9: Haunted By You

Robbi saß nörgelnd neben seinem vollen Futternapf, Twiggy teilte Karten aus, Matti baute den Joint, und Dornröschen rührte gähnend in ihrem Tee.

»Dass du das falsche Futter erwischt hast«, stöhnte Twiggy, »das grenzt an Tierquälerei.«

»Ist ja gut, das Biest ist echt verwöhnt«, knurrte Matti.

»Robbi ist kein Biest«, sagte Twiggy pikiert.

Matti guckte den Kater an, der ihn gleich anjaulte, als wäre er auf Diät gesetzt worden. Twiggy legte die Karten weg, erhob sich und beugte sich zu Robbi hinunter. »Matti ist ein Ignorant«, sagte er, »aber das ist ja nichts Neues. Du hast es schon schwer, armer Kerl.« Er nahm Robbi auf den Arm, aber der fuhr seine Krallen aus und fauchte.

»Er hat noch nie gefaucht, und das macht er nur, weil dieser Hühnerfleischfraß unfressbar ist. Allein wie das Zeug stinkt.« Er rümpfte die Nase. »Bestimmt verliert er wieder Haare.«

Matti zündete den Joint an. Gleich verbreitete sich ein süßlicher Geruch.

Twiggy setzte sich, Robbi nörgelte weiter. Aus Protest kratzte er an Twiggys Stuhlbein, dann stolzierte er hinaus in den Flur. Noch ein Jauler, dann war er verschwunden.

»Er ist tierisch unglücklich«, sagte Twiggy, nahm den Kartenstapel und teilte die letzten Karten aus. Er übernahm die Zigarette von Matti und ließ sie aufglühen. Dornröschen ließ ihre Karten liegen und blickte ins Unendliche. Twiggy reichte ihr den Joint, aber sie schaute nicht mal hin.

»Wer, verdammt noch einmal, hat Rosi umgebracht?«, fragte sie leise.

»Und wer Lara?«, fragte Matti, der seine Karten sortiert hatte, sie aber nun auf dem Tisch ablegte.

»Ob der Chef uns doch noch die Bullen auf den Hals hetzt?«, fragte Twiggy.

»Nein, wir haben die Aufnahme, und er hat zu viel zugegeben. Dann landet er im Knast. Und selbst wenn die Aufnahme als Beweismittel nichts taugt, reicht es für die Bullen, ganz genau hinzugucken, und dann fliegt der Superchef mitsamt seinem Superladen auf.«

Sie hatten den Chef zur nächsten S-Bahn-Station gefahren, nachdem sie sich auf einen Kuhhandel geeinigt hatten: Der Chef leugnet, entführt worden zu sein, und bearbeitet auch seine Leibwächter in diesem Sinn. Dafür schweigt die WG über alles, was der Chef während seiner Entführung zugegeben hat. Ein übles Geschäft, aber Knast war übler. Doch ging es Matti nicht aus dem Kopf.

Er fuhr wieder seine Schicht. In der letzten Nacht hatte er in der Charlottenburger Leibnizstraße einen angetrunkenen Fahrgast mit heftigem Lallfaktor, aber offenem Geldbeutel abgesetzt. Danach kam er am Savignyplatz an zwei Typen vorbei, die gerade einen Grillanzünder auf dem Vorderreifen eines Porsches ansteckten. Die Männer trugen Kapuzen, aber als Matti vorbeifuhr, blickte ihn der größere an. Es war Werner das Großmaul, kein Zweifel. Aber das würde Matti niemandem erzählen, nicht mal seinen WG-Genossen. Kurz vor Schichtende hatte er bei Laotse gelesen: »Wer handelt, der scheitert. Wer etwas umfängt, der verliert es.«

»Die Bullen werden ohnehin Feuer unterm Chefgesäß machen, die haben ja einiges mitgehört«, sagte Matti.

»Ach, der redet sich raus. Er sei erpresst worden und so weiter. Außerdem, ist das unser Problem?«, sagte Dornröschen.

Ihr Handy tönte. Sie blickte auf die Anzeige, wies den Anruf ab und versank in Nachdenken.

»Vielleicht war es doch der Typ, den die Bullen erschossen haben?«, fragte Twiggy.

»Aber wie kommt so ein Typ dazu, Rosi umzubringen?«, fragte Matti.

»Die einfachste Erklärung ist, dass er was von ihr wollte, sie aber nichts von ihm, und er ist ausgerastet. Gibt’s doch.«

Sie schwiegen.

»Los!«, sagte Dornröschen endlich und legte eine Herz Sieben auf den Tisch.

Twiggy sah es, hustete empört und nahm zwei Karten.

Matti servierte Dornröschen eine Herz Acht.

Dornröschen tat so, als ließe es sie ungerührt, dass sie aussetzen musste. Demonstrativ steckte sie die Karten in der Hand um, als hätte sie den todsicheren Plan gefunden.

Twiggy änderte mit einer Pik Acht die Farbe und ließ Matti aussetzen.

Der zeigte auf Dornröschen: »Da sitzt der Feind, du Schnarchnase.«

Dornröschen legte die Karten weg. »Das geht nicht. Wir können nicht aufhören.«

Sie hatten vor drei Tagen verabredet, aus dem Wahnsinn auszusteigen, auch wenn es Matti wehtat und er sich der Mehrheitsmeinung nur beugte, weil er fürchtete, Dornröschen könnte sonst wirklich ausziehen. Die Bullen sollten herausfinden, wer Lara umgebracht hatte und wer Rosi. Sie hatten daran gekaut, dass Rosi sich hatte kaufen lassen. Die Platten-Rosi, die ihre Freundin gewesen war.

»Vielleicht hat ihr die Sache mit Konny den Rest gegeben«, sagte Dornröschen. »Kann doch sein, dass man aus dem Ruder läuft, wenn vor der eigenen Nase ein Freund ermordet wird. Und dann die Bullen mit ihrem Gefasel von einem Unfall.«

»Sie hat die eigenen Leute bespitzelt«, sagte Twiggy. »Dafür gibt’s keinen guten Grund, nur schlechte.«

»Woher weißt du, dass sie gespitzelt hat?«, fragte Matti.

»Aber sie hat für eine Immofirma die Provokateurin gegeben, Mensch«, sagte Twiggy.

»Und Kolding ganz bestimmt nichts verraten«, sagte Dornröschen. »Nein, sie hat womöglich gedacht, dass sie das Geld nehmen sollte, um Kolding noch besser bekämpfen zu können.«

»Aber wo ist das Geld?«

»Hm«, sagte Twiggy, den Restjoint in der Hand.

»Wir sind irgendeiner Sache nahe gekommen, und das muss ein großes Ding sein«, stöhnte Matti. »Vielleicht hat der Lara-Mord mit dem Rosi-Mord nichts zu tun, und es geht um was anderes. Worauf wir zufällig gestoßen sind, aber gar nicht wissen, was es ist.«

»Könntest du das in einem günstigen Augenblick mal Robbi erklären. Vielleicht versteht der dich«, sagte Twiggy und drückte die Zigarette aus.

