2
ZWEI LEICHEN UND EIN FAHRRAD
Als Siri am Montagmorgen in die Klinik kam, herrschte in seinem wodkaschwangeren Schädel ein eitel Hämmern und Sicheln. Hätte er das Formalin direkt aus den Probenflaschen gepichelt, wäre sein Kater kaum schlimmer ausgefallen. Jeder Schritt vom Motorradparkplatz bis zur Pathologie bescherte seinem leidgeprüften Hirn neue, bislang ungekannte Qualen. Die Sowjetunion war ohne Frage dem Untergang geweiht.
Unter dem französischen MORGUE-Schild blieb er stehen, streifte sich an der amerikanischen WELCOME-Matte sorgfältig die Füße ab und betrat den kühlen, dunklen Bungalow. Sofort spürte er die Gegenwart eines oder mehrerer Geister, war vom Wodka aber noch viel zu benebelt, um ihnen Beachtung zu schenken. Sie konnten warten.
Er ging in sein Büro, dessen blaue Wände er so lange mit weißer Farbe hatte überpinseln lassen, bis sie grau waren. Alles außer Blau kam Siris Geschmack sehr entgegen. Schwester Dtui saß an ihrem Schreibtisch.
»Morgen, Genosse Siri«, sagte sie und zeigte ihm ihre hübschen weißen Zähne, bewegte ihren massigen, unförmigen Körper jedoch nicht vom Fleck.
»Guten Morgen, Dtui.«
Die ersten drei Wörter des Tages erbrachen sich über seine Lippen wie eine Wagenladung Kies.
»Oha. War wohl eine längere Sitzung gestern Abend?«
»Ein kulturelles Experiment.«
Er plumpste auf seinen Stuhl, und sein Schädel spielte ein Schlagzeugsolo. Er vergrub ihn in den Händen.
»Sieht aus, als ob das Experiment gründlich misslungen wäre.«
»Keineswegs, meine getreue Assistentin, keineswegs. Negative Erfahrungen sind nämlich mindestens ebenso lehrreich wie positive. Ich weiß jetzt, dass ich russischen Wodka, auch wenn es sich um eine fromme Gabe handelt und mich der Schriftzug auf dem Etikett gar lieblich und verführerisch anlächelt, in Zukunft meiden werde wie einen stinkenden Elefanten.«
Dtui stand auf. Ihre blendend weiße Schwesterntracht spannte sich über ihrer breiten Brust wie Wachspapier um eine Schweinshaxe.
»Was Sie brauchen, ist ein guter Schluck vom Kräutertrank meiner Mutter.«
»Ach nein. Bitte nicht. Leide ich denn nicht schon genug?«
»Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging zur Tür.
»Wo steckt unser anderer tapferer Soldat?«
»Er ist im Sektionssaal und bereitet die Neuzugänge vor.« In der Tür blieb sie stehen. »Das wird Ihnen gefallen: zwei tote Männer auf einem Fahrrad, mitten auf der Straße, in der Nähe des Nam-Phou-Brunnens im Zentrum. Da wird morgens um zwei normalerweise niemand überfahren. Sie wurden neben dem Rad gefunden. Kein Soziussitz, kein Gepäckträger. Kein Blut. Das klingt ganz nach einem Fall für... ta-ta-ta-tah!«
»Dtui?«
»... Supergeisterdoc.«
Gickelnd verließ sie das Büro. Siri stöhnte. Das Letzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand, war das Öffnen einer Leiche. Vor allem aber hatte er nicht die geringste Lust, seinen schmerzenden Schädel mit Rätseln und Mysterien zu belasten.
