19
DIE SUCHE NACH DTUI
»So’ne Dicke?«
»Eher kräftig, würde ich sagen.«
»Ja. Die war hier. Wissen Sie, wo sie arbeitet?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
»Für das RR29.«
»RR29?«
»Das Formular, das bei polizeilichen Meldungen durch andere Behörden auszufüllen ist.«
»Was hat sie denn getan?«
»Widerrechtliche Aneignung von Regierungsdokumenten. Ich muss herausfinden, wo sie arbeitet, bevor die nötigen Schritte eingeleitet werden können – vor allem, weil sie genau genommen nichts gestohlen hat. Also, wissen Sie’s?«
Der Mann saß an einem kleinen Schreibtisch in einem ebensolchen Zimmer, das derart mit Papierstapeln und Aktenkisten vollgestopft war, dass ein Streichholz genügt hätte, um das gesamte Gebäude im Handumdrehen in Asche zu legen.
So war das also, dachte Siri und betrachtete die chinesisch anmutenden Züge eines Gesichts, das nach und nach die Form und Farbe eines Blattes Papier anzunehmen schien. Hier also landeten all die drei- und vierfachen Durchschläge. Hunderte von Parteikadern bearbeiteten eine endlose Flut von Dokumenten und reichten sie an andere Papiergesichter in anderen Büros weiter, bis sie schließlich in einem Kabuff wie diesem verschwanden. Welch ein System.
Er befand sich in der Registratur der Justizvollzugsbehörde. Der einzige Termin, der für heute in Dtuis Kalender vermerkt war, lautete:
 
