15: The Police Will Never Find You
Sie gingen zur Admiralbrücke und setzten sich aufs Geländer. Auf dem Bürgersteig saß eine junge Frau mit Ponyfrisur und las. Auf dem Mittelstreifen hockten im Kreis Männer und zwei Frauen, einige hatten Mützen auf. Die Sonne weichte den Teer auf. Ein Ausflugsschiff, weißer Rumpf, hellblaue Reling, zog unter der Brücke durch, auf dem oberen Deck Touristen dicht an dicht, die Lautsprecherstimme des Stadtführers klang hallig. Irgendwo das Geheul eines Krankenwagens. Eine Gruppe von älteren Touristen aus Asien zog sich wie eine Kolonne über die Brücke und verschwand in der Grimmstraße. Zur Admiralstraße hin glänzten prächtige Fassaden im Sonnenschein. Auf dem Kopfsteinpflaster des Fraenkelufers, gegenüber vom Casolare, holperte der Kleintransporter eines Klempners, die Sonne spiegelte sich im Lack.
»Der Chef hat wahrscheinlich recht«, sagte Dornröschen. »Wenn er es nicht war, dann diejenigen, die am meisten leiden unter dem Krach hier und unter der Ini. Wahrscheinlich haben sie Rosi nicht zufällig hier auf der Brücke drapiert. Als Abschreckung. Hat aber nur kurz geholfen.«
Die Umrisszeichnung der Kriminaltechniker war verblasst und als solche nur erkennbar, wenn man sie frisch gesehen hatte.
»Glaubst du, dass ein Anwohner mir eine Bombe ins Taxi gebaut hat?«
»Nein, die haben jemanden beauftragt. Den Rumänien und offenbar nicht nur den«, sagte Twiggy.
Ein Mann zog eine Gitarre aus ihrer Hülle, ein zweiter, klein, dick und glatzköpfig, wartete mit dem Tamburin. Ein dritter Typ näherte sich, eine Geige in der Hand. Dann erschien der vierte mit einem Kontrabass.
»Die kommen bestimmt vom Türkenmarkt am Maybachufer«, sagte Twiggy.
Süßliche Rauchschwaden zogen vorbei.
Die Band begann zu musizieren, irgendein ein seifiges Sinatrastück. Im Haus an der Ecke Admiralstraße/Fraenkelufer knallte ein Fenster zu.
»Würde ich hier wohnen, ich würde wahnsinnig«, sagte Dornröschen.
Patty Smith schrie gegen Sinatra an, Dornröschen blickte auf die Anzeige und nahm das Telefon zögerlich ans Ohr.
»Kannst du später anrufen? … Das verstehst du nicht … Ich bin gerade mit was Wichtigem beschäftigt … Wenn du das nicht verstehst, tut’s mir leid.« Sie steckte das Handy in ihre Hosentasche.
Ein Floß tuckerte vorbei, auf dem Dach am Heck die Flagge der Piratenpartei. Die Schwäne wichen gelassen aus, keinen Zentimeter zu viel, um dann wieder in Kiellinie in Richtung Paul-Lincke-Ufer zu schwimmen. Auf der anderen Seite in der Ferne der Fernsehturm auf dem Alex im Schatten der Dämmerung.
»Wie geht’s weiter?«, fragte Twiggy. »Sollen wir die Anwohner befragen?«
»Irgend so was«, sagte Matti.
»Wir können nicht einfach die Leute anquatschen. Wir brauchen eine Legende, etwas, das sie bereit macht, mit uns zu reden«, sagte Dornröschen. »Oder wie stellt ihr euch das vor?«
»Ist ja gut«, erwiderte Matti.
»Jemand eine Idee?«, fragte Dornröschen.
»Wir sind die Kassierer der Killertruppe«, schlug Twiggy vor.
»Genial«, sagte Matti.
»Genau«, bestätigte Dornröschen.
»Die werden schon bezahlt haben und ziemlich böse werden. Oder Angst kriegen«, sagte Twiggy. Er klang ein bisschen stolz.
