4: Sleep Well Tonight

Post-Rudi erschien sofort nach dem Anruf. Er legte das Päckchen auf den Küchentisch. Sein Gesicht war eingefallen und aschfahl. Die Augen waren gerötet, und er hatte eine Fahne, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, im Auto zu kommen. Er würde seinen Toyota Starlet nie im Stich lassen, schon gar nicht im Suff.

»Gut, dass du gleich gekommen bist«, sagte Dornröschen und zeigte auf den freien Stuhl. Sogar Robbi schickte ihm einen anerkennenden Blick.

Matti griff das Päckchen und öffnete es vorsichtig. Rudi verfolgte jede seiner Handbewegungen. Matti wickelte die Plastikfolie ab und legte einen USB-Stick auf den Tisch.

»Hätten wir gleich drauf kommen können«, sagte er. Und dachte an Bananen-Udo, den schmierigen Klaus und an Karla, die in Udo verknallt war.

»Bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Twiggy.

Dornröschen nickte, nahm den Stick, betrachtete ihn von allen Seiten und gab ihn Twiggy. Der setzte Robbi auf den Boden, entschuldigte sich mit einem Blick, was dessen Maunzen auch nicht verhinderte, verschwand und kam nach zwei Minuten mit Dornröschens Notebook wieder. Er stellte den Computer auf den Tisch. Es war ein Textdokument, knappe fünf Seiten lang. Matti stellte sich hinter Dornröschen und las. Ein holpriger Text, das erkannte er sofort. Darin ging es um Immobilienhandel in Berlin und die Rolle der Kolding AG in Kreuzberg. Twiggy stellte sich neben Matti und las leise mit. Rudi blieb auf seinem Platz, zögerte, erhob sich endlich, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich wieder.

»Aha, der Baustadtrat Dr. Jürgen Spiel spielt da mit und außerdem Otto Rademacher«, sagte Twiggy.

»Ein windiger Geselle«, sagte Matti. »Ich hab den mal gefahren, zusammen mit einer Blondine, mit der er nicht verheiratet war und deren Beruf nicht schwer zu erraten gewesen wäre.«

»Und das sagst du jetzt erst«, schimpfte Twiggy.

»Taxikunden verpfeif ich nicht, jedenfalls nicht wegen so was.«

»Haltet die Klappe«, sagte Dornröschen. »Schau an, schau an. Rosi schreibt, die Kolding-Fritzen hätten den Bezirksbaustadtrat und den stellvertretenden Leiter der Obersten Bauaufsicht beim Senat geschmiert. Volles Rohr an allen Fronten.«

Matti und Twiggy blickten sich fragend an.

»Was macht diese Oberste Bauaufsicht?«, fragte Twiggy und zwinkerte Matti zu.

»Die strickt die Berliner Bauordnung und die Vorschriften, die Herren Spiel & Co. sind zuständig für deren Überwachung.«

»Das heißt, wenn du die beiden Behörden schmieren kannst, drücken die entweder ein Auge zu oder backen dir gleich deine Privatvorschrift«, sagte Matti.

»Berlin, bauen, schmieren, eine gute alte Tradition«, sagte Rudi und setzte die Flasche an.

»Gut, und wie wurde geschmiert?«, fragte Twiggy.

»Also, der Baustadtfritze war mit dem Typen der Obersten Bauaufsicht zusammen mit zwei Kolding-Leuten in der Tanzmarie …«

»Die kenn ich«, warf Matti ein. »Ist in Wilmersdorf, mit angeschlossenem Edelpuff.«

Dornröschen blickte ihn erst strafend an, dann grinste sie. »Passt doch. Ein ehemaliger Kommilitone von Rosi, dessen Namen sie nicht erwähnt, in Klammern steht A. P. … Rudi, kennst du einen A. P.?«

Rudi schüttelte den Kopf.

»Das ist noch kaum ausformuliert«, sagte Dornröschen, »ist so eine Mischung aus Artikel und Notizen. Also, der Kommilitone hat einen Barjob gemacht, weil der Barkeeper krank wurde, und da hat er die Typen gesehen, hat mit dem Handy Fotos gemacht … Rudi, weiß du was von Fotos?«

Rudi schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken.

»Und bezahlt hat einer von den Kolding-Leuten.«

»Woher weiß A. P., dass das einer von denen war?«, fragte Twiggy.

»Keine Ahnung«, sagte Dornröschen.

»Firmenkreditkarte, tippe ich«, sagte Matti. »Waren sie auch im Puff?«

»Sie waren«, sagte Dornröschen, »und A. P. hat die Rechnung fotografiert. Schlaues Kerlchen, der hat gerochen, dass was ist. Oder dass für ihn was zu holen ist.«

»Okay, Puffbesuch, ein schönes Skandälchen, kann denen den Job kosten. Aber ist auch Geld geflossen?«, fragte Twiggy. »O je, die hat auch handschriftliche Notizen eingescannt. Der Text wird immer chaotischer. Ich kann das ohnehin von hier aus kaum lesen, kipp doch mal …«

»Nix da«, sagte Dornröschen. »A. P. hat außerdem gesehen, dass ein Umschlag über den Tisch ging.«

»Hat er die Kohle gesehen?«, fragte Matti.

»Davon steht hier nichts, ist doch eindeutig, oder?«, schnappte Dornröschen.

»Quatsch«, sagte Matti. »In einem Umschlag kann alles Mögliche stecken. Wir müssen A. P. finden. Der hat die Fotos, und vielleicht weiß er mehr. Außerdem ist er in Lebensgefahr, wenn Rosi ermordet wurde, um die Enthüllung zu verhindern.«

»Ich blick bald nicht mehr durch«, sagte Twiggy und setzte sich auf seinen Stuhl.

»Also«, sagte Matti, »das ist doch einfach …«

»Du musst mir das nicht erklären, blöd bin ich nicht.«

Dornröschen gähnte herzhaft. »Wenn Rosi keinen Unsinn zusammengesponnen hat, haben die Kolding-Leute und die noblen Herren der Baubehörde eine Leiche im Keller. Und wenn sie gewusst haben, dass Rosi die Leiche gefunden hat, dann haben die ein handfestes Motiv.«

»Und sie werden es gewusst haben, weil Rosi sie bestimmt gefragt hat, ob es stimme, dass …« Matti setzte sich auch. »Und sie hat dir nichts erzählt?«, fragte er Rudi.

Rudi schüttelte müde den Kopf.

»Vielleicht wollte sie dich nicht in Gefahr bringen«, sagte Twiggy, aber das heiterte Rudi auch nicht auf.

»Wir müssen als Erstes A. P. finden«, sagte Matti.

Die Nachtschicht hatte Vorteile. Weniger Verkehr. Fahrgäste, die getrunken hatten, zahlten mehr Trinkgeld. Es waren weniger Taxis unterwegs. Und Ülcan schlief oder betete zu Allah oder glotzte Trabsonspor gegen Beşiktaş. Wahrscheinlich konnte er alles gleichzeitig. Jedenfalls würde Ülcan nicht nörgeln, wenn Matti den Wagen abstellte. Ülcan auf nüchternen Magen wäre zu viel.

Zur Tanzmarie in der Winterfeldtstraße hatte Matti schon Dutzende von geilen Böcken gefahren, allerdings weigerte er sich, das übliche Spiel mitzuspielen, nämlich Provision zu kassieren und dafür den Puff zu empfehlen. Er öffnete die Tür des Lokals und stand vor einem Typen, der ungefähr doppelt so groß war wie er, doppelt so schwer, doppelt so breit und mindestens doppelt so stark. Außerdem war der doppelt so schwarz angezogen. Der Typ musterte ihn wortlos von oben bis unten.

»Ich muss mit deinem Chef sprechen«, sagte Matti.

Der Typ guckte ihn ausdruckslos an, griff in seine Jacketttasche, zog ein Handy hervor, das in seiner Pranke lächerlich winzig aussah, und telefonierte. Er flüsterte fast, Matti verstand nur: »Typ … Chef …« Der Gorilla steckte das Telefon zurück in die Tasche, trat eineinhalb Zentimeter zur Seite und wies mit seinem Daumen nach hinten. Matti öffnete eine weitere Tür und sah nur noch Rot. Rote Sessel und Tische, rote Tapeten, rotes Licht, ein roter Bartresen, dahinter eine Blondine, deren Dekolleté bis zum Knie reichte. Es waren erst wenige Gäste da, bei den meisten saßen leicht bekleidete Damen. Matti stellte sich an den Tresen und empfing einen abschätzenden Blick. Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der Dame. Während Matti doch einen Blick ins Dekolleté wagte, tippte jemand auf seine Schulter. Matti drehte sich um und sah in das Grinsen eines Mannes, den als unscheinbar zu beschreiben noch übertrieben gewesen wäre. Er sah aus wie ein Finanzbeamter aus dem Bilderbuch der Klischees. Mausgrau. Spärliche graue Haare, grauer Anzug, weißes Hemd und eine Gesichtsfarbe, die von einem Leben in einer Höhle zeugte. Eine rote Fliege betonte die Farblosigkeit nur.

»Sie wollten mich sprechen, ich bin hier der Geschäftsführer«, sagte der Mann mit tonloser Stimme.

»Bei Ihnen hat ein Student gearbeitet« – Mattis Augen zeigten kurz zur Bar –, »leider weiß ich seinen Namen nicht, nur dessen Initialen, die lauten A. P.«

Der Geschäftsführer blickte Matti misstrauisch an. »Es gehört nicht zu unserer Praxis, persönliche Daten unserer Mitarbeiter herauszugeben, schon gar nicht an Leute, die ich nicht kenne.«

»Ich bin Taxifahrer, ich habe diesen Herrn hergebracht, und er hat etwas in meinem Taxi liegen gelassen.«

»Dann geben Sie mir das, und ich leite es weiter.«

»Das darf ich nicht. Das ist kein Misstrauen, sondern eine Weisung meines Chefs. Ich darf das nur dem besagten Herrn persönlich überreichen. Sie verstehen das gewiss.«

»Und was hat der Herr vergessen?« Ein misstrauischer Blick.