»Wir haben versucht, möglichst viel über die Umstände von Rosis Tod herauszukriegen. Und dabei könnten wir unwissentlich an eine Sache geraten sein, mit der sich Rosi vielleicht beschäftigte«, sagte Dornröschen nachdenklich.

»Lass uns die Varianten aufzählen«, sagte Matti. »Nummer eins: Irgendwer glaubt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Würde den Bombenanschlag erklären.«

Lara. Lara. Lara.

»Variante zwei«, sagte Twiggy, nachdem er sich eine Flasche aus dem Kühlschrank geholt und sie geöffnet hatte, »das wäre die Bullenversion: Rosi wurde zufällig umgebracht, eine Art Unfall, weil sie sich gegen einen Typen gewehrt hat. Erklärt den Bombenanschlag nicht. Könnte aber sein, dass Rosis Tod nichts mit dem Bombenanschlag zu tun hat.«

»Variante zwo A wäre: Rosis Tod ist Pech, die Bullen haben den Richtigen umgenietet, der Bombenanschlag ist eine Eifersuchtstat«, sagte Twiggy. »Das halte ich aber für Quatsch, weil man einen Sprengkörper erst herstellen und ihn dann ins Auto einbauen muss. Dazu war die Zeit zwischen dem Kennenlernen und dem Anschlag zu kurz.«

»Variante drei ist die Verwechslungstheorie. Göktan und/oder Sohn. Sohn Ali gehört zu einer Gang, die den Gräfekiez als ihr Gebiet betrachtet. Ali will seinem Alten einen Gefallen tun und legt die Kolding-Schlange um, denkt er jedenfalls. Aber er erwischt Rosi. Und jetzt will er die Spuren verwischen, daher die Bombe«, sagte Matti.

»Ach, du lieber Himmel«, stöhnte Dornröschen. »Das ist ja eine steile These.«

»Nun nöl nicht rum«, sagte Twiggy. »Warum soll die Theorie schlechter sein als die anderen? Keine Ahnung, was in den Hirnen von Gangdeppen vorgeht.«

»Variante vier halte ich für die wahrscheinlichste«, sagte Dornröschen. Sie ging zum Herd und setzte den Wasserkessel auf.

»Vielleicht weihst du uns auch noch in das Geheimnis dieser Version ein?«, fragte Matti. »Aber bitte in einfachen Worten, damit wir es verstehen.«

Ein scharfer Blick ließ ihn zusammenfallen zu einem Häufchen Haut und Knochen. »Irgendwer hält Matti … es kennt ihn ja nicht jeder so gut wie ich … für einen superschlauen Typen, der irgendwem auf die Spur gekommen ist, und will ihn beseitigen.«

»Die Mutter aller Theorien«, maulte Twiggy.

»So wird es sein«, sagte Matti. »Glückwunsch. Du bist ein Genie.«

Dornröschen zeigte ihm den Mittelfinger.

»Und der Mord an Rosi?«, fragte Twiggy genervt.

»Da stimmt die Bullentheorie.«

»Ach, du lieber Himmel, seit wann stimmt eine Bullentheorie?« Twiggy schüttelte den Kopf und trank aus Protest die Flasche leer.

Robbi maulte auch, er stand plötzlich in der Küche und war die Mutter aller Vorwürfe.

»Verwöhntes Aas«, sagte Matti.

Twiggy setzte sich den Kater auf den Schoß. Der bockte erst ein bisschen, um zu zeigen, dass er nicht alles mit sich machen ließ, aber dann begann er zu schnurren.

»So, Variante vier heißt also: Der Mord an Rosi war ein Einzelfall. Die Bombe stammt von einem liebenswerten Mitmenschen, der Matti auf dem Kieker hat«, sagte Twiggy.

Robbi nickte.

»Variante fünf ist, dass einer von der Ini Rosi umgebracht hat. Eifersucht oder so«, sagte Matti. »Nur erklärt das den Bombenanschlag nicht.« Er sah Lara vor sich, fast nackt, drahtig, schön. Und dieses Lachen, das alles versprach. Er hatte nie erlebt, dass es mit einer Frau sofort klar war, keine Umwege, keine Krampfaktionen, einfach klar. Welches Schwein hatte die Bombe gelegt? Er würde es umbringen. Er würde ihn erschießen, mit Ansage, damit der Mörder auch seinen Spaß hatte. Er fühlte allen Sadismus der Welt in sich.

»Es sei denn, der Anschlag dient dazu, den Verdacht von sich abzulenken«, sagte Twiggy.

Dann hätte das Schwein Lara umgebracht wegen eines Ablenkungsmanövers. Und er wollte Matti umbringen. Beides würde er ihm heimzahlen. Und wenn er ewig suchen müsste.

»Vielleicht sollte die Bombe niemanden töten … obwohl, die hat das Auto zerfetzt und explodierte, als die Tür aufging. Nehme ich an. Hatte Lara den Wagenschlüssel?«

»Natürlich«, sagte Matti.

»Und wenn das Ding an die Autozündung angeschlossen war?«, fragte Twiggy. »Das hieße, dass sie den Motor gestartet hätte.«

»Spekulation«, sagte Matti.

»Wenn wir das wüssten, wären wir weiter«, sagte Dornröschen. Sie nahm ihr Handy, das auf dem Tisch lag, und wählte.

»Den Herrn Hauptkommissar Schmelzer, bitte. Es ist dringend«, flötete sie.

»Herr Schmelzer«, sagte sie, nachdem sie sich vorgestellt hatte. »Wir haben eine wichtige Frage.«

»Na, das wird ja was sein«, tönte es aus dem Lautsprecher.

»Ich hoffe, dass Ihre gute Laune damit zusammenhängt, dass Sie den Bombenleger verhaftet haben.«

»Sie wissen doch, dass ich Ihnen keine Auskünfte über Ermittlungen geben darf.«

»Natürlich, Herr Schmelzer.« Sie machte eine Pause. »Neben mir sitzt der arme Kerl, dessen Taxi in die Luft geflogen ist und der seine Freundin verloren hat, obwohl der Anschlag offenkundig ihm gegolten hat …«

»Ja, und? Mein Beileid«, fügte er hastig hinzu.

»Wissen Sie denn inzwischen, wer das Opfer war? Mein Freund hat noch nicht die Kraft, Sie zu fragen.«

»Lara Schubert, abgebrochenes Studium, hier ein Job, da einer, meistens arbeitslos. Eigentlich sollte man seine Freundin kennen.«

»Sie waren gerade erst zusammengekommen«, sülzte Dornröschen.