 
 
Dtui fischte in den Untiefen der Kühlkammer nach der verkorkten Flasche mit dem Geheimtrank ihrer Frau Mama. Zwar war es laut Hausordnung streng verboten, Lebensmittel zum persönlichen Gebrauch in der Kühlkammer der Pathologie aufzubewahren, doch das Gebräu ihrer Mutter hatte solche Ähnlichkeit mit Sektionsabfällen, dass nicht einmal der pedantischste Inspektor den Unterschied bemerkt hätte. Es war eine böser Hexensud aus allerlei bizarren Ingredienzen, der scheußlich schmeckte, aber gegen so ziemlich alles half.
»Wo... wo... wofür ist das, Dtui?« Herr Geung bettete den zweiten Radfahrer auf den Reservetisch. Geung war ein gutaussehender Mann von Anfang vierzig mit ausgeprägtem Down-Syndrom-Gesicht und pechschwarzem Haar, das links und rechts des schiefen Mittelscheitels an seinem Schädel klebte. Wenn er eine Frage stellte, hatte er die Angewohnheit, leicht auf den Fersen zu wippen. Richter Haeng aus dem Justizministerium, das die Arbeit von Siri und seinen beiden Helfern überwachte, setzte sich für die Entlassung des »Idioten« ein, dabei leistete Geung trotz seiner Behinderung hervorragende Dienste. Zwar wurde er bisweilen nervös, wenn etwas seinen gewohnten Tagesablauf störte, doch alles in allem war er ein erstklassiger Assistent. Siris Vorgänger hatte ihn mit unendlicher Geduld zum Gehilfen ausgebildet, und er war in vielerlei Hinsicht beschlagener als Dtui oder Siri. Er war stark und zuverlässig und nicht zuletzt ein wahrer Künstler im Umgang mit der Knochensäge.
»Der Chef hat einen Kater«, sagte Dtui.
Geung lachte schnaubend. »Al... Alkohol ist das Elixir des T... des Teufels.«
»Ist das wieder eine der Weisheiten deines Vaters?«
»Nein. Das hat Genosse Dr. Siri ges... gesagt, als wir an Neujahr den Besoffenen aufgeschnitten haben.«
Das war die Kehrseite der Medaille. In Geungs Gegenwart hütete man am besten seine lose Zunge. Er vergaß so gut wie nichts.
 
Die Obduktion verlief nach dem üblichen Prozedere. Siri hielt sich im Hintergrund und ließ Dtui die Leiche untersuchen, während er sich Notizen machte. Sie lernte noch und hoffte auf ein Medizinstipendium im Ostblock. Dtui hatte Augen wie ein Luchs und entdeckte oftmals Kleinigkeiten, die Siri übersehen hatte. Der einzige Nachteil dieses neuen Systems bestand darin, dass Siris Notizen nachher niemand lesen konnte. Nicht einmal Siri selbst.
Da die beiden Leichen in der Pathologie bislang nicht als vermisst gemeldet waren, wurden sie vorerst Mann A und Mann B genannt. Sie bildeten ein ungleiches Paar. Mann A war adrett gekleidet. Er trug nicht nur ein weißes Hemd und bügelfreie Hosen, sondern auch eine alte, aber kostspielige Uhr und hatte zarte, schwielenlose Hände, was darauf hindeutete, dass ihm körperliche Arbeit fremd war. Weitaus bemerkenswerter jedoch fanden Siri und Dtui den Umstand, dass er Socken trug. Draußen war es über vierzig Grad heiß. Selbst in den wenigen Büros, in denen museumsreife französische Klimaanlagen einen aussichtslosen Kampf gegen die Hitze führten, war »lauwarm« das höchste der Gefühle. Es war nie so kalt, dass man Socken tragen musste.
Nein, der arme Mann hatte vermutlich keine andere Wahl gehabt. Seit seiner Berufung zum Leichenbeschauer versuchte man Siri dazu zu bewegen, seine Füße in die schwarzen Plastikschuhe zu quetschen, welche die Partei ihren Beamten zur Verfügung stellte. Er nannte das die »Schuhbi-du-Doktrin«. Allein seinem Alter und seiner Sturheit war es zu verdanken, dass er seine braunen Ledersandalen anbehalten durfte. Doch er wusste, wenn man ihn eines Tages in diese Zehenquäler zwängte, würde auch er wohl oder übel Socken tragen müssen.
