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DIE INTHANET-VERBINDUNG
Gegen Mittag wachten die beiden weißhaarigen
Männer schweißgebadet auf. Es war ein teuflisch heißer Tag, und
nirgends regte sich ein Lüftchen. Die Bullenhitze hätte einen
eisernen Torpfosten zum Schmelzen bringen können. Siri und Inthanet
waren nur deshalb nicht schon früher aufgewacht, weil die Zeremonie
der letzten Nacht sie an den Rand ihrer geistigen Kräfte gebracht
hatte. Sie waren so ausgelaugt, dass sie selbst dann nicht wach
geworden wären, wenn das Haus in Flammen gestanden hätte.
Siri blickte von seiner Pritsche auf, Inthanet aus
seiner Hängematte.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
Sie lächelten, kratzten sich und richteten sich
auf.
»Sie wollen sicher möglichst schnell zurück nach
Luang Prabang«, sagte Siri. In der kurzen Zeit waren Siri und der
alte Schausteller gute Freunde geworden.
»Ganz und gar nicht. Ganz und gar nicht. Ich bin
achtundsechzig, Bruder, und war noch nie so fern der Heimat. Ich
komme mir vor, als hätte ich in der Provinzlotterie gewonnen. Nicht
nur bin ich zum ersten Mal geflogen, und
das auch noch umsonst. Ich durfte obendrein die große Hauptstadt
des Südens sehen und residiere in einem prächtigen Palast. So gut
habe ich mich schon seit Jahrzehnten nicht mehr amüsiert. Wir haben
die Puppen gefunden, sie besänftigt und Ihrem unleidlichen Nachbarn
noch dazu mächtig eins ausgewischt. Das reinste Vergnügen, Siri.
Das reinste Vergnügen. Und das möchte ich genießen, so lange es
irgend geht. Vielleicht besichtige ich sogar die eine oder andere
Sehenswürdigkeit. Wenn Sie Pech haben, werden Sie mich nie wieder
los.«
»Sie dürfen natürlich bleiben, so lange Sie wollen.
Sagen Sie mir einfach, wenn Sie die Nase voll haben, dann besorge
ich Ihnen einen Rückflug.«
»Abgemacht.«
Siri starrte seinen Mitbewohner an und überlegte,
wie nahe sie sich wirklich standen.
»Inthanet?«
»Ja, Bruder?«
»Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?«
»Selbstverständlich.«
»Es ist ein ziemlich ungewöhnlicher
Gefallen.«
»Ich finde die ganze Reise ziemlich
ungewöhnlich.«
»Na gut. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
Siri ging in das Zimmer, wo er seine Kleider
aufbewahrte, und fischte die Taschenlampe aus seinem Rucksack. Dann
ging er wieder hinaus und ließ sich neben Inthanet auf die Pritsche
plumpsen.
»Ich möchte, dass Sie meine Zähne zählen.«
Inthanet kugelte sich regelrecht vor Lachen. Als
ihm schwante, dass es Siri völlig ernst war, nahm er die
Taschenlampe und leuchtete damit in den aufgesperrten Schlund des
Doktors.
»Holla, die sind ja noch vollzählig vorhanden,
Bruder. Mir sind die meisten Zähne ausgefallen, aber Ihre
Beißerchen machen einen recht gesunden Eindruck. Was dagegen, wenn
ich den Finger zu Hilfe nehme? Sonst verzähle ich mich bloß.«
Siri gurgelte eine zustimmende Antwort, da der
Finger schon auf einem seiner Backenzähne lag und sich langsam zu
seinen Schneidezähnen vorarbeitete.
»Aber das ist wahrscheinlich einer der Vorteile,
wenn man so lange in der Wildnis lebt. Es gibt keine Süßigkeiten,
die einem die Zähne ruinieren. Ich kann ja gar nicht genug kriegen
von dem Zeug. Früher haben wir den Kindern, die in unser
Puppentheater kamen, immer Süßigkeiten geschenkt; leider habe ich
davon in der Regel mehr gegessen als sie.«
Siri wünschte, er würde endlich aufhören zu reden
und sich stattdessen aufs Zählen konzentrieren. Er kannte
niemanden, der beides gleichzeitig zu bewerkstelligen vermochte.