»Ja, ja.«

»Wie ist denn diese Bombe hochgegangen, hing sie an der Zündung?«

»Hm.«

»Herr Schmelzer, wir haben auch mal was für Sie getan.«

»Na ja, so kann man es auch sehen …«

»Doch, doch, Sie hatten den Auftritt Ihres Lebens, geben Sie es zu.«

»Sie wollen wieder schnüffeln, was?«

»Niemals, wir vertrauen ganz und gar unserer Polizei.«

Da musste Schmelzer lachen.

»Er kann lachen, ich fass es nicht«, flüsterte Twiggy.

»Sagen Sie es nicht weiter. Der Zünder war an der Beifahrertür angebracht.«

»Beifahrertür?«

»Ja, da wollte jemand Herrn Jelonek mitsamt Fahrgast in die Luft jagen.«

Dornröschen schwieg eine Weile.

»Zufrieden?«, fragte Schmelzer.

»Überhaupt nicht«, sagte Dornröschen.

»Sie wissen, dass wir gegen Sie ermitteln, wegen Entführung …«

»So ein Quatsch«, sagte sie.

»Ich glaube auch nicht, dass der Staatsanwalt es darauf ankommen lässt, solange das Opfer nicht entführt worden sein will. Aber wehe, das Opfer ändert seine Meinung. Das nur als kleiner Tipp, weil Sie ja mal was für mich getan haben wollen.« Er lachte und war furchtbar zufrieden.

»Haben Sie Verdächtige, Spuren?«

»Nun ist es aber gut, junge Frau.« Schmelzer lachte noch einmal und legte auf.

»Was ist denn in den gefahren?«, murrte Twiggy.

»Mitsamt dem Fahrgast«, murmelte Matti. »Was heißt das?«

»Der Bombenleger hat gesehen, dass ihr zu zweit wart, und hat befürchtet, dass du Lara etwas erzählt hast. Er hat euch gesehen am Wannsee und ist auf Nummer sicher gegangen.« Dornröschen sagte es leise und nachdenklich.

»Irgendjemand muss den gesehen haben, der war auf dem Parkplatz am Bad«, sagte Twiggy. »Das ist sonnenklar.«

»Stimmt«, sagte Dornröschen.

»Aber die Bullen werden das alles abgeklappert haben«, sagte Matti. »Wer achtet schon auf einen Typen, der an einem Taxi herumbastelt?«

Keiner sagte einen Ton. Dornröschen spielte mit ihren Karten, Twiggy streichelte Robbi, der leise schnurrte, und Matti starrte Löcher in die Wand. Der Chef hatte sie auflaufen lassen, und jetzt standen sie wieder am Anfang. Alles, was ihnen gewiss erschienen war, war weggewischt. Sicher war nur, dass Rosi und Lara tot waren.

»Und nun?«, fragte Dornröschen.

Keine Antwort.

»Ihr wollt doch nicht aufgeben?«

Twiggy blickte sie müde an. Er schüttelte den Kopf.

»Und du?« Dornröschen wandte sich an Matti.

»Wir machen weiter«, sagte er. »Nur wie?«

»Also, was ich für eine gute Spur halte …«, sie zögerte, überlegte. »Die Göktans könnten Rosi mit der Kolding-Tante verwechselt haben. Und sie wissen, dass du« – ein Blick zu Matti – »den Mörder finden willst. Vielleicht hat dich einer von den beiden in der Manitiusstraße gesehen? Oder kennt deinen Ülcan?«

Ülcan. Das wäre eine Verbindung. Matti nickte. »Ich werde ihn mal fragen«, sagte er. »Aber es ist unwahrscheinlich. Es gibt ja mehr als drei Türken in Berlin.« Er überlegte, was Göktan über ihn wissen könnte. »Der weiß doch nicht mal meinen Namen. Selbst wenn er mich in einem Taxi gesehen haben sollte …« Er winkte ab. »Das ist exotisch«, sagte er.

Robbi streckte sich, schaute sich um, sah den Fressnapf und jaulte, um sich resignierend wieder zu kugeln. Er seufzte und schlief ein. Der Schlaf einer entrechteten und gequälten Kreatur.

»Ich hol noch was«, sagte Dornröschen und verschwand in ihrem Zimmer. Sie kehrte mit Gras zurück und pfriemelte es in den Tabak, um einen weiteren Joint zu bauen. Normalerweise begnügten sie sich mit einer Zigarette. Aber wenn nichts mehr war, wie es sein sollte, kam es darauf auch nicht an. Vielleicht wird es nie mehr so, wie es war, und das wäre eine Katastrophe, dachte Matti. Aber du bist auch ein anderer geworden. Nie hatte er solche Rachegefühle in sich verspürt. Nicht, als er wegen der Scheiß Dozenten von der Uni verschwunden war, und auch nicht, als Lily ihn gelinkt hatte. Er musste den Bombenleger stellen und ihn umbringen. Langsam und qualvoll. Auch das war neu in ihm. Rache hatte er immer verabscheut. Jetzt war sie sein Antrieb.

Dornröschen zündete Joint Nummer zwei an, zog und gab ihn Twiggy. »Wenn Kolding rausfällt aus dem Kreis der Verdächtigen, dann kommen als nächste Kandidaten nur die Göktans infrage. Eine Racheaktion von einem Kerl aus der Ini war es nicht, warum sollte der Lara umbringen?«

»Um abzulenken«, sagte Twiggy und gab Matti die Zigarette.

Robbi wachte auf. Seine Augen verfolgten die Übergabe, dann schloss er sie und schnurrte verzweifelt vor sich hin.

»Wenn du Ablenkung als Motiv unterstellst, dann wird die Zahl der Kandidaten unbegrenzt. Dann kämen auch Leute auf die Liste, die wir noch gar nicht kennen«, sagte Dornröschen. »Das ist möglich, und doch ist es nicht vernünftig, davon auszugehen.«

»Tja«, sagte Matti. Ihm schmeckte der Joint nicht, aber das lag an ihm. Er spülte den Geschmack mit einem Schluck Bier runter. »Bei den Göktans gibt es immerhin die kleine Chance, dass der weiß, wer ich bin. Und er wollte mich umbringen, weil er glaubt, ich wäre ihm auf die Pelle gerückt.« Er überlegte. »Vielleicht hat er von dem Gespräch, das wir mit ihm führten, den Eindruck, ich sei der Typ, dem er den Verdacht verdankt.«

»Oder der Sohn glaubt es und will den Vater schützen. Ach nee, Unsinn. Also wenn der Sohn die Quasten töten wollte, aber Rosi erwischt hat, dann hat er nach unserem Besuch beim Vater womöglich den Eindruck, Matti ist der Kopf unserer Truppe und drängt darauf, die Göktans fertigzumachen«, sagte Dornröschen.

