2: Speak To Me Someone
Ülcan saß hinter dem fleckigen Monsterschreibtisch in dem Kabuff, das er sein Büro nannte. Die Luft war voller Zigarettenqualm, vor sich hatte Mattis Chef die Sportseiten der Milliyet, und offenbar war der türkische Fußball in der Krise oder wenigstens Trabsonspor. Jedenfalls guckte Ülcan trübe aus seinen großen schwarzen Augen auf Matti, der pünktlich zur Tagesschicht erschienen war und das reinste aller Gewissen hatte. In den letzten Monaten hatte er funktioniert wie ein Uhrwerk, hatte tonnenweise Fahrgäste von hier nach dorthin gefahren, hatte sich das Gemecker über die Scheißregierung, Hertha BSC, die Kommunisten oder den Osten angehört, ohne ein einziges Mal deutlich zu werden, hatte es sogar hingenommen, dass ihm einer ins Auto kotzte, empfand sich auf der Straße als Ritter der Höflichkeit und lieferte das Geld rechtzeitig beim Taxibesitzer ab. Aber er hatte natürlich keine Sekunde erwartet, dass der es ihm dankte. Vielleicht sollte er es als Anerkennung betrachten, dass ihn Ülcan nicht mit einer Schimpfkanonade bombardierte, sondern ihm nur einen kurzen traurigen Blick zuwarf und irgendwas brummte, was Matti als Gutenmorgengruß verstand. Matti nahm den Schlüssel vom alten E-Klasse-Benz vom Brett und verließ das Büro. Er schloss die Tür, damit Ülcan seine Selbsträucherung fortsetzen konnte, und stieg ins Auto. 289 765 Kilometer stand auf dem Tacho. In der Ablage vor dem Automatikwahlhebel lag immer noch die gelbe Broschüre mit den Weisheiten des Konfuzius, aber Matti hatte schon ewig nicht mehr hineingeschaut. Vor einem Jahr hatte er täglich darin gelesen, aber es war eine Scheißzeit gewesen, und das Büchlein erinnerte ihn daran. Doch wegwerfen wollte er es auch nicht. Noch nicht. In der Ecke des Hinterhofs rostete immer noch das Kreidlermoped, dessen massenhafte Nutzung vor ein paar Jahrzehnten die demografischen Nöte Deutschlands um einige Promille vergrößert hatte, wobei der Schwund vor allem die Dorfjugend traf, was in Mattis Augen die Sache nicht unbedingt dramatisierte.
Er startete den Diesel und fuhr in Richtung Hermannplatz, als sein PDA piepte. Die Tour von der Lenaustraße 41 zur Oderstraße in Friedrichshain nahm er an, die alte Dame wartete schon vor der Tür. Sie trippelte mit Handtasche und Hut ins Taxi, überm Arm trug sie trotz der Augustwärme einen Mantel.
»Die Oderstraße kennen Sie doch wohl?«, fragte sie skeptisch, als sie auf der Rückbank saß.
»Ja«, sagte Matti trocken.
»Na, nicht jeder Taxifahrer im Westen kennt sich drüben aus«, sagte sie spitz.
»Am Traveplatz«, erwiderte Matti. Eine Tour, die sich nicht lohnte.
Die Dame schwieg.
Der Duft eines Parfüms zog unter Mattis Nase. Warum erinnerte er ihn an Lily? Sie hatte anders gerochen.
Sie fuhren über die Friedel-, Ohlauer und Wiener auf die Skalitzer Straße. Dann über die Oberbaumbrücke und die Gleise der S-Bahn in die Warschauer Straße, um rechts in die Boxhagener Straße hineinzufahren, und schon waren sie am Ziel. Auf dem Traveplatz spielten Kinder, auf Bänken saßen Mütter mit Kinderwagen und beobachteten das Treiben. Die Dame gab ihm sogar Trinkgeld und trippelte schweigend davon.
Der Tag blieb schön, und Matti fuhr viele Leute durch Berlin. Einen steifen Geschäftsmann nach Schönefeld, zwei missgelaunte junge Frauen zum Hauptbahnhof, schottische Touristen zum KaDeWe, ein Franzose zu Fuß fragte bei einem Ampelstopp auf dem Zebrastreifen nach dem Café Kranzler, das er nicht wiedererkannt hatte. Eine drittklassige Filmschauspielerin zeigte sich beleidigt, womöglich weil Matti sie nach fünf Minuten immer noch nicht gefragt hatte, ob sie nicht Darstellerin in der Serie Soundso sei, womit sie ihn dann jedenfalls mit piepsiger Stimme zutextete. Als er am Nachmittag einen großmäuligen Niederbayern vom Café Einstein in der Kurfürstenstraße zum Tempelhofer Ufer fahren musste, beschloss Matti, dass er genug gearbeitet hatte, und kehrte zurück zur Garage, deren Graffiti-verschmiertes Tor wie fast immer geschlossen war, weil Ülcan nicht aufpasste und seinen Hintern nicht hochbekam. Fuck you stand da in krakeliger Sprayschrift. Matti überhörte Ülcans Gemecker, knallte die Bürotür zu, schwang sich auf sein Damenfahrrad und radelte gemächlich los.