Der Finger setzte seine Reise entlang seiner unteren Zahnreihe
fort.
»Ich wollte mir ja ein Gebiss anschaffen, habe es
mir dann aber doch anders überlegt. Man kann schließlich nie
wissen, wer so ein Ding vorher im Mund hatte und worauf er
herumgekaut hat. Und so behelfe ich mir eben mit dem knappen
Dutzend, das mir noch geblieben ist. Aber Ihre sind wirklich
bildschön. Makellos. Besser als die der meisten jungen
Leute.«
Er zog den Finger heraus und wischte ihn an seinem
Lendentuch ab. »Tut mir leid, ich hätte ihn wahrscheinlich waschen
sollen, bevor ich Ihnen damit im Mund herumfuhrwerke. Nichts für
ungut.«
»Haben Sie sie gezählt?«
»Sonst hätte ich Ihnen ja nicht ins Maul zu schauen
brauchen, Bruder.«
»Und? Wie viele sind es?«
»Dreiunddreißig, Bruder. Dreiunddreißig.«
»Nicht m …«
»Huhu!« Die Frauenstimme kam nicht von draußen,
sondern aus dem Hinterzimmer.
»Jemand zu Hause?«
Die Männer wandten den Kopf und sahen das überaus
lästige Fräulein Vong in der Hintertür stehen.
»Ja, ich dachte, ich hätte Stimmen gehört.«
»Treten Sie doch näher, Fräulein Vong«, brummte
Siri.
»Guten Morgen, Herr Inthanet.«
»Einen wunderschönen guten Morgen, Fräulein
Vong.«
Sie tauschten ein herzliches Lächeln. Siri
staunte.
»Sie beide kennen sich?«
»Aber natürlich«, sagte sie. »Sie haben den Mann
hier in der ersten Nacht ja ganz allein gelassen. Der Arme. Ohne
mich wäre er glatt verhungert.«
»So ist es. Fräulein Vong hat mir ein köstliches
Abendessen serviert und sogar ein bisschen geputzt und
aufgeräumt.«
»Das glaube ich gern.«
»Ich habe euch beiden einsamen Junggesellen etwas
Leckeres mitgebracht. Ich habe nämlich gerade eine gehörige Portion
Fisch-laap mit Chili gemacht.«
Während sie die Zubereitung dieses ausgesprochen
unspektakulären Gerichts in allen Einzelheiten schilderte,
betrauerte Siri den Verlust mühsam wettgemachten Bodens. Im Lauf
des letzten Monats war es ihm erfolgreich gelungen, die Zahl ihrer
überfallartigen Säuberungsaktionen auf ein Minimum zu reduzieren.
Jetzt hatte Inthanets Anwesenheit
ihr neuen Auftrieb gegeben. Inthanet musste verschwinden.
Zudem hatte sie seine große Offenbarung sozusagen
in einer Flut von Seifenlauge ertränkt. Er hatte dreiunddreißig
Zähne: er, Prinz Phetsarath und Buddha. Er hätte es am liebsten
laut herausgeschrien. Das musste unbedingt gefeiert werden, aber
ohne Fräulein Vong.
»Vong, ist etwa schon Wochenende? Oder haben Sie
heute frei?«
»Nur heute Vormittag, Genosse. Wir machen eine
Forschungsreise in die südlichen Provinzen. Und da wir über Nacht
reisen, haben wir den Vormittag zum Packen freibekommen.«
Sofort hob sich seine Stimmung.
»Wie viele Monate bleiben Sie denn fort?«
»Nur vier Tage. Ich bin im Handumdrehen wieder da.