Ihm steckte die derbe Mau-Mau-Pleite – »historischen Ausmaßes«, hatte Dornröschen gelästert – in den Knochen, als er zur Tagschicht bei Ülcan erschien. Aldi-Klaus wollte mal wieder nachts fahren, und Matti war es egal. Also hatten sie getauscht.

»Morgen«, sagte Matti.

Ülcan blickte nicht auf. Er saß in seiner Rauchwolke und betrachtete eine Tabelle auf einem Schreibblock.

»Ich hab mal ’ne Frage«, sagte Matti.

Ülcan brummte.

»Also, der Koran erlaubt es, dass ein Sklave seinen Gebieter etwas fragt.«

Ülcan hob das Gesicht und blinzelte ihn an. Die Zigarette im Aschenbecher schickte eine Rauchsäule in die Höhe. »Verscheißern kann ich mich selbst. Du solltest bei Konfuzius oder diesem Laotse bleiben und mich, den Propheten und Allah nicht mit solchem Quatsch beleidigen.«

»Nichts läge mir ferner«, sagte Matti. »Aber ich habe eine Frage zu einem Mitglied der Minderheit im Land, die mir am meisten ans Herz gewachsen ist.«

»Ich weiß nichts über Leute von den Fidschis.«

»Du willst mich nicht verstehen, herrje.« Er hob die Arme in stiller Verzweiflung. »Berkan Göktan, kennst du den?«

»Den kennt jeder, ist nach Thailand gewechselt.« Ülcan schüttelte den Kopf über so viel Ahnungslosigkeit.

»Nein, kein Fußballer, sondern ein Typ, der wohnt in Gesundbrunnen, Bellermannstraße.«

»Was willst du von dem?«

»Ich war bei dem zu Besuch und wollte wissen, was das für einer ist.«

»Quatsch«, sagte Ülcan. Er setzte sein Kinn auf die Faust und musterte Matti. »Du erzählst Scheiße.«

»Okay, ich habe falsch abgerechnet mit dem. Er schuldet mir noch zwanzig Euro.«

»Na, die kann er mir dann ja geben«, sagte Ülcan. »Ich sehe ihn am Wochenende beim Grillen.«

»Woher kennst du den?« Matti mühte sich, gelassen zu klingen.

Ülcans Blick wechselte zwischen Neugier und Abweisung.

»Ist eine Art Cousin. Der fünfhundertste Sohn meiner siebenunddreißigsten unehelich gezeugten Schwester.«

»So genau wollte ich es gar nicht wissen.«

»Jetzt weißt du es.«

»Hast du dem von mir erzählt? Er machte so eine Andeutung.«

»Du glaubst, ich hätte dem von dir Nichtsnutz« – wo hatte er nur dieses wunderbare Wort her, beim Bart des Propheten? – »erzählt. Kein Wort, keine Silbe, kein Buchstabe kommt über meine Lippen, wenn es um dich Nichtswürdigen geht.«

»Wie kommt’s nur, dass ich dir das nicht glaube? In Wahrheit hast du deine Sklaven in voller Größe dort durchgehechelt, weil du ein Tratschmaul bist. Je mehr Sklaven ein Kameltreiber hat, desto größer sein Ansehen in der Umma.«

Ölcan holte aus, wandte sein Gesicht der Faust zu, die er auf Ohrenhöhe ballte, und ließ sie sinken. »Jeder Hieb wäre zu viel Anerkennung für dich«, brummte er. »Außerdem kannst du dann ein halbes Jahr nicht mehr fahren. Und das wäre schlecht für mich.«

»Du müsstest einen anderen einstellen.«

Ülcan tippte sich an die Stirn. »Ich bin doch nicht verrückt. Jeder neue Fahrer wüsste mehr Tricks als du, um mich zu bescheißen. Dich habe ich längst durchschaut, du kannst mir nichts vormachen.«

»Okay, okay«, sagte Matti, »dann tue ich dir den Gefallen, nicht zu kündigen. Obwohl ich da echt ein gutes Angebot habe.«

Ülcan guckte sehr trübsinnig. »Allein die Überlegung zu kündigen zeigt, was für ein undankbarer Mensch du bist.«

»Ist es nicht ein durch und durch gesunder Impuls, dass man einem Sklaventreiber entkommen will?«

Ülcan griff hinter sich und hatte einen Briefbeschwerer in der Hand. Er glänzte golden, der Gitarrenspieler mit Hut auf dem schweren Sockel. Matti sprang zum Schlüsselbrett, schnappte sich den Autoschlüssel und knallte die Tür von außen zu.

Der neue alte Benz war noch ausgeleierter als der Oldtimer, der explodiert war. Der Fahrersitz war runtergesessen, auf den anderen Plätze quoll Polster durchs graue Leder. Aber der Diesel sprang sofort an und klang, wie ein Diesel aus der Frühsteinzeit klingen muss. Rau, aber gesund. Matti rollte aus dem Hof auf die Manitiusstraße und parkte gleich, um Dornröschen anzurufen.

»Volltreffer, er kennt ihn«, sagte er.

»Gut, dann beginnt die Aktion heute Abend.«

Am Maybachufer/Ecke Ohlauer Straße winkte ein Schnösel. Er hatte ein flaumiges Oberlippenbärtchen, eine auf alt getrimmte Hornbrille und trug einen steifen Hut mit rotem Band.

»Fahren Sie«, sagte er, als er eingestiegen war, »fahren Sie nur.«

»Wohin?«, fragte Matti.

»Fahren Sie, fahren Sie.«

Es begann zu regnen, die Scheibenwischer verschmierten die Windschutzscheibe, bis die Waschanlage für klare Sicht sorgte.

Matti trödelte auf die Hasenheide, dann auf die Wissmannstraße und die Karlsgartenstraße. Licht brach durch die Wolken und ließ die nassen Blätter auf der Allee glänzen. Die Straße spiegelte, fast hätte Matti einen Radfahrer übersehen, der die Fahrbahn querte, ohne zur Seite zu schauen.

»Ist es der richtige Weg?«

»Es gibt keinen falschen Weg, wenn man ihn bewusst geht«, sagte der Mann. Der Hut stieß ans Wagendach.

»Klingt interessant. Von wem stammt das?«, fragte Matti

»Von mir, von wem sonst?«

Er trug eine Fliege, sah Matti im Spiegel.

Sie rollten an der Jahn-Sporthalle Neukölln vorbei, stießen auf den Platz der Luftbrücke.

»Hier mal links«, sagte der Schnösel.

Auf den Tempelhofer Damm, vorbei am Bullenhauptquartier, dann aber nicht auf die Autobahn, sondern weiter nach Tempelhof. Auf dem Mariendorfer Damm sagte der Mann: »Die nächste links rein.«

Es war die Prühßstraße. Erst war sie kleinstädtisch, Läden, Apotheke, Sparkasse säumten die schmale Straße, dann wuchsen rechts und links Laubbäume. Es wurde ländlich. Rechts eine Baustelle, dann ein Mehrfamilienhaus. Als die Straße an einer Querstraße endete, sagte der Schnösel. »Rechts, wenn es beliebt.«

Matti bog ab.