Am U-Bahnhof Boddinstraße kaufte er ein Sechserpack Astra Pils. Als er die Treppen in der Okerstraße 34c hochgestiegen war, ahnte er schon vor der Haustür die Vorzeichen der Katastrophe. Irgendetwas war anders. Er schloss die Tür auf und hörte nichts. Kein Geklapper in der Küche, kein Reden, kein Geräusch aus dem Badezimmer, nichts. Und doch wusste er, dass seine Freunde da waren. Dornröschen zieht aus, dachte Matti. Ihm wurde übel. Er blieb stehen und spürte, wie er zu schwitzen begann. Dann ein Rascheln in der Küche. Matti schlich sich fast an. Als er in die Küche kam, saßen Dornröschen und Twiggy am Tisch. Darauf lag aufgeschlagen ein Telefonbuch. Twiggy wendete sein Gesicht wie in Trance Matti zu. Dornröschen starrte irgendwohin.
»Robbi«, sagte Twiggy. »Robbi.«
Schlimme Gedanken schossen durch Mattis Hirn. Der Kater aus dem Fenster gestürzt, erstickt, in der Waschmaschine zu Tode geschleudert, in der Badewanne ertrunken, Nachhall von Twiggys Ermahnungen. Und bloß keine Fenster kippen, die Katzenfalle Nummer eins!
»Er verliert Haare«, sagte Twiggy.
Matti verstand erst nicht. Er blickte auf den Boden und sah schwarz-weiße Fellhaarbüschel. Er stellte den Sechserpack auf den Tisch. »Wo ist er?«
Twiggy deutete zu seinem Zimmer. Und vor Mattis innerem Auge erschien ein Bild: der Kater an Schläuchen im Krankenbett, Katzenschwestern in Weiß um ihn herum.
Matti ging in Twiggys Zimmer. Robbi lag zusammengekringelt auf dem Bett und öffnete ein Auge halb, als er Matti hörte. Das Auge war tranig und schloss sich gleich wieder. Matti betrachtete den Kater, dann streichelte er ihn und sah ausgedünnte Stellen im Fell. Zurück in der Küche, sagte er: »Wir müssen zu Dr. Schneider.«
»Dr. Schneider ist nicht mehr. Den hat die große schwarze Katze geholt«, erwiderte Twiggy. »Was glaubst du, warum das Branchentelefonbuch hier liegt?« Er deutete darauf.
Matti setzte sich an den Küchentisch. »Habt ihr schon einen gefunden?«
Twiggy schüttelte den Kopf. »Das sind bestimmt alles Giftmischer. Außerdem hat Robbi Angst vor jedem Tierarzt außer Dr. Schneider.« Den Doktortitel würde er in keinem anderen Fall über die Lippen kriegen, aber Dr. Schneider hatte Robbi schon mehrfach das Leben gerettet, jedenfalls wenn man wie Twiggy davon ausging, dass das geringste Unwohlsein lebensbedrohlich sein musste für den armen Kater. Dr. Schneider hatte ein Gespür für Katzen und vor allem für ihre Besitzer gehabt. Er behandelte eher den Katzenhalter als das Tier, wodurch in vielen Fällen auch das Tier wundersam gesundete.
»Na, man kann jetzt nicht sagen, dass Robbi freiwillig zu Schneider ging«, sagte Matti.
»Du hast doch die Protokolle mitgenommen?«, warf Dornröschen ein.
Matti stutzte und sagte: »Ja, klar. Liegen in meinem Zimmer, auf dem Schreibtisch.«
Twiggy blickte von einem zur anderen. »Hey!«
»Mann, Twiggy, Robbi hat die Mauser. Katzen verlieren Haare, wenn es warm wird«, sagte Matti.
»Aber Robbi verliert nicht nur Haare, er ist auch so … apathisch.«
Fast hätte Matti gesagt, dass der Kater immer apathisch sei, außer wenn er was fressen wollte, aber das traute er sich nicht.
»Sabine«, sagte Dornröschen nachdenklich. »Die hat auch eine Katze.«
»Die aus der Redaktion?«, fragte Matti.
Dornröschen nickte und gähnte.
Matti erinnerte sich, er hatte Sabine ein-, zweimal gesehen, eine lebhafte Kleine mit kurzen schwarzen Haaren.
Dornröschen wählte Sabines Nummer auf dem Handy.
»Du hast doch eine Katze. Zu welchem Tierarzt …?«
Sie hörte eine Weile zu und sagte dann: »Alles andere später, wir haben einen Notfall.« Ihr Blick fiel auf Twiggy.
