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999 999 ELEFANTEN
Siri verabschiedete sich von seiner Schwägerin und
ihrem Mann, die schon auf dem Reisfeld schufteten. Sie leisteten
ihren Beitrag für die Kooperative, die ihnen großzügig gestattete,
eine winzige Parzelle des Landes zu bestellen, das ihnen einst
gehört hatte. Wilaiwan hatte das Land zum Lohn für ihre Dienste als
Hoftänzerin geschenkt bekommen. Das königliche Siegel auf der
Urkunde war inzwischen ebenso wertlos wie ihre bürgerliche
Kunst.
»Danke, dass du meine Schwester geliebt hast«,
sagte sie und schob sich den flachen, runden Hut in den Nacken. Sie
fragte ihn nicht, wo er die Nacht verbracht hatte. Sie hatte
gelernt, nicht allzu viele Fragen zu stellen, und das galt auch für
Verwandte. Er hatte beschlossen, ihr seine Begegnung mit dem König
zu verschweigen. Als eingefleischter Monarchistin hätte ihr der
Verlust des königlichen kwun das Herz gebrochen.
»Es war mir ein aufrichtiges Vergnügen.«
»Ich bin froh, dass sie dich hatte.«
»Wan, mir macht ein kleines Rätsel zu
schaffen.«
»Ich bezweifle, dass ich dir bei den Rätseln helfen
kann, mit denen du dich beschäftigst.«
»Da habe ich nun wieder meine Zweifel. In Vientiane
steht eine Teakholztruhe mit königlichem Siegel. Sie ist etwa so
groß wie ein Kindersarg. Sie hat kein Schloss und keine Griffe und
lässt sich allem Anschein nach nicht öffnen. Ich habe das Gefühl,
es steckt eine gewaltige Kraft darin.«
»In Vientiane gibt es doch bestimmt jede Menge
geraubter Truhen aus dem Schatz des Königs.« Sie biss sich auf die
Zunge.
»Mir sind Gesichter erschienen«, fuhr er fort,
»weiße, emotionslose Gesichter, dick geschminkt und mit aufwändigem
Kopfschmuck. Außerdem scheint es eine Verbindung zu Tabaksrauch und
Alkohol zu geben.« Ihre Miene verriet, dass sie etwas wusste. »Sagt
dir das irgendetwas?«
»In Luang Prabang, in der Kitsalat Road unweit des
Palasts, wohnt ein Mann namens Inthanet. Wende dich an ihn.
Vielleicht kann er dir weiterhelfen.«
Die Sonne brannte sich rasch durch den
Morgennebel, der über dem Fluß und den umliegenden Hügeln hing. Das
Pony war noch immer an der Vordertreppe des Hauses festgemacht,
doch da Siris schmerzende Lenden den gestrigen Ritt noch nicht
verwunden hatten, zog er es vor, den größten Teil des Weges zu Fuß
zurückzulegen statt auf dem Rücken des erleichterten kleinen
Pferdes.
Als sie schließlich in Luang Prabang ankamen,
brachte er Fräulein Latsamys Bruder das Pony zurück und bedankte
sich für die Gefälligkeit, indem er ihm ein Furunkel an der
Schulter aufstach und verband. Er musste sich hin und wieder ins
Gedächtnis rufen, dass er nach wie vor imstande war, die Probleme
der Lebenden zu lösen.
Er ging die Photisalat Road entlang, vorbei an
gedrungenen zweistöckigen Häusern, die aussahen wie eine Reihe
unterschiedlich großer, in ein Bibliotheksregal gequetschter
Bücher mit lehmbraunen, staubgelben oder grünen Umschlägen. Als er
einer alten Frau auf einem Balkon im ersten Stock zuzwinkerte,
verzog sie ihre betelroten Lippen zu einem blutigen Lächeln.
Vor dem alten Königspalast, den man dem Staat
widerwillig als Museum übereignet hatte, blieb er einen Augenblick
stehen. Die üppigen Palmen links und rechts der ungeteerten
Auffahrt standen noch immer stramm in Reih und Glied. Über dem
Portal hob sich dasselbe königliche Emblem, das auch die Truhe im
Informationsministerium zierte, als goldenes Relief gegen die rote
Mauer ab. Zwar war es teilweise hinter der neuen Nationalflagge
verschwunden, schien bislang jedoch unversehrt. Er fragte sich, wo
sein Freund, der Gärtner, jetzt wohl stecken mochte und ob er
seinen Palast je wieder von innen sehen würde.