»Eine Karstadt-Tüte, darin ein Paket, unbeschriftet.«

»Aha«, sagte der Geschäftsführer. »Kann ich das sehen?«

»Natürlich, aber Sie müssen mit zum Taxi kommen.«

Der Geschäftsführer ging zwei Schritte in Richtung Ausgang, durch den gerade eine Gruppe von fünf Männern in feinem Zwirn eintrat. Einer von denen lachte scheppernd, woraufhin die anderen einfielen. Der Geschäftsführer schenkte den Männern keinen Blick, blieb stehen und wandte sich an Matti. »Arnulf Petersen …« Er schnipste mit dem Finger, aus dem Dunkel eines Separees erschien ein schwarz gekleideter Mann, drahtig, glatt, gefährlich. Der Mann stellte sich neben den Geschäftsführer, der flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die Frau am Tresen bot ihren Ausschnitt einem aus der Männergruppe an, einem Glatzkopf mit schwitziger Schweinchenvisage. Der Mann wollte ins Dekolleté fassen, was die Barfrau mit einem neckischen Schlag auf die Hand und einem Lachen abwies. Der Mann bestellte was. Die Barfrau servierte dem Glatzkopf ein Glas Champagner, als der gefährliche Typ zurückkam. Er hatte einen Zettel in der Hand. Er gab ihn seinem Chef, der ihn nach einem kurzen Blick darauf an Matti weiterreichte. Arnulf Petersen, Dolziger Str. 28c stand darauf.

»Wie heißt du?«, fragte der Geschäftsführer.

Matti nannte seinen Namen.

»Hast du einen Ausweis dabei?« Er öffnete die Hand.

Matti gab ihm seinen Personalausweis. Der Geschäftsführer reichte ihn seinem Helfer und flüsterte ihm wieder etwas ins Ohr. Der Kerl zog mit dem Ausweis ab und kehrte nach einer halben Minute zurück. Währenddessen öffnete sich ein roter Vorhang, und auf der roten Bühne rekelte sich eine üppige Schwarzhaarige im roten Bustier und mit schwarzen Strapsen. Die Männer am Tresen drehten sich auf ihren Barhockern und gafften zur Bühne.

»Wenn du Scheiß baust, kriegst du Ärger«, sagte der Geschäftsführer. Er gab Matti seinen Ausweis zurück.

Matti wurde heiß. »Ist klar«, sagte er und ging zum Ausgang. Drei Männer kamen ihm entgegen und glotzten zur Bühne. Einer pfiff anerkennend, ein zweiter sagte etwas auf Russisch, der dritte trug an jeder Hand drei Ringe. Matti drängte sich an ihnen vorbei, sie beachteten ihn nicht. Der Rausschmeißerriese bearbeitete einen Betrunkenen, der sich vollgekotzt hatte. Er packte den Mann am Oberarm und trat ihm ins Gesäß, dann schubste er ihn auf die Straße. Der Säufer stürzte, schrie auf, berappelte sich, stand auf und zog ab, während er laut fluchte.

Matti stieg in sein Taxi und fuhr weg. Er guckte ein paarmal in den Spiegel, bis er sich lächerlich fand.

Es trieb ihn zurück nach Kreuzberg. Er war erleichtert, als in der Oranienstraße eine Frau am Straßenrand winkte. Eine Amerikanerin wollte zum Hüttenpalast gefahren werden, wieder so eine Misttour. Sie sah in ihren Designerklamotten nicht aus nach Billigabsteige. Die Frau stank nach Rauch und Bier. Sie setzte sich auf den Beifahrerplatz und öffnete das Fenster. »Berlin is crazy«, sagte sie. »Really crazy.« Sie roch nach Parfüm, aber nicht aufdringlich. Matti musste höllisch aufpassen, die Oranienstraße war übervölkert mit Touristen, die Straße eine einzige Freiluftkneipe, Autos parkten in der zweiten Reihe, Fahrradrambos preschten durch das Chaos, und Fußgänger torkelten am liebsten vor Mattis Kühlerhaube. »It’s amazing«, jubelte die Frau. Matti warf ihr einen Seitenblick zu, sie hatte ein hübsches Profil, sah man vom spitzen Kinn ab. Sie erwiderte den Blick und lächelte. Matti schaute nach vorn, fluchte innerlich über einen Opel, dessen Fahrer mit dröhnender Musik Wendeübungen veranstaltete und sich durch Fußgänger und Radfahrer so wenig beeindrucken ließ wie durch andere Autos. Auf der Adalbertstraße atmete Matti auf, er fuhr schnell zum Kotti und dort auf den Kottbusser Damm, um vor dem Hermannplatz in die Weserstraße abzubiegen und dann wieder links in die Hobrechtstraße. Als er vor dem Hotel hielt, zückte sie ein Portemonnaie und reichte ihm einen Zwanzigeuroschein, während sie ihm in die Augen blickte. Als er rausgeben wollte, nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Oberschenkel. Matti schüttelte den Kopf, gab ihr Cent-genau zurück, stieg aus, öffnete die Beifahrertür und zeigte auf den Hüttenpalast. Sie blickte ihn fragend an, hob die Schultern, ließ sie fallen und ging zum Hotel. Matti setzte sich hinters Steuer, fuhr zum Reuterplatz, fand eine Parklücke und drehte sich eine Zigarette. Was für ein bescheuerter Tag. Immerhin aber hatte er die Adresse von Arnulf Petersen, auch wenn ihn der Gedanke beunruhigte, von wem er sie hatte. Er lehnte sich ans Auto und rauchte. Am Himmel glitzerten Sterne, die Luft umfächelte ihn mild, in den Fenstern brannte Licht. Ein Renault klapperte übers Kopfsteinpflaster.

Ein Mann tapste auf ihn zu, er reichte Matti gerade bis ans Kinn. Er trug eine Kunstlederjacke, braun, fleckig, an den Rändern aufgestoßen, und eine Cordhose, die auf dem Boden scheuerte. Dicht vor Matti blieb er stehen. Eine Pfefferminzwolke erreichte Matti, als der Mann fragte: »Was kostet eine Tour nach Pankow, Dusekestraße?«

»Wie viel darf es denn kosten?« Matti trat den Zigarettenstummel aus.

Der Mann kramte in seiner Hosentasche und hatte zehn Euro in der Hand, dazu einige Centmünzen.

»Ist okay«, sagte Matti und nahm das Geld. »Bitte sehr!« Er öffnete die hintere Tür der Beifahrerseite, und der Mann stieg ein. Matti fuhr los, froh, nicht allein zu sein, keinen Besoffenen im Auto zu haben und keinen, vor dem er sich fürchten musste. Er fuhr über die Oberbaumbrücke auf die Warschauer, Petersburger und die Danziger Straße zur Schönhauser Allee. Es war wenig los. Er überholte einen fast leeren BVG-Bus, eine Frau hatte ihr Gesicht an die Scheibe gepresst und guckte traurig hinaus. Matti glaubte, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Der Bus bog rechts ab in die Prenzlauer Allee.

»Ich war Ingenieur«, sagte der Mann mit heller Stimme.

Matti erschrak, er hatte seinen Fahrgast fast vergessen. »Ach ja.«

»In einem Robotronwerk in Berlin, dem RVB, Mohrenstraße.«

»Hm«, sagte Matti.

»Und von einem Tag auf den anderen haben sie mich rausgeschmissen und den Laden dichtgemacht.«

»Seitdem sind Sie arbeitslos?«

»Ja. Hartz IV. Aber ich war ein guter Ingenieur. Jetzt bin ich zu alt, den Anschluss habe ich längst verpasst.«

»Das geht schnell in Ihrem Beruf, fürchte ich.«

Ein Motorrad dröhnte vorbei in affenartiger Geschwindigkeit.

»Ja, die werfen die Menschen weg. Ich kann die jungen Leute verstehen, die die Schnauze vollhaben. Es wird ja wieder über Revolution geredet.«

»Die Welt geht in die Brüche«, sagte Matti, »jedenfalls unsere.«

»Da passieren Dinge, die man vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten hätte. Ich sage nur Bankenkrise, Staatspleite und die Lachnummer mit der Atomkraft. Dass die Schwarzgelben aus der Atomkraft aussteigen, weil in Japan ein Erdbeben war. Lächerlich. Ein Vorwand, Rosstäuscherei. Manchmal denke ich, besser falsche Überzeugungen als gar keine. Dieses Pack« – er zeigte in Richtung Reichstag – »hat nur noch eine Überzeugung: an der Macht bleiben. So war es bei uns auch am Ende. Macht als Selbstzweck.«

»Aber wer soll die Revolution machen?«, fragte Matti.

»Die Betrogenen, die Unzufriedenen«, sagte der Mann.

»Aber wenn die Betrogenen und Unzufriedenen die Macht stürzen, was für eine Macht errichten sie?«

Der kleine Mann überlegte. »Diese Fragen sind Ihnen nicht unbekannt«, sagte er.

»Nein, aber ich glaube, dass die Revolution abgesagt wurde, und jetzt bleibt nur der Zerfall. Die Barbarei.«

»Ah, Sie haben Marx gelesen.«

Sie schwiegen. Auf der Gegenfahrbahn rollte eine Kolonne von Polizeibussen und -autos in Richtung Stadtmitte.

In der Dusekestraße standen vierstöckige Mietshäuser, dazwischen ein paar Gewerbebetriebe. Manche Fassaden stammten noch aus DDR-Zeiten, ein Haus war eingerüstet. Davor hielt Matti auf einen Fingerzeig seines Fahrgasts. Er ließ den Finger nicht sinken, sondern sagte: »Sie sind noch jung, Sie können was tun. Wir haben es vermurkst …« Er ließ den Finger und die Schultern hängen, stieg aus, winkte kurz und ging die Straße hoch.