Der Arzt hatte nicht mal einen Doktortitel, dafür lag seine Praxis in der Kienitzer Straße, neben dem Polnischen Schulverein. Twiggy hatte lange auf Robbi eingeredet, um ihn zu überzeugen, in den Katzentransportkorb zu steigen. Aber als der nach einer Viertelstunde die freundliche Einladung immer noch missachtete, setzte Matti ihn kurzerhand in den mobilen Katzenknast. Es ging so schnell, dass weder Robbi noch Twiggy einen Laut des Protests herausbekamen. Matti schloss den Deckel, und da erklang das erste Maunzen des Katers. Es ging allen durch Mark und Bein.
»So, jetzt schnell!« Für Dornröschen kam Widerspruch nicht infrage.
Twiggy nahm vorsichtig den Korb. »Ist gar nicht so schlimm«, sprach er hinein. Robby maulte nur umso lauter.
Im Wartezimmer ängstigten sich sieben Hunde, vier Katzen, ein Meerschweinchen und ein Kanarienvogel. Der Besitzer eines Schäferhunds und die am Hals tätowierte Halterin eines Bullterriers mit einem stählernen Maulkorb unterhielten sich lautstark über die Vorzüge verschiedener Hunderassen, um sich darauf zu einigen, dass neben Bullterriern und Schäferhunden womöglich Hirtenhunde oder Huskies bestehen könnten, dann aber lange nichts komme.
Dornröschen, Twiggy, Matti und Robbis Korb fanden in einer Ecke Platz. Robbi drängte sich in eine Ecke des Knasts und schwieg. Der Korb stand auf Twiggys Schoß, und der flüsterte fortlaufend etwas hinein. Er saß in der Mitte.
Matti beugte sich nach vorn: »Und was machen wir jetzt?«
»Wir gehen gleich ins Sprechzimmer«, sagte Twiggy und redete wieder auf Robbi ein.
»Nein, mit Rosi.«
Dornröschen beugte sich auch nach vorn. »Wir klappern die Leute von der Ini ab, die wissen vielleicht was.«
»Puh«, stöhnte Matti.
»Fällt dir was Besseres ein?«
Nach einer guten Stunde waren sie endlich dran. Herr Kwiatkowski trug einen schwarzen Schnauzer und war mürrisch. Sein Deutsch hatte einen osteuropäischen Einschlag. Er untersuchte Robbi eingehend, und der ließ nach einem Fauchen alles über sich ergehen, als hätte er mit seinem neunten Katzenleben abgeschlossen. Er ertrug sogar die Kanüle, mit der ihm der Arzt Blut abnahm.
Als Robbi wieder im Korb saß, schüttelte Kwiatkowski den Kopf. »Dem Tier fehlt nichts. Kerngesund.«
»Aber er verliert doch Haare«, sagte Twiggy.
Der Arzt schüttelte bedächtig seinen Kopf. »Das Einzige, was ich mir vorstellen kann, aber …« Er schüttelte wieder den Kopf.
»Ja, was denn?« Twiggy starrte ihn an.
Kwiatkowski hob die Brauen. »Etwas Psychosomatisches«, sagte er. Er klang ungläubig.
»Wie bitte?«, fragte Matti.
»Der Kater zeigt diese Symptome, weil er sich … unwohl fühlt.« Kwiatkowski blickte zum Korb, zuckte mit den Achseln, setzte an, etwas zu sagen, schloss aber den Mund wieder.
Twiggy schaute in die Runde. Sein Blick blieb an Dornröschen hängen und verfinsterte sich. Er stampfte einmal auf, erschrak und starrte auf Robbis Korb, nahm ihn und marschierte aus dem Sprechzimmer.
Zurück in der WG-Küche, herrschte eisiges Schweigen. Der Kater lag schlapp auf Twiggys Schoß.
Matti räusperte sich.
Twiggy blickte irgendwohin.
Dornröschen rührte in ihrem Tee, der längst kalt geworden war.
Endlich sagte Matti: »So geht das nicht weiter.«
»Nein«, sagte Twiggy. »So geht das nicht weiter.«
Dornröschen rührte.
»Was ist los?«, fragte Matti. »Willst du ausziehen, alles hinschmeißen?«
Dornröschen rührte.
»Jetzt sag’s doch!«, maulte Twiggy.
»Ihr seid bescheuert«, sagte Dornröschen, gähnte und ging. Ihre Zimmertür klackte.
Die beiden Männer blickten sich an. Matti fühlte sich hilflos. Es war alles Mist. Dornröschen war in der ungnädigen Phase ihrer schnippischen Periode. Da gab es nichts, das half.
Twiggy knurrte, Robbi warf ihm einen gelangweilten Blick zu.
»Also, lass uns nachdenken«, sagte Matti. »Wenn wir mit diesen Ini-Leuten reden wollen …«
Twiggy nahm den Kater auf den Arm, stand schwerfällig auf und verließ die Küche.