»Ein Versuch wäre es wert, die Bullen holen können sie ja nicht.« Matti grinste. »Feine Pinkel ärgern lohnt sich immer, sogar wenn dabei nichts herauskommt.«
Die Band wurde lauter, offenbar hatten die Musiker sich gefunden. Ein Hut lag vor ihnen auf der Straße. Ein alter Mann führte zwei sabbernde Bulldoggen vorbei. Ein Mercedes bahnte sich den Weg über die Brücke. Irgendwo brüllte ein Betrunkener wirres Zeug. Eine Flasche klirrte.
»Aber er hat nichts gebracht, der Mord«, sagte Matti.
»Die Ini ist wohl mausetot, immerhin«, sagte Dornröschen. »Vielleicht wurde Rosi vor allem deswegen umgebracht.«
»Und ihre Leiche wurde hier ausgestellt, weil die Leute dort erschreckt werden sollten«, erklärte Matti.
»Oder sie planen schon den nächsten Schlag, bis endlich Ruhe ist.« Twiggy rutschte vom Geländer und guckte aufs Wasser.
Am nächsten Abend zogen Matti und Twiggy schwarze Klamotten an. Twiggy trug eine Aktentasche, in der man alles Mögliche vermuten konnte. Je nach Lage auch eine Maschinenpistole. Dornröschen musste zu Hause bleiben, bei Berufsmördern gibt es keine Frauenquote.
Twiggy drückte die Erdgeschossklingel am Eckhaus Fraenkelufer/Admiralstraße. Dr. Ingmann stand da.
»Ja bitte?«
»Wir müssen Sie sprechen, Inkasso.«
»Was heißt Inkasso?«
»Wir müssen mit Ihnen über eine Rechnung sprechen.«
»Was für eine Rechnung?«
»Aus Bukarest.«
»Verschwinden Sie!«
Die Klingel darüber gehörte einem K. Adam.
»Ja?«
»Inkasso Bukarest«, sagte Matti.
»Wie bitte?«
»Inkasso Bukarest.«
Es summte.
Twiggy drückte die Haustür auf, und sie stiegen die Treppe hoch zum ersten Stock.
Auf der Fußmatte stand Willkommen, in der halb geöffneten Tür wartete ein groß gewachsener Mann in einem Holzfällerhemd und musterte sie misstrauisch.
»Guten Tag«, sagte Matti.
»Guten Tag?«
»Vielleicht können wir die Angelegenheit in Ihrer Wohnung besprechen?«, fragte Matti.
»Nur in Anwesenheit der Polizei. Sie vertreten ein Inkassounternehmen aus Bukarest?
»Nein, das ist ein Missverständnis«, sagte Matti. »Wir sollen im Auftrag des Wendland-Verlags Abonnementkunden daran erinnern, ihre Rechnung zu bezahlen.«
»Was für ein Verlag?«
»Wendland-Verlag.«
»Und was verlegt der?«
»Den Hecht-Angler, das Brevier für Teichfische und so weiter.«
Herr Adam musterte die beiden Herren und grinste erleichtert. »Ich kenne diese … Blätter nicht.« Es klang so wie: Absurder geht’s nicht. Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür.
Während sie die Treppe hochstiegen, fragte Twiggy: »Und woher hast du gewusst, dass der Typ keine Hechte angelt?«
»Das sieht man doch, oder?«
Twiggy prustete los. »Das Gesicht, ich lach mich schlapp. Er hätte doch einen Teich haben können … Da hätte ich dich mal sehen wollen.«
»Ich lass den Schornsteinfeger nur nach schriftlicher Anmeldung in meine Wohnung!«, kreischte die Oma. Sie guckte die beiden Männer misstrauisch durch ihre Goldrandbrille an, ihr hochgestecktes graues Haar wippte.
»Gut, Sie finden dann unseren Zettel im Briefkasten«, sagte Twiggy.
»So, wie es sich gehört. Es passiert ja so viel. Berlin ist eine Stadt des Verbrechens geworden. Früher, ja früher wäre das nicht möglich gewesen.«
Sie verzichteten darauf herauszufinden, was früher möglich gewesen wäre, und zogen weiter.