Wo will er hin?, fragte sich Matti. Er hatte ein blödes Gefühl. Aber doch bestimmt wegen des Zettels in seiner Tasche und der Drohung des Puffchefs.

Es gab Ecken in Berlin, die die WG-Freunde nie freiwillig betreten würden. Dazu zählten neben der Oranienstraße die Falckenstein- zwischen der Wrangel- und der Schlesischen Straße. Die Bergmannstraße war auf dem besten Weg, in die Liste der verbotenen Zonen aufgenommen zu werden. Als sie auf der Oberbaumbrücke die Spree gequert hatten, steuerte Matti das Taxi parallel zur Simon-Dach-Straße, der übelsten Touristenabfüllstation Friedrichshains. Die Dolziger Straße lag im Samariterviertel. Sie mussten die Frankfurter Allee nur ein kleines Stück stadtauswärts fahren. Kurz vor dem Naziparadies Lichtenberg bog Matti in die Samariterstraße ein, um nach ein paar Querstraßen schließlich rechts abzubiegen. Das Mietshaus lag neben einem Alteisenhändler, auf dessen Hof ein Schrottcontainer stand.

Arnulf Petersen öffnete die Wohnungstür und prallte zurück.

»Wir sind Freunde von Rosi«, sagte Dornröschen sanft. »Ich bin Dornröschen.«

Petersens Miene hellte sich auf. Er musterte Matti und Twiggy. »Aha. Und was wollt ihr?« Seine Stimme dröhnte.

»Ich habe versucht, dich telefonisch zu erreichen, aber ich habe deine Nummer nicht gefunden. Habe nur die Adresse, die hat mir der Boss von der Tanzmarie gegeben.«

»Hast du dem ’ne Knarre an den Kopf gehalten?« Petersen lachte. Er hatte ein ehrliches Lachen in einem viereckigen Gesicht.

Matti lachte mit. »So ähnlich« – er winkte ab –, »nee, du hast was in meinem Taxi vergessen.«

»Oh, ich bin schon so reich, dass ich mir ein Taxi leisten kann. Wusste ich gar nicht. Das kostet dich eine Freifahrt.« Er winkte sie hinein und führte sie in die Küche, deren Mobiliar vom Sperrmüll stammte. Aber es lag kein Stäubchen darauf, und der Linoleumboden glänzte vor Sauberkeit. Petersen holte eine Flasche Sprudel aus dem Steinzeitkühlschrank und stellte sie auf den Tisch. Aus dem Küchenschrank neben der Tür nahm er Gläser. An der Wand hing ein Plakat, das grob gerastert vermummte Gestalten zeigte, einer hatte einen Molli in der Hand.

»Du hast Rosi Infos gegeben über die Kolding-Leute, den Baustadtrat und den Fritzen von der Bauaufsicht«, sagte Matti.

In Petersens Gesicht spiegelten sich Angst und Wut. »Ihr meint, sie ist deswegen umgebracht worden?«

»Keine Ahnung«, sagte Dornröschen.

»Wenigstens ehrlich«, erwiderte Petersen. Er überlegte und sagte: »Wenn ich gewusst …«

»Wie kamst du auf Rosi?«

»Ganz einfach. Wir waren an der Uni zusammen im Fachschaftsrat. Sie ist … war echt ’ne gute Genossin.«

Eine Weile sagte niemand was.

»Ich fühle mich irgendwie mitschuldig«, sagte Petersen.

»Klar, aber das stimmt nicht, und du weißt es. Niemand käme auf die Idee, dass man ermordet wird wegen so etwas.« Twiggy trank sein Glas leer und schenkte sich nach.

»Trotzdem …« Petersen blickte hinaus. Im Haus gegenüber lehnte sich ein Mann aus dem Fenster und rauchte.

»Was hast du Rosi gegeben?«

»Die Bilder von den Typen. Ich habe den Baustadtrat erkannt, den hatte ich mal auf einer Veranstaltung gesehen.«

»Und die Kolding-Leute hast du identifiziert, weil die mit einer Firmenkreditkarte bezahlt haben?«

»Genau. Die waren zu viert, dazu kamen vier Frauen vom Laden, mit denen sie schließlich in den Puff gegangen sind. Für die Sause hat Kolding bezahlt. Ich habe im Internet recherchiert, das war eine Kleinigkeit. Kolding ist heftig zugange auf dem Berliner Immobilienmarkt, und sie bezahlen diesen beiden Herren von der Stadt den Puffbesuch. Alles klar, oder?«

»War das nicht immer so in Berlin? Wo gebaut wird, stinkt es«, sagte Matti.

»Und wie kamst du auf Rosi?«

»Die habe ich vor ein paar Wochen an der Humboldt getroffen. Da hat sie mir erzählt, dass sie was zur Gentrifizierung macht. Daran habe ich mich erinnert, als ich diese Typen gesehen habe.«

»Ganz schön clever«, sagte Dornröschen.

»Geht so. Ich habe die Fotos gemacht und dabei so getan, als würde ich mit dem Handy spielen. Dann habe ich Rosi angerufen und ihr gesagt, was ich gesehen habe. Sie war tierisch aufgeregt, es würde genau passen zu ihrer Geschichte, hat sie gesagt. Sie ist gleich hergekommen, hat die Fotos abgeholt und mitgeschrieben, was ich ihr erzählt habe.«

»Hast du die Bilddateien noch?«, fragte Matti.

»Puh«, sagte Petersen. »Ich wollte sie löschen, als das mit Rosi passierte. Aber dann habe ich mir gesagt, dass mir das sowieso keiner glauben würde. Außerdem kann ich die Sauerei ja schlecht aus meinem Gedächtnis löschen. Dann habe ich ein paar Kopien gemacht, um was in der Hand zu haben. Man weiß ja nicht.«

Er ging zum Bücherregal, zog den zweiten Band des »Kapital« heraus, klappte das Buch auf und entnahm ihm eine CD. Er legte sie auf den Tisch und setzte sich wieder. »Ich habe auch zwei Freunden die Dateien gegeben, das ist mein bester Schutz.« Er klang ängstlich. Matti ahnte, dass Petersen sich jede Nacht ausmalte, dass sie auch ihm ans Leben wollten, weil er zu viel wusste. Inzwischen wusste aber auch die Okerstraßen-WG einiges, was manchen Herren gar nicht gefallen konnte. Wenn die Rosi umgebracht hatten … Matti versuchte den Gedanken zu verdrängen.

»Willst du zu uns ziehen?«, fragte Dornröschen.

Matti und Twiggy wechselten erstaunte Blicke.

Petersen schüttelte den Kopf. »Ich lauf nicht weg.« In der Stimme war ein Zittern.

Verdammter Mist, dachte Matti.

»Die Sache wird immer undurchschaubarer, je mehr wir wissen«, sagte Dornröschen. »Am Ende sind es doch die Typen, die wir wegen der DVD auffliegen ließen, und wir rennen vor den Falschen weg.«

»Wir rennen doch gar nicht«, sagte Twiggy.

Matti fiel ein, dass Dornröschen schon immer ziemlich genau wusste, was kommen würde, und ihm wurde noch mulmiger.

Petersen blickte unruhig von einem zum anderen. In seinen Augen standen Fragezeichen, aber er sagte nichts.

Twiggy nahm die CD in die Hand. »Hast du einen PC?«

Petersen verschwand und kehrte mit einem Apple-Notebook zurück. Er legte die CD ein, sobald der Rechner aus dem Schlaf erwacht war. Die Bilder waren technisch nicht gut, aber es war alles zu erkennen. Im Hintergrund turnte eine barbusige Frau auf der Bühne herum, davor saßen vier Männer, zwei mit halb nackten Frauen auf dem Schoß, ein Dritter fummelte am BH seiner Begleiterin. Der Vierte kehrte seiner Bardame die Seite zu und glotzte zur Bühne. Auf dem Tisch stand ein Weinkühler, aus dem der Hals einer Champagnerflasche ragte. Weitere Fotos dokumentierten, dass die Stimmung stieg, eine Brünette servierte eine neue Flasche. Auf der Bühne erschien ein Mann, der Matti an Tarzan erinnerte, und zog der Tänzerin den Slip aus. Der dritte Mann hatte es inzwischen geschafft, den BH zu öffnen, und seine Begleiterin bedeckte die Brüste mit den Händen, während sie lachte. Im letzten Bild sah man, wie die vier Männer und die Frauen in einer Tür verschwanden. »Da geht’s zu den Zimmern«, sagte Petersen.

»Wie hoch war die Rechnung?«, fragte Matti.

»Viertausenddreihundertdreiundzwanzig Euro.«

»Hat sich ja gelohnt«, sagte Twiggy.

Matti hatte gerade den Taxihof verlassen und fuhr mit dem Daimler noch in der Manitiusstraße, als er auf Radio 1 hörte, in Pankow sei ein Mann erhängt aufgefunden worden. Es sei ein Abschiedsbrief gefunden worden, die Polizei gehe von Selbstmord aus. Das war der Ingenieur, Matti wusste es sofort. Es traf ihn in der Magengrube. Er fuhr an den Straßenrand und hielt an. Er drehte sich eine Zigarette und rauchte, während er das Taxi im Kriechgang umkreiste. Er hätte es wissen müssen. Er hätte genauer zuhören müssen, die Verzweiflung hatte mehr im Ton gelegen als in dem, was der Mann sagte. Er hätte erkennen müssen, dass der Ingenieur am Ende war. Aber warum hatte er sich nach Pankow fahren lassen? Warum dieser Umstand? Vielleicht hatte er dort glückliche Zeiten erlebt und gehofft, die Erinnerung würde ihm helfen? Vielleicht wollte er sich verabschieden von einem Ort, wo er einen Menschen getroffen, geliebt, gehasst hatte. Wohin gehen Menschen, bevor sie sich umbringen? An was denken sie?

