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BLINDE PANIK
Das Wesen, in das Seua sich verwandelt hatte, saß
am Flussufer und sah den Mond aufgehen. Er kratzte sich das
fleckige, blutverklebte Fell und tauchte die Schnauze ins
schlammtrübe Wasser, um seinen Durst zu stillen.
Nun würde es wieder einen Monat dauern. Die
Krankenschwester würde die Letzte sein. Der Mond stand im Zenit,
und er würde Gott sein viertes Opfer bringen, auf den Stufen der
Schwarzen Stupa. Bei all der Liebe, all der Hingabe, die er
bewiesen hatte, würde der Herr ihn sicher bald ins Ewige Reich
heimholen. Dann konnte er in Frieden ruhen und musste nicht mehr in
Tiergestalt auf Erden wandeln.
Wieder blickte er gen Himmel. Es war so weit.
Gekrümmt und mit gesenktem Kopf schlich er zu der Stelle, wo sich
die Wurzeln des Nachtjasmins die Böschung hinunterwanden. Er teilte
das dichte Schilf, kroch tief zwischen die Wurzeln und verschwand
in der Erde.
Siri war so durcheinander, dass er fast einen
Pfosten gerammt hätte, als er beim alten PL-Hauptquartier ankam. Er
musste ihm ausweichen und fand erst in letzter Sekunde in die
Senkrechte zurück. Er stellte den Motor ab und lief
zum Tor. Es war mit einer Kette verschlossen und – trotz des
pulsierenden Adrenalins in seinen Adern – zu hoch, um
hinüberzuklettern.
Er griff hinein und tastete die Kette nach einem
Vorhängeschloss ab. Er fand keins. Die Kette war um die Gitterstäbe
gewickelt und wie ein Seil verknotet worden. Er lockerte sie ein
wenig und stieß das Tor gerade so weit auf, dass er
hindurchschlüpfen konnte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er
am Hauptgebäude entlang zur Rückseite lief.
Dort stieß er auf ein Raster aus großen,
rechteckigen Betonplatten. Der Mond stand hoch und hell am Himmel,
und er hatte den geheimen Tunneleingang rasch gefunden. Er brauchte
nicht einmal ein Werkzeug; jemand war vor ihm dagewesen, hatte die
Platte einfach beiseitegeschoben und neben dem Einstieg liegen
lassen.
Er eilte zu dem Loch im Boden und starrte hinein.
Eine steile Holzleiter führte in tiefschwarze Dunkelheit hinab.
Ohne einen Augenblick zu zögern, kletterte er durch die Öffnung und
tastete sich mit den Füßen die Sprossen hinunter. Während er
langsam in der Erde versank, musste er unwillkürlich daran denken,
wie die Phibob ihn unter die Stupa gezerrt hatten. Er hielt
inne, öffnete seinen Kragenknopf und zog den weißen Talisman
hervor.
Als nur noch sein schlohweißer Haarschopf aus dem
Boden ragte, kramte er in seiner Umhängetasche nach der
Taschenlampe. Da er sie stets bei sich trug, hatte er sich nicht
die Mühe gemacht, danach zu sehen, als er das Haus verlassen hatte.
Er benutzte sie eigentlich nie, es sei denn, er ließ seine Zähne
zählen. Ihm stockte das Herz. Er hatte vergessen, das Mistding
wieder einzustecken. Es war nicht da.
Es war ein schrecklicher Moment. Er wollte in die
Erde hinabsteigen, um Dtui zu suchen. Er wusste instinktiv, dass
jede Sekunde zählte, aber er hatte kein Licht. Wie sollte er ihr
helfen, wenn dieses Ding dort unten war? Der Strahl der Lampe hätte
es vielleicht vertrieben. Was konnte er schon ausrichten, wenn er
nichts sehen konnte? Aus einem schwierigen war unverhofft ein
aussichtsloses Unterfangen geworden. Aber es half alles nichts. Ihm
blieb keine Zeit und keine Wahl.
Nach zwei weiteren Sprossen hatte er wieder festen
Boden unter den Füßen, und er sah ein letztes Mal zum Mond hinauf,
bevor er der Leiter den Rücken kehrte. Es war hoffnungslos. Schon
nach einem Meter war mit bloßem Auge nichts mehr zu erkennen. Weder
Umrisse noch Schatten. Der mondbeschienene Gang endete an einer
schwarzen Wand.