Hermann Otto stand auf dem Messingschild, das auf der Wohnungstür prangte. Herr Otto öffnete gleich und schaute sie neugierig an. Matti musste seinen Blick nach unten richten und blickte auf eine Glatze, die seitlich von grauen Bürstenhaaren begrenzt war. Kleine Augen blickten ihn neugierig und ein bisschen ängstlich an. Draußen dröhnte eine Trommel.
»Wir sind vom Inkassobüro Bukarest«, sagte Twiggy und baute sich auf, was aber nicht nötig gewesen wäre. Otto duckte sich fast.
»Ich habe damit nichts zu tun«, sagte er.
»Vielleicht besprechen wir es in Ihrer Wohnung?«, fragte Twiggy.
Otto erschrak und schloss die Tür.
Sie standen ein paar Sekunden schweigend da. Dann klopfte Twiggy an die Tür. Matti ahnte, dass Otto dahinter lauschte. Er stellte sich direkt an die Tür und flüsterte: »Herr Otto, Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir wollen nichts von Ihnen außer einer kleinen Auskunft. Sie schulden uns nichts.«
Ein Schlurfen zeigte Matti, dass Otto sich in seiner Wohnung verkrümelte.
Die nächsten beiden Türen öffneten sich nicht, ganz oben trafen sie auf eine junge Frau, die Matti für eine Studentin mit reichen Eltern hielt, ganz hübsch mit langen braunen Haaren und einem offenen Lächeln und gekleidet wie jemand, der nicht aufs Geld gucken musste: Löcherjeans, Unbezahlbar-T-Shirt und Riemenschühchen, deren Preis umgekehrt proportional zu ihrer Größe war. Sie war ahnungslos, jedenfalls was das Inkassobüro betraf.
Sie tranken einen Kaffee in einer Eisdiele an der Ecke Grimmstraße/Böckhstraße. Ein Moped knatterte in Richtung Brücke. Der Touristenstrom hatte keinen Anfang und kein Ende. Ein paar junge Typen zogen vorbei, zwei mit lächerlichen Hüten. Sie schrien, es klang Dänisch. Jeder trug eine Flasche, und immer wieder tranken sie.
Matti setzte die Tasse ab. »Die Einzigen, die was von dem Idiotentanz haben, sind die Kneipen. Aber von denen gibt es hier auch genug.«
Eine Trompete trötete über die Straße, geblasen von einem betrunkenen Dilettanten.
»Den zieht’s zum Maybachufer, auf diesen Musikerplatz oder wie man das nennen soll beim Türkenmarkt. Die Anwohner dort kriegen bestimmt auch zu viel. Und bei dem auch die Zuhörer.« Twiggy hatte die Hände auf den Bauch gelegt und streckte die Beine von sich.
»Also, dieser Otto, der weiß was«, sagte Matti.
»Ja.« Twiggy blinzelte in die Sonne. »Oder er ist hysterisch.«
»Ob wir dem noch mal auf die Pelle rücken sollen?«, fragte Matti. »Vielleicht rennt er jetzt zu einem anderen, der mit drinhängt.«
»Irgendwann wurde das Telefon erfunden, aber da hast du gerade gepennt«, brummte Twiggy.
Im Nachbarhaus öffnete im Erdgeschoss eine Dame in einem grauen Kleid. Matti hätte sich nicht gewundert, wenn sie ein Krönchen getragen hätte. Er sagte den Spruch vom Bukarest-Inkasso auf.
»Nun, junger Mann, Sie sind an der falschen Adresse. Ich habe mit dieser – wie hieß sie noch einmal? – Bulgarien-Inkasso nichts zu tun. Ich mache mit solchen Leuten keine … Geschäfte.« Matti begriff, dass sie Geschäfte überhaupt unfein fand.
»Diese Leute da draußen« – Twiggy deutete in Richtung Admiralbrücke –, »die stören Sie gar nicht?«
»Wie kommen Sie darauf?« Ihre Stimme hob sich. »Ich finde diese Menschen … ich weiß nicht, was ich sagen soll … so unnütz. Sitzen herum, machen Lärm, betrinken sich … Was für einen Sinn soll das haben?«
»Und Sie haben sich nicht überlegt, wie Sie diese Belästigung loswerden können?«, fragte Twiggy.