 
8.30 Uhr JUSTIZVOLLZUGSBEHÖRDE
 
»Also, wissen Sie’s?«
»Was?«
»Wo sie arbeitet?«
»Nein. Ich habe keine Ahnung.«
»Und woher wussten Sie dann, dass sie hier gewesen ist?«
»Das haben Sie mir doch gerade selbst gesagt.«
»Und wie sind Sie auf uns gekommen?«
»Sie standen auf meiner Liste. Wir ermitteln gegen die Frau. Sie hat so etwas schon einmal versucht.«
»Wer ist wir?«
Siri zog sein zerfleddertes Empfehlungsschreiben vom Justizministerium hervor. In den meisten Fällen reichte der bloße Besitz eines Dokuments als Türöffner völlig aus. Kaum jemand machte sich die Mühe, den ebenso langen wie langweiligen Text zu lesen. Der Briefkopf genügte. Der Beamte witterte eine Intrige.
»Was hat sie denn ausgefressen?«, fragte er.
»Sie gibt sich als Krankenschwester aus, marschiert in diese und jene Behörde und verlangt dies und das. Es ist wirklich unglaublich.«
»Mist. Ich wusste doch gleich, dass mit der etwas nicht stimmt. Wie eine richtige Krankenschwester sah sie jedenfalls nicht aus.«
»Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was passiert ist?«
Der Registraturbeamte war sichtlich erregt. Sein tristes Leben hatte Tage wie diesen bitter nötig.
»Sie platzt ins Büro, als ob sie hier zu Hause wäre, und behauptet, Dr. Vansana hätte sie geschickt, um in den Akten etwas nachzuschauen. Dr.Vansana ist der für die Haftanstalten zuständige Arzt. Ha! Als ob jeder x-Beliebige, der hier hereinmarschiert und sich als wer weiß was ausgibt, Einsicht in meine Akten nehmen könnte! Sie hatte ja nicht mal ein P124.«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»So wahr ich hier sitze, Genosse. Tja, da Dr. Vansana heute am Stausee draußen ist, konnte ich ihre Geschichte nicht überprüfen. Und eins kann ich Ihnen sagen: An meine Schubladen lasse ich so leicht niemanden ran.«
»Recht so.«
»Eben. Sie führte sich auf wie eine Furie, und ich erklärte ihr, dass ich ohne ein gültiges IntQ5 eigentlich noch nicht mal mit ihr sprechen dürfe; sie solle sich die nötigen Papiere besorgen und dann noch einmal wiederkommen. Ich sagte: ›Wo kämen wir denn da hin, wenn sich kein Mensch an den vorgeschriebenen Dienstweg halten würde?‹«
»Ganz Ihrer Meinung.«
»Ich möchte nur ungern wiederholen, was sie darauf gesagt hat. Ich wünschte ihr einen guten Tag und widmete mich wieder meiner Arbeit. Sie stürmte hinaus, und nach einer Weile beruhigte ich mich und dachte nicht mehr an sie. Ich hatte einen KomBes-Antrag zu bearbeiten und brauchte dazu dringend ein R11. Leider fehlt es mir im Augenblick an Personal. Normalerweise schicke ich ein junges Fräulein, wenn ich eine Akte aus der Ablage brauche, aber momentan muss ich das selbst erledigen. Ich gehe also nach nebenan, und siehe da – die Tür ist abgeschlossen. Ich klopfe und klopfe, und wer macht mir auf?«
»Ich kann es mir schon denken.«
»Sie, wer sonst? Dreist und schamlos steht sie da und hat doch tatsächlich die Stirn, mir zu erklären, sie habe sich verlaufen und sei aus Versehen in der Ablage gelandet, deren Tür sich nicht mehr öffnen ließ. Nicht besonders glaubwürdig, oder was meinen Sie? Denn erstens lässt sich die Tür nur von innen verriegeln, und zweitens hatte sie mir aufgemacht. Ich war perplex. Einen so eklatanten Verstoß gegen die Vorschriften hatte ich noch nie erlebt.
Ich hätte sie natürlich sofort festsetzen und den Sicherheitsdienst rufen sollen oder, besser noch, die Polizei. Aber wie Sie schon sagten, sie war ziemlich kräftig, und ich bin körperlich nicht auf der Höhe, darum habe ich sie aufgefordert, unverzüglich das Gebäude zu verlassen. Und was macht sie? Sie marschiert lächelnd an mir vorbei und tut, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Ist das zu glauben?«
»Durchaus.« Auch Siri konnte sich ein Lächeln nur schwer verkneifen.
»Was?«
»Ich meine, sie ist eine notorische Kriminelle. Diese Leute kennen keinen Anstand und kein Schamgefühl. Zu dumm, dass Sie nicht wissen, welche Akte sie gesucht hat.«
»Ha! Nicht wissen? Ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, um dieses System zu erstellen. Und da glauben Sie, ich wüsste nicht, welche Akte sie sich angesehen hat? Sie hat sich ja nicht einmal die Mühe gemacht, sie wieder richtig einzusortieren. JVB19368.3. Und das, Genosse, ist eine Vorstrafenakte.«
»Ich wünschte, all unsere Zeugen wären so gewissenhaft wie Sie, Genosse. Ich fürchte, ich werde einen Blick in besagte Akte werfen müssen. Sie ist das Einzige, was wir gegen sie in der Hand haben.«
»Wie ist ihr Name?«
»Ihr Name? Wir führen den Fall unter dem Aktenzeichen … äh, HJJ838.«
Der Mann machte sich eine Notiz.
Zwanzig Minuten später trat Siri aus der Tür der Justizvollzugsbehörde und lief gegen eine Wand aus Hitze. Es musste das heißeste Jahr sein, das er je erlebt hatte. Seit letzten Dezember hatte es lediglich ein paar Tropfen geregnet. Nichts war mehr richtig grün.
Ein Rudel erschöpfter Fahrradtaxichauffeure saß schwitzend unter den grauen Blättern eines Flammenbaums.
»Wohlsein«, sagte Siri.
»Wohlsein, Onkel«, grüßten sie zurück. Sie hatten gesehen, dass er mit dem Motorrad gekommen war, und wussten, dass sie nicht auf eine Fuhre zu hoffen brauchten.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
»Erinnert sich einer von Ihnen vielleicht, ob er heute Morgen eine Krankenschwester gefahren hat? So gegen neun?«
»Ja«, sagte ein junger Mann, unter dessen nackter Brust sich jede Rippe einzeln abzeichnete. »So’ne Dicke? Die hab ich mitgenommen.«
»Wissen Sie auch noch, wohin?«
»Raus nach Silver City, Onkel. An so’nem Tag wie heute ist das die reinste Quälerei.«
»Danke.«
Siri war auf dem Weg zu seinem Motorrad, als er zufällig über die Straße schaute. In der flirrenden Hitze, die vom Trottoir aufstieg, saß Saloop, und seine lange Zunge hing ihm aus dem Maul.
»Saloop?«, sagte Siri. »Was machst du denn hier?«
Er musste an die alten Schwarzweißfilme mit Lassie denken, die er im Pariser Le Ciné gesehen hatte. Vielleicht war sein Hund gekommen, um ihn zu warnen, weil zu Hause Gefahr lauerte. Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie er ihn hier gefunden hatte. Siri wartete, bis ein alter vietnamesischer Lastwagen vorbeigezuckelt war, und wollte dann über die Straße gehen. Doch als das Vehikel die Fahrbahn schließlich freigemacht und sich die schwarze, nach Teer stinkende Abgaswolke verzogen hatte, war Saloop verschwunden.
»Ich werde diesen Hund wohl nie verstehen«, brummte Siri.