Gleich sagte der Schnösel. »Wenn Sie hier vielleicht halten könnten.«

Matti fuhr rechts ran und hielt ein paar Meter vor einem dicken Baum.

Er spürte einen spitzen Druck an der Rippe, links.

»Das ist ein Messer«, sagte der Schnösel. »Wenn du muckst, stech ich dich ab.«

»Mach keinen Scheiß«, sagte Matti. »Steig aus und verschwinde.«

Der Schnösel lachte spöttisch.

»Oder ich fahr dich zum nächsten Bahnhof …«

»Das ist ein langes Messer«, sagte der Schnösel. »Und wenn du dich nach vorn beugst, komme ich nach. Verstanden?«

Das ist einer von denen, dachte Matti. Der tut nur so, als wäre er ein Taxiräuber. Warum tut er so, wenn er mich umbringen will? Das ist doch Quatsch! Oder will er vorher seinen Spaß haben? Ein perverser Killer?

»Was willst du?«

»Was wohl?«

Matti spürte seinen Zorn. Sie hatten Lara ermordet, sie hatten ihn umbringen wollen, sie hatten ihn verprügelt, sie hatten ihn verarscht, und der Typ auf der Rückbank wollte Schlitten mit ihm fahren. Es reicht. Der Typ hätte nicht einsteigen dürfen, es ist sein Fehler. »Was willst du?«, fragte Matti und legte Angst in seine Stimme. Aber er hatte keine Angst, die hatte keinen Platz neben seiner Wut. Ihm war es egal, ob er draufging, der Typ hätte nicht ins Taxi kommen sollen. Aber er hat es getan, er ist selbst schuld. Man sollte einen Mann, der die Selbstkontrolle verliert, nicht bedrohen. Auf keinen Fall. Der Typ kann das nicht wissen? Das ist gleichgültig, er hätte nicht ins Taxi einsteigen sollen, um auf gut Glück ein Opfer zu suchen. Da kann man Pech haben. »Okay, du kriegst das Geld und haust ab«, sagte er. »Bitte!« Dazu musste er sich zwingen.

»Hast Schiss, was?«

»Ja«, sagte Matti. »Ich bin unbewaffnet, du hast ein Messer, so ein Unterschied schafft Angst.«

»Oh, ein Philosoph der Angst«, sagte der Schnösel. »Wen man so alles trifft.« Er lachte genüsslich.

»Meinen Geldbeutel habe ich unter meinem Sitz.«

»Gut, gut, bist ein ganz Vorsichtiger, was?« Wieder dieses Lachen.

»Ich müsste mich nach vorn beugen.«

»Ich verstehe.« Der versteht gar nichts, dachte Matti. Er war innerlich kalt und kochte gleichzeitig.

Plötzlich sprang der Typ auf den Beifahrersitz, gelenkig wie ein Turner, und hatte gleich wieder das Messer auf Matti gerichtet. Der neigte sich unwillkürlich zur Tür. Die Messerspitze zielte auf seine Seite, ein paar Zentimeter über der Hüfte.

Matti hatte sich schnell wieder im Griff. Sein Kopf arbeitete die Möglichkeiten durch. Es gab am Ende nur eine, bei der er eine vernünftige Chance hatte. Sie war riskant, aber er konnte dem Kerl sein Geld nicht geben. Nicht wegen der paar Euros, aber es wäre eine Demütigung zu viel gewesen.

»Na«, sagte der Typ und lachte. Er guckte sich um, aber niemand beachtete seinen Überfall.

Matti beugte sich langsam nach unten, zog den Automatikhebel nach hinten und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch. Der Diesel heulte auf, und das Taxi krachte gegen den Baum. Der Typ wurde nach vorn geschleudert und landete im Airbag, während Matti sich am Lenkrad abstützte und vom Airbag auf den Sitz zurückgedrückt wurde. Diesmal aber mit der Makarov in der Hand, die er blitzschnell unterm Sitz hervorgezogen hatte. Der Schnösel versuchte, seine Hand mit dem Messer zu befreien, aber Matti rammte ihm den Lauf der Pistole in die Rippen und spannte den Hahn.

»Lass fallen!«, sagte er.

Der Schnösel ließ das Messer fallen.

»Ein Mucks, und ich drücke ab.«

»Mensch, war nicht so gemeint. Versteh doch.«

»Ich verstehe immer alles. Halt’s Maul.«

»Mensch, nicht die Bullen.«

»Mal sehen«, sagte Matti. Sein Finger zuckte. Er hätte abgedrückt, ein Mucks nur. Einen Augenblick fühlte er die Gewissheit, dass es ihm unendlich viel besser gehen würde, wenn er den Kerl erschießen könnte. Aber dann wurde ihm klar, dass er nur einen umbringen würde, den Bombenleger. Er kriegte den Finger vorher nicht krumm.

Er stieß ihm noch einmal den Lauf in die Seite und traf eine Rippe. Der Schnösel jaulte auf. Er drückte sich an die Tür. Dann sah Matti, dass Leute sie beobachteten. Zwei Männer näherten sich der Unfallstelle.

»Portemonnaie«, sagte er.

Der Schnösel glotzte ihn an, dann fingerte er ein Portemonnaie aus der Jackettinnentasche und reichte es Matti.

Der sortierte mit einer Hand das Geld heraus und steckte es in die Tasche. »Kleine Strafe.« Er betrachtete den Ausweis und grinste. »Gut zu wissen, wo du wohnst. Perso, Führerschein und die Karten kannst du ja nachbestellen.«

»Bitte«, sagte der Schnösel.

»Raus!«, sagte Matti.

Der Schnösel glotzte, dann drückte er die Tür auf und torkelte hinaus. Er fing sich und rannte los.

»Alles in Ordnung?«, fragte ein Muskelpaket und guckte dem Schnösel nach.

»Alles klar, danke«, sagte Matti.

»Bis aufs Auto«, sagte das Muskelpaket.

»Bis aufs Auto«, bestätigte Matti.

Das Muskelpaket stierte ins Taxi, zuckte mit den Achseln und wälzte sich davon.

Sie saßen nebeneinander auf der Vorderbank im Bulli und beobachteten die Eingangstür in der Bellermannstraße.

»Ali erkennen wir nicht«, sagte Twiggy.

»Aber den Alten und seine Frau, vielleicht haben wir Glück, und Ali kommt mit Mamageleitschutz raus«, sagte Dornröschen.

»So ein Mist«, fluchte Matti.

»Das mit dem Taxi?«, fragte Twiggy.

»Was sonst?«

Er hatte dann doch die Bullen gerufen. Er sei überfallen worden, der Angreifer sei aber ein Hanswurst gewesen, den er, nachdem die Karre am Baum gelandet sei, mit ein paar kräftigen Hieben vertreiben konnte, weil der sich nie getraut hätte, sein lächerliches Küchenmesser zu benutzen.