Sie zog die Mundwinkel nach unten. »Ich habe sooft die Polizei gerufen, Sie glauben es nicht. Die kam dann, dann war es einen Augenblick ruhig, aber als sie weggefahren war, ging es wieder los, manchmal lauter als zuvor.«
»Sie haben nie daran gedacht, dass es vielleicht andere Möglichkeiten gibt?«, fragte Matti.
Sie fixierte Matti durch ihre strenge Brille, dann Twiggy. »Als diese Leiche dorthin gelegt worden war, da war eine Weile Ruhe. Das hat die Leute schon beeindruckt. Aber die Wirkung war bald verpufft.«
»Dann hat die Leiche ja nicht lang geholfen«, sagte Matti.
»Ja, leider. So, jetzt muss ich mich wieder meinen Dingen widmen.« Sie drehte sich um und drückte die Tür leise zu.
»Hm«, sagte Twiggy. »Ein Seelchen.«
Hermann von Weidenfels hatte ein gegerbtes Gesicht wie ein Bauer und schwarze Haare. Der Bauch spannte ein weißes Hemd, über dem er eine braune Lederweste trug. »Ich habe doch gesagt, dass ich bezahle«, polterte er, nachdem Matti sie vorgestellt hatte, und knallte die Tür zu.
Twiggy donnerte an die Tür. Nach einer Weile öffnete sie sich. Weidenfels hatte ein langes Messer in der Hand und stierte sie an. Er winkte sie herein und ging ein paar Schritte rückwärts, das Messer in der Hand. »Sie bleiben da stehen.«
»Wir wollten …«
»Ich bezahle, wenn ich es kann. Ich kann mir das Geld nicht aus den Rippen schneiden. Verstanden?«
Matti hob beschwichtigend die Hände. »Wir wollen Ihnen nichts tun.«
»Hahaha«, lachte er gekünstelt. »Sobald ich das hier weglege« – ein Blick aufs Messer –, »brechen Sie mir die Finger und prügeln mich halb tot.«
»Wir prügeln nie.«
Er lachte wieder. Es klang wie ein Hüsteln. »Ich habe Mecki gesagt, dass ich meine Schulden bezahle, obwohl ich es nicht müsste. Spielschulden sind Ehrenschulden. Aber mit Ehrenmännern hat man es ja dabei nicht zu tun.«
Matti und Twiggy wechselten einen Blick. Matti las eine Frage.
»Sie verwechseln uns«, sagte er. »Wir interessieren uns nicht für Ihre Spielschulden, und einen Mecki kennen wir auch nicht.«
Der Typ glotzte.
»Wir interessieren uns für die Leiche auf der Admiralbrücke«, schnauzte Twiggy.
»Die Leiche …«, stammelte Weidenfels.
»Die Leiche!«
»Wollen Sie mir drohen?« Er fuchtelte mit dem Messer herum.
»Nein, wir wollen eine Auskunft!«, schrie Twiggy.
Der Typ riss die Augen auf und bekam sie nicht mehr zu. Jedenfalls für eine Weile.
»Wir wollen wissen, wer im Haus dafür geworben hat, Leute dafür zu bezahlen, dass sie für Ruhe sorgen. Draußen auf der Brücke ist der Teufel los, und da hat jemand gesagt: Ich kenne eine Lösung. Die kostet zwar was, aber Ruhe kriegt man nicht umsonst. Verstehen Sie?« Matti sprach wie mit einem Kind nach der Tobsuchtsphase.
»Für Ruhe sorgen …«, sagte Weidenfels. Er blickte die beiden noch einmal an. »Sie gehören zu denen, die für Ruhe sorgen wollten?«
»Ja«, sagte Twiggy.
»Na, das hat ja toll geklappt!«, bellte Weidenfels.
Es donnerte von oben. Weidenfels blickte zur Decke und brüllte: »Halt’s Maul da oben!« Sein Blick sprang zu Twiggy. »Haben Sie die tote Frau da hingelegt?«
Twiggy wackelte mit dem Kopf.