Dtui sprach seine Gedanken aus. »Ich würde sagen, er arbeitet für die Regierung.«
»Die Socken?«
»Die Finger.«
Sie erstaunte ihn immer wieder. Siri trat an den Sektionstisch und hielt die Hand von Mann A in die Höhe. Sämtliche Fingerkuppen waren violett verfärbt: ein klassischer Fall von Triplikatsyndrom.
Civilai hatte diesen Ausdruck geprägt; er bezeichnete die seltsamen »blauen Flecken«, die in sozialistischen Bürokratien weit verbreitet waren. Da für jede Abteilung Durchschläge angefertigt werden mussten, erstickten die Beamten förmlich in Papierkram. Das rief das Zeitsparwunder moderner Büroführung auf den Plan: Kohlepapier.
Wie seine Schuhe und sein Haarfärbemittel bezog Laos auch sein Kohlepapier aus China. Leider befand sich zumeist mehr Tinte an den Fingern der Benutzer als an dem Papier. Herr A hatte sich offenbar durch ganze Berge von dem Zeug gewühlt.
Nachdem sie ihn ausgezogen und seine Kleider katalogisiert und eingetütet hatten, machten sie die erlaubten vier Farbfotos von der Leiche. Siri fiel auf, dass der Tote ohne Schuhe eingeliefert worden war. Im Mundwinkel klebte ein schmales, getrocknetes Blutrinnsal, und Brust und Abdomen waren mit schweren Blutergüssen übersät.
Bevor er mit der inneren Leichenschau begann, beschloss Siri, zunächst Herrn B zu untersuchen. Das würde erstens Zeit sparen und ihnen zweitens Gelegenheit geben, die Verletzungen der beiden zu vergleichen. Siri ignorierte Dtuis Bemerkung: »Sie hätten Schlachter werden sollen«, und bat sie um ihre Ansicht zu Herrn B.
Sie meinte, er stamme in jedem Falle aus einem anderen Stadtteil als Herr A. Seine Kleider waren abgetragen und ziemlich schmutzig, seine Hände rau und mit verschorften kleinen Narben übersät, die wie Schnittwunden aussahen.
»Bleibt die Frage«, sinnierte Siri, »warum zwei Männer völlig unterschiedlicher Herkunft um zwei Uhr morgens auf ein und demselben Fahrrad sitzen?«
»Vielleicht«, gab Dtui zu bedenken, »war er hier der Chauffeur und fuhr gerade seinen Herrn nach Hause.«
Geung wieherte vor Lachen.
»Vielleicht saßen sie aber auch gar nicht auf dem Fahrrad.« Siri schaute zweifelnd drein. »Ich habe den leisen Verdacht, dass sie rein zufällig neben dem Rad gefunden wurden.«
»Und wie, bitte, sind sie dorthin gekommen?«
»Ich bin beileibe nicht allwissend, Fräulein Dtui. Aber vielleicht hat der Alte ja den Beamten überfahren, als der über die Straße ging.«
»Aha. Da müsste er ja einen Affenzahn draufgehabt haben.«
»Oder es war genau umgekehrt, und der Beamte war mit dem Motorrad unterwegs und hat den Alten versehentlich angefahren.«
»Und...«
»Und dann hat sich jemand mit dem Motorrad aus dem Staub gemacht.«
»Da könnte eventuell was dran sein.«
»Hat die Polizei das Fahrrad mitgebracht, Herr Geung?«
»Es steht hin... hin... hinterm Haus.«
»Gut. Wir schauen es uns später an.«
Sie entkleideten Herrn B. Abgesehen von seinem zweifellos gebrochenen Genick und einem gewaltigen Bluterguss, der normalerweise auf eine Verletzung der Arteria vertebralis hindeutet, wies sein Körper keine frischen Abschürfungen oder andere Verletzungsspuren auf. Sie verschossen den Rest des Films und machten alles für die Sektion bereit. Nun ruhten die beiden Toten wie Tempelstufenornamente jeder an einem Ende des Saals.