Er konnte jetzt nicht weiterfahren und kehrte zurück. Ülcan hockte in seiner Räucherkammer und glotzte ihn an.

»Bin krank«, sagte Matti. Er fasste sich an den Bauch.

Merkwürdigerweise sagte Ülcan nichts, sondern sog nur lange an seiner Zigarette und wandte sich dann dem großen Heft zu, in dem er das aufschrieb, was er seine Buchhaltung nannte und was ihn wahrscheinlich irgendwann auf die Anklagebank bringen würde. Die letzte Betriebsprüfung hatte in einem Fiasko geendet, Ülcan bedrohte den eingeschüchterten Finanzbeamten mit Aschenbecher und Brieföffner, brüllte ihn an, dass es noch auf der Straße zu hören war, beschimpfte ihn als Rassisten, Türkenfeind, Ungläubigen, Nazi, Sarrazin-Gläubigen, Parasiten – und grinste breit, als er den Feind vertrieben hatte, schenkte sich einen Kaffee ein, steckte sich eine Zigarette in den Mund und lehnte sich gemütlich zurück.

Als Matti in die Okerstraße kam, unterhielt sich Twiggy in der Küche mit Robbi. Robbi saß auf Twiggys Schoß und lauschte. Er nickte, schüttelte den Kopf und maunzte. Allerdings weigerte er sich immer noch, sein Schweigegelübde zu brechen. Doch als Zuhörer war der Kater großartig.

Matti nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte auch eine geöffnete Flasche vor Twiggy ab.

»Was ist los?«, fragte der, nachdem er Matti angeblickt hatte.

Matti winkte ab. »Ein Ingenieur …«

Twiggy blickte ihn erstaunt an und wandte sich wieder Robbi zu. »Sollen wir dem Baustadtrat auf die Pelle rücken. Ihm die Fotos zeigen und schauen, wie er reagiert?«

Robbi guckte nachdenklich.

»Oder soll Dornröschen das in der Stadtteilzeitung veröffentlichen?«

Robbi war sich nicht schlüssig.

Dornröschen stand im Türrahmen. »Wenn wir das raushauen, gibt’s zwar Radau, aber wir kommen nicht weiter. Die Typen treten zurück und tauchen ab. Und wir haben nichts mehr in der Hand gegen sie. Ich bin für Erpressen.« Sie blickte zu Matti. »Was ist?«

Matti erzählte vom Ingenieur. Dornröschen stellte sich hinter ihn und strich ihm übers Haar. »Ist keine leichte Zeit«, sagte sie eher zu sich selbst.

Matti überlegte, was sie meinte. Irgendwas bedrückte Dornröschen, aber er wollte sie jetzt nicht fragen. Es war sowieso alles Mist. »Wie machen wir’s?«

»Wir schreiben den beiden Jungs von der Stadt einen netten Brief und legen ein paar Fotos bei«, sagte Dornröschen.

Twiggy, Matti und Robbi überlegten. »Wenn die einem dann die Killer …«

»Tja, habt ihr einen besseren Vorschlag?«, fragte Dornröschen schnippisch. »Und was ich noch fragen wollte …« Sie zog ein durchsichtiges Plastiktütchen aus der Tasche, darin weißgraues Pulver. »Lag im Flur, unter der Kommode. Was ist das?«, fragte sie streng.

Twiggy sprang auf, Robbi jaulte los und floh, während Twiggy den Beutel an sich riss. »Das gehört mir!«, schnauzte er.

»Koks ist das hoffentlich nicht?«, sagte Dornröschen.

»Quatsch.« Er steckte das Päckchen ein und setzte sich wieder, mit glänzender Stirn.

Die Reaktion auf den Brief folgte am übernächsten Morgen. Das Telefon klingelte, Matti nahm ab.

»Dr. Spiel.«

»Ja?«

»Wir müssen reden. Heute noch.«

»Klar«, sagte Matti. »Wenn Sie auch am Samstag arbeiten wollen.«

Der Typ räusperte sich. »Kennen Sie den Stichkanal in Lichterfelde?«

»Ja.«

»Am Ende ist ein Baugrundstück …«

»Dort werden wir uns nicht treffen«, sagte Matti. Er hatte mal einen Mann dorthin gefahren, eine finstere Ecke.

»Dort erkennt man mich nicht gleich«, sagte Spiel.

»Wir treffen uns im Las Primas in der Wrangelstraße und nirgendwo anders. Und Sie bringen Ihren Freund Rademacher mit.«

»Sie kapieren nicht …«

»Sie kapieren nicht. Entweder Las Primas oder gar nicht. Dann können Sie und der Herr Rademacher sich in der Presse bewundern.«

Der Mann schnaufte. Dann war es ein paar Sekunden still. »Gut, heute Abend, zwanzig Uhr.«

Sie saßen beim Frühstück, Robbi schmatzte sein Schälchen mit Thunfischkatzenfutter leer. Draußen zog grummelnd ein Gewitter auf, die Sonne war für alle Zeiten verschwunden, als wollte sie die Freunde warnen.

»Was würdest du tun, wenn du an der Stelle von Spiel und Rademacher wärst?«, fragte Twiggy.

»Weiß nicht«, erwiderte Matti. »Wenn ich Rosi umgebracht hätte, käme es auf einen weiteren Mord nicht an. Allerdings würde der die Gefahr vergrößern, dass ich erwischt werde. Außerdem müsste sicher sein, dass ich alle Bilder einkassieren kann. Und wie soll man sicher sein, wenn überall Kopien liegen können?«

Dornröschen gähnte, schloss aber den Mund nicht gleich, sondern steckte sich gemächlich einen Löffel Müsli hinein. »Ich würde uns nicht ermorden«, sagte sie kauend. »Das Risiko, erwischt zu werden, ist zu hoch, die Aussicht, sämtliche Fotos aus dem Verkehr zu ziehen, zu gering.«

»Aber es geht um deren Hals«, sagte Twiggy.

»Der Abgang ist das eine, zwanzig Jahre im Bau sind was anderes. Das werden die Herren sich schon ausgemalt haben.« Dornröschen kaute munter weiter, als wäre alles klar.

Matti erinnerte sich an die Bande, mit der sie es vor einiger Zeit zu tun gehabt hatten. Die hätte keine Skrupel gehabt.

Matti trat um sechs Uhr seine Schicht an. Ülcan warf ihm nur einen Blick zu. Ihm gegenüber saß Aldi-Klaus und zählte Geld. Offenbar schuldete er Ülcan was. Niemals würde Ülcan Matti Geld leihen, vielleicht stimmte es ja doch, dass der Taxiboss Aldi-Klaus als Schwiegersohn auserwählt hatte, obwohl der ein Ungläubiger war und sich nicht mal für Fußball interessierte. Aber Ülcans Wege waren tief und unergründlich.

Der erste Fahrgast stieg am Görlitzer Bahnhof zu, ein Geschäftsmann mit schwarzem Aktenkoffer und hochrotem Gesicht. Er setzte sich auf die Rückbank, und sofort spürte Matti die Unruhe des Mannes, als wäre sie ansteckend. »Tegel, beeilen Sie sich.«

Matti fuhr auf der Skalitzer Straße, wo die Geschwindigkeit auf dreißig Stundenkilometer begrenzt war.

»Geht’s nicht schneller?«

»Ich darf nicht«, sagte Matti.

»Ich zahl auch das Strafmandat.«

»Und die Punkte behalte ich«, sagte Matti und mühte sich, ruhig zu bleiben. »Wann geht Ihr Flieger?«

»Das geht Sie nichts an.«

Matti verkniff sich eine Antwort. Er blieb vor einer hellgelben Ampel stehen, hinter ihm hupte es. Und er fuhr gemächlich los, als die Ampel auf Grün geschaltet hatte. Dann blieb er lange hinter einem Lastwagen hängen, der über die Straße schlich. Am Mehringdamm bremste er schon bei Dunkelgrün, auf dem Tempelhofer Damm ließ er einen uralten Mazda vor, der in einer Seitenstraße gewartet hatte, und auf der Stadtautobahn schlich er auf der rechten Spur.

Er grinste in sich hinein, als er merkte, dass der Typ nicht mehr wusste, was er mit seinen Fingern anstellen sollte.

»Mein Gott, nun überholen Sie doch!«

Matti war geradezu vernarrt in das Heck des Busses, der englische Touristen durch Berlin karrte, vom Holomem zum Olympiastadion, von der Mauer zum Reichstag, Hohenschönhausen als Zugabe.

Matti überholte nicht, auch nicht, als der Busfahrer verlangsamte und die mittlere Spur frei war.

»Ich habe gesagt, Sie sollen sich beeilen.«

»Ich weiß«, antwortete Matti ruhig und blieb hinter dem Bus.

Matti spürte, wie der Mann hinter ihm kochte. Es lenkte ihn etwas ab von dem Treffen am Abend, aber verdrängen konnte er es nicht. Was hatten Spiel und Rademacher vor? Wie wollten sie verhindern, dass sie ihre Posten und ihre Macht verloren? Welches Risiko würden sie eingehen?

Pünktlich um acht Uhr erschienen zwei Anzugmänner im Las Primas. Sie standen da und sahen sich um, bis ihre Augen an Mattis Zeigefinger hängen blieben, der sie an den Tisch winkte. Der größere war hager, hatte eine Halbglatze und trug eine rahmenlose Brille, der kleinere hatte ein Mondgesicht und einen Bürstenschnitt. Sie setzten sich nebeneinander an den Tisch in der Ecke, Matti und Dornröschen gegenüber, Twiggy sah die beiden im Profil. Am Fenster saß ein Pärchen, das sich mit sich beschäftigte.

»So sehen also Puffgänger aus«, sagte Dornröschen leise. »Wollte ich schon immer mal wissen. Macht das Spaß, so gegen Bezahlung?«

Matti war verblüfft, dass Dornröschen gleich richtig loslegte. Er betrachtete die Typen, und einen Augenblick kamen sie ihm vor wie maskiert, steif, unecht.

