenn sie lauter würde.

»Wenn sie Lara nicht umgebracht hätten, wäre ich jetzt wahrscheinlich einverstanden, mit der Sucherei aufzuhören«, sagte Matti.

»Nun ist’s aber gut«, polterte Twiggy. »Wir haben uns vorgenommen, Rosis Mörder zu finden. Haben wir ihn gefunden? Nein. Also, was soll das Geschwätz?«

»Ich glaube, Schmelzer hat recht«, sagte Dornröschen. »Das klingt zwar absurd, aber warum nicht? Ein Killer kann es auch so aussehen lassen, dass es ein … gewöhnlicher Mord ist. Da hat einer Rosi den Schädel eingeschlagen, Killer machen das wohl nicht, obwohl meine Kenntnisse auf diesem Gebiet begrenzt …«

»Endlich mal ein Thema, bei dem du nicht alles weißt«, unterbrach Twiggy genervt.

Dornröschen tippte sich an die Stirn.

Matti grinste. »Wo er recht hat, hat er recht.«

Dornröschen tippte sich noch mal an den Kopf. »Was machen wir jetzt? Laufen Schutzgelderpressern nach, und was entdecken wir dabei?«

»Wir könnten herausfinden, mit wem die sich treffen«, sagte Twiggy.

»Mit ihren Opfern, mit wem sonst?« Matti drehte sich eine Zigarette, und Twiggy schnipste, dass er auch eine wollte.

Robbi jaulte aus Twiggys Zimmer. Der Tonlage nach verlangte er nach jemandem, der ihm das Maul abwischte.

»Wir könnten herausfinden, wer die Auftraggeber sind. Die werden sich doch auch mal treffen«, sagte Twiggy.

»Und wenn die nur telefonieren? Falls das wirklich so Profis sind, werden die sich nicht auf die blöde Tour erwischen lassen und sich mit solchen Hanseln wie Ali Göktan zum Kaffeetrinken verabreden. Außerdem glaube ich sowieso, dass einer von den Göktans Rosi umgebracht hat, auf eigene Rechnung. Aber womöglich haben sie die Oberfinsterlinge gebeten, mir eine Bombe ins Auto zu legen«, widersprach Matti.

»Und wenn Ali Göktan es selbst war? Warum denken wir, dass der das nicht kann? Ist das so schwer, eine Bombe zu bauen?« Dornröschen nippte an ihrem Tee. »Wenn wir den verfolgen, können wir ewig warten, bis wir was rauskriegen, wenn überhaupt. Nein, wir checken sein Umfeld. Und dann erfahren wir, wer Ali Göktan ist. Und wenn wir wissen, wer Ali ist, wissen wir, was wir ihm zutrauen können.«

»Ali war ein guter Schüler«, sagte Wolfgang Müller. Sie hatten sich in Schale geworfen, waren als Vertreter der Industrie- und Handelskammer in der Ernst-Reuter-Oberschule in der Stralsunder Straße aufgetaucht und hatten nach Ali Göktan gefragt. Vorher hatte Dornröschen mit verstellter Stimme als Schulsekretärin bei den Göktans angerufen und angeblich deren Adresse geprüft, weil sie noch ein altes Zeugnis gefunden habe, das Ali bei Bewerbungen fehlen könnte. Frau Göktan hatte gleich bestätigt, dass Ali vor zwei Jahren das Abitur auf der Ernst-Reuter-Oberschule gemacht habe. »Mit einem Durchschnitt von Zwei Komma eins«, wie sie stolz erklärte.

Müller war sein Klassenlehrer gewesen und nun stolz, dass die IHK den ehemaligen Schüler womöglich in ein Förderprogramm aufnehmen wollte, über das aber noch nicht gesprochen werden sollte. »Aus PR-Gründen, Sie verstehen?«

Müller reckte seinen knochigen Körper und schüttelte den Glatzkopf im Lehrerzimmer, wo sie sich in eine Ecke zurückgezogen hatten, immer wieder neugierig angestarrt von Paukern, die eintraten, um etwas zu holen, sich an den Konferenztisch zu setzen, um zu schreiben oder zu lesen. An der Wand hing ein Plakat der GEW, das Kinder vor einer Klinkermauer abbildete, darüber in Großbuchstaben der Text: Bildung ist wichtig. Wir haben Anspruch auf Zukunft. Daneben der Stundenplan, ein monströses Gewirr aus Zahlen und Kürzeln.