Wieder kramte er in seiner Tasche, diesmal nach dem
Montiereisen, das er mitgebracht hatte, um die Betonplatte
anzuheben. Es war eine kleine Waffe, die ihm gegen die Macht, deren
verheerende Wirkung er mit eigenen Augen gesehen hatte, wenig
nützen würde. Aber er konnte sich daran festklammern wie ein
Blinder an seinem Stock: Sie hielt ihm das Unsichtbare vom
Leib.
Er ging vorwärts. Die gewölbten Wände schlossen
sich dicht über seinem Kopf und bildeten eine massive Decke. Ein
Mensch von durchschnittlicher Größe hätte sich nur gebückt
fortbewegen können, doch Siri konnte aufrecht stehen. Wenn er die
linke Hand an der Wand entlanggleiten ließ, konnte er mit dem
Montiereisen die andere Wand berühren: So schmal war der
Tunnel.
Nach zehn schleppenden, vorsichtigen Schritten
machte der Gang eine Linksbiegung, und das Mondlicht erlosch.
Hinter ihm lag nun dieselbe teerschwarze Finsternis wie vor ihm.
Er war blind. Plötzlich bekam er es mit er Angst zu tun. Wie hatte
er nur so dumm sein können, Logik und gesunden Menschenverstand
einfach über Bord zu werfen? Er wusste nicht mehr, was er tat. Im
Dschungel hätte er nicht lange überlebt, wenn er die Gesetze der
Vernunft so schamlos missachtet hätte.
Er ging weiter. Mit der linken Hand gabelte er ein
Häuflein Passagiere auf, die ihn bissen und in seinen Ärmel
krochen: vermutlich rote Ameisen, die ihr Nest verteidigten. Er
schüttelte sie lautlos ab, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Die
Luft roch alt und abgestanden. Der Duft von trockener Erde und
moderigen Wurzeln vermischte sich mit anderen, nicht ganz so
angenehmen Gerüchen. Keine Frage, hier unten war etwas gestorben,
und er hoffte inständig, dass es ein Tier sein möge.
Langsam, nervös tappte er weiter.
Die Spitze des Eisens ragte ins Leere. Siri blieb
stehen und tastete nach der Wand. Ein zweiter Tunnel. Er zweigte
nach rechts ab. Wie weit er wohl schon nach links gegangen war? Und
welcher Tunnel führte zum Fluss? Er wartete auf ein Zeichen. Unter
all den Toten, die er begraben hatte, war doch gewiss ein dankbarer
Geist, der des Weges kommen und ihn in die richtige Richtung lenken
würde. Aber da waren nur er, die Finsternis und Stille. Weiter
nichts.
Er bog rechts ab und beschleunigte seine Schritte,
denn sein Instinkt sagte ihm, dass die Zeit drängte. Er musste
unbedingt zum Fluss hinunter. Er kümmerte sich nicht mehr darum,
was er berührte oder worauf er trat. Er stellte sich einen langen,
hell erleuchteten Gang vor und marschierte ihn entlang, ohne das
Eisen zu Hilfe zu nehmen.
Als es ihn traf, geschah das so plötzlich und
unerwartet,
dass er sofort in Panik geriet. Es umhüllte ihn von Kopf bis Fuß,
bedeckte sein Gesicht. Er ruderte wild mit den Armen, schlug mit
dem Eisen um sich, fiel rücklings gegen die Wand und strampelte mit
den Füßen.
Er zerrte an dem kalten, wulstigen Etwas rings um
Mund und Hals und riss gerade so viel fort, dass er ungehindert
Luft holen konnte. Wie ein Kind, das einen imaginären Schwertkampf
ausficht, schwang er immer noch das Eisen, doch er traf nichts,
hörte nichts und begriff bald, dass er seine Kraft umsonst
verschwendete.
Er hob die Hand und trat einen Schritt vor. Er war
gegen eine dicke Schicht aus Spinnweben gelaufen, die den Tunnel
versperrte.