Ich stelle das sicherheitshalber in die Küche.« Sie ging mit der
Schüssel Fisch-laap ins Haus. Kurz darauf hörten sie sie
sagen: »Huch, hier müsste aber auch mal dringend Staub gewischt
werden.«
»Nicht nötig, Fräulein Vong.«
Siri und Inthanet wechselten ein Lächeln und zogen
Grimassen wie Schuljungen hinter dem Rücken ihres Lehrers. Siri
senkte die Stimme und fragte: »Was haben Sie mit dem Essen gemacht,
das sie Ihnen gebracht hat?«
»Das hat selbst Ihr Hund verschmäht. Ich dachte,
sie sieht vielleicht in der Mülltonne nach, darum habe ich es unter
dem Papayabaum dort drüben zur gnädigen Ruhe gebettet.«
»Dann kann ich die Hoffnung, dass dort in
absehbarer Zeit Papayas wachsen, ja wohl fahren lassen.«
Da fiel Siri ein, dass er die Machete ausgraben
musste,
bevor sie zu rosten anfing. Wieder lachten sie und lauschten dem
Wispern des Staubwedels und dem Summen einer glücklichen Frau, die
zum Putzen geradezu geboren schien.
Erst als Siri auf seinem Motorrad davonfuhr und
Inthanet das Gartentor hinter ihm schloss, dämmerte Herrn Soth, dem
Nachbarn, wie übel man ihm mitgespielt hatte. Er stieg auf einen
Stuhl auf seiner Veranda, sodass er über die Mauer sehen konnte. Es
waren zwei. Er war gekränkt. Wie konnten sie es wagen? Wie konnte
es jemand wagen, sich derart über ihn lustig zu machen?
Natürlich handelte es sich um keine bloße
Verwechslung. Inthanet hatte schon einigen Aufwand betreiben
müssen, um wie Siri auszusehen. Da war zunächst der Gang, dieser
hastende, leicht gebückte Gang, der Siri umso flinker an sein Ziel
zu bringen schien. Doch zu seiner Zeit war Inthanet ein großartiger
Schauspieler gewesen. Ein paar kleinere maskenbildnerische
Veränderungen an den Augenbrauen und Siris blauer Mao-Anzug
genügten, und Inthanet erkannte sich selbst nicht wieder. Wie also
hätte der Nachbar merken sollen, dass er nicht Siri war?
Der Doktor hatte Soth gesehen, als er den
Lautsprechermast gefällt hatte. Nachdem er den kleinen Sabotageakt
so lange und sorgfältig geplant hatte, machte es ihn doppelt
wütend, auf frischer Tat ertappt zu werden, noch dazu in einem
Vorort, wo nach Mitternacht normalerweise kein Mensch mehr auf die
Straße ging. Er hatte seine Machete so scharf geschliffen, dass man
damit selbst den kommunistischen Amtsschimmel mühelos in seine
Einzelteile hätte zerlegen können. Seinen Berechnungen nach würde
er höchstens zehn Hiebe brauchen, um den grässlichen Kasten zu Fall
zu bringen, und längst wieder auf seiner Pritsche liegen, bevor
jemand etwas merkte.
Wie hätte er auch ahnen sollen, dass der
geheimnisvolle Herr Soth sich dort herumtrieb? Woher sollte er die
Gewohnheiten des Mannes kennen? Wie kam sein Nachbar dazu, um diese
nachtschlafende Zeit schon auf den Beinen zu sein? Vor Tagesanbruch
hatte dort niemand etwas zu suchen. Aber da stand er, hellwach und
auf Vergeltung sinnend.
Auf dem Flug von Luang Prabang hatten Siri und
Inthanet dieses kleine Komplott ausgeheckt und Vorkehrungen für
diverse andere Eventualitäten getroffen. Dtui hatte ihrem Chef am
Telefon von den beiden Polizisten erzählt, und Tik, der alte
Schamane, hatte vorausgesehen, dass Siri im Gefängnis landen würde.
Insofern waren sowohl Herrn Soths Anzeige als auch Siris Verhaftung
unabwendbar. Das Stück war geschrieben, und die Handlung folgte dem
Text. Doch der letzte Akt stand noch aus.