»So, so.«
»Da hat was mit der Bezahlung nicht geklappt«, sagte Matti betont ruhig.
»Ist ja kein Wunder! Gucken Sie raus, da sehen Sie den Trubel. Erst die Leistung, dann das Geld. Oder?«
»Gewiss, gewiss. Wir wollen nicht kassieren, ohne die vereinbarte Leistung erbracht zu haben«, sagte Matti.
»Sie haben also dieses Mädchen umgebracht?«
Diesmal wackelte Matti mit dem Kopf.
»Ja oder nein!«
»Es gab hier jemanden, der erklärt hat, er würde das Problem für die Hausgemeinschaft lösen. Einer, der Probleme löst, die die … Polizei nicht löst«, sagte Matti.
»Ein Problemlöser also«, sagte Weidenfels erstaunlich sachlich.
»Ein Problemlöser«, erwiderte Twiggy.
»Ich dachte, Sie wären das?« Er guckte die beiden verblüfft an.
»Nein, wir treiben offene Rechnungen ein, sonst nichts«, sagte Twiggy.
»Das heißt, jemand mordet, und Sie sorgen dafür, dass derjenige sein … Honorar erhält.« Er beäugte sie wieder genau.
»Mord?« Twiggy schüttelte lächelnd den Kopf. »Mit so etwas haben wir nichts zu tun. Wir treiben Rechnungen ein von Firmen, die uns nachweisen, dass sie offene Forderungen haben. Selbstverständlich würden wir niemals rechtswidrige Geschäfte unterstützen.«
»Selbstverständlich.« Weidenfels grinste. Er kratzte sich mit der Messerspitze am Ohr.
Twiggy beobachtete ihn genau. Und Matti begriff, was Twiggy plante.
»Und was wollen Sie jetzt von mir?«, fragte Weidenfels. Er klang immer selbstsicherer.
»Da wurde eine Rechnung nicht bezahlt, und Sie stehen auf einer Liste von Schuldnern«, sagte Matti. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen noch erklären soll.«
»Wie hoch ist der Betrag, den ich Ihnen schulde? Und wie viele Mitschuldner habe ich denn?«, fragte Weidenfels und guckte Matti triumphierend an. Er sah so aus, als wollte er sagen: Jetzt stelle ich die Fragen, ihr Flaschen.
In diesem Augenblick traf ihn Twiggys Rechte am Kinn. Weidenfels rülpste, glotzte und brach zusammen. Das Messer klirrte auf den Steinboden. Matti nahm es und legte es in die Schublade der Spiegelkommode.
»Wie lang schnarcht der jetzt?«, fragte er.
»Siebenundfünfzig Minuten und dreizehn Sekunden«, antwortete Twiggy.
»Genug Zeit, sich umzusehen«, sagte Matti. »Vielleicht hat er irgendwo Paketklebeband.« Er fand es im Wohnzimmer, wo in einer Ecke ein Sekretär stand, eher auf alt getrimmt als antik, und fesselte Weidenfels’ Arme und Beine. Der röchelte einmal und atmete blubbernd aus.
Matti ging zurück zum Sekretär, Twiggy nahm sich das verschnörkelte Eichenregal vor. In den Schubladen fand Matti Korrespondenz, darunter Liebesbriefe eines Harald, der seinen Knubsi ganz schrecklich vermisst. Dann Bankauszüge, die aber auch nichts verrieten, außer dass der Hochwohlgeborene einen Haufen Miese hatte. In der oberen Schublade fand er ein paar Schwulenmagazine, wobei in dem einen Tipps und Tricks zum Analverkehr verraten wurden, das andere legte den Schwerpunkt auf Kleidung, die ihn scharf macht. Dazwischen Versicherungsurkunden, Geschäftsbriefe, Mahnungen. »Der Herr führt ein Reisebüro«, sagte Matti. »Komisch, der hat gar keinen PC. Stopp, hier steht ein alter Drucker, und Internet hat er auch.« Er zeigte Twiggy den Stecker eines Netzwerkkabels, dessen anderes Ende in einer Wandbuchse steckte.