Falls dies eine Prüfung war, hatte sie ihren Zweck
verfehlt. Er wartete, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte, und
befreite sich von den Spinnenfäden. Er fragte sich, ob er bei dem
Kampf gegen seinen eingebildeten Angreifer vielleicht zu viel Lärm
gemacht hatte. Er wusste es nicht. Hoffentlich hatte ihn niemand
gehört.
Rasch ging er zum Haupttunnel zurück, bog rechts ab
und setzte seinen Weg vorsichtig fort. Dass seine Augen sich noch
immer nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten, verriet ihm, dass
tatsächlich kein Licht von außen in die Tunnels drang. Er hatte
völlig die Orientierung verloren. Vom Hauptquartier bis zum Fluss
waren es normalerweise höchstens fünf Minuten Fußweg. Für einen
alten Mann in einem stockdunklen Tunnel kann eine Minute eine halbe
Ewigkeit bedeuten. Der Tunnel schien endlos.
Auf einmal war der Boden nicht mehr da. Siri trat
ins Leere, und nur seine Führungshand, die an der linken Wand
entlangglitt, bewahrte ihn davor, Hals über Kopf in die Tiefe zu
stürzen. Er fand mühsam ins Gleichgewicht zurück, kniete
sich hin und stocherte mit seinem Eisen in der Dunkelheit. Es war
kein bodenloser Abgrund, nur eine hohe Stufe. Das Metall stieß
klirrend gegen einen festen, aber verhältnismäßig leichten
Gegenstand. Die Gerüche ringsum waren ihm bestens vertraut, dennoch
blieb ihm nichts anderes übrig, als hinabzusteigen, egal was ihn
dort erwartete.
Er versank bis zu den Knöcheln in einem Meer von …
Knochen. Sie waren klein und nicht besonders frisch, denn sie
knirschten unter seinen Sohlen. Trotzdem hatte er bei jedem Schritt
Angst, auf einen größeren Kadaver zu stoßen. Darum ging er behutsam
vor, mit angehaltenem Atem.
Als er schließlich gegen etwas Festes stieß, war es
weiter nichts als die Stufe auf der anderen Seite. Er dachte an die
Tunnelsysteme des Vietcong und überlegte, ob es sich vielleicht um
eine Art Knotenpunkt handelte.Wenn ja, zweigten von hier nach allen
Seiten Gänge ab. Da das die Sache nur unnötig komplizieren würde,
machte er sich gar nicht erst die Mühe, dieser Frage auf den Grund
zu gehen, und marschierte weiter geradeaus. Er erklomm die Stufe
und folgte dem Tunnel. Was sich als fataler Fehler erweisen
sollte.
Nachdem er seine Nachbarn Ende vorigen Jahres aus
der Ruine ihres Hauses gerettet hatte, war Siri mit einer
Staubvergiftung ins Krankenhaus gekommen. Doch obwohl es den Ärzten
schließlich gelungen war, seine Lunge vom Staub zu befreien, fiel
ihm das Atmen seither nicht mehr so leicht wie früher. Folglich
blieb dem Doktor in den unpassendsten Momenten die Luft weg. Und
dies war der ungelegenste Moment von allen.
Je weiter er sich von der offenbar einzigen
Sauerstoffquelle entfernte, desto schlechter bekam er Luft. Er
musste sich auf seine Atmung konzentrieren. Die Spinnweben-Attacke
hatte ihn geschwächt, und er lief Gefahr, ohnmächtig
zu werden. Wenn er das Bewusstsein verlor, war diese ganze
schreckliche Tortur umsonst.
Er blieb stehen, legte sich auf den Boden, wo die
Luft etwas reichhaltiger war, und meditierte, um sich zu
entspannen. Er ignorierte das Rascheln und Trippeln in der
Finsternis und versuchte, seine Energiereserven zu
aktivieren.
Da plötzlich glaubte er, Geräusche hören zu können.
Sie klangen gedämpft, weit weg, und konnten ebenso von außen kommen
wie aus einem der Gänge. Doch in Vientiane war zu dieser
nächtlichen Stunde kaum noch jemand unterwegs. Er lauschte
gespannt.
Anfangs hatte er Schwierigkeiten, es auszumachen.
