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DIE SUCHE NACH DTUI
»So’ne Dicke?«
»Eher kräftig, würde ich sagen.«
»Ja. Die war hier. Wissen Sie, wo sie
arbeitet?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
»Für das RR29.«
»RR29?«
»Das Formular, das bei polizeilichen Meldungen
durch andere Behörden auszufüllen ist.«
»Was hat sie denn getan?«
»Widerrechtliche Aneignung von
Regierungsdokumenten. Ich muss herausfinden, wo sie arbeitet, bevor
die nötigen Schritte eingeleitet werden können – vor allem, weil
sie genau genommen nichts gestohlen hat. Also, wissen Sie’s?«
Der Mann saß an einem kleinen Schreibtisch in einem
ebensolchen Zimmer, das derart mit Papierstapeln und Aktenkisten
vollgestopft war, dass ein Streichholz genügt hätte, um das gesamte
Gebäude im Handumdrehen in Asche zu legen.
So war das also, dachte Siri und betrachtete die
chinesisch anmutenden Züge eines Gesichts, das nach und nach die
Form und Farbe eines Blattes Papier anzunehmen schien.
Hier also landeten all die drei- und vierfachen Durchschläge.
Hunderte von Parteikadern bearbeiteten eine endlose Flut von
Dokumenten und reichten sie an andere Papiergesichter in anderen
Büros weiter, bis sie schließlich in einem Kabuff wie diesem
verschwanden. Welch ein System.
Er befand sich in der Registratur der
Justizvollzugsbehörde. Der einzige Termin, der für heute in Dtuis
Kalender vermerkt war, lautete:
8.30 Uhr JUSTIZVOLLZUGSBEHÖRDE
»Also, wissen Sie’s?«
»Was?«
»Wo sie arbeitet?«
»Nein. Ich habe keine Ahnung.«
»Und woher wussten Sie dann, dass sie hier gewesen
ist?«
»Das haben Sie mir doch gerade selbst
gesagt.«
»Und wie sind Sie auf uns gekommen?«
»Sie standen auf meiner Liste. Wir ermitteln gegen
die Frau. Sie hat so etwas schon einmal versucht.«
»Wer ist wir?«
Siri zog sein zerfleddertes Empfehlungsschreiben
vom Justizministerium hervor. In den meisten Fällen reichte der
bloße Besitz eines Dokuments als Türöffner völlig aus. Kaum jemand
machte sich die Mühe, den ebenso langen wie langweiligen Text zu
lesen. Der Briefkopf genügte. Der Beamte witterte eine
Intrige.
»Was hat sie denn ausgefressen?«, fragte er.
»Sie gibt sich als Krankenschwester aus, marschiert
in diese und jene Behörde und verlangt dies und das. Es ist
wirklich unglaublich.«
»Mist. Ich wusste doch gleich, dass mit der etwas
nicht stimmt. Wie eine richtige Krankenschwester sah sie jedenfalls
nicht aus.«
»Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was passiert
ist?«
Der Registraturbeamte war sichtlich erregt. Sein
tristes Leben hatte Tage wie diesen bitter nötig.
»Sie platzt ins Büro, als ob sie hier zu Hause
wäre, und behauptet, Dr. Vansana hätte sie geschickt, um in den
Akten etwas nachzuschauen. Dr.Vansana ist der für die Haftanstalten
zuständige Arzt. Ha! Als ob jeder x-Beliebige, der hier
hereinmarschiert und sich als wer weiß was ausgibt, Einsicht in
meine Akten nehmen könnte! Sie hatte ja nicht mal ein P124.«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»So wahr ich hier sitze, Genosse. Tja, da Dr.
Vansana heute am Stausee draußen ist, konnte ich ihre Geschichte
nicht überprüfen. Und eins kann ich Ihnen sagen: An meine
Schubladen lasse ich so leicht niemanden ran.«
»Recht so.«
»Eben. Sie führte sich auf wie eine Furie, und ich
erklärte ihr, dass ich ohne ein gültiges IntQ5 eigentlich noch
nicht mal mit ihr sprechen dürfe; sie solle sich die nötigen
Papiere besorgen und dann noch einmal wiederkommen. Ich sagte: ›Wo
kämen wir denn da hin, wenn sich kein Mensch an den
vorgeschriebenen Dienstweg halten würde?‹«
»Ganz Ihrer Meinung.«
»Ich möchte nur ungern wiederholen, was sie darauf
gesagt hat. Ich wünschte ihr einen guten Tag und widmete mich
wieder meiner Arbeit. Sie stürmte hinaus, und nach einer Weile
beruhigte ich mich und dachte nicht mehr an sie. Ich hatte einen
KomBes-Antrag zu bearbeiten und brauchte dazu dringend ein R11.