»Aber er hatte immer wieder, sagen wir mal, Probleme.«

»Welcher Art?«, fragte Dornröschen. »Wissen Sie, wir müssen uns ein genaues Bild machen von ihm. Nachher machen wir ein Riesentamtam, und dann kommt eine … schlimme Geschichte heraus und wird in der B. Z. breitgetreten. Sie kennen das doch.«

Müller nickte. »Ich kann Sie verstehen. Ich freue mich für ihn. Aber da gab es einige Vorfälle, nun ja, sagen wir mal, die nicht so erfreulich waren.«

»Welcher Art?«, fragte Matti.

»Es fing, sagen wir mal, gewöhnlich an. Kleine Prügeleien, Sie kennen das.«

Matti nickte eifrig.

»Man musste dazwischengehen, und dann war es erledigt. Ist Alltag auf dem Schulhof.«

»Klar«, sagte Dornröschen. »Das interessiert heute keinen mehr. Was geschah dann?«

»Tja, dann schloss er sich mit anderen türkischen Jungs zu einer … Gang zusammen. Nun, das ist ziemlich normal. In meiner Jugend gab es das auch. Was es aber nicht gab, ist diese Entwicklung zur Gewalt. Es waren, sagen wir mal, sechs oder sieben, zwei aus meiner Klasse, darunter Ali, die anderen waren älter, schon sechzehn oder siebzehn. Ich habe zum ersten Mal mitbekommen, dass etwas schieflief, als einer von denen auf dem Schulhof ein Messer zückte. Das war Mehmet, nicht Ali.«

»Um was ging es?«, fragte Twiggy.

Müller schien erleichtert, sich darüber auslassen zu können.

»Mehmet hat einem deutschen … obwohl Mehmet ist ja auch Deutscher, also einem, sagen wir mal, deutschen Schüler ohne migrantischen Hintergrund, mein Gott, wie das klingt, etwas weggenommen, ein Handy, einen MP3-Player, ich weiß es nicht mehr.«

»War das normal?«, fragte Matti.

»Leider ja. Diese Bande wurde allmählich kriminell, wenigstens einige von denen. Mehmet war der Schlimmste, Ali hat sich meistens rausgehalten, aber er ist immer mit denen, sagen wir mal, herumgezogen. Ich will ihm ja nichts Böses nachsagen, aber Sie müssen das ja wissen. Und wir wollen ja nicht, dass über unsere Schule was Schlimmes in der Zeitung steht.«

»Genau«, sagte Dornröschen. »Wie war er in der Schule?«

Müller runzelte die Stirn. Es klingelte zum Unterricht, er stutzte, blickte auf seine Armbanduhr und winkte kaum merklich ab. »Das ist das Erstaunliche. Während die anderen in der Gang allmählich versumpften und das Abitur nicht erreichten, hielt Ali durch. Und als er allein in der Abiturklasse war, da hat er richtig losgelegt. Hatte er zuvor die Versetzung gerade so geschafft, machte er nun einen Leistungssprung. Er hat ein gutes Abitur geschafft, und wenn er früher angefangen hätte, sich auf die Schule zu konzentrieren, dann wäre er noch besser gewesen.« Er wiegte seinen Kopf.

»Was hat er nach der Schule gemacht?«, fragte Twiggy.

»Das Letzte, was ich gehört habe, ist, dass er leider nicht studiert hat. Angeblich wollten die Eltern, also der Vater, das nicht, weil er den Gemüseladen übernehmen sollte.«

»Der dann plattgemacht wurde«, sagte Matti.

Müller schaute ihn verwirrt an.

»Er wurde vertrieben aus dem Gräfekiez«, sagte Dornröschen. »Mietsteigerung nach Sanierung, das Übliche.«

»Und es gibt ja viele türkische Gemüseläden, da konnte er kaum die Preise anpassen«, ergänzte Twiggy.

Müller nickte traurig.

»Was waren die Lieblingsfächer von Ali?«, fragte Dornröschen.

»Leider nicht meine«, sagte er und lächelte. »Er hat eine außerordentliche Begabung für Naturwissenschaften, für Physik und Chemie besonders.«

»Glauben Sie, dass er eine Bombe bauen könnte?«, fragte Matti.

Müller lächelte, dann fror das Lächeln ein. »Sie kommen wirklich von der IHK?«