Wärmer

Bevor er nach Silver City fuhr, schaute Siri noch rasch in der Pathologie vorbei; vielleicht war Dtui ja inzwischen wieder aufgetaucht. Doch außer Geung, der tiefe Furchen in den Zementfußboden fegte, traf er dort niemanden an. Von der Krankenhausverwaltung aus telefonierte er mit Phosy, der ausnahmsweise einmal an seinem Schreibtisch saß. Er erzählte Siri von Dtuis Termin bei Dr. Vansana und bat ihn, sich noch einmal bei ihm zu melden, falls sie sich bis fünf nicht wieder eingefunden hatte. Es war fast vier.
Seine zweite Station war die hässliche Hütte hinter der hohen Mauer des Nationalstadions. Er ging den schmalen Lehmpfad entlang und watete durch eine Schar neugeborener Küken. Vor Dtuis Bananenblättertür blieb er stehen und rief Manoluks Namen, bevor er eintrat.
»Ach, Doktor, kommen Sie rein. Sie habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Dtuis Mutter lag wie immer auf einer dünnen Matratze in der Zimmermitte. Obwohl der Ventilator sich klappernd und ächzend hin und her drehte, gelang es ihm nicht, die Temperatur in der engen Slumbehausung merklich zu senken. Seit Siri sie kannte, hatte Manoluk noch nie so gut ausgesehen wie heute. Da er sie nicht beunruhigen wollte, sagte er ihr nichts von Dtuis Verschwinden.
»Wohlsein, Frau Manoluk. Wie fühlen Sie sich?«
»Prima«, log sie. »Was führt Sie zu mir?«
»Ich habe der Familie eines unserer Verstorbenen einen Besuch abgestattet«, log er zurück. »Und da ich gerade in der Gegend war, dachte ich, ich schaue mal vorbei und sehe, wie es Ihnen geht.«
Er holte das Arztbesteck aus seiner Umhängetasche.
»Ich war heute den ganzen Tag noch nicht in der Pathologie. Ich hoffe, Dtui sieht für mich nach dem Rechten.«
»Das nehme ich doch stark an, Doktor. Sie ist heute Morgen in aller Frühe aus dem Haus gegangen. Ich wüsste nicht, wo sie sonst sein sollte, es sei denn, sie hat sich über den Fluss davongemacht.«
Dieser Witz hatte in Vientiane eine lange Tradition. Wenn sich jemand verspätete oder einmal nicht zur Arbeit kam, hieß es, dann müsse er wohl nach Thailand hinübergeschwommen sein. Es war nur halb im Scherz gemeint, da sich die meisten der 150 000 Einwohner der Stadt schon einmal mit diesem Gedanken getragen hatten.
»Sie wollte nicht zufällig zum Friseur oder sich die Fingernägel machen lassen?«
»Um Gottes willen, nein. Können Sie sich Dtui mit einer Dauerwelle vorstellen?«
Mist. Es war also etwas Unerwartetes dazwischengekommen. Wie immer untersuchte er sie, bevor er ging. Sie plauderten ein wenig, und er gab ihr eine Schachtel Kräutertee, damit sie besser schlafen konnte. Ununterbrochen kreischten Babys, schrien Nachbarn, kläfften Hunde. Er bezweifelte, dass der Kräutertee ihr helfen würde, bei diesem Lärm zu schlafen. Er musste ihr dringend ein besseres Quartier besorgen.