Matti wurde wütend. Er holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und trank sie in drei Zügen leer. Er kramte herum, bis er Weinbrandreste fand, die er ebenfalls in sich hineinschüttete. Unter der Spüle entdeckte er eine halb volle Rotweinflasche, er zog den Korken heraus und nahm einen großen Schluck. Und spuckte ihn gleich wieder aus, Essiggeschmack würgte im Hals, und er hätte sich fast übergeben. Matti beugte sich zum Wasserhahn und spülte seinen Mund aus. Dann stellte er sich in den Flur und brüllte: »Habt ihr alle eine Meise? Rosi wurde ermordet, und ihr macht auf beleidigt. Ist euch das egal? Wollt ihr Rosi den Bullen überlassen? Tolle Genossen!«
Er nahm sich eine Flasche Bier und setzte sich wieder an den Küchentisch. Nach dem zweiten Schluck hörte er Schritte. Dornröschen kam klein herein und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie seufzte. Ein paar Sekunden später erschien auch Twiggy.
»Also«, sagte Matti. »Je länger wir warten, desto weniger kriegen wir heraus.«
Dornröschen nickte. Twiggy muffte noch.
»Also, die Ini abgrasen«, sagte Dornröschen nachdenklich. Ihre Hand sank auf die Tischplatte und hob sich wieder, um ein paar Millimeter darüber zu verharren. »Warum haben die eigentlich Wortprotokolle geführt?«
Schweigen.
»Also«, sagte Twiggy. »Wir rücken denen auf die Pelle. Und was erfahren wir?«
»Hm«, erwiderte Matti.
»Motive«, sagte Dornröschen. »Und über die Motive finden wir den Mörder und den, der dahintersteckt.«
»Und die erzählen uns brav alles, weil wir so nette Leute sind.« Matti schniefte.
»Lass mich mal machen«, sagte Dornröschen gelassen.
Karin wohnte an der Kreuzung Gräfestraße/Böckhstraße über einem Stehcafé in einer Wohnung mit vergilbter Raufasertapete und einem abgetretenen Linoleumboden. Adresse und Telefonnummern standen in den Protokollen, und Dornröschen hatte nicht lang gebraucht, um sich bei ihr einzuladen. Karin war schwer beeindruckt, als Dornröschen auftauchte. »Ich hab viel von dir gehört«, murmelte sie. »Und dich auch ein paarmal gesehen. Und du bist wahrscheinlich Matti«, stotterte sie, während Twiggy das Gesicht verzog. »Und Twiggy …« Sie hielt ein paar Sekunden die Hand vor den schmallippigen Mund, atmete hörbar aus und sagte: »Dann kommt mal rein.«
Rothaarig, dünn und klein trippelte sie vor ihnen her in die Küche. Sie blieb neben der Tür stehen und beobachtete, wie die WG sich an den Tisch setzte. »Wollt ihr was trinken?«, fragte sie.
»Danke.« Dornröschen zeigte auf den freien Stuhl am Kopfende, und Karin setzte sich vorsichtig, als könnte der Stuhl jeden Augenblick zusammenbrechen. Sie starrte Dornröschen an.
»Wir haben dich angerufen, weil du in den Protokollen stehst«, sagte die und zeigte auf die Mappe, die vor Matti lag.
Karin legte den Kopf auf die Seite und hatte große grüne Augen. Auf der Nase hielten Sommersprossen eine Versammlung ab.
»Es geht um Rosi«, sagte Dornröschen, und Karins Augen wurden größer. Sie zog die Brauen hoch und kratzte sich an der Wange.
»Sie ist tot«, sagte Twiggy vorsichtig.
Karin nickte hektisch.
»Und wir wollen herausfinden, wer sie umgebracht hat.«
»Ja«, sagte Karin.
»Sie wusste etwas über die … Immobiliengeschichten hier«, erklärte Dornröschen.
»Ja.«
»Und wir halten es für möglich, dass sie etwas veröffentlichen wollte, das jemanden so genervt hat, dass er sie umbringen musste.«
»Meint ihr?«
Matti sah seine Finger auf der Tischplatte tanzen und hielt an, als ihn Dornröschens Blick strafte.
»Hat sie dir irgendwas erzählt?«, fragte Dornröschen freundlich.
»Nööö.« Karin zog das Wort in die Länge und ließ es verklingen.
»Du hast dir keine Gedanken gemacht, wer Rosi umgebracht haben könnte?«, warf Matti ein.
Karins Gesicht zuckte. »Na, diese Kolding-Typen«, sagte Karin. Schweigen, dann: »Vielleicht.«
»Habt ihr mit denen mal was zu tun gehabt?«, fragte Twiggy.
»Ja.« Karin nickte. »Die haben mal eine Sitzung von uns besucht, wollten uns … einseifen. Das sind … smarte Typen, ohne Schlips, mit Jeans, Turnschuhen und so. Ist ihnen aber nicht gelungen.«
»Und dann?«, fragte Dornröschen.
Karin zögerte, stand auf und verließ die Küche. Sie kehrte mit einem Blatt Papier zurück und legte es auf den Tisch: Hört auf oder ihr seid tot.