»Ich bin Dr. Spiel«, sagte der Kleinere. Auch er sprach gedämpft.

»Rademacher«, flüsterte der andere.

Elisabeth kam und wartete auf die Bestellung. Aber die beiden sagten nichts.

»Die beiden Herren trinken das Teuerste, was du hast, Elisabeth. Champagner vielleicht, das würde doch passen?«

Twiggy grinste, die beiden Verwaltungsfritzen schauten sich kurz an, dann nickte Spiel.

Elisabeth lächelte und verschwand hinterm Tresen.

Matti hoffte, dass sie Billigsekt in eine Champagnerflasche umfüllte.

»Nun wollen wir doch mal ernsthaft miteinander reden«, sagte Spiel, der offensichtlich den Wortführer markierte. »Sie wollen uns erpressen, wie viel verlangen Sie für die Fotos?«

»Ganz einfach«, sagte Dornröschen, »wir wollen wissen, wie viel Geld Sie bei Kolding abkassiert und was Sie dafür versprochen haben.«

»Sie wollen kein Geld?«

»Nein«, sagte Dornröschen. »Wenn Sie uns die ganze Geschichte erzählen, haben Sie vielleicht das Glück, dass wir die Sache vorerst für uns behalten.«

»Vorerst?« Rademacher guckte fragend.

»Solange Sie brav sind …«, sagte Twiggy.

Matti spürte ein Grummeln im Magen. Das lief zu glatt.

»Wir erzählen Ihnen die Geschichte, wenn wir die Beweise bekommen. Fotos und was Sie sonst noch so haben«, sagte Spiel.

»Ein Kennzeichen der heutigen Zeit ist, dass Wissen nicht verschwindet. Früher hat man ein Original und zwei Kopien verbrannt. Oder Filmnegative. Heute kopieren sich Informationen fast von allein. Wenn ich Ihnen einen Speicherchip gebe, würde ich an Ihrer Stelle davon ausgehen, dass ich eine Kopie versteckt habe. Aber das wissen Sie doch«, sagte Dornröschen lässig. »Eine Erpressung funktioniert heutzutage anders.«

Spiel und Rademacher blickten sich an. Spiel hob die Augenbrauen, Rademacher ließ seine Hände ein paar Zentimeter über der Tischplatte schweben und legte sie wieder darauf.

Hier ist etwas oberfaul, dachte Matti. An deren Stelle wäre ich nicht einfach gekommen. Ich hätte gewusst, dass auch die Erpresser etwas wollten. Ich hätte Druck gemacht. Aber wie? Matti überlegte, wie er Druck gemacht hätte, und die einzige Idee, die ihm kam, gefiel ihm nicht.

»Und wie?«, fragte Spiel.

»Sie müssen sich darauf verlassen, dass wir ehrlich sind.« Dornröschen grinste und gähnte genüsslich.

Die beiden Männer blickten sich an.

Aber die gucken nicht ratlos, dachte Matti. Die besprechen sich per Blick. Die haben was im Sack. Aber was könnte das sein? Matti blickte sich um, aber da war natürlich nichts.

»Ehrliche Erpresser?«, fragte Spiel.

»Ehrliche Betrüger? Warum sollen wir korrupten Figuren wie Ihnen glauben?«, fragte Dornröschen zurück.

Was machte Dornröschen so selbstsicher? Matti beobachtete sie und überlegte, ob sie bei der Sache war, jedenfalls in dem Sinn, dass sie sich restlos auf dieses Gespräch konzentrierte. Vielleicht hatte sie es schon abgehakt und war im Kopf mit etwas anderem befasst. Mit ihrem Auszug? Mit ihrem Verehrer? Dieses Gespräch gefiel ihm nicht.

»Wir suchen den Mörder von Rosi Weinert.«

»Von wem?«, fragte Rademacher.

Dornröschen blickte die beiden Männer an. »Sie wollen nicht wissen, dass die Leiche von Rosi Weinert auf der Admiralbrücke gefunden wurde?«

Spiel und Rademacher wechselten wieder Blicke. Matti beobachtete die Mienen und entdeckte nur Ratlosigkeit.

»Das ist die Frau, die Ihre korrupten Geschäfte aufdecken wollte«, sagte Dornröschen. »Sie wollen doch nicht behaupten, dass niemand bei Ihnen angefragt hat wegen dieser Sache?«

Wieder Blickwechsel.

Rademacher wirkte verunsichert. »Doch, doch«, sagte er endlich. »Da hat eine Frau angerufen. Aber sie hat ihren Namen nicht genannt. Und ihre Telefonnummer war … unterdrückt. Das wird sie gewesen sein. Sie behauptete ziemlich wildes Zeug. Dass Kolding uns bestochen hat, damit wir denen den Weg freiräumen, wir sollen absichtlich übersehen haben, dass Bauvorschriften verletzt wurden. Wir sollen sogar versucht haben, die Vorschriften zu ändern, damit Kolding es leichter hat.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das stimmt nicht. Wir haben nicht weggeguckt, und wir haben nichts geändert.« Seine Blicke suchten Bestätigung bei Spiel, und der nickte.

»Aber Sie haben sich den Puff bezahlen lassen«, sagte Dornröschen.

Spiel nickte. »Na und?«

»Sie meinen, es kommt gut an in der Öffentlichkeit, dass leitende Beamte sich von einer Firma, die sie beaufsichtigen sollen, die Nutten bezahlen lassen.« Matti wusste immer noch nicht, was gespielt wurde.

»Das kommt nicht gut an«, sagte Rademacher.

»Es kostet Sie den Job«, sagte Twiggy.

»Vielleicht.« Spiel lächelte. »Ich gebe zu, es wäre unangenehm.«

»Was haben wir mit dieser Frau zu tun?«, fragte Rademacher. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass sie mich angerufen hat … und Herrn Dr. Spiel auch. Das ist wirklich alles.«

»Sie hatten nicht die Vorstellung zu verhindern, dass diese Frau Ihnen alles nimmt, was Ihnen wichtig ist?«, fragte Matti.

»Wichtig, guter Mann, sind mir meine Frau und meine Kinder«, sagte Rademacher. »Ich bin sicher, Dr. Spiel geht es genauso.«

Der nickte.

Elisabeth brachte eine Flasche Champagner und fünf Gläser. Sie öffnete die Flasche mit einem Plopp und goss ein. Lächelnd zog sie ab, die leere Flasche in der Hand.

»Eigentlich mag ich das Zeug nicht«, sagte Twiggy und schüttete es in einem Zug hinunter.

Rademacher roch am Glas, dann trank er einen Schluck und nickte leicht. Spiel beachtete das Glas nicht.

»Die Puffgeschichte dürfte nicht förderlich sein fürs Eheglück«, sagte Matti, während Dornröschen grübelte. Er sah ihr an, dass etwas nicht stimmte. Doch das fühlte er auch, ohne aber zu wissen, um was es ging.

»Wir leben im 21. Jahrhundert«, sagte Spiel. »Gut, es ist unangenehm, aber nicht wirklich schlimm.«

Rademacher nickte. »Also wenn Sie vielleicht doch Geld nehmen wollen, darüber ließe sich reden. Allerdings müssten wir sicher sein, dass nichts mehr nachkommt. Und reich sind wir auch nicht. Aber für Sie« – ein abschätzender Blick – »dürfte es ein respektables Sümmchen sein. Wollen Sie sich das nicht überlegen?« Er war jovial.

»Sie hatten Schiss, dass Sie auffliegen, dass Sie Ihre Posten verlieren und Ihre Pensionen und überhaupt Ihr schönes Leben mit Dienstwagen, Jahresurlaub, Eigenheim und dicker Kohle. Und deswegen haben Sie Rosi umgebracht. Vermutlich haben Sie es nicht selbst gemacht, dazu wären Sie sich zu fein. Sie haben es machen lassen. Für die Bullen wäre das ein geiles Motiv, reicht für U-Haft«, schnauzte Twiggy.

Die beiden am Fenster glotzten zur Fünferrunde.

»Sie wollen uns verarschen, aber das klappt nicht«, sagte Twiggy etwas leiser.

Elisabeth stand hinterm Tresen und beobachtete die Gruppe.

»Wir haben diese Frau nicht umgebracht und auch nicht umbringen lassen. Wir sind doch keine Killer, was glauben Sie denn? Gucken Sie zu viel Fernsehen?« Rademacher lachte gepresst. »Ich sag’s noch mal, die hat mich angerufen und dummes Zeug geredet. Gut, mit der Tanzmarie, da hatte sie recht, aber der Rest war Blödsinn.«

»Sie meinen, die Kolding-Leute schieben Ihnen die Kohle aus lauter Vergnügen in den Arsch?«, fragte Matti.

»Mein Gott, das ist Landschaftspflege. Die wollen, dass wir gut gelaunt sind. Alle Bauunternehmen Berlins wollen, dass wir gut gelaunt sind.« Ein freches Lächeln stand in seinem Gesicht.

»Wie oft haben Sie sich schon von den Koldings einladen lassen?«, fragte Dornröschen.

»Es war das erste Mal«, sagte Spiel.

Twiggy lachte, und Matti stimmte ein.

Elisabeth grinste.

Spiel lächelte. »Natürlich glauben Sie uns nicht. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich mir auch nicht glauben.«

Und Matti dachte: Die nehmen uns auf den Arm. Das ist ein Spielchen. Nomen est omen. Wir Idioten hatten wirklich gedacht, wir kriegen die weich. Lächerlich die Vorstellung, man erpresst die ein bisschen, und schon packen sie aus.

»Was wollte denn diese Frau von Ihnen, und was haben Sie ihr gesagt?«, fragte Dornröschen.

»Sie wollte, dass wir uns alles überlegen, und dann wollte sie noch einmal anrufen. Das hat sie aber nicht getan.«

Schweigen.