Die Doppelobduktion dauerte genau zwei Stunden. Herr A wies starke Blutungen in der Brusthöhle und Leichenflecke im Bereich der Hauptschlagader auf, was für einen Hochgeschwindigkeitsunfall und damit für Siris Motorrad-These sprach. Auch war der Aufprall offenbar so heftig gewesen, dass er einen Hodenriss verursacht hatte. Woraus Siri den vorläufigen Schluss zog, das Herr B durch Genickbruch und Herr A an inneren Blutungen gestorben war. Doch um zu einem endgültigen Ergebnis zu gelangen, waren weitere Untersuchungen vonnöten.
Herr Geung perforierte die harten Schädel der beiden Männer mit seiner alten Bügelsäge, und Siri packte die Gehirne in Watte und fixierte sie in Formalin, wo sie zwei oder drei Tage lagern mussten, bis sie fest genug waren, um seziert werden zu können.
Dtui entnahm Proben von Blut und Mageninhalt. Da es kein Labor gab, war die Zahl der Erkenntnisse, die sich daraus gewinnen ließen, begrenzt. Morgen wollte Siri ins Lycée Vientiane fahren und Lehrerin Oum beschwatzen, ihm die Reste ihrer Chemikalien für Farbtests zur Verfügung zu stellen.
In einem Schuppen des Zollamts stand seit drei Monaten eine Kiste mit Unterrichtschemikalien, eine freundliche Spende der Hochschulkooperative in Wladiwostok, was zu einer Flut von Formularen geführt hatte. Und selbst dem staatlichen Leichenbeschauer war es nicht gegeben, den altersschwachen Bus der Bürokratie bergauf ins sozialistische Nirwana zu schieben.
 
 
Dtui, Geung und Siri hockten im Halbkreis um das Fahrrad. Das rostige Vehikel, das viele Schlachten überdauert hatte, würde nie wieder in den Kampf ziehen.
»Wie könnte es dazu wohl gekommen sein?«, fragte Siri in die Runde. Die Kettenstrebe war geknickt und berührte fast den Boden. Sitz und Lenker waren verbogen.
»Sieht aus, als ob ich darauf gesessen hätte«, sagte Dtui, worauf Herr Geung einen Lachanfall bekam, der sich nur durch mehrmaliges Klopfen auf den Rücken abstellen ließ.
»Nein«, meinte Siri schließlich. »Dazu brauchte es schon ein halbes Dutzend Dtuis. Aber ich glaube, ich weiß, was die Ursache sein könnte. Auf welcher Seite des Brunnens wurden sie gefunden?«
»Vor dem Ministerium.«
»Dann sehen wir uns die Stelle doch am besten gleich mal an.«
»Steht Ihr Schädel das denn durch?«
»Ah, Dtui. Es geht doch nichts über eine zünftige Leichenöffnung und einen Schluck vom Gebräu Ihrer Mutter, um einen Kater zu kurieren.«
 
 
Das Ministerium für Sport, Information und Kultur residierte in einem siebenstöckigen Gebäude mit Blick auf den trockenen Brunnen am Nam Phou Square. Rings um den kreisrunden Platz gruppierten sich malerische, wenngleich ziemlich heruntergekommene zweistöckige Häuser, die auch in einem kleinen südfranzösischen Dorf nicht weiter aufgefallen wären. Es war ein verschlafener Platz, wo alte Damen Frühlingsrollenteig zum Trocknen auf Drahttischchen auslegten und Rajid, der verrückte Inder, träge seine Runden um den tristen Betonbrunnen drehte.