Er wollte Herrn Inthanet aufsuchen, aber das hatte
noch ein wenig Zeit. Er ließ das bescheidene Zentrum hinter sich,
und nach und nach machten die Häuser Bäumen Platz. Er hielt zwei
Mönche mit braunen Wollmützen an und fragte sie nach dem Weg zum
That-Luang-Tempel. Da müsse er bei diesem Baum links und an jenem
Busch rechts abbiegen. Alle Straßenschilder aus der Zeit der
Monarchie hatte man entfernt.
Als er vor der weiß getünchten Mauer rings um den
kleinen Tempel ankam, trat ihm ein bewaffneter Wächter in den Weg
und machte eine abweisende Handbewegung.
»Der Tempel ist geschlossen, Genosse.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Siri forsch. »Ich möchte
mir die Absturzstelle ansehen. Ich komme vom Justizministerium in
Vientiane.«
»Oh.«
Siri zückte das Empfehlungsschreiben, das ihm als
Ausweis diente. Der junge Mann starrte angestrengt auf den
Briefkopf, und der Doktor fragte sich, ob er des Lesens überhaupt
mächtig war.
»Mir hat niemand etwas gesagt.«
»Genosse Houey schickt mich.«
»Oh.«
Siri schob den Brief wieder in seine Umhängetasche
und ging an dem Wächter vorbei, als sei alles in bester Ordnung. Er
nickte dem jungen Mann freundlich zu und stieg die Treppe zu der
auf einem flachen Hügel gelegenen Tempelanlage hinauf. Oben
angekommen, fand er sich in einem ungepflasterten, von ausladenden
alten Pagodenbäumen beschatteten Hof wieder, um den sich die
malerischen, leicht heruntergekommenen Tempelgebäude gruppierten.
Nirgends war ein Mönch zu sehen. Ein Teil des Geländes war mit
blauer, an Bambuspfosten befestigter Plastikfolie abgesperrt. Als
er die Plane anhob und hindurchtrat, bot sich ihm ein erstaunlicher
Anblick.
Auf der einen Seite zog sich eine Spur aus
rußgeschwärzten Trümmern quer über den Hof bis zu dem verformten,
ausgebrannten Wrack des Hubschraubers. Auf der anderen wurde einem
großen alten Elefanten eine dicke, zwölf Meter lange Kette
umgelegt. Das rostige Metallband schlang sich zweimal um den Sockel
einer stark beschädigten schwarzen Stupa, die ähnlich schwere
Schlagseite hatte wie der schiefe Turm von Pisa.
Zwei Mahuts befestigten die Ketten an den Flanken
des Elefanten. Ein Mann im hauchdünnen weißen Hemd zeigte mit
ausgestrecktem Arm, wohin die Stupa fallen sollte. Hinter ihm
standen zwei weitere bewaffnete Wächter. Siri ging zielstrebig auf
den Mann zu und lächelte.
»Ist sie beim Absturz beschädigt worden?«
Der Angesprochene drehte sich um, schien sich
jedoch nicht im Mindesten über Siris Anblick zu wundern. Sie gaben
sich die Hand, und der Mann im weißen Hemd wies mit einem Nicken
auf die wankende Ruine.
»Der Hubschrauber hat sie offenbar gestreift, als
er herunterkam. Kommen Sie von der Stadtverwaltung?«
»Nein. Ich bin Leichenbeschauer. Ich habe die
Piloten untersucht. Sie sind wohl nicht von hier?«
»Der Buddhistische Sangha-Rat hat mich geschickt.
Ich bin heute Morgen mit dem Bus gekommen. Ich soll den Abriss
dieser Stupa überwachen. So ist das viel zu gefährlich. Wir wollen
schließlich nicht, dass sie einem Kind auf den Kopf fällt, nicht
wahr? Sämtliche Änderungen an Tempelbauten, ob sie nun von uns
geplant oder auf Buddhas Wirken zurückzuführen sind, müssen vom Rat
genehmigt werden.«
Es war eine dieser unnötig langen Antworten, wie
man sie gewöhnlich von Menschen bekommt, die ihr schlechtes
Gewissen quält.
»Ziemlich viel Wachpersonal für eine so kleine
Stupa.«
»Nun ja, das liegt an – wie soll ich sagen?