In Mattis Kopf hetzten sich Gedankenfetzen. Da ist was oberfaul. Wenn die lügen … Wir können nichts beweisen … wir haben ein Motiv, sonst nichts. »Was haben Sie denn besprochen mit den Koldings in der Tanzmarie

Spiel grinste. »Na, was bespricht man wohl in so einer Location?«, sagte er gönnerhaft. »Da laufen ein paar heiße Frauen herum, aber wir sprechen übers Bauen.« Er lachte, und auch Rademacher zeigte ein Lächeln. »Na, überlegen Sie mal.«

»Glauben Sie, Sie finden einen Staatsanwalt, der Ihnen diesen Quatsch glaubt?« Dornröschen fixierte Spiel, dann Rademacher.

»Er hätte keine Wahl. Es gibt keine Beweise.«

»Wir haben einen Zeugen, der gesehen hat, dass Sie einen Umschlag angenommen haben«, sagte Matti.

»Sie haben einen Zeugen!« Spiel grinste.

»Ich hoffe, der Zeuge weiß auch, was in dem Umschlag war«, sagte Rademacher.

»Ja, was wohl?«, sagte Twiggy.

»Opernkarten«, sagte Spiel und lächelte freundlich.

»Was heißt, die Koldings bezahlen Ihnen nicht nur den Puff, sondern auch Opernkarten«, sagte Matti.

»Sie sind ein kluger Kopf«, sagte Spiel mit einem so freundlichen Lächeln, dass es in Mattis Faust zuckte.

»Gut«, sagte Dornröschen, »dann werde ich das veröffentlichen.«

»Nun beruhigen Sie sich doch«, sagte Spiel, und Rademacher lächelte. »Ich kann Ihnen versichern, dass nichts Unrechtes geschehen ist.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich wiederhole, mein Ehrenwort«, ätzte Twiggy.

»Glauben Sie mir, wir haben Ihrer Freundin nichts getan. Wir kennen sie nicht einmal. Sie hat ihren Namen nicht genannt, geschweige denn eine Telefonnummer oder Anschrift. Wie sollten wir jemanden … umbringen, den wir gar nicht kennen.« Er lächelte schon wieder, und Matti hätte am liebsten in das Lächeln hineingeschlagen.

»Sie sind korrupte Drecksäcke«, sagte er. »Das steht fest.«

Die beiden Herren schauten traurig aus der Wäsche.

»Gut, wenn Sie meinen, dass an unserem Verhalten etwas auszusetzen ist, dann will ich nicht rechten«, sagte Rademacher. »Ich gebe zu, es ist zwar nicht strafbar, was wir getan haben, aber zur Ehre gereicht es uns auch nicht. Aber ich sehe so etwas pragmatisch.«

»Auch wenn Sie nicht dahinterstecken sollten«, sagte Dornröschen und blickte skeptisch, »die Koldings haben auf jeden Fall was mit dem Mord zu tun. Ich hätte eine Idee, wie Sie die Veröffentlichung Ihres kleinen Abenteuers verhindern könnten.« Sie lächelte.

Spiel guckte sehr interessiert, er starrte Dornröschen an.

Matti überlegte, was Dornröschen meinen konnte. Doch dann fiel es ihm ein. Ein guter Plan, sie schien bei der Sache zu sein, entwickelte Ideen. Vielleicht ging es noch mal gut mit der WG.

Twiggy kratzte sich am Kopf, Schuppen segelten zum Boden.

»Ich bin ganz Ohr.« Rademacher lächelte. »Endlich kommen wir zu den richtigen Fragen.«

»Sie rücken den Koldings richtig auf die Pelle, horchen sie aus, lassen sich bezahlen und in Puffs einladen, wenn Ihnen das so viel Freude bereitet« – ihr Gesicht zeigte Widerwillen –, »und wenn Sie rauskriegen, ob die Koldings die Mörder beauftragt haben oder welche von denen selbst gemordet haben oder wie immer die in der Sache drinstecken, denn drinstecken tun sie, dann vergessen wir die Eskapade in der Tanzmarie. Was halten Sie davon?«

Die beiden Herren strahlten um die Wette.

»Ein interessanter Vorschlag«, sagte Spiel.

»Wirklich«, ergänzte Rademacher.

Matti glaubte den Typen kein Wort. Die führten was im Schilde, die hatten einen Plan, und sie waren sich sicher, dass der Plan aufging, sonst würden sie nicht dieses Theater aufführen.

»Also machen Sie mit«, sagte Dornröschen.

Spiel blickte Rademacher an, der nickte, und Spiel nickte auch.

»Natürlich, das ist vernünftig«, sagte Spiel. »Wir helfen Ihnen gern, einen Mord aufzuklären. Allerdings glaube ich nicht, dass Kolding etwas damit zu tun hat. Das ist eine seriöse …«

»Pufffinanzierungsanstalt«, sagte Twiggy trocken. »Womöglich gehen unsere Auffassungen über das, was seriös ist, ein wenig auseinander.«

»Ist ja gut«, erwiderte Rademacher. »Wir haben doch schon gesagt, dass das nicht in Ordnung war. Seriös heißt, dass die Koldings das Gesetz achten. Übrigens halten sie die Bauvorschriften hundertprozentig ein, es gibt in Berlin kaum ein Immobilienunternehmen, das so wenig Ärger macht wie die.«

»Und Sie bauen schon mal vor, nicht wahr?«, sagte Dornröschen. »Die Koldings sind so lieb, die tun keiner Fliege was. Wir haben uns trotzdem angestrengt, aber nichts herausgefunden. Das werden Sie uns weismachen, oder?«

»Die stecken doch alle unter einer Decke«, sagte Twiggy. »Und Sie verarschen uns nach Strich und Faden.«

»Probieren Sie es aus, Sie werden sehen, wir bringen Ihnen alle Informationen, an die wir herankommen. Und wenn Mitarbeiter von Kolding in den Mord verwickelt sind, sagen wir Ihnen auch das«, erklärte Rademacher.

Spiel nickte heftig. »Obwohl wir keine Straftat begangen haben, so wäre es uns doch unangenehm, wenn Sie … diese Sache an die Öffentlichkeit brächten. Also, vertrauen Sie uns. Wir haben etwas zu verlieren.«

Twiggy lächelte, und dann donnerte er los. Er lachte und lachte, ihm kamen die Tränen, er öffnete den Mund, bekam aber kein Wort heraus, er musste husten und lachte weiter. Alle staunten ihn an. Als er sich beruhigt hatte, sagte er nur: »Vertrauen? Das ist der beste Witz des Jahres. Solchen Gestalten vertrauen? Köstliche Idee.«

Dornröschen und Matti wechselten einen Blick. In ihrem stand: Sollen wir uns drauf einlassen? Seiner antwortete: Wir haben keine Wahl. Fällt dir was Besseres ein?

»Gut«, sagte Dornröschen. »Wenn wir den Verdacht haben, dass Sie uns betrügen, gibt’s eine Puffgeschichte.«

Matti war mulmig zumute, aber er nickte. Twiggy starrte auf die Tischplatte. Elisabeth stand immer noch hinterm Tresen und hatte die Gruppe im Auge. Das Pärchen am Fenster knutschte. Die Tür öffnete sich, zwei Frauen traten ein, beide in Jeans und T-Shirts, beide blond, die eine mit langen Haaren, die andere mit kurzen. Sie setzten sich an den Ecktisch am anderen Fenster, möglichst weit entfernt von der WG und dem Pärchen. Elisabeth ging zum Tisch und legte zwei Speisekarten darauf.

Spiel flüsterte Rademacher ins Ohr, und als der nickte, sagte er: »Zum Zeichen unseres guten Willens wollen wir Ihnen ein paar Papiere geben.«

»Um was geht es?«

»Um Geschäftspraktiken von Kolding.«

Matti, Twiggy und Dornröschen blickten sich fragend an, dann sagte Dornröschen: »Gut.« Sie streckte die Hand aus.

»Nein, das haben wir natürlich nicht hier«, sagte Spiel. Seine Miene bedauerte es heftig.

Rademacher schüttelte traurig seinen Kopf.

»Ich habe meinen Wagen dabei, es sind nur ein paar Minuten.« Spiel winkte Elisabeth, die gleich kam und den WG-Genossen besorgte Blicke zuwarf. Spiel zahlte und gab reichlich Trinkgeld, aber das hellte Elisabeths Miene nicht auf.

Sie verließen das Las Primas, Spiel vorneweg. Sie gingen schweigend die Wrangelstraße hoch. Ein Motorrad mit lächerlich langem Lenker und walzenartigem Hinterreifen dröhnte vorbei. Darauf ein Fettsack mit Stahlkette um den Hals und einem Militärhelm auf dem Kopf. Der Bart reichte bis zum Bauchnabel. Sie folgten Spiel in die Cuvrystraße, wo der einen dunkelblauen S-Klasse-Daimler ansteuerte. Mit einem leisen Klacken entriegelten die Türen, Spiel setzte sich hinters Steuer, Rademacher auf den Beifahrersitz, und die WG drängte sich auf der Rückbank, Twiggy in der Mitte.

»Wo geht’s hin?«, fragte Matti.

»Sigridstraße«, antwortete Spiel. »Dort habe ich ein Büro.«

»Wo in der Sigridstraße?«, fragte Twiggy.

»Das überlassen Sie mal mir«, sagte Spiel. »Sie kriegen diese Papiere, und damit hat es sich. Nachher machen Sie bei mir noch eine Hausdurchsuchung.« Er lachte gequetscht, und Rademacher lachte mit.