Noch wärmer

Er setzte sich auf sein Motorrad und machte sich nach Silver City auf. Es war, als führe man in den heißen Luftstrom eines voll aufgedrehten Föns. Der Schweiß, der ihm bei Manoluk aus allen Poren gequollen war, trocknete in dem Moment, als er aus der Tür und in die Sonne trat. Jetzt versengte ihm sein Hemd die Haut. Die Hitze lenkte ihn nicht von seinen Problemen ab, im Gegenteil. Ein Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Dtui gehörte zu den fürsorglichsten Menschen überhaupt. Sie wusste, dass der arme Geung sich schreckliche Sorgen um sie machen würde. Sie war einfach nicht der Typ, der den ganzen Tag fortblieb, ohne sich bei ihm zu melden. Siri hatte keinen Zweifel, dass ihr etwas zugestoßen war.
Bei den Wachen am Tor des Hauptquartiers der Geheimpolizei biss er mit seinem zerknitterten Brief erstmals auf Granit. Der Mann auf der Stufenleiter starrte durch sein Guckloch und las den Schrieb, den Siri ihm hinstreckte.
»Nein. Damit kommen Sie hier nicht rein. Tut mir leid, Genosse. Nichts zu machen.«
Der Doktor schmollte, drohte und hämmerte so lange gegen das Tor, bis der Wachmann seinen Vorgesetzten holte, der seinerseits Herrn Phot, den Dolmetscher, zu Hilfe rief. Zwar wollten sie Siri noch immer nicht hereinlassen, schickten Phot jedoch hinaus, um mit ihm zu reden. Er hatte einen großen weißen Sonnenschirm bei sich, den er über ihren Köpfen aufspannte.
»Was treiben Sie da drinnen eigentlich so Geheimnisvolles?«, fragte Siri.
»Nichts«, lautete die Antwort. »Das ist ja gerade der Trick. Die Leute sollen glauben, dass hier rätselhafte Dinge vor sich gehen. Das hält sie auf Trab. Wenn das Proletariat wüsste, dass wir eigentlich gar keine Geheimnisse haben, würde es uns nicht halb so viel Respekt entgegenbringen.« Siri lächelte. »Sie sind also Dtuis Chef. Sie hat mir von Ihnen erzählt.«
»Sie war heute hier?«
»Auf Stippvisite.«
»Können Sie mir sagen, was sie wollte?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Es ging um etwas, das der Russe bei ihrem ersten Besuch zu ihr gesagt hatte. Sie hat der Bemerkung damals keine besondere Beachtung geschenkt, vielleicht habe ich sie aber auch nur nicht richtig übersetzt. Jedenfalls ging es um die Gebissabdrücke.«
»Die des Tigers?«
»Er war sich sicher, dass es sich um eine Katze handelt. Höchstwahrscheinlich um einen Tiger. Aber irgendetwas an den Abgüssen irritierte ihn.«
»Inwiefern?«
»Er meinte, er hätte noch nie so scharfe Eckzähne gesehen. Sie waren spitz wie eine Nadel. Fast so, als hätte sie jemand geschliffen.«
»Geschliffen? Wozu? Und wie?«
»Gute Fragen, Doktor. Aber das macht das Tierchen, das Sie suchen, zu einem umso gefährlicheren Gegner, meinen Sie nicht?«
Darüber dachten sie eine Weile nach.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«