Obgleich die Laoten es den meisten Regierungsstellen gegenüber an Respekt bislang erheblich fehlen ließen, nannten die Einwohner von Vientiane das geschmacklose Gebäude, in dem das Sportressort logierte, »Das Ministerium«, auch wenn es wohl eher seine Größe war, die ihnen imponierte, als seine Grandezza. Das ehemalige Französische Kulturzentrum konnte es an architektonischer Finesse ohne Weiteres mit einem Zwei-Sterne-Hotel in einem beliebigen Badeort aufnehmen. Die Beamten für Sport, Information und Kultur hasteten durch die weitläufigen Hallen, und ihre Schritte klapperten wie die Perlen in der ehemals prall gefüllten Schmuckschatulle einer an den Bettelstab geratenen Frau.
Herr Geung war in der Pathologie geblieben, um die Neuzugänge im Auge zu behalten. Dtui, die ihren ersten Ermittlungseinsatz außerhalb der Klinik absolvierte, stand in der Straßenmitte neben den Engeln, die dort mit Kreide auf die Fahrbahn gezeichnet waren. Siri stand zwölf Meter entfernt, mit dem Rücken zum Ministerium. Seine Augenbrauen beschrieben einen imaginären Bogen von Dtui zur obersten Etage des Gebäudes hinter ihm. Kopfschüttelnd trat er neben die Krankenschwester.
»Doch nicht?«, fragte sie.
»Nun ja, möglich wäre es durchaus, aber... ich weiß auch nicht. Entweder hat er mächtig Anlauf genommen, oder aber er ist geworfen worden. Und hätte ihn jemand geworfen, hätten wir Male an den Armen oder Beinen finden müssen. Haben wir aber nicht.«
»Meinen Sie nicht, er könnte...«
Eine Vespa kam um den Brunnen geknattert und nötigte Siri, aus dem Weg und der verdutzten Dtui in die Arme zu springen.
»Dr. Siri. Sie alter Charmeur, Sie.«
Peinlich berührt löste er sich aus ihrer Umklammerung. Ein paar Meter weiter hielt der Motorroller an, und der Fahrer, ein durchtrainierter, attraktiver Mann von Mitte vierzig, drehte sich lachend zu ihnen um. Inspektor Phosy stieg ab, wuchtete das alberne Gefährt auf seinen Ständer, und eilte mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Siri ergriff die Hand, und die beiden Männer umarmten sich und klopften einander auf den Rücken.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
»Wie geht es meinem Lieblingspolizisten?«
»Dr. Siri. Ich dachte, Sie wären tot.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden.« Sie machten sich voneinander los, und Siri blickte die Straße entlang. »Ein bemerkenswertes Dienstgefährt haben Sie da. Und die Farbe erst. Lila soll bei der Verbrechensbekämpfung ja wahre Wunder wirken.«
»Ich bitte um Nachsicht, Genosse. Die Zeiten sind schwer. Da muss man nehmen, was man kriegen kann.« Er blickte Siri über die Schulter. »Wohlsein, Dtui. Sie haben kein Gramm abgenommen.«
»Sie werden aber auch nicht schöner.«
Sie schüttelte ihm herzlich die Hand.
»Und?«, fragte Siri. »Wie kommen Sie zu diesem Fall?«
»Inzwischen landet alles, was auch nur ansatzweise nach ›Regierung‹ riecht, auf meinem nicht vorhandenen Schreibtisch. Als Dtui anrief und durchblicken ließ, dass es sich bei dem Opfer um einen Regierungsbeamten handeln könnte, holten sie mich aus der Versenkung. Was halten Sie von der Geschichte? War es Selbstmord?«
»Ich weiß nicht. Es ist merkwürdig. Sofern er nicht gerade seine Flugkünste erproben wollte, frage ich mich, weshalb er nicht einfach vom Dach gesprungen ist. Er wäre mindestens ebenso tot, wenn er nicht den Brunnen angesteuert hätte.«
»Na schön. Mal sehen, ob uns das Informationsministerium mit Informationen dienen kann.«
Sie traten gemeinsam durch die elegante Flügeltür und fanden sich in einer Eingangshalle wieder, die bis auf einen Tisch vollkommen leer war. Auf dem Tisch stand ein kleines, handgemaltes Schild mit der Aufschrift AUSKUNFT 1. STOCK.
