21
BLINDE PANIK
Das Wesen, in das Seua sich verwandelt hatte, saß am Flussufer und sah den Mond aufgehen. Er kratzte sich das fleckige, blutverklebte Fell und tauchte die Schnauze ins schlammtrübe Wasser, um seinen Durst zu stillen.
Nun würde es wieder einen Monat dauern. Die Krankenschwester würde die Letzte sein. Der Mond stand im Zenit, und er würde Gott sein viertes Opfer bringen, auf den Stufen der Schwarzen Stupa. Bei all der Liebe, all der Hingabe, die er bewiesen hatte, würde der Herr ihn sicher bald ins Ewige Reich heimholen. Dann konnte er in Frieden ruhen und musste nicht mehr in Tiergestalt auf Erden wandeln.
Wieder blickte er gen Himmel. Es war so weit. Gekrümmt und mit gesenktem Kopf schlich er zu der Stelle, wo sich die Wurzeln des Nachtjasmins die Böschung hinunterwanden. Er teilte das dichte Schilf, kroch tief zwischen die Wurzeln und verschwand in der Erde.
 
 
Siri war so durcheinander, dass er fast einen Pfosten gerammt hätte, als er beim alten PL-Hauptquartier ankam. Er musste ihm ausweichen und fand erst in letzter Sekunde in die Senkrechte zurück. Er stellte den Motor ab und lief zum Tor. Es war mit einer Kette verschlossen und – trotz des pulsierenden Adrenalins in seinen Adern – zu hoch, um hinüberzuklettern.
Er griff hinein und tastete die Kette nach einem Vorhängeschloss ab. Er fand keins. Die Kette war um die Gitterstäbe gewickelt und wie ein Seil verknotet worden. Er lockerte sie ein wenig und stieß das Tor gerade so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er am Hauptgebäude entlang zur Rückseite lief.
Dort stieß er auf ein Raster aus großen, rechteckigen Betonplatten. Der Mond stand hoch und hell am Himmel, und er hatte den geheimen Tunneleingang rasch gefunden. Er brauchte nicht einmal ein Werkzeug; jemand war vor ihm dagewesen, hatte die Platte einfach beiseitegeschoben und neben dem Einstieg liegen lassen.
Er eilte zu dem Loch im Boden und starrte hinein. Eine steile Holzleiter führte in tiefschwarze Dunkelheit hinab. Ohne einen Augenblick zu zögern, kletterte er durch die Öffnung und tastete sich mit den Füßen die Sprossen hinunter. Während er langsam in der Erde versank, musste er unwillkürlich daran denken, wie die Phibob ihn unter die Stupa gezerrt hatten. Er hielt inne, öffnete seinen Kragenknopf und zog den weißen Talisman hervor.
Als nur noch sein schlohweißer Haarschopf aus dem Boden ragte, kramte er in seiner Umhängetasche nach der Taschenlampe. Da er sie stets bei sich trug, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, danach zu sehen, als er das Haus verlassen hatte. Er benutzte sie eigentlich nie, es sei denn, er ließ seine Zähne zählen. Ihm stockte das Herz. Er hatte vergessen, das Mistding wieder einzustecken. Es war nicht da.
Es war ein schrecklicher Moment. Er wollte in die Erde hinabsteigen, um Dtui zu suchen. Er wusste instinktiv, dass jede Sekunde zählte, aber er hatte kein Licht. Wie sollte er ihr helfen, wenn dieses Ding dort unten war? Der Strahl der Lampe hätte es vielleicht vertrieben. Was konnte er schon ausrichten, wenn er nichts sehen konnte? Aus einem schwierigen war unverhofft ein aussichtsloses Unterfangen geworden. Aber es half alles nichts. Ihm blieb keine Zeit und keine Wahl.
Nach zwei weiteren Sprossen hatte er wieder festen Boden unter den Füßen, und er sah ein letztes Mal zum Mond hinauf, bevor er der Leiter den Rücken kehrte. Es war hoffnungslos. Schon nach einem Meter war mit bloßem Auge nichts mehr zu erkennen. Weder Umrisse noch Schatten. Der mondbeschienene Gang endete an einer schwarzen Wand.