Leider fehlt es mir im Augenblick
an Personal. Normalerweise schicke ich ein junges Fräulein, wenn
ich eine Akte aus der Ablage brauche, aber momentan muss ich das
selbst erledigen. Ich gehe also nach nebenan, und siehe da – die
Tür ist abgeschlossen. Ich klopfe und klopfe, und wer macht mir
auf?«
»Ich kann es mir schon denken.«
»Sie, wer sonst? Dreist und schamlos steht sie da
und hat doch tatsächlich die Stirn, mir zu erklären, sie habe sich
verlaufen und sei aus Versehen in der Ablage gelandet, deren Tür
sich nicht mehr öffnen ließ. Nicht besonders glaubwürdig, oder was
meinen Sie? Denn erstens lässt sich die Tür nur von innen
verriegeln, und zweitens hatte sie mir aufgemacht. Ich war perplex.
Einen so eklatanten Verstoß gegen die Vorschriften hatte ich noch
nie erlebt.
Ich hätte sie natürlich sofort festsetzen und den
Sicherheitsdienst rufen sollen oder, besser noch, die Polizei. Aber
wie Sie schon sagten, sie war ziemlich kräftig, und ich bin
körperlich nicht auf der Höhe, darum habe ich sie aufgefordert,
unverzüglich das Gebäude zu verlassen. Und was macht sie? Sie
marschiert lächelnd an mir vorbei und tut, als könnte sie kein
Wässerchen trüben. Ist das zu glauben?«
»Durchaus.« Auch Siri konnte sich ein Lächeln nur
schwer verkneifen.
»Was?«
»Ich meine, sie ist eine notorische Kriminelle.
Diese Leute kennen keinen Anstand und kein Schamgefühl. Zu dumm,
dass Sie nicht wissen, welche Akte sie gesucht hat.«
»Ha! Nicht wissen? Ich habe ein ganzes Jahr
gebraucht, um dieses System zu erstellen. Und da glauben Sie, ich
wüsste nicht, welche Akte sie sich angesehen hat? Sie hat sich ja
nicht einmal die Mühe gemacht, sie wieder richtig
einzusortieren. JVB19368.3. Und das, Genosse, ist eine
Vorstrafenakte.«
»Ich wünschte, all unsere Zeugen wären so
gewissenhaft wie Sie, Genosse. Ich fürchte, ich werde einen Blick
in besagte Akte werfen müssen. Sie ist das Einzige, was wir gegen
sie in der Hand haben.«
»Wie ist ihr Name?«
»Ihr Name? Wir führen den Fall unter dem
Aktenzeichen … äh, HJJ838.«
Der Mann machte sich eine Notiz.
Zwanzig Minuten später trat Siri aus der Tür der
Justizvollzugsbehörde und lief gegen eine Wand aus Hitze. Es musste
das heißeste Jahr sein, das er je erlebt hatte. Seit letzten
Dezember hatte es lediglich ein paar Tropfen geregnet. Nichts war
mehr richtig grün.
Ein Rudel erschöpfter Fahrradtaxichauffeure saß
schwitzend unter den grauen Blättern eines Flammenbaums.
»Wohlsein«, sagte Siri.
»Wohlsein, Onkel«, grüßten sie zurück. Sie hatten
gesehen, dass er mit dem Motorrad gekommen war, und wussten, dass
sie nicht auf eine Fuhre zu hoffen brauchten.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
»Erinnert sich einer von Ihnen vielleicht, ob er
heute Morgen eine Krankenschwester gefahren hat? So gegen
neun?«
»Ja«, sagte ein junger Mann, unter dessen nackter
Brust sich jede Rippe einzeln abzeichnete. »So’ne Dicke? Die hab
ich mitgenommen.«
»Wissen Sie auch noch, wohin?«
»Raus nach Silver City, Onkel. An so’nem Tag wie
heute ist das die reinste Quälerei.«
»Danke.«
Siri war auf dem Weg zu seinem Motorrad, als er
zufällig über die Straße schaute. In der flirrenden Hitze, die vom
Trottoir aufstieg, saß Saloop, und seine lange Zunge hing ihm aus
dem Maul.