Ihre Schritte hallten durch das teakholzgetäfelte Treppenhaus. Die Luft war stickig und verbraucht. Trotz der Hitze waren die meisten Fenster seit dem Abzug der Amerikaner nicht mehr geöffnet worden. (Amerikanische Sprachkurse hatten die französische Kultur vorübergehend verdrängt, bevor das Gebäude seinem derzeitigen Zweck zugeführt worden war.) Allein die laotische Kultur trat nirgends in Erscheinung. Was wiederum typisch war für die laotische Kultur.
Im ersten Stock kamen sie zunächst an zwei Amtszimmern vorbei, in denen es weder Leben gab noch Mobiliar. Die dritte Tür war angelehnt, und durch den Spalt sahen sie zwei Aktenschränke aus Metall, ein schiefes Regal, in dem sich alle Bücher auf einer Seite drängten, und einen Schreibtisch mit einem Mann darauf.
Er schlief im Unterhemd, mit einem beseelten Ausdruck in seinem jugendlichen Gesicht. Sein gebügeltes weißes Hemd verwandelte seinen Schreibtischstuhl in eine Vogelscheuche. Obwohl es zwanzig nach eins war und der Mann eigentlich Dienst hatte, klopfte Phosy höflich an und sagte: »Verzeihung.«
Der Beamte rührte sich nicht, und Phosy wollte eben ein zweites Mal anklopfen, als Siri sich an ihm vorbei ins Zimmer zwängte. Der Doktor war erstaunlich geduldig, doch für bürokratische Inkompetenz hatte er keine Zeit. Boua und er hatten Jahrzehnte ihres Lebens dem Kampf gegen die Korruption gewidmet, und er hatte nicht die Absicht, sich auf seine alten Tage von einem korrupten System vereinnahmen zu lassen. Im schönsten Beamtentonfall bellte er: »Um Himmels willen, Mann! Was treiben Sie denn da? Das hier ist eine Regierungsstelle und kein Ruhestift. Was, wenn plötzlich Not am Sportsmann wäre?«
Phosy und Dtui wechselten einen stirnrunzelnden Blick.
Der Mann schreckte zappelnd und fuchtelnd aus seinem Traum, worauf eine Handvoll akkurat gespitzter Bleistifte quer durchs Zimmer flog. Er hüpfte von der Schreibtischplatte in seine Schuhe. Dann lief er um den Tisch, fischte sein Hemd vom Stuhl und zog es an. Er war ein unscheinbares Männlein mit verwirrter Miene. Er sank auf den Stuhl, knöpfte sich das Hemd zu und fragte seine Besucher, ganz so als hätten sie seine Auferstehung nicht gerade persönlich miterlebt: »Was kann ich für Sie tun?«
Phosy reichte ihm lächelnd ein mittels Matrize vervielfältigtes Blatt Papier, an dem sein Foto klemmte. Es war sein Dienstausweis. Der Mann studierte ihn ausgiebig.
»Polizei?«, kombinierte er.