Kälter

Dr. Vansana war tatsächlich zum Stausee hinausgefahren. Siri saß im Garten von Vansanas Haus, im Wind eines gigantischen Ventilators, den Sam, die Frau des Doktors, auf die Terrasse geschleppt hatte. Sein Durchmesser betrug fast einen Meter, und Siri hatte das Gefühl, hinter einer Antonow An-12 herzufliegen. Er musste sich mit beiden Händen an seinem Zitronentee festhalten.
»Endlich eine kühle Brise«, brüllte er gegen das Brummen des Motors an.
»Zum Glück sind Sie keiner dieser eitlen Fatzkes, die ein Toupet tragen, sonst wäre es inzwischen in Nong Khai«, sagte sie.
Obwohl er lachte, war ihm anzusehen, dass er sich um Schwester Dtui große Sorgen machte.
»Ich wollte, ich könnte Ihnen weiterhelfen. Aber ich glaube, ich habe Ihnen alles gesagt, worüber wir uns gestern Abend unterhalten haben.«
»Ihr Mann war also überzeugt, dass dieser Seua nicht das Zeug zum Massenmörder hat?«
»Allerdings. Hinterher war Vansana ziemlich aufgebracht. Seiner Meinung nach war Dtui auf dem Holzweg. Aber sie schien hundertprozentig sicher, dass da ein Zusammenhang besteht. Schlimmer noch, sie glaubte, das Übernatürliche hätte seine Hand im Spiel. Ich fürchte, mein Mann ist allergisch gegen solches Gerede. Er ist Wissenschaftler.«
»Ja, das kann ich gut verstehen. So ging es mir früher auch. Sie hat nicht zufällig angedeutet, wohin sie heute wollte, abgesehen von der Justizvollzugsbehörde?«
»Leider nein. Sie meinte nur, sie wüsste gern mehr über Geister und Werwölfe. Weiter nichts.«
»Entschuldigen Sie, haben Sie ein Telefon?«
»Ja, Doktor. Das Regime hat uns freundlicherweise erlaubt, es zu behalten. Unsere Nachbarn hatten da weniger Glück. Gott sei Dank ist Vansana Arzt.«
Siri versuchte Civilai und Phosy zu erreichen. Keiner von beiden war in seinem Büro, und keiner von beiden hatte hinterlassen, wann er zurück sein würde. Es war schon fünf, und Dtui war gegen zehn Uhr morgens das letzte Mal gesehen worden. Er fuhr ins Polizeipräsidium, um sie als vermisst zu melden, obwohl er wenig Hoffnung hatte, dass die Polizei sie ohne Phosys Hilfe finden würde.
Wo war sie nach ihrem Besuch in Silver City hingefahren? Was hielt sie davon ab, zurückzukommen oder anzurufen? Vielleicht hatte sie einen Unfall gehabt. Fürs Erste hatte sich ihre Spur verloren.

Eiskalt

Wie konnte es hier drinnen so kalt sein, obwohl draußen eine Bullenhitze herrschte? Aber wer weiß, vielleicht fror sie ja auch vor Angst. Sie tastete die Vorderseite ihres Kittels ab. Er war feucht und hier und da mit Dreck verkrustet. Ihr eigenes Blut? Sie wusste es nicht. Auch wenn sie mit Sicherheit Verletzungen davongetragen hatte.
Sie war niedergeschlagen und wie ein Sack schwarze Bohnen über den Boden geschleift worden, bis zu der Stelle, wo sie jetzt saß. Ihre Brust, ihr Gesicht und ihre Schenkel waren mit blutigen Schürfwunden übersät. Es war stockdunkel, kein Licht, nirgends. Die zähe Finsternis, die dünne, übel riechende Luft und die Geräusche, das waren die Gräuel, die ihr körperliches Wohlergehen vergleichsweise unbedeutend erscheinen ließen. Sie steigerten den Schrecken nach und nach ins Unermessliche.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als einfach dazusitzen, mit dem Rücken zur Wand, und zu lauschen. Es lief hin und her und auf und ab, schnaufend, schlurfend, ein dumpfes Gurgeln in der Kehle. Und dann auch noch dieser Geruch. Dank ihrer Arbeit in der Pathologie war sie mit dem Tod vertraut, aber das hier übertraf alles. Blut und Tod vermischten sich mit dem Gestank des Ungeheuers zu einem widerlichen Cocktail.
Sie hatte noch nie so sehr um ihr Leben gefürchtet. Keine Frage, dies war ihr letzter Tag auf Erden, und daran war sie selber schuld. Anfangs hatte sie sich gefragt, warum sie noch lebte, während es die anderen auf der Stelle getötet hatte. Doch als sie ihre Sinne wieder halbwegs beisammenhatte, wurde ihr plötzlich klar, warum. Heute war der letzte Tag der Sonnenwende, und der Mondzyklus erreichte seinen Höhepunkt. Die anderen waren in den fünf Nächten zuvor getötet worden. Erst wenn der Vollmond hoch am Himmel stand, wollte die Bestie ihr letztes Opfer schlagen. In ein paar Stunden würde es ihr genauso ergehen wie den anderen Frauen, nur dass man ihre Leiche an diesem kalten, finsteren Ort wohl niemals finden würde.