»Da haben Sie ja noch mal Glück gehabt«, sagte der Bulle. »Nur ob das die Versicherung bezahlt …?«

»Gezahlt hätte die, wenn er mich abgestochen hätte und das Polster mit meinem Blut verschmiert worden wäre.«

»Da habense recht, alles Verbrecher, machen ’ne Nuttensause, und wir zahlen dafür.«

»So isses«, sagte Matti. »Wir ehrlichen Steuerzahler.«

»Also«, sagte der Bulle und verzog sein breites Gesicht zu einem Grinsen. »Wir müssen doch zusammenhalten. Ich schreib mal, der Täter habe aufs Gaspedal getreten …«

»Vielen Dank, Herr Kommissar«, sagte Matti, der den Uniformierten längst als Oberwachtmeister identifiziert hatte.

Der Bulle schrieb, für Matti immer noch ein erstaunlicher Vorgang.

»Also«, sagte er schon wieder, »also, ich habe jetzt den Bericht vorbereitet und tipp den nachher ein.« Er reichte Matti einen Zettel. »Das ist meine Karte mit der Telefonnummer. Wegen der Versicherung, aber das wissen Sie ja.«

»Danke, Herr Kommissar«, sagte Matti.

Der Bulle tippte sich an den Mützenschirm und trat ab.

Ülcan war nicht so gelassen. Er fluchte wie ein Rohrspatz. »Erst lässt du dir eine Bombe reinlegen, weil du mit einer … Dame baden gehen musst, in der Dienstzeit …« Er versuchte sich zu sammeln und sagte vor sich hin: »Während der Dienstzeit, während der Dienstzeit, Dienstzeit«, um dann wieder zu Hochform aufzulaufen. »Wenn du Versager nicht baden gegangen wärst, dann hätte ich kein neues Taxi kaufen müssen …«

»Neues …?«

»Für mich war es neu, und wenn ich sage, es war neu, dann war es neu. Es war mindestens so gut wie neu, es hätte noch dreihunderttausend Kilometer gehalten, es war ein Benz und keiner von diesen« – mehr Verachtung konnte ein Gesicht nicht ausdrücken – »japanischen oder französischen Kisten, die schon als Schrott produziert werden, und du hast dieses wunderbare Auto, das auch dem Propheten gefallen hätte und so vielen Glaubensbrüdern unschätzbare Dienste leistete …«

»Jeder Mafioso fährt mit so einer Scheißkarre rum. Und das Terrorpack im Libanon auch.«

Ülcan schluckte und guckte Matti lang an. »Und dann lässt du zu, dass so ein dahergelaufener Spargeltarzan den neuen Benz an einen Baum fährt«, sagte er leise und weinerlich. »An einen Baum.« Er starrte zum Himmel, breitete die Arme aus und setzte sich wieder hin.

»Du könntest ja mal fragen, wie es mir geht«, sagte Matti.

»Das ist mir scheißegal. Dass du lebst, sehe ich, und dass du gesund bist, höre ich aus deinem frechen Maul, das Allah dir eines Tages für alle Zeiten stopfen wird, du nichtsnutziger Ungläubiger, der es nur meiner Gnade verdankt, dass du deine Kinder ernähren könntest, wenn du nicht auch versagt hättest bei deiner Pflicht, gottesfürchtige Nachkommen zu zeugen.« Er saß da und staunte über seinen Wortschwall. Dann winkte er ab. »Geh aus meinen Augen.«

»Bist du gefeuert?«

»Quatsch«, sagte Matti. »Ülcan besorgt einen neuen Superbenz, diesmal mit einer Million Kilometern, und weiter geht der Spaß. Ülcan hat nie jemanden gefeuert, das kann der gar nicht.«

»Und was ist dann mit dir?«

»Ich hätte den Schnösel fast erschossen. Es ging um den Bruchteil einer Sekunde. Ich hab den Finger aber nicht krumm gekriegt.«

»Wir sind alle fix und fertig«, sagte Dornröschen. »Aber niemanden hat es so getroffen wie dich.« Sie streichelte ihm über den Kopf und kraulte ihn im Nacken. »Gut, dass du nicht geschossen hast. Wir brauchen dich.«

»Aber den Bombenleger bring ich um.«

»Ich weiß«, sagte Dornröschen.

»Pssst!«, zischte Twiggy. Er zeigte zum Eingang.

»Die heilige Familie komplett«, sagte Matti.

Sie waren keine hundert Meter entfernt und sahen, wie ein schlaksiger junger Mann cool seine Eltern grüßte und davontrottete.

»Los!«, sagte Dornröschen.

Twiggy startete den Bus und rollte los.

Ali trottete in die Heidebrinker Straße, gesichtslos, Mietshäuser auf beiden Seiten, keine Läden, nur das Büro eines Versicherungsvertreters. Twiggy parkte den Bus, sie stiegen aus und folgten Ali in großem Abstand. Dann tauchte rechts ein Einrichtungszentrum auf, der Firmenname knallte rot über die Breite des Gebäudes. Gegenüber ein Café. Ali schien kein Ziel zu haben. Er näherte sich dem Gesundbrunnen-Center, betrat es aber nicht, sondern ging gemächlich die Behmstraße hinunter.

»Der Typ geht im Kreis«, sagte Twiggy.

»Der latscht rum, um die Zeit totzuschlagen«, sagte Matti. »Vielleicht fürchtet er, verfolgt zu werden, und will ablenken.«

Rechts der beidseitig vollgeparkten zweispurigen Straße standen Büsche und Bäume vor zehnstöckigen Mietwohnungsbetonklötzen, Balkon über Balkon, die an Hühnerlegebatterien erinnerten. Links ein Zaun, dahinter wieder Bäume und Büsche, die das betonierte Elend nur hervorhoben. Auf der rechten Seite eine Einbuchtung, die Tiefgarageneinfahrt, umrahmt von einer u-förmigen Rampe, zwischen Einfahrt und Rampe gelbe, blaue und braune Müllcontainer. Ali zog an einer Kette, die am Gürtel befestigt war, ein Taschenmesser hervor und ließ es kreisen.

»Entweder er macht auf cool, oder er langweilt sich wirklich. Wo will der Typ hin?«, fragte Twiggy. Er zündete sich eine Zigarette an.

Dornröschens Handy erklang. »Verdammt!«, fluchte sie und wies den Anruf ab. Dann guckte sie nach, wer angerufen hatte und lächelte kurz.