Dornröschen zog das Blatt vor sich und betrachtete es. Dann schob sie es zu Matti. Der nahm es in beide Hände und hielt es gegen das Licht des Küchenfensters. Schwarze Laserdruckerschrift auf Kopierpapier. Er reichte es Twiggy, der es kurz anschaute und seine Augen auf Karin richtete. Sie war bleicher geworden.
»Haben das alle bekommen?«, fragte Dornröschen.
Karin nickte hektisch.
»Per Post?«
»Mit der Post.«
»Wann?«
»Vor drei Wochen oder so.«
»Und was habt ihr dagegen getan?«
Sie zuckte mit den Achseln und legte ihren Kopf schief.
»Hm«, sagte Matti. »Zu den Bullen seid ihr nicht gegangen?«
Karin schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
»Da wart ihr euch einig?«
»Bananen-Udo, also Udo Kommer, der wollte zu den Bullen, aber wir haben ihn überstimmt.«
»Kennt ihr den?«, fragte Matti.
Twiggy schnäuzte sich, steckte das Taschentuch in die Hosentasche und sagte: »Der ist okay. Hat im Hamburger Großmarkt malocht und ist seit gut zwei Jahren hier. Ihr erkennt ihn wieder, wenn ihr ihn seht.«
»Und warum will der dann zu den Bullen?«, fragte Matti.
»Manchmal fangen die sogar Mörder«, schnappte Twiggy.
»Und was macht er jetzt, wenn er keine Bananenkisten mehr schleppt?«
»Ist bei Schwarze Risse, im Buchladenkollektiv im Mehringhof«, sagte Dornröschen. »Ich erinnere mich. Aber zurück zu den Kolding-Leuten. Die waren bei euch, haben versucht euch einzuseifen, sind auf die Schnauze gefallen, und danach habt ihr diesen Liebesbrief bekommen? In dieser Reihenfolge?«
Karin nickte beflissen.
»Und ihr glaubt, der Brief stammt von denen?«
Karin nickte. »Von wem denn sonst?«
»Bananen-Udo glaubt das auch?«, fragte Matti.
»Alle glauben das«, erwiderte Karin. »Wer soll es denn sonst sein?«
»Und warum sind die so sauer auf euch?«
»Mensch, Matti, das ist doch klar.« Karin klang gereizt. »Wir haben Aktionen gegen die gemacht und gegen diese Spießer mit der dicken Kohle …«
»Was für Aktionen?«, fragte Twiggy.
»Gesprayt und so …«
»Und was ist das ›Und so‹?«
Karin wurde noch bleicher.
»Ist gut«, sagte Dornröschen.
Matti fielen Zeitungsberichte ein von brennenden Autos, eingeworfenen Fensterscheiben und krumm getretenen Luxusfahrrädern.
»Haben die Kolding-Fritzen euch auf die militanten Aktionen angesprochen?«, fragte Dornröschen geduldig.
Karin nickte.
»Und ihr habt es abgestritten?«
»Wir haben gelacht«, sagte Karin.
»Habt ihr solche Aktionen gemacht?«, fragte Matti.
Karin grinste verschämt.
»Ist doch okay«, sagte Twiggy im Tonfall eines Oberarztes nach einer kritischen Operation zu den Angehörigen im Krankenhausflur. »Ich würde mir auch was einfallen lassen, um die Pisser zu vergraulen. Nur, hat’s was gebracht?«
»Aber wir müssen doch was tun!«, sagte Karin. »Ein Haus nach dem anderen wird gekauft und luxussaniert. Die Mieten steigen, es werden Mietwohnungen versteigert, stell dir das mal vor, das ist doch pervers. Darin leben Leute, oft schon seit Jahrzehnten, und dann werden die mit ihren Wohnungen einfach versteigert. Wer bietet das Meiste?« Ihre Hand schnellte hoch, als wollte sie sich melden. »Da kann man nicht herumsitzen und jammern, da muss man was tun, wenn die so mit Menschen umspringen.«
»Sagen wir es so: Die Kolding-Fritzen glaubten, dass ihr hinter den Aktionen steckt. Deshalb sind sie aufgetaucht, deshalb könnten sie den Drohbrief verfasst haben und deshalb könnten sie Rosi umgebracht haben.« Dornröschen kratzte sich an der Nase. »Was haben die euch gesagt, als sie aufgetaucht sind?«
Karin überlegte. »So genau weiß ich das gar nicht mehr. Nichts Genaues. Von Geld war die Rede, von Zusammenarbeit, dass die Betroffenen einbezogen und irgendwie entschädigt werden sollen …«
»Haben die euch Geld angeboten, damit ihr Ruhe gebt?«, fragte Matti.
Karin schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, da waren so Sprüche wie: Man kann über alles reden … Ach ja, die laberten, dass sie uns vielleicht als Experten hinzuziehen könnten.«
»Hat jemand in der Ini das gut gefunden?«, fragte Matti.