Twiggy hatte fast alle Bücher durchgeblättert und ausgeschüttelt, aber herausgefallen war nichts außer einer Postkarte von Harald, der sich immerhin als treue Seele entpuppte.
Sie suchten gemeinsam weiter im Schlafzimmer, in dessen Mitte ein Himmelbett stand mit hellblauer Bettwäsche, auf der Märchenmotive abgebildet waren. Schneewittchen, Dornröschen, Hänsel und Gretel, diverse Riesen und Zwerge und die Bremer Stadtmusikanten.
Sie erschraken, als das Telefon schepperte. »Dieser Idiot hat sich auch das lauteste Klingeln ausgesucht und das blödeste, klingt wie auf dem Schrottplatz.« Die Anzeige verriet, dass aus Berlin angerufen wurde.
Als sie den Flur durchsucht hatten, wobei sie Weidenfels sorgsam umgingen, standen sie an der Wohnzimmertür und waren ratlos. Matti hatte eine Idee, aber fand sie nicht in seinem Hirn. Da war noch etwas, an das er ein paar Minuten zuvor noch gedacht hatte. Ach ja: »Diese Sekretäre haben doch Geheimfächer, oder?«
Twiggy tippte sich an die Stirn. Er betastete den Sekretär, dann legte er sich auf den Rücken und beäugte ihn von unten. »Na, das ist ja raffiniert«, lästerte er. Es klackte leise, und ein schmales Schubfach schnellte unter der Schreibtischplatte hervor. Darin fanden sie eine kleine Münzsammlung – »Der Herr fürchtet die Pfändung oder Diebe oder beides«, sagte Matti – und ein Blatt Papier. »Sein Testament«, knurrte Twiggy. »Der liebe Harald kriegt alles, wenn er unserem Gastgeber bis zum Ableben treu bleibt.«
»Viel Spaß mit den Schulden«, murmelte Matti.
Sie setzten sich aufs Sofa und ließen ihre Augen umherschweifen. Twiggy erhob sich und nahm eine Waldlichtung mit Hirschen von der Wand. Doch weder auf der Bildrückseite noch an der Wand entdeckten sie etwas.
»Ein Stino hat da gefälligst seinen Safe zu verstecken«, sagte Twiggy. »Wir finden hier nie was, da können wir uns auch eine Bulette ans Knie nageln und dran drehen, bis wir Radio Moskau kriegen.«
»Gibt’s Radio Moskau überhaupt noch?«
Weidenfels stöhnte. Matti und Twiggy guckten hinter die anderen Bilder, ein Luftbild vom Tiergarten, Porträts und Gruppenbilder – »Das ist bestimmt die Mama«, sagte Twiggy und deutete auf eine schwarz gekleidete Frau inmitten einer Gruppe von Kindern –, und auf einem Sideboard die Zeichnung eines nackten Jungen.
»Pädo?«, fragte Twiggy.
»Dem Kerl trau ich alles zu.« Er öffnete den Rahmen und fand einen gefalteten Zettel mit einer Telefonnummer. »Da haben wir ihn schon.«
Sie untersuchten die Küche, fanden nichts. Die Luxusespressomaschine war eingeschaltet, zwei Tassen warteten auf der Warmhalteplatte. Matti stellte sie unter die Doppeldüse und drückte auf einen Knopf. Mahlgeräusche verrieten, dass er den richtigen erwischt hatte.
Währenddessen fand Twiggy eine Milchtüte im Kühlschrank, wobei diese Bezeichnung eine fast schon beleidigende Untertreibung war. Es handelte sich um eine Kühl-/Gefrierschrank-Kombination in einer polierten Edelstahlhülle, in die ein Fach für einen Eiswürfelbereiter eingebaut war. »Fehlt nur die Glotze«, sagte Twiggy.
Sie setzten sich an den Tisch und tranken Kaffee. »Den haben wir an den Eiern«, brummte Twiggy vergnügt. »Wenigstens das.«
»Hilfe!«, stöhnte Weidenfels im Flur. Dann schrie er: »Hilfe!«
Twiggy ging zu ihm, und ein scharfer Blick genügte, ihn zum Schweigen zu bringen.
