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NEUJAHR IM APRIL
Vientiane rüstete sich mit dem üblichen Elan für die Neujahrsfeierlichkeiten am 14. April. Häuser mussten geputzt, Reparaturen vorgenommen, alte Streitigkeiten begraben werden. Es war Brauch, das neue Jahr in einem Zustand körperlicher und moralischer Reinheit zu begrüßen.
So heiß wie im März und Anfang April war es seit Beginn der Wetteraufzeichnung nicht gewesen, und viele Menschen konnten sich an den letzten Regen kaum noch erinnern. Abgesehen von der Regierung freute sich das ganze Land auf Spritzgüsse, Wasserduschen und ein paar Tage ausgelassenen Feierns in kurzen Hosen und Gummisandalen. Songkran war das bei Weitem fröhlichste und ausschweifendste Fest im laotischen Kalender.
Das Geplansche brachte gewöhnlich auch Mutter Natur auf den Geschmack, die sich mit ein paar ergiebigen Wolkenbrüchen anschickte, den Durst der ausgedorrten Erde zu löschen. Hätte Mutter Natur jedoch an der Sitzung des Innenausschusses am 11. April teilgenommen, wäre sie wohl ebenso hitzköpfig geworden wie Civilai.
Nach der Schlussabstimmung stürmte er mit beschlagener Brille und seinen beiden Beratern im Schlepptau aus dem Saal.
»Dummköpfe!« Mehr hatte er nicht zu sagen.
 
Es war Sonntag. Inthanet traf, mit tatkräftiger Hilfe seiner reizenden Assistentin Fräulein Vong, die letzten Vorbereitungen für seinen großen Auftritt. Von seinem Beobachtungsposten in der Hängematte aus konnte Siri nicht umhin, die zarte Rötung ihrer Wangen zu bemerken. Das Säumen königlicher Gewänder war entweder eine schweißtreibende Arbeit, oder die beiden führten etwas im Schilde. Er mochte sich lieber gar nicht vorstellen, was genau da vor sich ging, aber es freute ihn, dass endlich ein wenig Romantik in Fräulein Vongs trostloses Leben kam.
Manoluk lag auf der Pritsche auf der Veranda und schlief. Zu ihren Füßen sirrte ein Ventilator, den mehrere Verlängerungskabel mit Strom versorgten. Ein weiteres Kabel führte ins Wohnzimmer, wo sich ein zweiter Ventilator drehte und die frisch bemalten Gesichter einer Reihe zufriedener Puppen trocknete. Ein dritter Ventilator kühlte die glühenden Wangen der beiden Turteltauben im Hinterzimmer. Im Radio lief Flötenmusik aus dem Norden, eine Direktübertragung aus dem Studio der Armee. Im Eisschrank stand frischer Zitronentee bereit. Im Reiskocher dampfte das Mittagessen.
Siri saugte derart viel Energie aus dem staatlichen Stromnetz, dass er jeden Augenblick mit einer Razzia rechnete. Als es plötzlich am Gartentor klingelte – eine Klingel, die nur Fremde benutzten -, wusste er, dass das Spiel aus war.
»Besuch«, rief Fräulein Vong.
»Das höre ich«, brummte Siri. »Sie möchten nicht zufällig nachsehen, wer es ist?«
»Ich nähe.«
»Soso.«
Das alte Fräulein Vong wäre beim ersten Schrillen der Türglocke mit Fernglas und Notizblock ans Fenster gestürzt. Das neue Fräulein Vong kümmerte sich nicht darum. Siri kletterte widerstrebend aus seiner Hängematte und schlurfte steif über den Flur. Die Klingel schellte noch zwei Mal Sturm, bis er endlich vor dem Haus angekommen war.
»Gemach, gemach«, sagte er und öffnete das knarrende Tor, das weder verschlossen noch verriegelt war.
Zu seinem Erstaunen sah er sich Frau Fah, der Gattin seines alten Nachbarn Herrn Soth, gegenüber. Sie hatte geweint und zitterte am ganzen Körper.