Einerseits ist solch ein Eingriff natürlich ein heiliger Akt,
andererseits besteht die Gefahr von Plünderungen.«
»Ziegel?«
»Um Gottes willen, nein. Viele dieser sehr alten
Stupas, insbesondere hier im Norden, bergen bedeutende...« – er
senkte die Stimme – »... Schätze. Wie Sie wissen, versuchen die
Sklaven des Kapitalismus ihr Ansehen nicht selten dadurch zu
erhöhen, dass sie den Tempeln reichlich Gold und Juwelen schenken.
Früher haben die Äbte ihre Schätze zum Schutz vor feindlichen
Heeren in der Stupa eingemauert.«
»Ah, verstehe.«
Als alter Zyniker fragte Siri sich unwillkürlich,
ob der Buddhistische Rat wohl ebenso tatkräftig eingeschritten
wäre, wenn der Hubschrauber nur ein Tempeldach oder eine Mauer
eingerissen hätte. Doch er wollte dem Mann nichts Böses
unterstellen.
»Gutes Gelingen.«
Er ging zu dem abgestürzten Helikopter und
stocherte mit einer kurzen Eisenstange in der Asche. Das Feuer war
so heiß gewesen, dass es die Windschutzscheibe und Teile des
Rumpfes zum Schmelzen gebracht hatte. Von den Sitzen war nichts
weiter übrig geblieben als die verkohlten Stümpfe der
Sprungfedern.
Wie er erwartet hatte, gab es hier nichts Neues zu
entdecken. Er fand den geschmolzenen Verschluss eines
Sicherheitsgurtes sowie über die gesamte Absturzstelle verstreute
Blechsplitter, die offenbar von explodierenden Benzinkanistern
stammten. Alles bestätigte die Befunde der Obduktion. Er wollte
sich lediglich seines Scharfsinns vergewissern. Recht zu haben ist
mitunter überaus befriedigend.
Zu seinem Erstaunen war der Hubschrauber nicht
gepanzert. Im Rumpf befanden sich mehrere Einschusslöcher, und es
handelte sich auch nicht um eine Militärmaschine. Die Piloten
hatten mit ihrer Aktion vermutlich möglichst wenig Aufsehen erregen
wollen. Auf das Sperrfeuer, mit dem man sie in Empfang genommen
hatte, waren sie jedenfalls nicht vorbereitet gewesen, und sie
hatten ihm auch nichts entgegensetzen können. Aus irgendeinem Grund
hatte sie das Militär erwartet.
Nach getaner Arbeit ging er zu den Schatzsuchern
zurück. Der Elefant war angeschirrt, und ein Mahut saß ihm
im Nacken. Der andere stand hinter dem Tier und stieß ihm immer
wieder einen langen spitzen Stock ins Hinterteil. Die Kettenglieder
ächzten, und das Knirschen des vierhundert Jahre alten Mauerwerks
zerriss die Stille des Tempels. Doch weder der Elefant noch die
Stupa rührten sich auch nur einen Millimeter von der Stelle. Es war
ein klingendes Tableau.
Siri trat hinter den Beamten im weißen Hemd.
»Sie haben sie vermutlich schon bemerkt...«
»Was denn, Genosse?«
»Die Schleifspur, die der Helikopter hinterlassen
hat.«
Wieder ächzte die Kette. »Ja?«
»Also, wenn ich davon ausgehend die Flugbahn
rekonstruiere – und wie es scheint, hatte der Hubschrauber ein
recht ordentliches Tempo drauf, bevor er zum Stillstand kam -, ist
es mir, offen gesagt, ein Rätsel, wie er Ihre Stupa gestreift haben
soll.«
Die Freundlichkeit des Mannes war wie weggeblasen.
»Das ist das offizielle Ermittlungsergebnis aus dem offiziellen
Untersuchungsbericht der Bezirksregierung von Luang Prabang. Dort
kennt man sich mit solchen Dingen sehr viel besser aus als Sie oder
ich. Oder glauben Sie, es handelt sich um einen Zufall? Was sonst
sollte den Schaden verursacht haben?«
»Ich bin zwar kein Ballistikexperte, aber das Loch
in der Stupa... das ist, wohlgemerkt, bloße Vermutung, aber wenn
es, sagen wir, dort oben am Fuß des Phousi-Hügels eine
Geschützstellung gäbe, und wenn diese den Hubschrauber mit
Mörsergranaten beschossen hätte, als er sich bereits im Sinkflug
befand, dann könnte das durchaus zu Schäden dieser Größenordnung
geführt haben.«
»Sie wollen doch nicht etwa andeuten«, sagte der
Mann
entrüstet, »dass einer unserer eigenen Leute für die Zerstörung
dieser historischen Stätte verantwortlich sein könnte?«
Der Mann war alles andere als eine verwandte Seele.