Herr Soth war nämlich nicht nur ein widerlicher
Kerl, sondern auch ein schlechter Verlierer. Schließlich hatte er
sich die wirtschaftlichen Höhen und moralischen Tiefen, auf die er
so stolz war, keineswegs durch Demut und Bescheidenheit erkämpft.
Die Rache musste nicht einmal besonders kompliziert ausfallen. Ein
einfacher Mord reichte vollauf.
Es war Mittag, und so fuhr Siri auf direktem Weg
zum Fluss hinunter, stellte sein Motorrad unter einem Goldregen ab
und gesellte sich zu Civilai und Phosy, die auf ihrem Baumstamm
saßen und ihn bereits erwarteten. Die beiden Männer aßen mit der
rechten Hand und fächelten sich wie eine Geisha mit der linken Luft
zu. Die billigen Singha-Bier-Werbefächer aus Thailand vermochten
gegen die Schweißperlen auf ihrer Stirn allerdings nur wenig
auszurichten.
Kein Windhauch wehte, und der Fluss wälzte sich so langsam dahin,
dass er jeden Moment stillzustehen drohte.
»Habt ihr noch was zu essen?«, fragte Siri.
»Nun hör sich einer den an.« Civilai sah zu Phosy,
ohne den Neuankömmling eines Blickes zu würdigen. »Der Mann
verdient über fünfzehn Dollar im Monat und besitzt doch tatsächlich
die Frechheit, uns arme Schlucker anzuschnorren.«
»Komm schon, du alter Geizkragen. Ich weiß doch,
dass du in der Tüte noch etwas versteckt hältst.«
Civilai griff widerwillig in das braune
Papierbündel und holte eins der monströsen Sandwiches seiner Frau
daraus hervor. Das Brotessen hatten sie sich während ihres Studiums
in Frankreich angewöhnt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, hauptsächlich
jedoch zu Unrecht war luftiges Weißbrot eine der wenigen
Annehmlichkeiten gewesen, von denen sie in den vier Jahrzehnten im
Dschungel geträumt hatten.
Während die jungen Männer auf ihren Seminar- und
Bildungsreisen nach Hanoi andere, eher triebhafte Gelüste zu
befriedigen suchten, lief Siri und Civilai allein bei dem Gedanken
an knuspriges, mit allerlei Leckereien belegtes französisches
Baguette das Wasser im Mund zusammen. Als sie 1975 in Vientiane
einmarschiert waren, hatten sie zu ihrem Entzücken festgestellt,
dass die Billigbrotindustrie nach wie vor florierte, und seither
nutzten sie jede sich bietende Gelegenheit, den in der Wildnis von
Houaphan erlittenen Mangel doppelt und dreifach wettzumachen.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
»Verdammt heiß.«
»Ich habe dreiunddreißig Zähne.«
»Sei nicht albern.«
»Doch, wirklich, ich …«
»Ich glaube, die Hitze macht uns alle ein bisschen
plemplem«, sagte Civilai.
»Was gibt’s Neues?«, fragte Phosy.
»Also, der Spitzenplatz auf der Liste der Kretins
und Idioten gebührt eindeutig meinen unwerten Genossen aus dem
Politbüro, die allen Ernstes fordern, sämtliche Feste zu verbieten,
weil sie losem Treiben Vorschub leisten. ›Nur über meine Leiche‹,
sage ich. Dann hat der thailändische Außenminister heute Morgen
verkündet, dass der laotische König, der, wie wir wohl wissen,
derzeit zur Sommerfrische im tiefsten Houaphan weilt, von einer
thailändischen Eliteeinheit aus Luang Prabang befreit wurde und den
Rest seiner Tage nun auf der Sonneninsel Phuket in Südthailand
verbringen wird.«
»Aber ich habe wirklich …«
»Inzwischen haben die Yankees auf der anderen Seite
des Pazifik nach einer kurzen Phase der Aufklärung und der
Gesittung die Prügelstrafe an Schulen wiedereingeführt. Ich habe
das Gefühl, die Menschheit braucht dringend eine kalte Dusche.