»Frau Fah. Was ist denn los?«
»Dr. Siri, können sie bitte mitkommen?«
So viele Worte hatten sie in all der Zeit, die sie Tür an Tür gewohnt hatten, nicht gewechselt.
»Was ist denn?«
»Mein Mann liegt im Sterben, und er gibt Ihnen die Schuld.«
Siri holte seine Tasche, lud Frau Fah auf sein Motorrad, und sie fuhren los. Sie wies ihm den Weg. Zu seiner Verwunderung waren die Nachbarn nur gut anderthalb Kilometer weiter in einen ähnlichen Vorort gezogen. Die Frau wollte unbedingt außer Sichtweise des Hauses absteigen und vorausgehen, damit ihr Mann sie nicht bemerkte. Ihr neues Haus sah fast genauso aus wie das alte, das sie so überstürzt verlassen hatten. Es war alles höchst absonderlich.
Da Frau Fah zur Krankheit ihres Mannes keine näheren Angaben gemacht hatte, wusste Siri nicht, was ihn erwartete. Er stellte das Motorrad auf der Straße ab und folgte der Frau durch das luxuriöse Haus ins Schlafzimmer. In der Mitte des riesigen Doppelbettes lag ein auffällig geschrumpfter Herr Soth. Seine Haut war grau, und seine Wangenknochen standen hervor.
»Herr Soth, was ist denn mit Ihnen passiert?«
Der Mann schlug langsam die Augen auf und funkelte Siri wütend an.
»Wie Sie sehen, hat es mich erwischt, Doktor.«
»Was denn?«
Er wollte Soths Handgelenk ergreifen, doch der wich zurück.
»Ich brauche Ihre Medizin nicht. Ich kann mir ein Dutzend richtiger Ärzte leisten. Keiner von ihnen konnte mir helfen.«
»Ich verstehe das nicht. Was hat Sie nur so krank gemacht?«
Soth sah an Siri vorbei.
»Das.«
Siri wandte den Kopf und war wie versteinert. In der Ecke lag der sichtlich abgemagerte Saloop und leckte sich die Pfote.
»Saloop? Ja, ist es denn die Möglichkeit? Hier steckst du also. Wie geht’s dir, alter Junge?«
Soth machte große Augen. »Dann können Sie ihn also sehen.«
»Selbstverständlich.«
»Selbstverständlich? Meine Frau kann ihn nicht sehen. Die Kinder auch nicht. Der Einzige, der den blöden Köter sehen kann, bin ich. Gleich drei Wahrsager haben mir bescheinigt, dass er nicht existiert.«
Siri starrte Saloop an, der sein altes Herrchen nicht wiederzuerkennen schien. Seine Augen waren glasig und rot wie Cocktailkirschen. Sein Fell war stumpf. Sein linkes Ohr schien etwas tiefer zu sitzen als das rechte. Abgesehen von seiner unregelmäßigen Atmung rührte er sich nicht. Siri überkam ein Gefühl wehmutsvoller Trauer.
Was er da sah, war nicht sein Hund; es war der böse Geist eines Tieres, das eines unnatürlichen Todes gestorben war.
»Er ist tot«, sagte Soth, und eine Träne erschien in seinem Augenwinkel.