Wieder kramte er in seiner Tasche, diesmal nach dem Montiereisen, das er mitgebracht hatte, um die Betonplatte anzuheben. Es war eine kleine Waffe, die ihm gegen die Macht, deren verheerende Wirkung er mit eigenen Augen gesehen hatte, wenig nützen würde. Aber er konnte sich daran festklammern wie ein Blinder an seinem Stock: Sie hielt ihm das Unsichtbare vom Leib.
Er ging vorwärts. Die gewölbten Wände schlossen sich dicht über seinem Kopf und bildeten eine massive Decke. Ein Mensch von durchschnittlicher Größe hätte sich nur gebückt fortbewegen können, doch Siri konnte aufrecht stehen. Wenn er die linke Hand an der Wand entlanggleiten ließ, konnte er mit dem Montiereisen die andere Wand berühren: So schmal war der Tunnel.
Nach zehn schleppenden, vorsichtigen Schritten machte der Gang eine Linksbiegung, und das Mondlicht erlosch. Hinter ihm lag nun dieselbe teerschwarze Finsternis wie vor ihm. Er war blind. Plötzlich bekam er es mit er Angst zu tun. Wie hatte er nur so dumm sein können, Logik und gesunden Menschenverstand einfach über Bord zu werfen? Er wusste nicht mehr, was er tat. Im Dschungel hätte er nicht lange überlebt, wenn er die Gesetze der Vernunft so schamlos missachtet hätte.
Er ging weiter. Mit der linken Hand gabelte er ein Häuflein Passagiere auf, die ihn bissen und in seinen Ärmel krochen: vermutlich rote Ameisen, die ihr Nest verteidigten. Er schüttelte sie lautlos ab, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Die Luft roch alt und abgestanden. Der Duft von trockener Erde und moderigen Wurzeln vermischte sich mit anderen, nicht ganz so angenehmen Gerüchen. Keine Frage, hier unten war etwas gestorben, und er hoffte inständig, dass es ein Tier sein möge.
Langsam, nervös tappte er weiter.
Die Spitze des Eisens ragte ins Leere. Siri blieb stehen und tastete nach der Wand. Ein zweiter Tunnel. Er zweigte nach rechts ab. Wie weit er wohl schon nach links gegangen war? Und welcher Tunnel führte zum Fluss? Er wartete auf ein Zeichen. Unter all den Toten, die er begraben hatte, war doch gewiss ein dankbarer Geist, der des Weges kommen und ihn in die richtige Richtung lenken würde. Aber da waren nur er, die Finsternis und Stille. Weiter nichts.
Er bog rechts ab und beschleunigte seine Schritte, denn sein Instinkt sagte ihm, dass die Zeit drängte. Er musste unbedingt zum Fluss hinunter. Er kümmerte sich nicht mehr darum, was er berührte oder worauf er trat. Er stellte sich einen langen, hell erleuchteten Gang vor und marschierte ihn entlang, ohne das Eisen zu Hilfe zu nehmen.
Als es ihn traf, geschah das so plötzlich und unerwartet, dass er sofort in Panik geriet. Es umhüllte ihn von Kopf bis Fuß, bedeckte sein Gesicht. Er ruderte wild mit den Armen, schlug mit dem Eisen um sich, fiel rücklings gegen die Wand und strampelte mit den Füßen.
Er zerrte an dem kalten, wulstigen Etwas rings um Mund und Hals und riss gerade so viel fort, dass er ungehindert Luft holen konnte. Wie ein Kind, das einen imaginären Schwertkampf ausficht, schwang er immer noch das Eisen, doch er traf nichts, hörte nichts und begriff bald, dass er seine Kraft umsonst verschwendete.
Er hob die Hand und trat einen Schritt vor. Er war gegen eine dicke Schicht aus Spinnweben gelaufen, die den Tunnel versperrte.