Matti stellte sich neben Twiggy und schaute auf den Fettklops hinunter. »Guck mal«, sagte er freundlich und winkte mit dem Zettel. »Kann man da kleine Jungs bestellen? Lecker!«
Weidenfels’ Augen weiteten sich. »Tja, das sind ein paar Jahre Knast, guter Mann. Ich weiß, ich weiß, die alten Griechen. Aber die sind pleite, die jungen Griechen auch. Und das mit den kleinen Jungs ist seit einiger Zeit verboten.« Er zog das letzte Wort in die Länge.
»Lass uns mal ein bisschen reden«, sagte Twiggy überfreundlich.
»Bindet mich los.«
»Die Hinterbeine ja, die Vorderflossen bleiben gefesselt.«
Matti holte das Messer aus der Schublade und schnitt das Klebeband an den Knöcheln auf. Mit Twiggys Hilfe erhob sich der Mann und stolperte mehr, als dass er ging, ins Wohnzimmer, um sich dort auf das Sofa fallen zu lassen.
»Auch einen Espresso? Feine Maschine«, sagte Twiggy.
Weidenfels schüttelte den Kopf. »Was muss ich tun, damit ihr mich nicht anzeigt?«
»Du könntest unsere Laune verbessern, wenn du erzählst, was du getan hast, um den Lärm draußen loszuwerden«, sagte Matti.
Die beiden hatten sich in die Sessel gesetzt, zwischen ihnen und Weidenfels stand ein lackierter Holztisch mit Goldrand und gedrechselten Rundbeinen.
Draußen sang einer so etwas wie eine Arie, begleitet von Gelächter.
»Sag mal, diese Telefonnummer führt direkt an die Quelle, oder?«, fragte Matti und spielte mit dem Messer.
Weidenfels starrte auf den Boden.
»Wenn wir das den Bullen geben …«
»Tut das nicht.«
»Also, wir versuchen es mit der Wahrheit. Noch einmal: Du wolltest den Krach loswerden …«
»Nein … oder doch. Aber ich habe nichts unternommen, nicht von mir aus.«
»Aber?«, fragte Twiggy.
»Da kamen zwei Typen, und die haben gefragt, ob mich der Trubel da draußen nicht stören würde.«
»Was für Typen?«
»Ich kannte sie nicht.«
»Und dann?«
»Ich hab gesagt, klar stört mich das. Das dringt sogar durch die Lärmschutzfenster, wenn es richtig abgeht. Und die Typen haben gesagt, wenn ich was springen ließe, sorgten sie für Ruhe. ›Wissen Sie, Ruhe ist doch ein Lebensbedürfnis, ein Menschenrecht, und das wird Ihnen vorenthalten‹, hat der eine gesagt.«
»Und Sie haben Ruhe bestellt?«, fragte Matti.
»Ich hab mir Bedenkzeit erbeten.«
»Haben die Typen gesagt, wie sie die Ruhe herstellen wollen?«, fragte Matti.
»Nein. Die waren ziemlich … von sich überzeugt. ›Wir stellen Ruhe her, und Sie bezahlen dafür.‹«
»Und Sie haben Bedenkzeit bekommen?«, fragte Twiggy.
»Ja, die wollten sich nach einer Woche wieder melden, aber ich habe nichts mehr von denen gehört.«
»Können Sie die beschreiben?«
»Weiß nicht.«
»Versuchen Sie es.«
»Sie trugen dunkle Anzüge, schwarz der eine, grau der andere. Maßgeschneidert. Feine Pinkel. Beide waren groß, größer als eins fünfundachtzig. Der eine war kräftig, trug lange Koteletten, der andere war sehr schlank. Beide trugen kurz geschorene Haare, beide schwarz. Der kräftigere hatte eine schmale Narbe am Kinn.« Er zeigte mit den gefesselten Händen, dass sie waagerecht verlief. »Der hatte ein richtig … kantiges Gesicht.«
»Sprachen die gutes Deutsch?«
»Ja, aber jetzt, wo du fragst, die kamen aus Osteuropa oder Russland. Aber ihr Deutsch war ziemlich gut.«
»Hast du keinen PC?«, fragte Matti.