Bald waren sie am Volkspark Prenzlauer Berg, links lagen Einfamilienhäuser, die meisten eher schlicht, was in DDR-Zeiten aber nach Luxus und Privilegien ausgesehen hatte. Spiel steuerte den Daimler ein Stück in den Park hinein, auf einen geteerten Platz. Er fuhr unter Bäume und bremste. In diesem Augenblick traten fünf Männer aus dem Schatten. Gangster, dachte Matti, diese Typen kannte er vom Taxifahren. Spiel und Rademacher stiegen aus, Spiel sprach kurz mit dem Kleinsten der Männer, in einem maßgeschneiderten schwarzen Anzug und einem Goldkettchen am Handgelenk. Er hatte eine Glatze und buschige Augenbrauen. Nachdem Rademacher und Spiel aufreizend lässig weggeschlendert waren, öffnete der Goldkettchentyp die hintere Tür. Die WG-Genossen saßen erstarrt auf der Bank. Der Typ packte Dornröschen am Oberarm und riss sie aus dem Auto. Twiggy sprang hinterher und fiel den Mann an. Währenddessen schnellte Matti aus dem Auto und stürzte sich auch auf den Mann. Doch binnen Sekunden griffen die Schlägertypen ein und umklammerten Twiggy und Matti von hinten. Der Goldkettenmann hielt Dornröschen am Oberarm fest, während die anderen mit der Arbeit begannen. Zuerst Twiggy. Ein riesiger Mann mit Monsterjeans und einem verschwitzten T-Shirt mit der Aufschrift Metallica stellte sich vor ihn, schätzte ihn kurz ab und schlug ihm die Faust in den Magen. Twiggy stöhnte auf. Gleichzeitig nahm sich ein Drahtiger Matti vor, der erste Hieb landete im Gesicht. Matti brüllte. Dornröschen kreischte und zerrte, aber der Goldkettenmann lachte nur und drückte fester. Sie schrie vor Schmerz. Die beiden Schläger arbeiteten, ohne ein Wort zu verlieren. Ihre Gesichter zeigten keine Regung, keine Wut, keinen Hass, keine Freude, nur allmählich die Anstrengung, die es auch trainierte Schläger kostete, einen Menschen so zu verprügeln, dass er nur noch ein Haufen Schmerz war.

Plötzlich waren die Schläger verschwunden, nur der Goldkettenmann hatte Dornröschen noch im Griff. »Hör genau zu, du Fotze. Wenn du oder einer dieser Superhelden irgendetwas tut, das meine Freunde« – sein Kinn zeigte zur Sigridstraße – »ärgert, dann kommen wir wieder und bringen euch um, nachdem wir euch vorher durch die Mühle gedreht haben. Ihr wisst noch gar nicht, was Schmerz ist. Das bringen wir euch bei, aber ihr werdet nichts mehr von dieser Erkenntnis haben. Dich hebe ich mir für den Schluss auf. Ich freue mich schon darauf.« Er ließ sie los und schlug ihr ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite. Dornröschen taumelte, fing sich, kämpfte gegen den Schwindel an, fiel auf die Knie, stand auf, fiel und kroch zu Matti. Dessen Gesicht war rot und schwarz. Aus der Nase rann Blut. Sie kroch zu Twiggy, dessen Gesicht nicht besser aussah, ein Auge schwoll zu. Sie fand ihr Handy in der Hosentasche, verfehlte die Tasten, brach ab, verfehlte wieder die Tasten, dann schaffte sie es endlich, den Notruf zu wählen. Sie stotterte, als sie den Ort angab und kurz schilderte, dass es sich um drei Verletzte handelte. »Zusammengeschlagen«, sagte sie.

»Dann schicken wir auch die Polizei.«

Der Notarzt, zwei Rettungswagen sowie eine Bullenkarre erschienen gleichzeitig und mit Sirenengeheul. Jeweils zwei Sanitäter hoben Twiggy und Matti auf Tragen und schoben diese in die Laderäume. Der Notarzt eilte zum Bullenauto und redete auf die beiden Beamten ein, die daraufhin in ihrem Passat sitzen blieben. Zuletzt beäugte der Notarzt, ein kleinwüchsiger Dickwanst, Dornröschen und verordnete ihr den sofortigen Transport ins Urban-Krankenhaus, die eigentlich zuständige Notaufnahme sei überfüllt wegen einer Massenschlägerei in der M 10. »Sie haben mindestens einen Schock.«

»Aber nur, wenn ich mit meinen Freunden in einem Dreierzimmer untergebracht werde.«

»Bei uns gibt es keine Sonderwünsche …«

»Sie wollen sagen, weil ich nicht privat versichert bin, können Sie so mit mir umspringen? Ich trete auf der Stelle in einen Hungerstreik und bleibe hier sitzen.«

Die beiden Rettungswagen fuhren ab. Die Bullen stellten sich vor Dornröschen. »Wann können Sie Ihre Aussage machen?«

»Wenn ich wieder gesund bin. Lassen Sie mich in Ruhe.«

Der Notarzt hielt ein Handy ans Ohr und begann zu reden, während er Dornröschen den Rücken zukehrte und ein paar Schritte Abstand einlegte. Dornröschen hörte nur ein paar Wortfetzen. »Schwierige Patientin … psychisch angeschlagen … räumen Sie vielleicht ein Zimmer frei … für den Heilungsprozess …«

Er trennte das Gespräch, sah Dornröschen neugierig an und nickte.

Sie fuhr auf dem Beifahrersitz ins Urban-Krankenhaus in der Dieffenbachstraße. Der Notarzt schickte sie zur Rettungsstelle. Dort musste sie vor einem Glaskasten warten, darin eine Frau unbestimmbaren Alters, die mit einer Weißbekittelten hinter dem Tresen verhandelte. Rechts standen Bänke, drei Männer warteten, einer blätterte in der Bunten. Dornröschens Kopf dröhnte, Oberarm und Schulter schmerzten. Sie hörte nur, dass die beiden im Glaskasten miteinander sprachen, aber verstand nicht, was. Es dauerte und dauerte. Die Schmerzen wurden stärker. Schließlich zog die Frau ein Portemonnaie aus ihrer Handtasche, entnahm einen Geldschein und schob ihn über den Tresen. Dabei redete sie auf die Krankenschwester ein. Dornröschen begriff, dass sie länger Schmerzen erlitt, weil die beiden Frauen im Glaskasten über die Praxisgebühr stritten. Als ihr schwindelig wurde und sie gerade an die Tür klopfen wollte, drehte die Frau sich um und öffnete mit Grabgesicht die Tür. Sie schlüpfte an Dornröschen vorbei, der Geruch von Schweiß wehte.

»Ich bin gleich fertig«, sagte die Krankenschwester, als Dornröschen am Tresen stand. Die Schwester füllte so umständlich wie seelenruhig ein Formular aus.

»Ja?«

Dornröschen reichte ihre Versicherungskarte über den Tresen und legte zehn Euro auf den Tisch.

»Um was geht es?«

»Der Notarzt hat mich hergeschickt.«

»Ach, Sie sind das.« Sie musterte Dornröschen, als wäre sie ein exotisches Tier.

Sie tippte etwas in die Tastatur ihres Computers. »So, da ist der Wartesaal.«

»Mir ist schwindelig«, sagte Dornröschen.

»Setzen Sie sich dort hin, Sie werden abgeholt.«

Dornröschen ging zu den Bänken und setzte sich. Die Schmerzen waren übel. Dornröschen hätte nie gedacht, dass jemand so kräftige Hände haben konnte. Sie versuchte die Schulter zu bewegen, aber es tat höllisch weh.

»Frau Damaschke!« Eine Stimme irgendwoher.

Dornröschen erhob sich und trat in den Gang. Weit hinten eine Krankenschwester, die ihr den Rücken zukehrte und wegging.

»Meinen Sie mich?«

Die Frau winkte über der Schulter, ohne sich umzudrehen. Dornröschen folgte ihr in einen Raum, in dem mehrere Liegen standen, dazu elektronische Geräte, Spritzen, Verbandszeug, Ampullen. Zwei Männer lagen auf Pritschen, dem einen nahm eine Pflegerin Blut ab.

»Dahin«, sagte die Frau und deutete auf eine Pritsche.

Dornröschen legte sich vorsichtig hin. Sie verzog das Gesicht.

Die Krankenschwester schob einen Sichtschutz neben Dornröschens Pritsche.

»Wir müssen Ihnen Blut abnehmen!«, sagte sie im Befehlston. »Das ist hier Routine.«

»Ich wusste gar nicht, dass Sie vollständige Sätze sprechen können«, sagte Dornröschen. »Guten Tag übrigens. So viel Zeit ist immer.«

Die Schwester, klein, schlank, schwarzhaarig, starrte sie an, drehte sich weg und kam mit einer Kanüle zurück. Sie desinfizierte Haut am Handgelenk, legte einen Riemen um den Oberarm und zog ihn fest. Dann stach sie mit der Kanüle in die Haut. Sie schaute auf die Stelle und schüttelte den Kopf. »Da ist nichts.« Sie zog die Kanüle heraus und legte sie auf einen kleinen Tisch. Sie desinfizierte nun eine Stelle in der Armbeuge, tastete nach der Vene und pikte mit der Kanüle hinein. »Das ist provisorisch. Die legen Ihnen nachher eine am Handgelenk«, sagte sie.

»Danke fürs Perforieren«, erwiderte Dornröschen und erntete einen verständnislosen Blick.

Die Schwester zog Blut in Spritzen, stellte die Röhrchen in einen Ständer auf einem Wandtisch und verschwand.

Ein Krankenpfleger schob eine Trage in den Raum. Darauf ein alter Mann, der vor sich hin jammerte. Er sagte etwas auf Türkisch, der Krankenpfleger zuckte mit den Schultern.

Dornröschen schloss die Augen, der Schmerz pochte überall, aber besonders die Schulter schien geschwollen und durchsetzt mit Rasierklingen. Sie bewegte sich vorsichtig, um eine Position zu finden, die erträglich war, aber die Schulter ließ sich nicht beruhigen. Als sie die Augen öffnete, blickte sie ins Gesicht eines jungen Mannes mit schwarzen Haaren und Kinnbart.