Falls dies eine Prüfung war, hatte sie ihren Zweck verfehlt. Er wartete, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte, und befreite sich von den Spinnenfäden. Er fragte sich, ob er bei dem Kampf gegen seinen eingebildeten Angreifer vielleicht zu viel Lärm gemacht hatte. Er wusste es nicht. Hoffentlich hatte ihn niemand gehört.
Rasch ging er zum Haupttunnel zurück, bog rechts ab und setzte seinen Weg vorsichtig fort. Dass seine Augen sich noch immer nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten, verriet ihm, dass tatsächlich kein Licht von außen in die Tunnels drang. Er hatte völlig die Orientierung verloren. Vom Hauptquartier bis zum Fluss waren es normalerweise höchstens fünf Minuten Fußweg. Für einen alten Mann in einem stockdunklen Tunnel kann eine Minute eine halbe Ewigkeit bedeuten. Der Tunnel schien endlos.
Auf einmal war der Boden nicht mehr da. Siri trat ins Leere, und nur seine Führungshand, die an der linken Wand entlangglitt, bewahrte ihn davor, Hals über Kopf in die Tiefe zu stürzen. Er fand mühsam ins Gleichgewicht zurück, kniete sich hin und stocherte mit seinem Eisen in der Dunkelheit. Es war kein bodenloser Abgrund, nur eine hohe Stufe. Das Metall stieß klirrend gegen einen festen, aber verhältnismäßig leichten Gegenstand. Die Gerüche ringsum waren ihm bestens vertraut, dennoch blieb ihm nichts anderes übrig, als hinabzusteigen, egal was ihn dort erwartete.
Er versank bis zu den Knöcheln in einem Meer von … Knochen. Sie waren klein und nicht besonders frisch, denn sie knirschten unter seinen Sohlen. Trotzdem hatte er bei jedem Schritt Angst, auf einen größeren Kadaver zu stoßen. Darum ging er behutsam vor, mit angehaltenem Atem.
Als er schließlich gegen etwas Festes stieß, war es weiter nichts als die Stufe auf der anderen Seite. Er dachte an die Tunnelsysteme des Vietcong und überlegte, ob es sich vielleicht um eine Art Knotenpunkt handelte.Wenn ja, zweigten von hier nach allen Seiten Gänge ab. Da das die Sache nur unnötig komplizieren würde, machte er sich gar nicht erst die Mühe, dieser Frage auf den Grund zu gehen, und marschierte weiter geradeaus. Er erklomm die Stufe und folgte dem Tunnel. Was sich als fataler Fehler erweisen sollte.
Nachdem er seine Nachbarn Ende vorigen Jahres aus der Ruine ihres Hauses gerettet hatte, war Siri mit einer Staubvergiftung ins Krankenhaus gekommen. Doch obwohl es den Ärzten schließlich gelungen war, seine Lunge vom Staub zu befreien, fiel ihm das Atmen seither nicht mehr so leicht wie früher. Folglich blieb dem Doktor in den unpassendsten Momenten die Luft weg. Und dies war der ungelegenste Moment von allen.
Je weiter er sich von der offenbar einzigen Sauerstoffquelle entfernte, desto schlechter bekam er Luft. Er musste sich auf seine Atmung konzentrieren. Die Spinnweben-Attacke hatte ihn geschwächt, und er lief Gefahr, ohnmächtig zu werden. Wenn er das Bewusstsein verlor, war diese ganze schreckliche Tortur umsonst.
Er blieb stehen, legte sich auf den Boden, wo die Luft etwas reichhaltiger war, und meditierte, um sich zu entspannen. Er ignorierte das Rascheln und Trippeln in der Finsternis und versuchte, seine Energiereserven zu aktivieren.
Da plötzlich glaubte er, Geräusche hören zu können. Sie klangen gedämpft, weit weg, und konnten ebenso von außen kommen wie aus einem der Gänge. Doch in Vientiane war zu dieser nächtlichen Stunde kaum noch jemand unterwegs. Er lauschte gespannt.