»Nein!« Das kam prompt. »Wir haben öffentliche Sitzungen in der Weltküche, hin und wieder kommen Leute vorbei, wenn es sie gerade erwischt hat mit Mieterhöhungen oder Umwandlungen in Eigentumswohnungen. Und dann kamen eben diese drei Typen, ganz cool, gut gelaunt und fanden uns toller, als wir uns selbst fanden. Sie hätten Verständnis, für alles. Aber irgendwann müsse man vernünftig reden. Wir könnten nicht bis zu unserem Lebensende … der hat wirklich gesagt: bis zu unserem Lebensende …« Karin legte ihre Stirn in Falten. »Na ja.« Sie kratzte sich an der Wange. »Also, wir könnten nicht bis zu unserem Lebensende solche Sachen machen.« Sie klang verächtlich.
»Und woher konnten die so genau wissen, was ihr macht?«, fragte Dornröschen.
»Ach, das weiß fast jeder hier. Wir diskutieren das, wir verteilen Flugblätter … nur die konkrete Planung und die Aktion selbst, also, was wir machen, wann wir es machen und so weiter, das wird im engeren Kreis geklärt.«
»Sicher, dass ihr keinen Spitzel habt?« Matti blickte Karin aufmerksam an.
Sie überlegte, schüttelte bedächtig den Kopf, rieb sich an der Nase und stöhnte leise. »Wer sollte das Schwein sein?«
Matti zuckte mit den Achseln. »Wenn du es nicht weißt oder ahnst?«
Sie stützte ihr Gesicht auf die Hände und dachte nach. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Aber die Kolding-Leute wussten einiges über euch.«
»Glaubst du, die haben bei uns einen eingebaut? Ich kenne jeden, der bei uns mitmacht.«
»Und was ist mit Bananen-Udo, der kommt aus Hamburg. Sagt er. Und der wollte zu den Bullen mit dem Brief«, sagte Dornröschen. »Legst du für den auch deine Hand ins Feuer?«
Karin verzog ihr Gesicht.
»Habt ihr euch über den in Hamburg erkundigt?«
»Ich nicht«, sagte Karin. »Ich spitzle doch niemandem nach.«
»Klar«, sagte Matti. »Aber fragen heißt nicht spitzeln.«
»Hat Udo erzählt, was er in Hamburg gemacht hat?«
»Ja, war bei den Antiimps, bis es ihm zu langweilig wurde. Hat er gesagt.«
Dornröschen tauschte Blicke mit Matti und Twiggy und nickte.
Zurück in der Okerstraße, rief Matti Gaby an, die mit Werner dem Großmaul in einer WG in der Adalbertstraße wohnte. Ob sie einen zuverlässigen Genossen bei den Hamburger Antiimps kenne. Gaby fragte nicht groß nach, sondern gab Matti die Nummer von Aliza, die sei in Ordnung. Er solle sich auf sie berufen, Aliza würde dann Gaby fragen und Matti zurückrufen. Eine Viertelstunde nach Mattis Anruf hatte er Aliza auf dem Handy. Sie hatte eine leise Stimme. »Bananen-Udo oder Udo Kommer, sagt dir der Name was?«
Rauschen, dann: »Nein. Wir haben hier einen Udo, aber der wohnt im Schanzenviertel und nicht in Berlin.«
»Vor zwei Jahren etwa soll der nach Berlin gezogen sein.«
Wieder Rauschen. »Keine Ahnung«, sagte Aliza. »Wirklich nicht.«
Nachdem Matti das Gespräch beendet hatte, saßen sie eine Weile schweigend am Küchentisch.
»Was hat der Spitzel mit dem Mord zu tun?«, fragte Dornröschen endlich.
Robbi schlich sich von seinem Krankenlager in Twiggys Zimmer auf dessen Schoß und sah elend aus. Twiggy streichelte ihn sanft über den Kopf, der Kater schnurrte leise und machte sich lang. Twiggy betrachtete eingehend ein Haarbüschel und schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung«, sagte Matti.
»Wenn er überhaupt einer ist«, sagte Twiggy und ließ das Fellbüschel auf den Boden schweben. Er verfolgte es mit den Augen, bis es gelandet war.
»Also, er will mit dem Drohbrief zu den Bullen, er ist erst seit zwei Jahren in Berlin, und er hat über seine Vergangenheit gelogen«, sagte Matti. »Ich finde, das reicht.«
»Du bist Lily-geschädigt«, erwiderte Twiggy. »Das ist halt ein Angeber, wäre nicht der erste.«
Matti blies die Backen auf und entließ die Luft.
»Nun ist es gut«, sagte Dornröschen. »Nicht schon wieder Streit.« Sie nippte an ihrem Tee. Patti Smith röhrte My Generation, Dornröschen blickte auf ihr Handy, lächelte und wies den Anruf ab. »Udo taucht selten auf bei den Ini-Sitzungen, behaupten die Protokolle. Das spricht dagegen, dass er spitzelt.«
»Es sei denn, er hat den Schwachsinn mit den Wortprotokollen erfunden«, sagte Matti. »Dann braucht er nur die Aufnahme oder deren Abschrift.«
»Raffiniert«, spöttelte Twiggy.