»Ich bringe Sie jetzt aufs Zimmer«, sagte der Mann und schob die Pritsche aus dem Raum. Die Krankenschwester saß neben dem stöhnenden Türken, die Kanüle in der Hand.

Der Mann steuerte die Trage durch ein Labyrinth von Gängen. Als Dornröschen fürchtete, die Kurverei ende nie, rollte der Mann sie auf einen Flur hinter einer Glastür und bremste vor einem Tresen. Dahinter saßen an Schreibtischen ein Pfleger und eine Schwester. Der Schieber trat an den Tresen und gab dem Pfleger ein Papier. Der blickte drauf und grinste. »Die Neun«, sagte er. Der Schieber rollte wieder los mit Dornröschen, um nach ein paar Metern anzuhalten, eine Tür zu öffnen und Dornröschen hineinzuschieben.

Twiggy lag am Fenster, sein Gesicht zeigte alle Farben und noch ein paar mehr. Matti kauerte in seinem Bett an der Wand und starrte sie an, die Augen geschwollen, Platzwunden an Stirn und Kinn und bunter gescheckt als ein Papagei. Das Bett in der Mitte war frei.

»Können Sie allein aufstehen?«, fragte der Schieber.

Mit zusammengebissenen Zähnen rollte sich Dornröschen von der Trage, der Schieber fasste sie am Arm, was Dornröschen durch ein knappes Bellen abwies. Der Mann guckte verwirrt, dann rollte er seine Trage hinaus.

Dornröschen quälte sich ins Bett, und als sie lag, sagte sie leise: »Hallo, Jungs.«

Matti stöhnte. »So eine Scheiße.«

Twiggy guckte nur. Er sah richtig übel aus.

»Was ist mit dir?«, fragte Dornröschen.

Twiggy versuchte zu grinsen, aber es schmerzte. »Die wollten doch nur spielen«, seufzte er.

»Wie gut, dass die es nicht ernst meinten«, sagte Matti. »Da haben wir ja richtig Glück gehabt.«

Sie lagen zwei Stunden, und nichts geschah. Zweimal klingelte Dornröschens Handy, aber sie ging nicht ran. Die Tür wurde aufgestoßen, es erschien eine lange, dürre Krankenschwester, blickte sich um, zog eine Grimasse und stellte sich neben Twiggys Bett. »Sie müssen operiert werden, es gibt da Absplitterungen. Keine große Sache. Aber wir können Sie jetzt reinschieben in den OP-Plan. Können Sie das anziehen?« Sie hielt ein hinten offenes Nachthemd in der Hand.

»Wie soll er das anziehen?«, sagte Dornröschen. »Sehen Sie nicht, wie der Mann aussieht?«

Die Schwester sagte »Pö« und verschwand. Dreißig Sekunden später erschien ein Pfleger und gab Twiggy Formulare. »Die müssen Sie lesen und ausfüllen!«

»Können Sie mir mal verraten, wie mein Freund das lesen und ausfüllen soll? Der kann doch gar nicht gucken«, sagte Dornröschen.

»Ist Vorschrift«, sagte der Pfleger. »Ich hab die nicht erlassen.«

»Mann, haben Sie keine Augen im Kopf?«, schnauzte Dornröschen.

»Ist ja gut«, sagte der Pfleger. »Ich leg’s mal dahin.« Er verschwand wieder.

Den nächsten Auftritt hatte ein Mann, der sich als Oberarzt vorstellte. Er beugte sich über Twiggys Gesicht, lächelte, tätschelte ihm die Schulter und sagte: »Das kriegen wir wieder hin. Tut jetzt weh, ist aber eine Kleinigkeit.« Er tätschelte noch einmal und trat ab.

Nun erschien eine Schwester. »Wir müssen gleich runter in den OP mit Ihnen. Haben Sie das gelesen und unterschrieben?« Sie nahm die Papiere, blickte darauf und schaute Twiggy enttäuscht an.

»Wie soll der das lesen und unterschreiben?«, fragte Dornröschen scharf.

Die Schwester blickte verunsichert zu Twiggy, dann zu Dornröschen und verschwand.

Es trat ein Pfleger ein. »Sie müssen dringend in den OP …«

»Jetzt hören Sie auf!«, schrie Dornröschen. »Was ist das denn für ein Affenstall. Alle zwei Sekunden stürzt hier einer rein und redet Blech. Schieben Sie meinen Freund in den OP. Die Dreckspapiere unterschreibe ich Ihnen, und zwar jetzt! Geben Sie sie her!«

»Das geht nicht«, sagte der Mann, »die sind für die Versicherung.«

»Aber Sie sehen doch, dass der weder lesen noch schreiben kann! Sind Sie blind?«

Der Pfleger warf Dornröschen einen verzweifelten Blick zu.

»Sie würden ihn verrecken lassen, wenn er diese elenden Papiere nicht unterschreibt«, stöhnte Matti. Er stützte sich auf die Ellbogen und hob seinen Oberkörper ein paar Zentimeter an. Er wäre am liebsten aufgestanden und hätte das Krankenzimmer zerlegt und die Glotze, die an der Wand hing, zum Fenster hinausgeworfen. »Hören Sie endlich auf mit diesem Unsinn. Operieren Sie, die Unterschriften kriegen Sie dann, wenn mein Freund wieder lesen kann. Oder wollen Sie, dass der blind unterschreibt? Wenn hier einer reinkommt mit Augenverletzungen, führen Sie ihm die Hand bei der Unterschrift, oder was?« Matti sank zurück auf die Matratze.

Der Pfleger schüttelte den Kopf und sagte nichts. Er zögerte, endlich verließ er den Raum.

»Ich dachte, es sei eilig mit der Operation!«, rief Matti ihm nach.

»Eilig haben die es nur mit der Abrechnung«, sagte Dornröschen.

Twiggy schnaufte.

Ein Assistenzarzt erschien, wie sein Namenschild verriet. »Sind Sie immer noch nicht fertig?«

»Mit was?«, fragte Dornröschen.

Der Arzt verschwand und hinterließ nur das Leuchten seiner roten Haare.

Der Schieber öffnete die Tür und trat an Twiggys Bett. »Wir müssen jetzt aber los. Die im OP drängen schon.« Er schob den Wagen zur Tür.

Zwei Weißkittel und eine Frau in hellblauem Krankenhausanzug traten ein und stellten sich vor das Rollbett.

»Halt«, sagte die Frau. »Noch nicht.«

Der Schieber bremste abrupt. Twiggy stöhnte leise.

»Ich bin von der Dokumentation«, sagte die Frau. Sie trug einen Stapel Papier in der Hand und einen Kugelschreiber. »Wenn Sie hier« – sie deutete auf das Papier – »keine Angaben machen …«

Ein Kissen kam geflogen und traf die Frau im Gesicht. Begleitet wurde der Treffer von einem Schrei, in dem sich Schmerz und Wut mischten. »Halten Sie endlich die Schnauze!«, brüllte Matti. »Schieben Sie meinen Freund in den OP, und zwar jetzt, wenn Sie verhindern wollen, dass ich aufstehe und Sie erwürge!« Ein Aufstöhnen, und Matti legte sich wieder hin.

Schweigen.

Die hellblaue Frau zog ein beleidigtes Gesicht und verschwand.

Der Schieber startete erneut. Die Tür sprang auf, und ein weißhaariger Mann mit wehendem Kittel trat ein, bremste abrupt, schaute sich um, starrte auf einen Zettel in seiner Hand, blickte sich wieder um, bis seine Augen bei Matti hängen blieben. »Sie sind Herr Dehmel?« Er wippte auf den Fußballen.

Matti deutete zu Twiggy.

Der Kittel trat an dessen Bett. »Warum sind Sie noch nicht im OP?«

Ein Schrei, grell, laut, markerschütternd. Alle erschraken, außer Dornröschen, die ihn ausstieß, nachdem sie sich gesetzt hatte. Der Kittel glotzte sie an mit offenem Mund.

Der Schrei brach so unvermittelt ab, wie er erklungen war. »Sie sorgen dafür, dass mein Freund jetzt operiert wird«, sagte Dornröschen leise und gefährlich. »Und wenn hier noch einmal jemand auftaucht mit irgendeinem Formular in der Flosse, und wenn noch ein einziges Mal jemand meinen Freund etwas fragt, zerleg ich diesen Scheißladen hier.«

»Warum haben die uns verprügelt?«, fragte Matti, nachdem Twiggy hinausgeschoben worden war.

»Blöde Frage«, sagte Dornröschen leise. »Wir sind auf der richtigen Spur. Spiel und Rademacher hetzen uns Schläger auf den Hals. Sie haben auch Rosi die Typen geschickt. Nur, Rosi haben sie umgebracht. Vielleicht war es ein Versehen?«

»Glaub ich nicht. Die wissen, was sie tun. Das war die letzte Warnung. Wenn wir nicht aufhören, bringen sie uns auch um. Wie Rosi. Die haben sie nicht gewarnt.«

»Was du so alles weißt.«

Sie schwiegen. Mattis Augen folgten der wirren Flugbahn einer Motte, bis die schließlich an der Wand gegenüber landete, neben der Glotze. Matti spürte die Schmerzen stark, wenn er sich bewegte. Er war schläfrig, das Schmerzmittel im Tropf wirkte. In seinem Kopf gewann die Gleichgültigkeit die Oberhand über Wut und Rachedurst.

»Wir können das nicht auf uns sitzen lassen«, sagte Dornröschen.

»Du glaubst nicht, was wir schon so alles auf uns sitzen gelassen haben …«

»Was meinst du damit?« Dornröschen war hellwach.

Matti hatte unendlich viel Lust zu schlafen. Es war doch alles egal. »Deine Scheißtelefonate«, murmelte er.

»Was?«

»Scheißtelefonate.«

Sie antwortete nicht, und Matti war es sowieso egal.

Und als zwei Bullen kamen, um sie zu vernehmen, hatten sie fast alles schon vergessen.