Anfangs hatte er Schwierigkeiten, es auszumachen. Das Geräusch kam in unregelmäßigen Abständen und klang dumpf, wie eine Biene in einer Konservenbüchse. Es schien weder natürlichen noch menschlichen Ursprungs zu sein. Aber je länger er lauschte, desto lauter wurde es. Wenn es tatsächlich aus einem der Tunnels drang, ließ das nur einen Schluss zu. Es kam direkt auf ihn zu.
Er mahnte sich zur Ruhe, rief sich ins Gedächtnis, dass er das Überraschungselement auf seiner Seite hatte. Doch wen oder was konnte er schon überraschen, solange er wie ein hilfloses Insekt in einem schmalen Gang lag? Und wenn das Geräusch mit Dtuis Verschwinden gar nichts zu tun hatte? Wollte er wirklich mit einem Montiereisen auf einen wildfremden Menschen losgehen, nur weil er vor Angst fast den Verstand verlor?
Ja.
»Keine Panik«, sagte er sich. Er atmete bedächtig. Rührte sich nicht. Er versuchte seine Gedanken zu beruhigen, und die Geräusche wurden lauter – es war kein Summen mehr, sondern ein Knurren. Hin und wieder schwoll das Knurren an zu einem jähen Heulen, zum schrillen Gebrüll einer Kreatur, die halb Mensch war und halb Tier, und plötzlich fiel es ihm wieder ein:
Es war das Geräusch aus seinem Traum in Luang Prabang. Die unsichtbare Gefahr, die sich ihm durch das Dschungeldickicht genähert hatte, das Geräusch, vor dem er sich in Acht nehmen, das er unter allen Umständen meiden musste. Ein Schauer durchlief seinen Körper, und seine Nervenenden vibrierten.
Er konzentrierte sich ganz auf seine Atmung. Wenn er ohnmächtig wurde, konnte er weder angreifen noch sich verteidigen. Er ersann einen Plan. Wenn er wieder zu Atem gekommen war, wollte er in den Raum zurück, den er gerade durchquert hatte. Dort gab es Ecken, Winkel, vielleicht andere Tunnels. So hatte er eventuell eine Chance.
Da die irdenen Wände den Schall dämpften, ließ sich unmöglich bestimmen, wie weit die Kreatur entfernt war. Aber die stetig zunehmende Lautstärke sagte ihm, dass sie rasch näher kam.
Siri atmete. Er konzentrierte sich. Er hörte andere Geräusche. Er hörte Schritte, schwere, ungestüme Schritte und, zwischen all dem Gegrunze und Geheul, ein schweres, angestrengtes Keuchen wie von einem alten Mann mit einem Loch in der Luftröhre. Er hörte ein leises, gleichmäßiges Schlurfen und ein unterdrücktes Schnaufen. Der Tunnel leitete den Schall jetzt mit beängstigender Klarheit.
Es war so weit. Siri stand auf und machte sich langsam auf den Rückweg. Seit er den Tunnel betreten hatte, maß er die Entfernung in Schritten. Bis zu der Grube waren es vierzig. Bei Nummer achtundreißig wollte er stehen bleiben und sich vorsichtig bis zur Stufe vortasten. Aber während er bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte, wurden die Geräusche hinter ihm noch lauter. Am liebsten wäre er gerannt, doch dazu war seine Lunge einfach zu schwach.
Da ließ ein neues Geräusch ihn erstarren. Es war kurz, aber unverkennbar: das Schluchzen einer Frau. Er lauschte, in der Hoffnung, dass es sich wiederholen würde, hörte aber nur das Knurren und das ohrenbetäubende Geheul. War das etwa …?
Er hatte zu Ende gezählt und setzte seinen Weg zögernd fort, gebückt und auf das Montiereisen gestützt. Bis zur Stufe war es weiter, als er dachte: verdammt weit. Als er sie endlich erreicht hatte, litt er schon wieder unter Atemnot, aber zum Ausruhen war jetzt keine Zeit. Achtlos trat er in die Grube, und Knochen knirschten unter seiner Sohle.