Weidenfels stutzte und schüttelte den Kopf. »Hab ich … verkauft.«
»Du lügst. Gut, dann geben wir das den Bullen.« Matti winkte mit der Telefonnummer.
Weidenfels schloss die Augen. Die Stirn begann zu glänzen. Er hielt die Hände nach vorn, und nach einem kurzen Zögern schnitt Matti die Fessel durch. Weidenfels ging zum Sekretär, blickte sich um, warf Matti einen verzweifelten Blick zu, zuckte mit den Achseln und kniete sich nieder. Er griff in die Hosentasche und holte einen Schlüsselbund hervor. Er nahm eine Art Docht in die Hand, beugte sich unter den Schreibtisch und drückte in einer Ecke auf etwas. Ein Fach sprang hervor, wobei eine Stahlfeder metallisch schnalzte. Weidenfels entnahm der Schublade ein Notebook. Matti trat hinzu, holte eine Mappe heraus, nahm Weidenfels den PC ab und reichte ihn Twiggy. Der öffnete den Deckel. »Passwort?«
Weidenfels schluckte und nannte eine wilde Zahlen-Buchstaben-Kombination.
Twiggy vertippte sich einmal, dann schaffte er es. Der Windows-XP-Bildschirm öffnete sich. Twiggy tippte und klickte, dann stieß er schon auf eine gewaltige Sammlung von kinderpornografischen Fotos und Filmen. »Du bist eine Sau«, sagte Twiggy und klappte den Computer zu.
»Verratet mich nicht«, winselte Weidenfels. »Das bringt mich für Jahre in den Knast.«
»Darüber sprechen wir später«, sagte Matti barsch. »Du kannst deine Lage verbessern, wenn du uns alles sagst, was du über diese Typen weißt.«
Weidenfels dachte nach. Seine Hände zitterten, der Kopf war schweißnass. »Ihr dürft mich nicht verraten.« Seine Stimme zitterte.
»Darüber reden wir später«, wiederholte Matti. »Jetzt spuck’s aus.«
Weidenfels blickte verängstigt von einem zum anderen, rieb sich die Stelle, wo Twiggy ihn getroffen hatte, und sagte: »Sie fuhren einen Benz, E-Klasse, schwarz, Berliner Kennzeichen.«
»Toll, davon gibt’s auch nur einen«, sagte Twiggy.
»Der stand mit laufendem Motor vor dem Haus, und hinterm Steuer saß noch so ein Typ. Aber erkannt habe ich den nicht.«
»War das alles?«, fragte Matti.
»Ja.«
»Und du hast mit niemandem im Haus über die Leute gesprochen?«
Weidenfels schwieg eine Weile. »Mit der Frau in der Etage oben.«
»Und wie heißt die Dame?«, fragte Matti ungeduldig.
»Fadenschein«, sagte Weidenfels.
»Was für ein schöner Name«, sagte Matti.
»Und jetzt reden wir über … mich«, quengelte Weidenfels.
»Mehr weißt du nicht?« Matti starrte ihn böse an.
Weidenfels schüttelte den Kopf. »Nein, bestimmt nicht.«
»Und warum sind die nicht wiedergekommen?«, fragte Twiggy.
»Keine Ahnung.«
»Aber du hast dir Gedanken darüber gemacht.« Matti fixierte ihn immer noch.
»Sie haben wohl nicht geglaubt, mit mir ins Geschäft zu kommen.«
»Weißt du, was ich glaube? Diese Typen haben einen Blick für solche Gestalten wie dich«, sagte Twiggy. »Mit so jemandem wie dir wollten nicht einmal die sich einlassen.«
»Sie haben vielleicht jemand anderen gefunden, der sich gleich aufs Geschäft einließ«, sagte Matti, und Weidenfels nickte eifrig.
»Was habt ihr mit mir vor?« Wieder rieb er sich am Kinn. Eine Schwellung zeichnete sich ab.
»Du stellst dich, dann gibt’s mildernde Umstände, vielleicht Bewährung und eine Therapie.«
»Um Gottes willen!«
»Wenn du es nicht machst, zeigen wir dich an.«