Ali blieb auf der Behmstraßenbrücke stehen und schaute sich um. Die WG-Freunde erstarrten und taten dann so, als wären sie Spaziergänger. Matti kam sich blöd vor. Eine perfekte Tarnung dachte er, diese Betonwüste lädt zum Spazierengehen geradezu ein. Links Wohnsilos, rechts Wohnsilos, ihr Grau kläglich garniert mit Grün. Der tiefergelegte Golf auf Gummiwalzen mit Technomusik, der vorbeidröhnte, passte in die Landschaft. Nur der Himmel spottete im sattesten Blau über die menschengemachte Einöde.

Ali schlich weiter.

»Ob er uns gesehen hat?«, flüsterte Twiggy.

»Quatsch«, sagte Dornröschen laut. »Nun stellt euch mal nicht an.«

»Was treibt der Typ?«, fragte Twiggy.

»Das werden wir herausfinden«, antwortete Dornröschen. »Im Augenblick beglotzt er die Züge.«

Eine S-Bahn ratterte vor der ersten Reihe der Mietshäuser an der Brücke vorbei.

Ali hatte den Scheitelpunkt der Brücke verlassen und ging hinunter auf die andere Seite, vorbei an einem Steg, der rechts von der Brücke abzweigte und zu weiteren Wohnanlagen führte. Am Ende der Brücke teilte ein Mittelstreifen mit Wiese, Büschen und Bäumen die Fahrspuren. Ali lief immer weiter in Richtung Pankow und Buch. Eine Graffiti-verzierte Mauer begrenzte den Bürgersteig. Ali wich einer Frau aus, die einen Doppelkinderwagen vor sich herschob, und hörte währenddessen kurz auf, sein Messer an der Kette zu drehen.

Sie erreichten eine Ampelkreuzung und die Schivelbeiner Straße.

»Verflucht«, schimpfte Twiggy, »wohin latscht der Kerl. Ich komme mir vor wie auf dem Wandertag.«

Ali lief unbeirrt weiter. Aber Matti hatte jetzt das Gefühl, dass der ein Ziel hatte. Niemand läuft einfach so durch diese triste Gegend, und dies auf der Hauptverkehrsstraße immer geradeaus. Einem Apothekenhinweis- folgte ein Dreißig-Stundenkilometer-Schild. Auf dem Mittelstreifen parkten Autos. Rechts kam eine Bäckerei, und Ali schlenderte unverdrossen weiter.

»Man könnte fast glauben, der Typ weiß, dass wir ihm folgen, und will uns verarschen«, sagte Twiggy.

Matti nickte. »Es sieht so aus. Den Eindruck habe ich schon eine Weile.«

»Wir gehen auf die andere Straßenseite«, sagte Dornröschen.

»Um Himmels willen«, schimpfte Twiggy. »Guck dir das mal an.«

Die Fassade des Erdgeschosses war grell gelb gestrichen, auch die Rollläden. Und überall waren Mäuse darauf gemalt. Ein paar spielten Fußball, eine andere trug eine Sonnenbrille. Drei saßen an einem Tisch vor einem Bücherregal, weitere glotzten auf die Straße.

»Das Werk eines wahren Fassadenkünstlers«, sagte Dornröschen und prustete vor sich hin.

Matti hielt Ali im Blick, der schlenderte auf der anderen Straßenseite, als wollte er unbedingt in Buch landen.

»Mir tun die Füße weh«, maulte Twiggy.

Ali latschte weiter.

»Der verscheißert uns«, sagte Matti. »Und das beweist, dass er Dreck am Stecken hat.« Er sah, wie Ali ein Handy aus der Tasche zog und sprach. Es dauerte ein paar Sekunden, dann steckte er das Telefon wieder in die Hosentasche und marschierte weiter.

»An der nächsten Fassade spielen Goldfische Federball in dunkelblauem Wasser, wetten?«, sagte Twiggy.

»Nein, Regenwürmer trainieren für den Hundertmeterlauf«, sagte Matti, »und ihr Trainer ist ein Maulwurf.«

»Da wär ich als Regenwurm auch sauschnell«, lachte Twiggy. »Oder Godzilla stampft durch Tokio, das wäre auch lustig.«

Dornröschen schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Im Kindergarten geht’s vernünftiger zu.«

»Die Kinder müssen ja auch nicht einen supergelangweilten Türkenbengel verfolgen«, knurrte Twiggy.

Auf der rechten Fahrbahn rollte ein alter Dreier-BMW, silberfarben, Breitreifen und der Lack tagelang poliert. Am Steuer ein schwarzhaariger Typ mit Dreitagebart. Er hielt neben Ali, der sprang auf den Beifahrersitz, und der Wagen brauste weg.

Die drei blieben stehen.

»Jetzt wissen wir, warum er telefoniert hat«, sagte Dornröschen.

»Super Info, wär ich nie draufgekommen«, brummte Twiggy.

»Er hat uns weggelockt und sich dann verpisst. Er wollte uns entweder vorführen, was ihm ja gelungen ist, oder von seiner Gegend weglocken, weil er dort was vorhat«, sagte Matti.

»Oder es ist alles Zufall«, sagte Dornröschen, »und wir beschatten ein Phantom.«

Sie kehrten um, marschierten durch die Betonwüste, über die Betonbrücke, unter der ein Güterzugbandwurm gemütlich ratterte, überholten eine alte Frau, die in der einen Hand eine Lidl-Tüte und in der anderen einen Stock trug und trotz des Wetters in einen dicken schwarzen Mantel gehüllt war, und bogen endlich ab in die Bellermannstraße, wo der Bulli geparkt war. Matti sah es gleich, Twiggy auch, und Dornröschen raffte es, als sie direkt vor dem VW-Bus hielt, der ein wenig niedriger auf der Straße stand, weil die Reifen zerstochen waren. Außerdem hatte ein Spraydosenkünstler an die Seite geschrieben: Haut ap!!

»Bildungsferne Schicht nennt man so was«, knurrte Twiggy, und das war das Vorstadium einer Explosion.

Um das Schlimmste zu vermeiden, rief Dornröschen Schlüssel-Rainer an. »Alle vier«, bestätigte sie. »Nein, keine Nazis, sonst hätten wir so was Hübsches wie ein Hakenkreuz drauf. Ein Dichter hat sich betätigt, er steht allerdings am Anfang seiner Karriere.«

Zurück in der WG, herrschte Niedergeschlagenheit. Sie saßen um den Küchentisch, das Teewasser kochte, eine Flasche Bier stand vor Twiggy, Matti trank Rotwein, und keiner sagte etwas. Nur Robbi war gut gelaunt, seit es wieder Thunfischfutter gab, von dem Twiggy gleich ein paar Tonnen besorgt hatte. Robbi kratzte an Twiggys Hosenbein, und der hob ihn auf den Schoß, wo ihm nichts anderes übrig blieb, als sich streicheln zu lassen. Sonst wäre Twiggy beleidigt, und das wollte der Kater nicht, schließlich gehorchte Twiggy ihm aufs Wort, und das erforderte im Gegenzug eine gewisse Grunddankbarkeit.