»Saloop?«, sagte Siri. »Was machst du denn
hier?«
Er musste an die alten Schwarzweißfilme mit Lassie
denken, die er im Pariser Le Ciné gesehen hatte. Vielleicht war
sein Hund gekommen, um ihn zu warnen, weil zu Hause Gefahr lauerte.
Er konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie er ihn hier
gefunden hatte. Siri wartete, bis ein alter vietnamesischer
Lastwagen vorbeigezuckelt war, und wollte dann über die Straße
gehen. Doch als das Vehikel die Fahrbahn schließlich freigemacht
und sich die schwarze, nach Teer stinkende Abgaswolke verzogen
hatte, war Saloop verschwunden.
»Ich werde diesen Hund wohl nie verstehen«, brummte
Siri.
Wärmer
Bevor er nach Silver City fuhr, schaute Siri noch
rasch in der Pathologie vorbei; vielleicht war Dtui ja inzwischen
wieder aufgetaucht. Doch außer Geung, der tiefe Furchen in den
Zementfußboden fegte, traf er dort niemanden an. Von der
Krankenhausverwaltung aus telefonierte er mit Phosy, der
ausnahmsweise einmal an seinem Schreibtisch saß. Er erzählte Siri
von Dtuis Termin bei Dr. Vansana und bat ihn, sich noch einmal bei
ihm zu melden, falls sie sich bis fünf nicht wieder eingefunden
hatte. Es war fast vier.
Seine zweite Station war die hässliche Hütte hinter
der hohen Mauer des Nationalstadions. Er ging den schmalen
Lehmpfad entlang und watete durch eine Schar neugeborener Küken.
Vor Dtuis Bananenblättertür blieb er stehen und rief Manoluks
Namen, bevor er eintrat.
»Ach, Doktor, kommen Sie rein. Sie habe ich ja seit
einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
Dtuis Mutter lag wie immer auf einer dünnen
Matratze in der Zimmermitte. Obwohl der Ventilator sich klappernd
und ächzend hin und her drehte, gelang es ihm nicht, die Temperatur
in der engen Slumbehausung merklich zu senken. Seit Siri sie
kannte, hatte Manoluk noch nie so gut ausgesehen wie heute. Da er
sie nicht beunruhigen wollte, sagte er ihr nichts von Dtuis
Verschwinden.
»Wohlsein, Frau Manoluk. Wie fühlen Sie
sich?«
»Prima«, log sie. »Was führt Sie zu mir?«
»Ich habe der Familie eines unserer Verstorbenen
einen Besuch abgestattet«, log er zurück. »Und da ich gerade in der
Gegend war, dachte ich, ich schaue mal vorbei und sehe, wie es
Ihnen geht.«
Er holte das Arztbesteck aus seiner
Umhängetasche.
»Ich war heute den ganzen Tag noch nicht in der
Pathologie. Ich hoffe, Dtui sieht für mich nach dem Rechten.«
»Das nehme ich doch stark an, Doktor. Sie ist heute
Morgen in aller Frühe aus dem Haus gegangen. Ich wüsste nicht, wo
sie sonst sein sollte, es sei denn, sie hat sich über den Fluss
davongemacht.«
Dieser Witz hatte in Vientiane eine lange
Tradition. Wenn sich jemand verspätete oder einmal nicht zur Arbeit
kam, hieß es, dann müsse er wohl nach Thailand hinübergeschwommen
sein. Es war nur halb im Scherz gemeint, da sich die meisten der
150 000 Einwohner der Stadt schon einmal mit diesem Gedanken
getragen hatten.
»Sie wollte nicht zufällig zum Friseur oder sich
die Fingernägel machen lassen?«
»Um Gottes willen, nein. Können Sie sich Dtui mit
einer Dauerwelle vorstellen?«
Mist. Es war also etwas Unerwartetes
dazwischengekommen. Wie immer untersuchte er sie, bevor er ging.
Sie plauderten ein wenig, und er gab ihr eine Schachtel Kräutertee,
damit sie besser schlafen konnte. Ununterbrochen kreischten Babys,
schrien Nachbarn, kläfften Hunde. Er bezweifelte, dass der
Kräutertee ihr helfen würde, bei diesem Lärm zu schlafen. Er musste
ihr dringend ein besseres Quartier besorgen.