Siri drehte lächelnd den Kopf. »Der Elefant sieht aber gar nicht
gut aus.«
Plötzlich machte das edle Tier einen
Rückwärtsschritt und zertrümmerte die meisten Knochen im Fuß des
Mannes mit dem Stock. Dann schwankte es leicht, wie ein
Heißluftballon bei Thermik, und sank auf die Vorderknie. Trotz des
gotteslästerlichen Gebrülls des hinteren Mahuts gelang ihm ein
würdevoller Tod. Erst sah es sich nach einem möglichst bequemen
Landeplatz um; dann kippte es, wie es sich für einen braven
sozialistischen Sklaven gehörte, nach links.
Der Boden unter Siris Füßen bebte, als der Elefant
mit lautem Krachen aufschlug. Der Mahut in seinem Nacken sprang ab
und kam seinem schreienden Freund zu Hilfe. Ohne einen Gedanken an
das sterbende Tier zu verschwenden, bot er sich seinem Kollegen als
Krücke an und führte ihn zum Tor.
Siri trat zu dem flach atmenden Elefanten und ging
neben dem Kopf des Tieres auf die Knie. Die Mahuts im Dschungel
hatten tagelang getrauert, wenn sie ein so stolzes Exemplar
verloren hatten. Doch Städte und geldgierige Geschäftemacher
machten diese Bande nach und nach kaputt. Sie wechselten die
Elefanten wie andere einen platten Reifen. Dieses Tier verdiente
Besseres: Es verdiente Respekt.
Er legte die flache Hand neben das trübe Auge des
Tieres und flüsterte Beschwörungsformeln, die sich ihm schon als
Novize eingeprägt hatten. Die Wachleute sahen ihm verwundert
zu.
»Was macht der denn da?«
»Wie es aussieht, erteilt er ihm die
Sterbesakramente.«
»Der hat sie nicht mehr alle.«
Doch Siri machte so lange weiter, bis er sein
Spiegelbild in der milchigen Iris nicht mehr sehen konnte. Das Auge
war blind. Der Elefant war tot. Und in diesem Moment ging ein Stoß,
wie nach einer massiven Überdosis vietnamesischen Kaffees, durch
Siris Körper. Ihm blieb die Luft weg, und das Herz hämmerte wie
wild in seiner Brust. Er wusste sofort, dass der Geist des alten
Dickhäuters durch ihn hindurchgegangen war. Selbst nachdem sich
sein Puls beruhigt hatte, spürte er, dass er nicht mehr der Alte
war.
Das Geräusch bröckelnden Mauerwerks riss ihn aus
seinen Gedanken. Das Tauziehen des Elefanten hatte seine Wirkung
nicht verfehlt. Alter Naturmörtel wurde zu Staub, und die
Lehmziegel, die er einst verankert hatte, verrutschten und
verschoben sich.
Bald hielt den schiefen Kuppelbau nichts mehr an
seinem Platz, und die Stupa klatschte auf die Erde. Sie zerfiel
unelegant in ihre Einzelteile, und nichts deutete mehr darauf hin,
dass sie den Elementen jahrhundertelang Trotz geboten hatte. Es
geschah fast lautlos, ohne Getöse; weder Posaunen noch
Himmelschöre, nichts Erhabenes erinnerte daran, dass hier ein Stück
Geschichte zu Ende ging.
Der Beamte und seine Männer eilten zum Sockel der
Stupa, der hohl und quadratisch aus der Erde ragte wie ein alter
Wunschbrunnen. Doch ihre Wünsche sollten sich nicht erfüllen. Kaum
hatten sie begonnen, die widerspenstigen Ziegel aus dem Sockel zu
schaufeln, wussten sie, dass die Stupa leer war. Die anfängliche
Begeisterung der Männer verwandelte sich nach und nach in
Überdruss, und nach
zwanzig Minuten war ihnen die Lust am Graben gründlich
vergangen.