Das Geräusch kam in unregelmäßigen Abständen und klang dumpf, wie
eine Biene in einer Konservenbüchse. Es schien weder natürlichen
noch menschlichen Ursprungs zu sein. Aber je länger er lauschte,
desto lauter wurde es. Wenn es tatsächlich aus einem der Tunnels
drang, ließ das nur einen Schluss zu. Es kam direkt auf ihn
zu.
Er mahnte sich zur Ruhe, rief sich ins Gedächtnis,
dass er das Überraschungselement auf seiner Seite hatte. Doch wen
oder was konnte er schon überraschen, solange er wie ein hilfloses
Insekt in einem schmalen Gang lag? Und wenn das Geräusch mit Dtuis
Verschwinden gar nichts zu tun hatte? Wollte er wirklich mit einem
Montiereisen auf einen wildfremden Menschen losgehen, nur weil er
vor Angst fast den Verstand verlor?
Ja.
»Keine Panik«, sagte er sich. Er atmete bedächtig.
Rührte sich nicht. Er versuchte seine Gedanken zu beruhigen, und
die Geräusche wurden lauter – es war kein Summen mehr, sondern ein
Knurren. Hin und wieder schwoll das Knurren an zu einem jähen
Heulen, zum schrillen Gebrüll einer Kreatur,
die halb Mensch war und halb Tier, und plötzlich fiel es ihm
wieder ein:
Es war das Geräusch aus seinem Traum in Luang
Prabang. Die unsichtbare Gefahr, die sich ihm durch das
Dschungeldickicht genähert hatte, das Geräusch, vor dem er sich in
Acht nehmen, das er unter allen Umständen meiden musste. Ein
Schauer durchlief seinen Körper, und seine Nervenenden
vibrierten.
Er konzentrierte sich ganz auf seine Atmung. Wenn
er ohnmächtig wurde, konnte er weder angreifen noch sich
verteidigen. Er ersann einen Plan. Wenn er wieder zu Atem gekommen
war, wollte er in den Raum zurück, den er gerade durchquert hatte.
Dort gab es Ecken, Winkel, vielleicht andere Tunnels. So hatte er
eventuell eine Chance.
Da die irdenen Wände den Schall dämpften, ließ sich
unmöglich bestimmen, wie weit die Kreatur entfernt war. Aber die
stetig zunehmende Lautstärke sagte ihm, dass sie rasch näher
kam.
Siri atmete. Er konzentrierte sich. Er hörte andere
Geräusche. Er hörte Schritte, schwere, ungestüme Schritte und,
zwischen all dem Gegrunze und Geheul, ein schweres, angestrengtes
Keuchen wie von einem alten Mann mit einem Loch in der Luftröhre.
Er hörte ein leises, gleichmäßiges Schlurfen und ein unterdrücktes
Schnaufen. Der Tunnel leitete den Schall jetzt mit beängstigender
Klarheit.
Es war so weit. Siri stand auf und machte sich
langsam auf den Rückweg. Seit er den Tunnel betreten hatte, maß er
die Entfernung in Schritten. Bis zu der Grube waren es vierzig. Bei
Nummer achtundreißig wollte er stehen bleiben und sich vorsichtig
bis zur Stufe vortasten. Aber während er bedächtig einen Fuß vor
den anderen setzte, wurden
die Geräusche hinter ihm noch lauter. Am liebsten wäre er gerannt,
doch dazu war seine Lunge einfach zu schwach.
Da ließ ein neues Geräusch ihn erstarren. Es war
kurz, aber unverkennbar: das Schluchzen einer Frau. Er lauschte, in
der Hoffnung, dass es sich wiederholen würde, hörte aber nur das
Knurren und das ohrenbetäubende Geheul. War das etwa …?
Er hatte zu Ende gezählt und setzte seinen Weg
zögernd fort, gebückt und auf das Montiereisen gestützt. Bis zur
Stufe war es weiter, als er dachte: verdammt weit. Als er sie
endlich erreicht hatte, litt er schon wieder unter Atemnot, aber
zum Ausruhen war jetzt keine Zeit. Achtlos trat er in die Grube,
und Knochen knirschten unter seiner Sohle.