Noch wärmer
Er setzte sich auf sein Motorrad und machte sich
nach Silver City auf. Es war, als führe man in den heißen Luftstrom
eines voll aufgedrehten Föns. Der Schweiß, der ihm bei Manoluk aus
allen Poren gequollen war, trocknete in dem Moment, als er aus der
Tür und in die Sonne trat. Jetzt versengte ihm sein Hemd die Haut.
Die Hitze lenkte ihn nicht von seinen Problemen ab, im Gegenteil.
Ein Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Dtui gehörte zu den
fürsorglichsten Menschen überhaupt. Sie wusste, dass der arme Geung
sich schreckliche Sorgen um sie machen würde. Sie war einfach nicht
der Typ, der den ganzen Tag fortblieb, ohne sich bei ihm zu melden.
Siri hatte keinen Zweifel, dass ihr etwas zugestoßen war.
Bei den Wachen am Tor des Hauptquartiers der
Geheimpolizei biss er mit seinem zerknitterten Brief erstmals auf
Granit. Der Mann auf der Stufenleiter starrte
durch sein Guckloch und las den Schrieb, den Siri ihm
hinstreckte.
»Nein. Damit kommen Sie hier nicht rein. Tut mir
leid, Genosse. Nichts zu machen.«
Der Doktor schmollte, drohte und hämmerte so lange
gegen das Tor, bis der Wachmann seinen Vorgesetzten holte, der
seinerseits Herrn Phot, den Dolmetscher, zu Hilfe rief. Zwar
wollten sie Siri noch immer nicht hereinlassen, schickten Phot
jedoch hinaus, um mit ihm zu reden. Er hatte einen großen weißen
Sonnenschirm bei sich, den er über ihren Köpfen aufspannte.
»Was treiben Sie da drinnen eigentlich so
Geheimnisvolles?«, fragte Siri.
»Nichts«, lautete die Antwort. »Das ist ja gerade
der Trick. Die Leute sollen glauben, dass hier rätselhafte Dinge
vor sich gehen. Das hält sie auf Trab. Wenn das Proletariat wüsste,
dass wir eigentlich gar keine Geheimnisse haben, würde es uns nicht
halb so viel Respekt entgegenbringen.« Siri lächelte. »Sie sind
also Dtuis Chef. Sie hat mir von Ihnen erzählt.«
»Sie war heute hier?«
»Auf Stippvisite.«
»Können Sie mir sagen, was sie wollte?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Es ging um
etwas, das der Russe bei ihrem ersten Besuch zu ihr gesagt hatte.
Sie hat der Bemerkung damals keine besondere Beachtung geschenkt,
vielleicht habe ich sie aber auch nur nicht richtig übersetzt.
Jedenfalls ging es um die Gebissabdrücke.«
»Die des Tigers?«
»Er war sich sicher, dass es sich um eine Katze
handelt. Höchstwahrscheinlich um einen Tiger. Aber irgendetwas an
den Abgüssen irritierte ihn.«
»Inwiefern?«
»Er meinte, er hätte noch nie so scharfe Eckzähne
gesehen. Sie waren spitz wie eine Nadel. Fast so, als hätte sie
jemand geschliffen.«
»Geschliffen? Wozu? Und wie?«
»Gute Fragen, Doktor. Aber das macht das Tierchen,
das Sie suchen, zu einem umso gefährlicheren Gegner, meinen Sie
nicht?«
Darüber dachten sie eine Weile nach.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
Kälter
Dr. Vansana war tatsächlich zum Stausee
hinausgefahren. Siri saß im Garten von Vansanas Haus, im Wind eines
gigantischen Ventilators, den Sam, die Frau des Doktors, auf die
Terrasse geschleppt hatte. Sein Durchmesser betrug fast einen
Meter, und Siri hatte das Gefühl, hinter einer Antonow An-12
herzufliegen. Er musste sich mit beiden Händen an seinem
Zitronentee festhalten.
»Endlich eine kühle Brise«, brüllte er gegen das
Brummen des Motors an.
»Zum Glück sind Sie keiner dieser eitlen Fatzkes,
die ein Toupet tragen, sonst wäre es inzwischen in Nong Khai«,
sagte sie.
Obwohl er lachte, war ihm anzusehen, dass er sich
um Schwester Dtui große Sorgen machte.