Dem Beamten blieb weiter nichts zu tun, als seine
leidige Pflicht zu erfüllen. Er notierte den Zeitpunkt des
Einsturzes für seinen Bericht und wickelte einen kleinen Ziegel in
Zeitungspapier, um ihn im Bus mit nach Hause zu nehmen. Er
fotografierte den Ziegelhaufen und den toten Elefanten. Das
bedeutete noch mehr überflüssigen Papierkram. Siri saß im Schatten
eines Frangipanibaums und versuchte noch immer, seine Zähne zu
zählen. Jahrzehnte scharf gewürzten Essens hatten seine
Zungenspitze taub werden lassen, die harte Arbeit im Dschungel
seine Fingerspitzen.
»Neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig«, sagte
er.
»Wie war das, Genosse?«
»Nun ja, da wir uns im Lane Xang befinden, dem
Königreich einer Million Elefanten...«
Der Beamte kicherte höflich.
»Ach so. Verstehe. Sehr witzig.« Er verstaute seine
Unterlagen zusammen mit der Kamera und dem Ziegel in seinem
Plastikaktenkoffer. »Es tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.
Sonst verpasse ich meinen Bus.«
Der Bezirksvertreter hatte Siri eine Busfahrkarte
nach Vientiane spendieren wollen, aber das hatte er natürlich
abgelehnt. Keine zehn Pferde hätten ihn dazu bewegen können, sich
sämtliche Knochen durchschütteln zu lassen. Er würde entweder das
Flugzeug nehmen oder auf den Helikopter warten. Es spielte keine
Rolle, dass der Hubschrauber nicht zur Verfügung stand. Es spielte
keine Rolle, dass er sich auf einer streng geheimen Mission befand.
Es spielte keine Rolle, dass er zwei Tage länger würde warten
müssen. Er würde fliegen, und damit basta.
Die Wachleute hatten sich mittlerweile
davongemacht, und er war allein auf dem Tempelgelände. Es war
herrlich friedlich. Der Hauptsala war ein schlichtes weißes
rechteckiges Gebäude, doch die schwarzen Holztüren zierten
wunderschöne Schnitzereien. Die dargestellten Figuren hatten etwas
Mythisches: Engel, Nagas, die Kinder greiser Könige. Er trat näher,
um sich ihre Gesichter anzusehen. Sie trugen alle dieselbe
sorgenschwere Miene. Sie schauten Siri direkt in die Augen, und
ihre furchtsamen Blicke schienen zu sagen: »Sieh dich vor.«
Er schlug die Warnung in den Wind und machte sich
auf die Suche nach einer Unterkunft. Die Mönche waren vorübergehend
ausgezogen, und hinter der Gebetshalle entdeckte er eine leere
Schlafterrasse samt einer Pyramide aus zusammengerollten Matratzen.
Da er heute ohnehin nicht mehr zurückfliegen würde, war dies als
Nachtquartier nachgerade ideal. Er schleppte eine Matratze in den
Gebetsraum und legte sich unter dem wachsamen goldenen Auge Buddhas
zur wohlverdienten Ruhe.
Er fand Fräulein Latsamy in der Stadtverwaltung,
wo sie für drei Dollar im Monat Dienst tat. Sie stempelte das
Amtssiegel auf Dokumente, die sich auf ihrem Schreibtisch zu
rechteckigen Türmen stapelten. Sie blickte auf, als er
hereinkam.
»Ah. Hallo, Onkel.«
»Hallo, Fräulein Latsamy. Ich dachte, Sie können
mir vielleicht sagen, wo ich den Genossen Houey finde.«
Sie schaute auf die Uhr an der Wand.
»Da werden Sie wenig Glück haben. Er trifft
Vorbereitungen für... für das...« – sie suchte nach dem richtigen
Wort – »... das Dings.«
»Das Dings?«
Fräulein Latsamy sah Hilfe suchend zu der Frau am
Schreibtisch gegenüber, doch die zog nur eine aufgemalte Augenbraue
hoch und schwieg.
»Es gibt, glaube ich, gar keinen richtigen Namen
dafür, Onkel. Jedenfalls hat Genosse Houey alle Schamanen zu einer
Sitzung ins Rathaus bestellt. Wer sich weigert, wird verhaftet. Sie
müssen ihre Utensilien mitbringen, wegen des...«
»Dings.«
»Genau.«
»Wann findet die Sitzung statt?«
»Um sieben. Aber sie ist nur für Schamanen.«
»Das werde ich mir um keinen Preis entgehen lassen,
Fräulein Latsamy. Wissen Sie denn nicht, dass ich die Reinkarnation
eines tausendfünfzig Jahre alten Heiligen aus Khammouan bin?«
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »So alt sehen
Sie gar nicht aus.«
»Sehr liebenswürdig.«