Matti warf ihm einen giftigen Blick zu.
»Ich weiß, warum Robbi krank ist«, sagte Twiggy. »Ihr seid schuld. Dornröschen vor allem. Das ist doch ein Scheißklima hier, mir fallen auch bald die Haare aus.« Er starrte gegen die Wand.
»Können wir vielleicht beim Thema bleiben«, sagte Dornröschen betont ruhig.
»Seit wann bestimmst du, was das Thema ist?«, fragte Twiggy.
»Wir wollten über Rosi sprechen, du auch«, erwiderte Dornröschen trocken.
Twiggy streichelte Robbi und schwieg.
»Okay«, sagte Matti, »wenn Bananen-Udo ein Spitzel ist, was sagt uns das?«
Dornröschen zuckte mit den Achseln. »Was sollen wir sonst machen, außer nach Auffälligkeiten zu suchen?«
Schweigen.
»Wir knöpfen uns Udo vor«, sagte Matti. »Und dann werden wir sehen.«
Udo Kommer wohnte im dritten Stock eines Mietshauses in der Nostitzstraße mit restaurierter Fassade, weiß getüncht, davor parkende Autos, zwei Fahrräder an einem Ständer angeschlossen. Ein lauer Wind blies die Straße hinunter, wirbelte Staub auf und wehte die Körnchenwolke auf die Fahrbahn.
Sie standen vor der Haustür und fanden das Klingelschild. Bevor Matti drückte, sagte er: »Der wohnt gar nicht im Gräfekiez. Wenn irgendeine Hütte gentrifiziert ist, dann die hier.«
»Ah, pünktlich wie die Maurer«, sagte Udo, der sie vor der Wohnungstür erwartete. Das Treppenhaus war neu und edel, dunkel gebeiztes Holz, weiße Kacheln an der Wand, keine Kritzeleien. Matti entdeckte ein zweites Schloss an Udos Wohnungstür und, als sie in der Wohnung waren, einen Stahlbügel von innen. Sie liefen über einen weichen Teppich in ein Wohnzimmer mit Ledersofa und Ledersesseln um einen Glastisch auf Chrombeinen, darauf eine Teekanne und vier Tassen. Im Regal standen eine Bang & Olufsen-Anlage, in der Ecke ein Loewe-Flachbildschirm.
Udo war groß und dünn und trug einen Kinnbart, der sein Gesicht noch verlängerte. Das war knochig, die schwarzen Augen lagen tief in den Höhlen. Er zeigte auf die Sitze und schenkte ungefragt ein. Matti war der Typ auf den ersten Blick unsympathisch. Udo setzte sich auf den freien Sessel und deutete auf Zucker und Milch.
»Schön, dass du gleich Zeit für uns gefunden hast«, sagte Dornröschen, die ihn angerufen hatte.
»Ehrensache.« Udo lachte verdruckst.
»Es geht um den Mord an Rosi …«
»Schlimme Sache, ich habe sie gemocht«, warf Udo ein.
»Sie war eine Freundin von uns.« Dornröschen blickte ihn aufmerksam an.
»Ich weiß, sie hat es erwähnt. Schlimme Sache«, wiederholte er.
»Wir glauben, sie wurde ermordet, weil sie an den Aktionen teilnahm«, sagte Matti. »Und dass vielleicht die Kolding-Leute damit zu tun haben.«
Udo lehnte sich zurück und blickte zur Decke. »Keine Ahnung. Komische Sache.«
»Die hätten ein Motiv«, sagte Twiggy.
Udo nickte. »Klar. Den Drohbrief kennt ihr?« Er wartete, bis Matti nickte. »Den haben wir gekriegt, nachdem die Jungdynamiker uns besucht hatten. Mag Zufall sein. Oder auch nicht.«
»Rosi wollte mir was geben, damit ich es in der Stadtteilzeitung veröffentliche«, sagte Dornröschen. »Weißt du was davon?«
Udo überlegte und schüttelte den Kopf.
»Wie gut hast du Rosi gekannt?«, fragte Twiggy. Matti hörte dessen Stimme an, dass er den Typ genauso wenig mochte.
»Nicht so gut. Ich fand sie … nett, zuverlässig, sehr aktiv, immer mit dabei …«
»Du ja nicht so«, sagte Matti.
Udo blickte ihn ein paar Sekunden fragend an. »Ich habe nicht viel Zeit. Aber wenn, dann häng ich mich rein.«
»Von dir stammt die Idee mit den Wortprotokollen«, sagte Dornröschen.
Udo nickte.
»Warum?«
»Um die Debatte zu dokumentieren.«
»Keine Angst, dass das den Bullen in die Hände fällt?«
»Nein, außerdem steht nicht alles drin. Wir nehmen das auf, dann tippt es einer ab. Aber es wird nicht alles abgeschrieben. Du verstehst …« Er blinzelte.