Sofort verstummten die Geräusche hinter ihm. Er war
wie versteinert. Das Dilemma: Siri stand, nach Atem ringend, mit
einem Fuß in der Grube und wagte keinen Laut von sich zu geben. Die
bange Frage: War auch die Kreatur erstarrt und lauschte, oder
näherte sie sich ihm auf leisen Pfoten? In diesem Fall konnte es
nicht mehr lange dauern, bis sie über ihn herfiel.
Auf das Schlimmste gefasst, warf er einen Blick
über die Schulter.
»Ruhig weiteratmen, Siri.«
Eigentlich hätte er nichts sehen dürfen, nichts
außer der tiefschwarzen Finsternis, in die er schon die ganze Zeit
starrte. Doch aus irgendeinem Grunde schien sich ganz am Ende des
langen Tunnels ein grauer Lichtfleck abzuzeichnen, der zuvor nicht
dagewesen war.
Er wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass
die Kreatur künstliches Licht benötigte. Er wusste auch nicht,
weshalb, aber er war davon überzeugt gewesen, dass sie sich in dem
dunklen Labyrinth blind, allein mit Hilfe ihrer Instinkte
orientieren konnte. Aber wenn sie tatsächlich halb menschlich –
halb Herr Seua – war, brauchte sie womöglich eine Lampe, um sich
zurechtzufinden.Vielleicht war das Grau in der Ferne der
Widerschein dieser Lichtquelle. Und vielleicht war das seine
einzige Chance.
Ein mächtiges Heulen hallte die Wände entlang und
fegte als Windstoß an Siri vorbei. Die Kreatur hatte sich wieder in
Bewegung gesetzt, und Siri sah, dass der Lichtschein im Rhythmus
ihrer Schritte pulsierte. Er atmete erleichtert auf.
Wieder watete er durch den Unrat in der Grube und
versuchte, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Er tastete sich
mit dem Montiereisen an einer Wand entlang. Er fand erst eine Ecke,
dann eine zweite, aber keinen anderen Ausgang. Während die Zeit
knapp und knapper wurde, erreichte er den gegenüberliegenden Tunnel
und inspizierte hektisch die andere Seite des Gevierts. Er hatte
sich geirrt. Der kleine Raum hatte nur einen Eingang und einen
Ausgang, weiter nichts. Seine einzige Hoffnung war die Grube.
Wie ein Sonnenaufgang in der Ferne erhellte trübes
Licht den Tunnel. Wenn er hier stehen blieb, würde Seua ihn mit
seiner Lampe sofort sehen. Und wenn er sich neben der Stufe
zusammenkauerte? Vorsichtig räumte Siri die Knochen unterhalb der
Öffnung beiseite, aus der die Bestie kommen würde. Er hielt sich
ein Stück rechts vom Tunneleingang, damit die Kreatur nicht auf ihn
trat. Ihm blieb nur wenig Zeit.
Es gab zwei Möglichkeiten. Wenn das Ziel der
Kreatur jenseits der Grube lag, würde er sich so lange versteckt
halten, bis sie verschwunden war. Wenn ihr Ziel jedoch die Grube
selbst war, würde sie ihn früher oder später entdecken.
Aber vielleicht blieben ihm ja ein Paar Sekunden, um sich von
hinten auf die Kreatur zu stürzen und ihr das Eisen über den
Schädel zu ziehen.
Er wusste, dass er nur einen Hieb würde anbringen
können, und der musste sitzen. Er würde Siris ganze Kraft in
Anspruch nehmen. Also duckte er sich neben die Stufe und begann zu
meditieren. Er verlangsamte seinen Herzschlag und sammelte seine
letzten Reserven für die bevorstehende Attacke. Als Licht in die
Grube fiel, sah er, dass der Boden kniehoch mit den halbverwesten
Überresten kleiner Tiere bedeckt war.
»Ruhig weiteratmen, Siri.«
Während sich die Ereignisse bislang förmlich
überschlagen hatten, schien die Zeit mit einem Mal fast
stillzustehen. Der Tunnel war wohl doch länger, als Siri angenommen
hatte. Das Lärmen der herannahenden Kreatur hielt an, und doch
hatte der Doktor das Gefühl, schon eine Ewigkeit so dazuliegen. Er
dachte an Yeh Ming und fragte sich, warum der alte Seher ihn vor
dieser Gefahr nicht gewarnt hatte.