Sofort verstummten die Geräusche hinter ihm. Er war wie versteinert. Das Dilemma: Siri stand, nach Atem ringend, mit einem Fuß in der Grube und wagte keinen Laut von sich zu geben. Die bange Frage: War auch die Kreatur erstarrt und lauschte, oder näherte sie sich ihm auf leisen Pfoten? In diesem Fall konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie über ihn herfiel.
Auf das Schlimmste gefasst, warf er einen Blick über die Schulter.
»Ruhig weiteratmen, Siri.«
Eigentlich hätte er nichts sehen dürfen, nichts außer der tiefschwarzen Finsternis, in die er schon die ganze Zeit starrte. Doch aus irgendeinem Grunde schien sich ganz am Ende des langen Tunnels ein grauer Lichtfleck abzuzeichnen, der zuvor nicht dagewesen war.
Er wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass die Kreatur künstliches Licht benötigte. Er wusste auch nicht, weshalb, aber er war davon überzeugt gewesen, dass sie sich in dem dunklen Labyrinth blind, allein mit Hilfe ihrer Instinkte orientieren konnte. Aber wenn sie tatsächlich halb menschlich – halb Herr Seua – war, brauchte sie womöglich eine Lampe, um sich zurechtzufinden.Vielleicht war das Grau in der Ferne der Widerschein dieser Lichtquelle. Und vielleicht war das seine einzige Chance.
Ein mächtiges Heulen hallte die Wände entlang und fegte als Windstoß an Siri vorbei. Die Kreatur hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, und Siri sah, dass der Lichtschein im Rhythmus ihrer Schritte pulsierte. Er atmete erleichtert auf.
Wieder watete er durch den Unrat in der Grube und versuchte, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Er tastete sich mit dem Montiereisen an einer Wand entlang. Er fand erst eine Ecke, dann eine zweite, aber keinen anderen Ausgang. Während die Zeit knapp und knapper wurde, erreichte er den gegenüberliegenden Tunnel und inspizierte hektisch die andere Seite des Gevierts. Er hatte sich geirrt. Der kleine Raum hatte nur einen Eingang und einen Ausgang, weiter nichts. Seine einzige Hoffnung war die Grube.
Wie ein Sonnenaufgang in der Ferne erhellte trübes Licht den Tunnel. Wenn er hier stehen blieb, würde Seua ihn mit seiner Lampe sofort sehen. Und wenn er sich neben der Stufe zusammenkauerte? Vorsichtig räumte Siri die Knochen unterhalb der Öffnung beiseite, aus der die Bestie kommen würde. Er hielt sich ein Stück rechts vom Tunneleingang, damit die Kreatur nicht auf ihn trat. Ihm blieb nur wenig Zeit.
Es gab zwei Möglichkeiten. Wenn das Ziel der Kreatur jenseits der Grube lag, würde er sich so lange versteckt halten, bis sie verschwunden war. Wenn ihr Ziel jedoch die Grube selbst war, würde sie ihn früher oder später entdecken. Aber vielleicht blieben ihm ja ein Paar Sekunden, um sich von hinten auf die Kreatur zu stürzen und ihr das Eisen über den Schädel zu ziehen.
Er wusste, dass er nur einen Hieb würde anbringen können, und der musste sitzen. Er würde Siris ganze Kraft in Anspruch nehmen. Also duckte er sich neben die Stufe und begann zu meditieren. Er verlangsamte seinen Herzschlag und sammelte seine letzten Reserven für die bevorstehende Attacke. Als Licht in die Grube fiel, sah er, dass der Boden kniehoch mit den halbverwesten Überresten kleiner Tiere bedeckt war.
»Ruhig weiteratmen, Siri.«
Während sich die Ereignisse bislang förmlich überschlagen hatten, schien die Zeit mit einem Mal fast stillzustehen. Der Tunnel war wohl doch länger, als Siri angenommen hatte. Das Lärmen der herannahenden Kreatur hielt an, und doch hatte der Doktor das Gefühl, schon eine Ewigkeit so dazuliegen. Er dachte an Yeh Ming und fragte sich, warum der alte Seher ihn vor dieser Gefahr nicht gewarnt hatte.