»Ich wollte, ich könnte Ihnen weiterhelfen. Aber
ich glaube, ich habe Ihnen alles gesagt, worüber wir uns gestern
Abend unterhalten haben.«
»Ihr Mann war also überzeugt, dass dieser Seua
nicht das Zeug zum Massenmörder hat?«
»Allerdings. Hinterher war Vansana ziemlich
aufgebracht. Seiner Meinung nach war Dtui auf dem Holzweg. Aber sie
schien hundertprozentig sicher, dass da ein Zusammenhang besteht.
Schlimmer noch, sie glaubte, das Übernatürliche hätte seine Hand im
Spiel. Ich fürchte, mein Mann ist allergisch gegen solches Gerede.
Er ist Wissenschaftler.«
»Ja, das kann ich gut verstehen. So ging es mir
früher auch. Sie hat nicht zufällig angedeutet, wohin sie heute
wollte, abgesehen von der Justizvollzugsbehörde?«
»Leider nein. Sie meinte nur, sie wüsste gern mehr
über Geister und Werwölfe. Weiter nichts.«
»Entschuldigen Sie, haben Sie ein Telefon?«
»Ja, Doktor. Das Regime hat uns freundlicherweise
erlaubt, es zu behalten. Unsere Nachbarn hatten da weniger Glück.
Gott sei Dank ist Vansana Arzt.«
Siri versuchte Civilai und Phosy zu erreichen.
Keiner von beiden war in seinem Büro, und keiner von beiden hatte
hinterlassen, wann er zurück sein würde. Es war schon fünf, und
Dtui war gegen zehn Uhr morgens das letzte Mal gesehen worden. Er
fuhr ins Polizeipräsidium, um sie als vermisst zu melden, obwohl er
wenig Hoffnung hatte, dass die Polizei sie ohne Phosys Hilfe finden
würde.
Wo war sie nach ihrem Besuch in Silver City
hingefahren? Was hielt sie davon ab, zurückzukommen oder anzurufen?
Vielleicht hatte sie einen Unfall gehabt. Fürs Erste hatte sich
ihre Spur verloren.
Eiskalt
Wie konnte es hier drinnen so kalt sein, obwohl
draußen eine Bullenhitze herrschte? Aber wer weiß, vielleicht fror
sie ja auch vor Angst. Sie tastete die Vorderseite ihres Kittels
ab. Er war feucht und hier und da mit Dreck verkrustet. Ihr eigenes
Blut? Sie wusste es nicht. Auch wenn sie mit Sicherheit
Verletzungen davongetragen hatte.
Sie war niedergeschlagen und wie ein Sack schwarze
Bohnen über den Boden geschleift worden, bis zu der Stelle, wo sie
jetzt saß. Ihre Brust, ihr Gesicht und ihre Schenkel waren mit
blutigen Schürfwunden übersät. Es war stockdunkel, kein Licht,
nirgends. Die zähe Finsternis, die dünne, übel riechende Luft und
die Geräusche, das waren die Gräuel, die ihr körperliches
Wohlergehen vergleichsweise unbedeutend erscheinen ließen. Sie
steigerten den Schrecken nach und nach ins Unermessliche.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als einfach
dazusitzen, mit dem Rücken zur Wand, und zu lauschen. Es lief hin
und her und auf und ab, schnaufend, schlurfend, ein dumpfes Gurgeln
in der Kehle. Und dann auch noch dieser Geruch. Dank ihrer Arbeit
in der Pathologie war sie mit dem Tod vertraut, aber das hier
übertraf alles. Blut und Tod vermischten sich mit dem Gestank des
Ungeheuers zu einem widerlichen Cocktail.
Sie hatte noch nie so sehr um ihr Leben gefürchtet.
Keine Frage, dies war ihr letzter Tag auf Erden, und daran war sie
selber schuld. Anfangs hatte sie sich gefragt, warum sie noch
lebte, während es die anderen auf der Stelle getötet hatte. Doch
als sie ihre Sinne wieder halbwegs beisammenhatte, wurde ihr
plötzlich klar, warum. Heute war der letzte
Tag der Sonnenwende, und der Mondzyklus erreichte seinen
Höhepunkt. Die anderen waren in den fünf Nächten zuvor getötet
worden. Erst wenn der Vollmond hoch am Himmel stand, wollte die
Bestie ihr letztes Opfer schlagen. In ein paar Stunden würde es ihr
genauso ergehen wie den anderen Frauen, nur dass man ihre Leiche an
diesem kalten, finsteren Ort wohl niemals finden würde.