Wenn sein Tempel – er, Siri – je bedroht gewesen
war, dann jetzt. Schreckliche Gewissensbisse quälten Siri. Trotz
der sorgfältigen Planung, die seiner Berufung zum Wirt des großen
alten Schamanen vorausgegangen war, hatte er ihn im Stich gelassen.
Er hatte sich wissentlich in eine lebensbedrohliche Sit-
Plötzlich war die Bestie da. Der grelle Strahl
einer Taschenlampe erleuchtete den kleinen Raum. Da er sich an der
Wand zusammengerollt hatte, konnte er die Kreatur nicht sehen, aber
das Knurren war jetzt fast direkt über ihm. Nur ein schmaler,
schwarzer Schattenkeil bewahrte den Doktor davor, entdeckt zu
werden.
Sein Herz schlug so laut, dass man es ohne Zweifel
hören konnte. Er atmete lautlos in einem selbst gewählten Rhythmus
und umklammerte das Montiereisen in seiner Faust.
Was als Nächstes geschah, erklärte sich erst sehr
viel später. Er hörte, wie sich die Schritte von der Stufe
entfernten und etwas über den Boden geschleift wurde. Ein letztes
Heulen. Und dann, wie aus weiter Ferne, drei unvereinbare
Geräusche, eins nach dem anderen. Zuerst das Gackern eines Huhns.
Anders als die anderen Laute hallte es nicht durch den Raum.
Es folgten zwei dumpfe Schläge und ein lautes
Krachen.
Und schließlich der Schrei einer Frau.
Dann wurde es still.
Als der Schrei ertönte, ließ Siri alle Vorsicht
fahren und krabbelte auf Händen und Füßen zur Stufe. Doch bevor er
sich aufrichten und in den Tunnel sehen konnte, ging die
Taschenlampe aus.
Die Stille und die Finsternis schienen um so
tiefer, als eben noch totales Chaos geherrscht hatte. Er wusste
nicht, was er gehört hatte und was er davon halten sollte. Der
schauerliche Schrei wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn.
»Dtui?«, rief er.
Seine Stimme platzte in die Stille wie ein
Donnerschlag.
»Dtui? Sind Sie das? ………… Ich bin’s, Siri.«
Keine Antwort.
Falls die Kreatur dort im Dunkeln lauerte, war Siri
ihr jetzt schutzlos ausgeliefert. Aber er konnte seine Stimme nicht
zurückrufen. Er konnte nicht einfach umkehren. Etwas Fürchterliches
war geschehen, und er musste unbedingt dahinterkommen, was.
Er erklomm die Stufe und schlurfte langsam
vorwärts, in der bangen Erwartung, auf etwas Schreckliches zu
stoßen.
Sein linker Fuß traf auf einen Gegenstand, der klappernd
davonrollte. Das musste die Taschenlampe sein. Er ging einen
Schritt weiter und ließ die Hand tastend über die harte Erde
gleiten. Plötzlich fühlte er etwas Warmes, Feuchtes, Klebriges, wie
Sirup.
Er zog die Hand zurück und atmete tief durch. Er
wusste, worauf er gestoßen war. Aber für Empfindlichkeiten war
jetzt keine Zeit. Er fuhr weiter mit der Hand über den Boden, bis
er die Taschenlampe gefunden hatte. Mit pochendem Herzen riss er
sie an sich, suchte den Schalter und knipste sie an.
Nichts geschah.
»Bitte, Buddha, sag jetzt nicht, die Birne ist
kaputt.«
Er klopfte gegen die Taschenlampe, schüttelte sie
und versuchte es ein zweites Mal.
Noch immer nichts.
Keinen Meter von ihm entfernt atmete etwas. Er
rüttelte und schüttelte die Lampe, schlug sie sich noch fester in
die hohle Hand.
Im Dunkeln war ein zweiter Atemzug zu hören.
Auch er holte Luft, konzentrierte sich, drehte den
Kopf der Taschenlampe fest und betätigte ein drittes Mal den
Schalter.
Im Tunnel wurde es hell wie im Theater, und als er
sich auf der Bühne umsah, bot sich ihm ein ebenso verblüffendes wie
unwirkliches Bild.