»Sehr gut. Heute am frühen Morgen wurde vor dem Ministerium ein Toter gefunden. Sie vermissen nicht zufällig jemanden?«
»Schwer zu sagen.«
»Warum?«
»Weil uns ständig Mitarbeiter abhandenkommen. Entweder sie werden in andere Provinzen versetzt. Oder sie sind krank. Wir haben den Amtsleiter und seinen Stellvertreter seit über einer Woche nicht gesehen.«
»Gibt es denn keine Übersicht? Der sich entnehmen ließe, wer sich wo aufhält?«
»Hmm. Nein.«
»Wer ist für die Reiseplanung zuständig?«
»Ähm. Meine Wenigkeit.«
»Und Sie führen keine Liste?«
»Das ist eine gute Idee, aber es hat noch nie jemand danach gefragt. Wenn Sie wissen wollen, wer fehlt, müssen Sie schon von Zimmer zu Zimmer gehen.«
Und das taten sie denn auch. Siri fragte sich, wie das Informationsministerium zu seinem Namen gekommen war, hatte es in dieser Hinsicht doch wenig Brauchbares zu bieten. Sie begannen im ersten Stock mit der Durchsuchung und arbeiteten sich langsam in die oberen Etagen vor. Der junge Mann führte sie durchs Haus und stellte ihnen recht entspannt wirkende Sekretärinnen und gesichtslose Männer vor, deren Arbeit sich in der eingehenden Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und Romanen zu erschöpfen schien.
Siri beschrieb den Toten immer wieder, bis ihm klar wurde, dass die Beschreibung auf gut die Hälfte aller Bediensteten des Ministeriums passte. Sie alle trugen bügelfreie Hosen und Plastikschuhe und litten an einer mehr oder minder schweren Form des Triplikatsyndroms.
Die Verwaltungsräume im vierten Stock standen größtenteils leer, und die Tür zu den beiden oberen Etagen war offenbar verschlossen. Während die Beamten händeringend nach dem Schlüssel suchten, bemerkte die überaus findige Dtui, dass von innen bereits ein Schlüssel steckte. Sie klopften und riefen, damit jemand herunterkam und ihnen aufschloss, doch ihre Bemühungen trafen auf eisiges Schweigen, was nichts Gutes ahnen ließ.
»Was ist da oben?«, fragte Siri.
»Das Archiv«, sagte der junge Mann. »Unsere historische Abteilung, wenn Sie so wollen. Denkmalerhaltung und dergleichen.«
Siri fragte sich, welchen Wert die Regierung der Bewahrung des nationalen Erbes beimaß, mochte sie doch nicht einmal den Einsatz von Wachleuten zum Schutz der Kulturstätten finanzieren. Wer sich eine Buddha-Büste ins Regal stellen wollte, brauchte sich bloß zu bedienen.
Dtui ging auf die Knie und konnte den Schlüssel, unter geschicktem Einsatz ihrer Haarnadel und einer sorgfältig platzierten Zeitung, nach kaum zwei Minuten aus dem Schloss und unter der Tür hindurchbefördern. Phosy war fassungslos vor Staunen.
»Wissen Sie, was? Es gibt da noch ein oder zwei ungeklärte Einbruchsfälle aus der Zeit vor der Revolution...«
»Ich kann’s nicht gewesen sein, Inspektor. Ich trage normalerweise Handschuhe. Hoppla.«
Sie steckten den Schlüssel wieder ins Schloss, öffneten die Tür, und Phosy ging voran, die Stufen in den fünften und sechsten Stock hinauf, eine Reihe von Bretterverschlägen unter dem Dach. Auf der Treppe spürte Siri mit einem Mal eine entfesselte Kraft, war sich seiner Instinkte jedoch nicht sicher genug, um die anderen zur Vorsicht zu ermahnen.
Das Hauptarchiv befand sich in einem langen Raum im obersten Stock. Er bot ein Bild der Verwüstung. Tongefäße lagen in Scherben auf dem Fußboden verstreut. Landkarten und alte Steinabreibungsdrucke waren von der Wand gerissen worden. Trotz des Durcheinanders entging Phosy nicht, dass die großen Fenstertüren offen standen; das Glas war eingeschlagen, der Riegel gebrochen. Ein Satz aus diesem Fenster, und der Betreffende wäre haargenau bei den Kreideengeln auf der Straße neben dem Brunnen gelandet. Dazu hätte er allerdings Anlauf nehmen müssen.