»Das ja, aber nicht, warum das überhaupt aufgenommen wird.«
»Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens halten wir so jeden auf dem gleichen Stand, zum Beispiel mich, ich bin viel auf Achse. Zweitens können wir das später einem linken Archiv geben. Unsere Diskussionen stehen gewissermaßen stellvertretend für Debatten, wie sie in Antigentrifizierungsinitiativen geführt werden. Drittens, und das gehört dazu, werte ich die Protokolle aus als Teil meiner Doktorarbeit in Soziologie an der FU. Das nennt man Feldforschung und teilnehmende Beobachtung.« Er sah bedeutend aus.
Matti blickte sich um. Alles teuer, alles ziemlich neu. »Und viertens wäre deine Feldforschung für die Bullen ein gefundenes Fressen.«
»Quatsch«, sagte Udo. »Du findest nicht einen einzigen Hinweis auf konkrete Aktionen in den Abschriften.«
»Und die Bänder?«
»Die Aufnahmen werden nach der Abschrift sofort gelöscht. Übrigens gibt es kein Band, sondern einen MP3-Rekorder.« Wieder ein bedeutender Blick.
»Wer garantiert das?«, fragte Twiggy.
»Es sind immer mindestens zwei dran mit dem Abschreiben, und beide vergewissern sich, dass die Aufzeichnung gelöscht ist.«
»Mein Gott, das ist ja wie auf ’ner Behörde«, stöhnte Twiggy.
Udo grinste verklemmt. »Das ist wegen der Doktorarbeit, ihr versteht.«
Matti ließ seinen Blick noch einmal im Raum schweifen. »Du hast im Großmarkt gearbeitet, in Hamburg?«
Udo nickte.
Mattis Augen zeigten auf die Hi-Fi-Anlage und den Fernseher. Udos Augen folgten. Er schüttelte den Kopf.
»Du hast Bananenkisten geschleppt?«, fragte Dornröschen beiläufig.
Udo nickte und schüttelte wieder den Kopf. »Ich habe Fruchtkisten befördert, geschleppt wird so was schon lang nicht mehr.«
»Aha«, sagte Twiggy. »Und davon wird man reich.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Udo. »Aber sie haben mich zum Abteilungsleiter in der Logistik gemacht. Und da verdient man einigermaßen. Konnte mir was zurücklegen.«
Matti war überrascht. Eine einfache Erklärung.
»Das lässt sich leicht überprüfen«, sagte Udo. »Ich finde es übrigens echt Scheiße, dass ihr mir nicht traut.« Er stand auf und verließ den Raum. Sie schwiegen. Nach einer Weile hörten sie die Toilettenspülung. »Aber diese Protokollgeschichte ist doch blödsinnig. Für seine Doktorarbeit …«, flüsterte Matti.
»Und dass ich promoviere, könnt ihr auch prüfen. ›Soziale Bewegungen im urbanen Feld‹, so heißt der Arbeitstitel.« Udo setzte sich.
»Klingt echt fetzig«, knurrte Twiggy.
Udo grinste widerwillig. »Ich finde es nicht lustig, als Spitzel verdächtigt zu werden.«
»In Hamburg kennt dich keiner bei den Antiimps«, sagte Dornröschen.
Udo wurde bleich. Sie schwiegen, Matti fühlte die Spannung.
»Okay«, sagte Udo. »Ich hab ein bisschen … angegeben.«
Schon wieder so eine einleuchtende Erklärung, wie aus der Pistole geschossen, dachte Matti. Viel zu einleuchtend.
»Er hat ein bisschen angegeben«, echote Twiggy. »Und was hast du stattdessen gemacht?«
Udo zögerte. »Nichts. Ich hatte echt einen Stressjob. Das ist die Sache. Einen Stressjob. Und keine Zeit für was anderes. Aber wenn ich Zeit gehabt hätte, wäre ich bei den Antiimps …«
»Klar«, sagte Matti. »Aber du musstest Schotter verdienen für dieses« – er blickte sich demonstrativ um – »Zeug hier.«
Udo zuckte mit den Achseln. »Ich habe Geld verdient fürs Studium. Meine Eltern …«
»Schluchz«, sagte Twiggy.
Udo guckte verzweifelt. »Ich bin kein Spitzel.«
»Wenn ich einer wäre, würde ich das auch bestreiten.« Matti schniefte.
Dornröschen behielt Udo im Blick.
Dessen Stirn begann zu glänzen. Er nestelte an seiner Gürtelschnalle herum. »Wie soll ich beweisen, etwas nicht zu sein?«, fragte Udo. »Das ist unmöglich.«
»Und warum machst du mit bei einer Ini im Gräfekiez, wo du doch in Einundsechzig wohnst?«, fragte Matti.
»Zufall, ich habe was gesucht, wo ich einsteigen kann … und diese Gentrifizierungsscheiße ist doch überall. Überall werden Leute aus ihren Wohnungen verdrängt, überall ziehen die reichen Ärsche aus Schwaben hin, nur nicht an die Bahngleise und Autobahnen … Und im Brennpunkt ist gerade der Gräfekiez, nachdem sie den Prenzelberg abgefrühstückt haben.«