Selbst von deiner Laborantin habe ich heute Morgen einen seltsamen
Anruf erhalten, Siri.«
Siri schmollte und gab keine Antwort.
»Ein klimatisiertes Büro wäre mir lieber«, meinte
Phosy.
»Der Sektionssaal in der Pathologie hat eine
Klimaanlage«, gab Siri zu bedenken. »Wenn ihr wollt, könnt ihr mir
gern Gesellschaft leisten. Ich würde euch sogar bei …«
»Vielen Dank, aber ich kann mich
beherrschen.«
»Was macht eigentlich dein Doppelgänger?«, fragte
Civilai.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Siri setzte
sich zwischen
die beiden Männer und packte sein Mittagessen aus. »Ich kann
keinerlei Gemeinsamkeiten zwischen Herrn Inthanet und mir
feststellen. Und Sie, Inspektor?«
»Sie sind beide durchtriebene alte Gauner.«
»Ich meine vom Aussehen her.«
»Komm schon, alter Knabe. Wir wollen endlich
wissen, was es mit deinem Freund und den königlichen Puppen auf
sich hat.«
»Gestern Nacht nicht zu vergessen«, setzte Phosy
hinzu.
Siri spülte einen Bissen Brot mit einem Schluck von
Phosys Eiskaffee hinunter. Das Eis in der Thermosflasche hatte den
Vormittag nicht überstanden.
»Tja, Jungs, so kompliziert ist die Sache
eigentlich gar nicht. Älterer Bruder, meinst du, du könntest mir
etwas mehr Luft zuwedeln? Es ist heiß hier.«
Civilai zog ihm eins mit dem Fächer über.
»Danke. Wo soll ich anfangen? Als ich in Luang
Prabang war, habe ich mich ein wenig nach der Truhe umgehört, die
ich im Ministerium gesehen hatte. Als ich sie beschrieb, wurde ich
an unseren Freund Inthanet verwiesen. Er war einer der fünf noch
lebenden Hüter der königlichen Puppen des Xieng-Thong-Tempels, die
seit einiger Zeit zum Schweigen verurteilt sind.«
»Wenn mich nicht alles täuscht, hat mein Kabinett
ihnen verboten, sich bei ihren Aufführungen höfischer Sprache zu
bedienen, und die Puppen haben sich geweigert«, sagte Civilai
grinsend.
»Genau. Die Truhe wurde feierlich verschlossen und
im Xieng-Thong-Tempel verwahrt. Es war der klassische Zweikampf
zwischen Puppe und Politbüro. Aber da die Puppen nicht die Absicht
hatten, den Tempel zu verlassen, ließ die Regierung sie
entführen.
Eines Tages kamen zwei Männer in Safarianzügen und
schnappten sich die Truhe. Niemand wusste genau, wer die Männer
waren und wohin sie die Puppen bringen wollten. Dem Abt, der sie
bewachte, wurde eine Direktive der Regierung vorgelegt, nach der
die Truhe aus Sicherheitsgründen fortgeschafft werden solle. Als
der Abt Näheres wissen wollte, wurde ihm beschieden, es sei alles
streng geheim. Ihm waren die Hände gebunden.
So gelangte die Truhe ins Archiv des Ministeriums,
und plötzlich war der Teufel los. Die Truhe kann nämlich nicht nach
Lust und Laune von jedem x-Beliebigen geöffnet werden. Die Geister
der Puppen sind sehr mächtig und noch dazu schrecklich impulsiv.
Sie waren bereits …«
»Seit wann haben Puppen Geister?«, fuhr Civilai
dazwischen.