»Was macht er hier?«
»Er verfolgt mich. Und er wird keine Ruhe geben, bis ich in die Grube fahre. Er lässt mich weder schlafen noch essen. Er bleibt hier sitzen, bis ich vermodert bin.«
»Aber warum?«
»Warum? Warum? Weil ich ihn getötet habe, darum.«
»Sie haben meinen Hund getötet?«
»Ja, aber nur Ihretwegen. Weil sie einen Narren aus mir gemacht haben. Sie haben mir keine andere Wahl gelassen. Ich habe ihn in meinen Garten gelockt und ihm mit einer Schaufel den Schädel eingeschlagen. Ich wollte mich an Ihnen rächen. Das ist alles Ihre Schuld.«
»Der Hund hatte damit nichts zu tun.«
»Es war Ihr Hund. Ich wusste, wie viel er Ihnen bedeutete. Es war ein Racheakt, weiter nichts.«
»Ich glaube kaum, dass er diesen Zusammenhang erkennt. Nur ein Mensch würde einem Dritten etwas antun, um sich an jemandem zu rächen, der ihn betrogen hat. Das ist wider die Natur. Wenn Sie ein Hühnchen mit mir zu rupfen hatten, hätten sie das mit mir persönlich regeln müssen. Der Geist des Hundes weiß nicht, warum Sie ihn hassen.«
»Ich hasse Sie, nicht Ihren Hund. Es ist alles Ihre Schuld. Erst hat der Drecksköter mich aus meinem Haus gejagt, und dann ist er mir hierher gefolgt. Er lässt mich einfach nicht in Ruhe. Machen Sie, dass er verschwindet.«
»Das kann ich nicht.«
»Was? Schauen Sie mich an, Siri. Sehen Sie denn nicht, wie krank ich bin? Wollen Sie meinen Tod auf dem Gewissen haben? Pfeifen Sie Ihren Hund zurück.«
»Nein. Das geht nicht. Sie müssen den Geist des Hundes um Vergebung bitten.«
»Hä? Ich bitte doch einen Hund nicht um Vergebung. Wofür halten sie mich?«
Siri musterte den Mann, dessen Arroganz selbst im Angesicht des Todes ungebrochen schien. Er zeigte keine Reue. Der Einzige, der ihn von diesem Fluch erlösen konnte, war Soth selbst, aber dazu musste er die Verantwortung für seine Untat übernehmen.
»Herr Soth, ich will ganz offen zu Ihnen sein. Es gibt nur eine Möglichkeit, Ihr Schicksal abzuwenden: Sie müssen aufhören, mir für alles die Schuld zu geben. Sie müssen eine basee-Zeremonie vollziehen und davon überzeugt sein, dass Sie und nur Sie dieses Unheil verursacht haben. Sie müssen den Geist des Hundes um Vergebung bitten. Niemand sonst kann Ihnen diese Last abnehmen.«
»Dann weigern Sie sich also?«
»Nein. Ich sage Ihnen, was Sie tun müssen. Ich biete Ihnen einen Ausweg an.«
»Dafür verfluche ich Sie, Siri. Ich verfluche Sie hundert Mal.«
Siri machte seine Tasche zu und ging zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um.
»Da befinden Sie sich in bester Gesellschaft, Herr Soth. Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe. Es liegt ganz allein an Ihnen.«
Soth spuckte verächtlich aus.
Im Wohnzimmer erklärte er Frau Fah, was er ihrem Mann geraten hatte.
»Das wird er niemals tun«, sagte sie.
»Dann wird er es nicht überleben.«
»Nein? Umso besser.«
Er fand ihre Offenheit schockierend, aber nicht weiter verwunderlich. Er hatte gehört, wie der Mann mit seiner Frau zu reden pflegte. Er hatte gesehen, wie er sie in ihrem eigenen Haus als Sklavin hielt. Sie war froh, dass all das nun vorbei war, und nachdem Siri ihr versichert hatte, dass ihr Mann würde sterben müssen, brachte sie endlich den Mut auf, zu sagen, was sie dachte.
»Wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte Siri, »Sie wissen ja, wo ich wohne. Ich meine es ernst.«
Auf der kurzen Fahrt nach Hause versuchte Siri, seine Gefühle zu ordnen. Er hatte keinerlei Gewissensbisse. So traurig ihn der Tod seines Hundes stimmte, so stolz war er darauf, wie Saloop mit dem Schwein abgerechnet hatte. Was Soth anging, so rächte das Yin sich jetzt für jahrelanges Yang. Dagegen war er machtlos. Irgendwann erwischt es jeden, entweder in diesem oder einem anderen Leben. Es freute ihn, dass die Gesetze des I Ging selbst in wirren Zeiten wie diesen ihre Gültigkeit behielten.