Wenn sein Tempel – er, Siri – je bedroht gewesen war, dann jetzt. Schreckliche Gewissensbisse quälten Siri. Trotz der sorgfältigen Planung, die seiner Berufung zum Wirt des großen alten Schamanen vorausgegangen war, hatte er ihn im Stich gelassen. Er hatte sich wissentlich in eine lebensbedrohliche Sit-
Plötzlich war die Bestie da. Der grelle Strahl einer Taschenlampe erleuchtete den kleinen Raum. Da er sich an der Wand zusammengerollt hatte, konnte er die Kreatur nicht sehen, aber das Knurren war jetzt fast direkt über ihm. Nur ein schmaler, schwarzer Schattenkeil bewahrte den Doktor davor, entdeckt zu werden.
Sein Herz schlug so laut, dass man es ohne Zweifel hören konnte. Er atmete lautlos in einem selbst gewählten Rhythmus und umklammerte das Montiereisen in seiner Faust.
Was als Nächstes geschah, erklärte sich erst sehr viel später. Er hörte, wie sich die Schritte von der Stufe entfernten und etwas über den Boden geschleift wurde. Ein letztes Heulen. Und dann, wie aus weiter Ferne, drei unvereinbare Geräusche, eins nach dem anderen. Zuerst das Gackern eines Huhns. Anders als die anderen Laute hallte es nicht durch den Raum.
Es folgten zwei dumpfe Schläge und ein lautes Krachen.
Und schließlich der Schrei einer Frau.
Dann wurde es still.
Als der Schrei ertönte, ließ Siri alle Vorsicht fahren und krabbelte auf Händen und Füßen zur Stufe. Doch bevor er sich aufrichten und in den Tunnel sehen konnte, ging die Taschenlampe aus.
Die Stille und die Finsternis schienen um so tiefer, als eben noch totales Chaos geherrscht hatte. Er wusste nicht, was er gehört hatte und was er davon halten sollte. Der schauerliche Schrei wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn.
»Dtui?«, rief er.
Seine Stimme platzte in die Stille wie ein Donnerschlag.
»Dtui? Sind Sie das? ………… Ich bin’s, Siri.«
Keine Antwort.
Falls die Kreatur dort im Dunkeln lauerte, war Siri ihr jetzt schutzlos ausgeliefert. Aber er konnte seine Stimme nicht zurückrufen. Er konnte nicht einfach umkehren. Etwas Fürchterliches war geschehen, und er musste unbedingt dahinterkommen, was.
Er erklomm die Stufe und schlurfte langsam vorwärts, in der bangen Erwartung, auf etwas Schreckliches zu stoßen. Sein linker Fuß traf auf einen Gegenstand, der klappernd davonrollte. Das musste die Taschenlampe sein. Er ging einen Schritt weiter und ließ die Hand tastend über die harte Erde gleiten. Plötzlich fühlte er etwas Warmes, Feuchtes, Klebriges, wie Sirup.
Er zog die Hand zurück und atmete tief durch. Er wusste, worauf er gestoßen war. Aber für Empfindlichkeiten war jetzt keine Zeit. Er fuhr weiter mit der Hand über den Boden, bis er die Taschenlampe gefunden hatte. Mit pochendem Herzen riss er sie an sich, suchte den Schalter und knipste sie an.
Nichts geschah.
»Bitte, Buddha, sag jetzt nicht, die Birne ist kaputt.«
Er klopfte gegen die Taschenlampe, schüttelte sie und versuchte es ein zweites Mal.
Noch immer nichts.
Keinen Meter von ihm entfernt atmete etwas. Er rüttelte und schüttelte die Lampe, schlug sie sich noch fester in die hohle Hand.
Im Dunkeln war ein zweiter Atemzug zu hören.
Auch er holte Luft, konzentrierte sich, drehte den Kopf der Taschenlampe fest und betätigte ein drittes Mal den Schalter.
Im Tunnel wurde es hell wie im Theater, und als er sich auf der Bühne umsah, bot sich ihm ein ebenso verblüffendes wie unwirkliches Bild.