»Was?«
»Puppen sind keine Menschen, und sie sind auch
nicht tot. Also wie …?«
»Ah, aber die Puppen sind aus Balsa, und bevor das
Holz, aus dem sie geschnitzt werden, vom Baum geschnitten wird,
muss der Puppenmacher die Erlaubnis der Baumgeister einholen. Balsa
ist ein zartes Holz, in dem unzählige Geister wohnen. Wenn sie
dahinterkommen, dass aus dem Holz das Abbild eines Menschen
entstehen soll, geraten die eher nostalgischen Geister nicht selten
in Versuchung, sozusagen die Seiten zu wechseln, und fahren in die
Puppe. Für sie ist das wie die Rückkehr zu einem alten Wirt.
Die Balsageister ziehen wiederum andere Geister an:
tote Puppenspieler, Handwerker, Tänzer, bis jede Puppe eine eigene
Persönlichkeit, eine eigene Energie entwickelt hat. Inthanet kennt
sie alle und weiß, wie man die Truhe öffnet,
ohne die Puppen in Rage zu versetzen. Als ich ihm erzählte, dass
ich im Ministerium eine Kiste mit dem königlichen Siegel gefunden
hatte, war er sofort bereit, mit mir nach Vientiane zu kommen. Er
ist ein echtes Original. Er würde dir gefallen, Bruder. Er ist sein
Lebtag nicht aus Luang Prabang herausgekommen.«
Phosy stand auf und trat an den Rand der
Uferböschung, wo sie steil zum seichten Fluss abfiel.
»Gut. Jetzt wissen wir, wer Inthanet ist. Und nun
zu gestern Nacht. Ein paar Dinge kapiere ich nämlich immer noch
nicht ganz. Darf ich fragen, warum die Zeremonie ausgerechnet
gestern Nacht stattfinden musste?«
»Ursprünglich sollte es erst am Wochenende
losgehen.Wir hatten sogar ein kleines Orchester engagiert, und das
hatte frühestens Samstag einen Termin frei.«
»Sie haben ein Orchester engagiert?«
»Nur ein halbes Dutzend traditionelle Instrumente.
Außerdem hätten wir mehr Zeit gebraucht, um den hiesigen
Balsabäumen den gebührenden Respekt zu zollen. Aber all diese Pläne
haben Sie mit Ihrer Ungeduld zunichtegemacht.«
»Ungeduld? Ich habe meinen Chef eine volle Woche
hingehalten.«
»Geduld ist die Mutter der Porzellankiste, mein
Junge. Nur wer wartet, kommt ans Ziel.«
»Oder wird vorzeitig in den Ruhestand
versetzt.«
»Als ich in der Klinik erfuhr, dass Sie drauf und
dran waren, die Truhe zu öffnen, wusste ich, dass Sie in
Schwierigkeiten stecken. Ich bin sofort nach Hause gerast und habe
Inthanet und die wenigen Utensilien, die er zur Hand hatte, auf
mein Motorrad geladen. Die Sache mit dem Kassettenrecorder hätte
schwer ins Auge gehen können. Die
Puppen bevorzugen Livemusik. Wir haben in einem Balsahain
angehalten, den Geistern kurz erläutert, was wir vorhatten, und uns
von ihnen grünes Licht geben lassen.