»Hat der uns veräppelt, oder war es Zufall?«, fragte Dornröschen.

»Der hat uns veräppelt«, sagte Matti. »Uns vom Auto weggelockt und dann die Reifen zerstochen. Oder er hat jemanden beauftragt, es zu tun. Einen Fuffi auf die Flosse, und schon zischt es.«

»Vielleicht wollen die nur, dass wir abhauen, weil wir nicht dahin gehören«, sagte Dornröschen.

»Ein bisschen viel Zufall«, sagte Twiggy.

Robbi brummte, atmete einmal tief durch, warf einen Blick aus einem zusammengekniffenen Auge in die Runde und schlief ein. Dieses Gerede über Rätsel, die er längst entwirrt hatte, langweilte ihn. Das war so, wie Witze erklären. Davon abgesehen, mochte Robbi Witze nicht, jedenfalls hatte ihn noch nie jemand über einen Witz lachen gesehen.

»Ein bisschen viel«, bestätigte Dornröschen.

»Ich tippe auf beide Göktans«, sagte Twiggy. »Der alte hat Rosi umgebracht, aus Versehen. Und der junge will ihn schützen, weil er es uncool findet, wenn Papi im Knast verschwindet. Das kann man doch verstehen.«

»Und was ist mit Lara?«, fragte Matti. »Hat einer der Göktans mir die Bombe ins Taxi gelegt?«

»Ja, kann doch sein. Weil wir herumschnüffeln«, sagte Matti.

»Vielleicht hängen die Göktans in einer großen Geschichte drin, und der alte hat sich in Schwierigkeiten gebracht, weil er einmal ausgerastet ist«, sagte Dornröschen.

»Versteh ich nicht«, sagte Matti.

»Stell dir mal Folgendes vor: Die Göktans oder meinetwegen nur der alte gehören zu einer … Gang, was Mafiaartiges, und nun hat Berkan aus lauter Wut die Quasten erschlagen, aber es war eben nicht diese … Dame, sondern Rosi, die ihr teuflisch ähnelt. Wir schnüffeln hinter Göktan her, weil wir Rosis Mörder suchen. Göktan aber glaubt, wir könnten etwas über seinen Mafiakram entdecken oder hätten es schon entdeckt. Und er legt dir eine Bombe ins Auto, weil er nicht will, dass wir weiter herumfragen. Denn wenn wir es täten, kämen wir ihm auf die Schliche. Er tarnt also nicht seinen Mord, sondern seine Komplizenschaft bei irgendeiner größeren Geschichte. Er wird ja nicht Bomben legen, um einen Überfall auf einen Spielsalon zu verbergen.«

»Puh«, sagte Matti.

Twiggy hielt unverschämterweise kurz inne beim Kraulen, was Robbi mit einem schläfrigen Fauchen quittierte, woraufhin Twiggy eilig weiterarbeitete. »Tja«, sagte Twiggy. »Das ist ja eine wilde Theorie.«

»Aber es passt alles zusammen«, sagte Dornröschen.

»Och, ich hätte da auch ein paar Theorien, bei denen alles passt«, erwiderte Matti. »Kommt ein Alien aus den Weiten des Alls …«

Dornröschens Blick brachte ihn zum Schweigen. »Habt ihr eine bessere Theorie?«

Matti schüttelte den Kopf. Twiggy stierte auf Robbi, aber der brummte unverdrossen, statt die Mutter aller Theorien zu verraten.

»Und was machen wir nun?«, fragte Twiggy.

»Wir müssen Ali weiter beschatten, was sonst?«, erwiderte Dornröschen.

»Der arme Rainer«, sagte Matti.

»Vielleicht lassen wir uns nicht erwischen?«

»Super Idee«, sagte Twiggy. »Wär ich nie drauf gekommen.«

»Ich kann ihn ja im Taxi verfolgen. Dann sprengt er das auch in die Luft.« Matti stellte sich vor, dass Ali oder Berkan ihm die Bombe ins Taxi gebaut hatten. Er würde sie fertigmachen, umbringen. Er sah Laras schwarz gebrannten Körper auf dem Boden liegen, sah das qualmende Taxi und sah sich, wie er Ali schlug und trat und ihm die Pistole an den Kopf setzte. Er zuckte zurück. Ohne den Beweis oder ein Geständnis würde er es nicht tun. Aber wenn er sicher war, dann gnade wer auch immer dem Schwein, das ihm Lara genommen hatte.

»Wir sind da viel zu auffällig rumgelaufen«, sagte Dornröschen. »Wenn wir es richtig machen, wird es klappen.«

»Vielleicht hilft Gaby wieder«, sagte Matti. »Auf Werner würde ich aber gern verzichten.« Aldi-Klaus hatte Matti erzählt, dass Werner seinem Beinamen »Großmaul« wieder alle Ehre machte und im Clash vor Antifafrauen raunte, dass er eine revolutionäre Heldentat vollbracht habe, über die er aber leider, leider, das solle man doch verstehen, nichts sagen könne, ohne das große Projekt zu verraten, das er mit einigen erfahrenen Genossen vorantreibe, um dem Klassenfeind einen Schlag zu versetzen. Später werde man darüber in den Annalen der Bewegung lesen. Aber Konspiration sei nun mal die Pflicht des Revolutionärs.

»Wir können dem Arschloch nicht mal nachweisen, dass er was mit den kaputten Reifen zu tun hat«, sagte Matti.

»Vielleicht sollte man den Genossen Makarov zu Wort kommen lassen«, sagte Twiggy, und Robbi spitzte die Ohren.

»Ihm die Knarre an den Schädel halten?«, fragte Matti.

»Hört auf mit dem Quatsch. Irgendwann buchten sie uns ein. Wir sollten die Pistolen wieder verschwinden lassen«, maulte Dornröschen.

»Nix da«, sagte Twiggy. »Solange der Bombenleger herumläuft, verschwindet meine Knarre jedenfalls nicht.«

»Ist ja gut.« Dornröschen winkte ab, rührte sinnlos in ihrem Tee und gähnte. »Wenn Gaby helfen will, das wär nicht schlecht«, sagte sie. »Uns kennen die Göktans, und jetzt sind sie auch gewarnt.«

»Wenn Gaby was passiert?«, fragte Matti.

»Tja.« Dornröschen rührte immer noch. »Ich glaube aber, wenn man ihr alles erklärt … Und sie will doch auch, dass wir Rosis Mörder kriegen. Und dass jemand Matti eine Bombe …«

»Ich kann doch mit Gaby gehen«, sagte Matti.

»Die erkennen dich«, widersprach Twiggy.

»Du wirst schon sehen.« Er zog sein Handy heraus und tippte eine Kurzwahlnummer. »Erna … Gut geht es … Hab aber eine wichtige Sache … ganz wichtig, ganz eilig … In zwei Stunden? … Danke, bis dann!«