Die ganze Zeit habe ich mir vorgestellt, wie Sie,
von zornigen Geistern besessen, mit dem Kopf voran durch das
Dachfenster segeln. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als wir dort
ankamen und ich weder ihren albernen Roller vor der Tür stehen noch
ihre ungeduldige Leiche auf dem Pflaster liegen sah.«
»Wetten, dass ich es bis zum Brunnen geschafft
hätte? Aber sagen Sie, wie sind Sie eigentlich in den sechsten
Stock gekommen, ohne die verdammte Tür zu öffnen?«
»Inthanet hat ein magisches Mantra gesprochen und
uns durch Zeit und Raum geradewegs nach oben befördert. Ich spürte,
wie sich mein Körper auflöste wie Zucker in warmem Wasser und gen
Himmel fuhr. Ein herrliches Gefühl. Eben noch hatten wir am Brunnen
gestanden, und im nächsten Augenblick saßen wir vor der
Truhe.«
Sie starrten ihn mit offenem Mund an.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Nein. Kleiner Scherz am Rande. Wir haben den
Seiteneingang im Parterre aufgebrochen.« Wieder zog Civilai ihm
eins mit dem Fächer über. »Dann haben wir die andere Treppe vom
vierten in den fünften und dann weiter in den sechsten Stock
genommen.«
»Welche andere Treppe?«
»Seltsam, dass Ihnen, als gewiefter Polizist,
entgangen ist, dass es noch ein zweite Treppe gibt.«
»Es gibt keine …«
»Aber ja doch. Wir standen vor der verschlossenen
Tür, und ich dachte schon, wir müssten sie eintreten. Aber Inthanet
spürte, dass es noch eine zweite Treppe gab. Sie befand
sich am anderen Ende des Gebäudes, und der Zugang war mit einer
Hartfaserplatte verrammelt. Da die Platte nur verklebt war, ließ
sie sich leicht entfernen. Die Treppe war zwar völlig von Termiten
zerfressen, aber mit etwas Glück und der gebotenen Vorsicht … Oben
war eine weitere Platte angebracht.«
»Gott, ist mir das peinlich.«
»Nicht nötig. Die Leute, die dort arbeiten, wussten
sicher auch nichts davon. Die Treppe wurde wahrscheinlich schon vor
einer Ewigkeit verrammelt, wegen Einsturzgefahr. Und nun lasst mich
in Frieden essen. Ich habe nämlich Hunger.«
Er lächelte und biss herzhaft in sein
Sandwich.
»Dann habe ich wohl ziemliches Schwein gehabt«,
befand Phosy. »Danke. Aber Sie hätten mir wirklich sagen sollen,
was Sie vorhatten.«
»Stimmt«, sagte Siri mit vollem Mund. »Ich bitte um
Entschuldigung. Aber meine Verhaftung und die Anhörung hatten
Vorrang.«
»Du kannst von Glück sagen, dass sie dich nicht
auch noch verurteilt haben«, meinte Civilai.
»Hältst du mich etwa immer noch für
schuldig?«
»Nachdem du ihn derart blamiert hast, möchte ich
den Mann jedenfalls nicht zum Nachbarn haben.«
»Keine Sorge, Bruder. Die Sorte kenne ich. Sie
haben eine große Klappe, aber im Grunde sind sie feige. Fräulein
Vong macht mir wesentlich mehr Angst. Ach übrigens, habe ich euch
eigentlich schon erzählt, dass ich dreiunddreißig Zähne
habe?«
Es war zu heiß, um die Mittagspause weiter
auszudehnen, und Siri schob sein Motorrad auf den Parkplatz des
Krankenhauses. Es war schon fast zwei, und er kam sich
vor wie ein Schuljunge, der den halben Tag geschwänzt hat. Er
hatte Herrn Geung seit über einer Woche nicht gesehen und konnte
nur hoffen, dass der arme Kerl nicht in Leichenbergen
erstickte.
Als er den Betonbungalow betrat, rief er mit
zuckersüßer Stimme: »Schwelt hier noch irgendwo ein Fünkchen
Leben?« Keine Antwort. »Hallo?«
Herr Geung kam völlig aufgelöst aus dem Büro
geeilt. Bei Siris Anblick atmete er erleichtert auf. Trotzdem
brachte er vor lauter Nervosität kein Wort heraus. Er wippte so
heftig auf den Fersen, dass er fast aus den Sandalen kippte.
»Ganz ruhig, Geung. Ganz ruhig.«
Siri geleitete ihn ins Büro zurück, setzte ihn auf
einen Stuhl und massierte ihm die Schultern, bis seine Atmung sich
normalisiert hatte.
»Und jetzt schön langsam.«
»Es … es … es geht um Dtui.«
»Ja?«
»Ssss … sie ist ver … schwunden.«
Saloop, der Lebensretter, und seine Liebste hatten
sich auf dem Hof der Eisfabrik soeben ein kräftiges Mittagsmahl aus
Reis und Essensresten einverleibt. Der Fabrikbesitzer mochte ihn
und hatte ihn gern in seiner Nähe. Er war anders als die anderen
Hunde, die immer nur an das Eine zu denken schienen.
Aber heute war es zu heiß, um in der Sonne zu
sitzen, und zum Schmusen hatte seine Freundin keine Lust, darum
trabte er gemächlich heimwärts. In der Gesellschaft des Mannes aus
dem Norden fühlte er sich wohl, und er musste sich unbedingt mehr
um ihn kümmern. Allein standen Menschen auf verlorenem
Posten.
Hin und wieder blieb er stehen und schnupperte an
einer Mauer oder einem Pfosten, um sich zu vergewissern, dass sich
keine Eindringlinge in seinem Revier befanden. Doch in dieser Hitze
mit vollem Magen abgestandenen Urin zu schnüffeln verursachte ihm
Übelkeit.Vermutlich waren seine Hundesinne deshalb nicht so fein
wie sonst, andernfalls hätte er die Bewegung auf dem Hof eigentlich
bemerken müssen, bevor ihm der Duft in die Nase stieg. Aber der
Duft war unverkennbar.
Er hatte noch nicht allzu oft Gelegenheit gehabt,
Schokolade zu probieren. Sie war ein so seltener Luxus, dass es
nicht einmal im Lane Xang Hotel welche gab. Doch einmal, als Welpe,
hatte er von einer reichen Dame aus dem Ausland ein Stück bekommen,
und seitdem war er süchtig nach dem braunen Zeug. Er war der Dame
kilometerweit gefolgt, bis sie ihn schließlich abgeschüttelt hatte,
aber der Geschmack begleitete ihn bis heute.
Auf seinen zweiten Fix hatte er fünfzehn Jahre
warten müssen. Kurz nachdem er mit Siri hierhergezogen war, hatte
ihn der zarte Duft von Schokolade eines Tages an der Nase aus dem
Tiefschlaf gerissen. Er trottete zum Gartentor der Nachbarn – deren
Kinder besser aßen als der Präsident – und sah die Gören genüsslich
an Schokoriegeln knabbern. Sie triezten und foppten ihn, streckten
ihm ein Stückchen hin und zogen es dann wieder weg.
Es war mehr, als er ertragen konnte. Und so
heuchelte er Desinteresse, spannte seinen Nacken wie eine Feder,
und just als der Junge den Riegel wieder wegziehen wollte,
schnappte er danach. Das Bürschchen konnte seine Hand gerade noch
rechtzeitig in Sicherheit bringen. Er ließ den Riegel fallen, und
Saloop trug seine Beute siegreich von dannen.
Das war jetzt vierzehn Tage her, und seitdem
wartete er auf eine Gelegenheit, von Neuem an seine Lieblingsdroge
zu gelangen. Jetzt war sie da. Das Tor stand offen, und eines der
Kinder hatte einen halben Riegel Schokolade auf dem Gartenweg
liegen lassen, wo er in der heißen Sonne schmolz. Es war ein
Klacks. Hinterher würde es ihm vermutlich hunde- … nun ja,
jedenfalls elend gehen, aber wer je an einer Sucht gelitten hat,
der weiß, dass man dagegen machtlos ist.
Langsam schlich er den Weg entlang, lauschte mit
gespitzten Ohren auf die Geräusche im Haus, doch an einem so heißen
Tag wie heute wagte sich kaum ein Mensch ins Freie. Und plötzlich
lag sie direkt vor seiner Nase. Er sog den köstlichen milchig-süßen
Duft in seine Nüstern, tauchte die Zunge in die klebrige Paste und
schleckte sie schmatzend auf.
Schöner konnte das Leben gar nicht sein: ein
Häuschen im Grünen, ein fürsorgliches Herrchen, die Liebe einer
rassigen Hündin – und Schokolade. Einen Moment lang überlegte er,
ob er je glücklicher gewesen war.