Er bemerkte auch die Schuhe, die ordentlich neben dem umgestürzten Schreibtisch standen. Da der Fußboden mit Scherben übersät war, schien es unwahrscheinlich, dass der Mann sie ausgezogen hatte, bevor er gesprungen war. Also war das Chaos erst danach entstanden. Phosy steckte den Kopf zum Fenster hinaus und sah nach links und rechts. Falls der Eindringling durchs Fenster entkommen war, musste er einen Fallschirm benutzt haben. Er drehte sich um und sah, dass die anderen mit Aufräumen begonnen hatten.
»Halt. Es wird nichts angerührt, bis meine Leute sich hier umgesehen haben. Äh, Herr... wie war Ihr Name?«
»Santhi.«
»Herr Santhi. Wer arbeitet in diesem Büro?«
»Frau Bounhieng. Sie ist gerade zum x-ten Mal schwanger. Und Herr Chansri. Er ist der Leiter des Archivs. Herrn Khampet nicht zu vergessen.«
»Und passt die Beschreibung des Mannes im Leichenschauhaus auf einen der beiden Herrn?«
»Ja. Eindeutig. Auf Herrn Khampet. Herr Chansri ist schon etwas älter und ein wenig dicker.«
»Und wo finden wir den Leiter des Archivs?« Santhi trat verlegen von einem Bein aufs andere und starrte zu Boden. »Haben Sie die Frage verstanden?«
»Ja.«
»Und?«
»Er könnte auf dem Thongkhankham-Markt sein.«
»Dienstlich?«
»Nicht direkt. Er verkauft Fisch.«
»Soso.«
»Ich hätte Ihnen das wahrscheinlich nicht sagen sollen. Aber Sie müssen verstehen. Unser Gehalt ist sehr bescheiden, darum bessern manche es durch...«
»Herr Santhi. Ich bin kein Regierungsinspektor.« Phosy blickte zu Siri, der in die Hocke gegangen war und unter die schwere hölzerne Werkbank schaute. »Was ist denn?«
»Sehen Sie das?«
Der Polizist trat neben den Doktor und sah unter die Bank.
»Eine alte Truhe.«
»Nein. Das ist weitaus mehr als eine alte Truhe. Sie trägt das königliche Siegel.«
Die massive Teakholzkiste war mit dem Emblem eines dreiköpfigen Elefanten beschlagen, der im Schutze eines mehrstöckigen Schirms auf einem Podest balancierte wie ein Zirkusakrobat beim That-Luang-Fest. Allein die Zeit hatte ihm etwas von seinem Glanz geraubt. Siri senkte die Stimme. »In der Truhe steckt eine unglaubliche Energie. Sie verströmt jede Menge Aggression.«
»Siri, Sie haben doch wohl nicht schon wieder eine Ihrer übersinnlichen Eingebungen?«
Sehr wenige Menschen wussten von Siris mystischen Verbindungen. Eigentlich wussten nur Civilai, Dtui und auf seine Art auch Geung, wie wunderlich der Doktor war. Siri kannte das wahre Ausmaß seiner Fähigkeiten selbst erst seit kurzer Zeit. Als er an seinen Geburtsort in Khammouan gereist war, um die erzürnten Phibob zu besänftigen, hatte er etwas Bemerkenswertes über sich erfahren. Auch wenn er daran selbst nicht glauben mochte. Den Ältesten eines kleinen Dorfes zufolge war Siri die Reinkarnation von Yeh Ming, einem mächtigen Hmong-Schamanen, der vor über tausend Jahren gelebt hatte. Seither spürte Siri, dass irgendwo in seinem tiefsten Innern phänomenale Kräfte lauerten. Leider wusste er sie bislang nicht recht zu nutzen, und in vielerlei Hinsicht machten sie ihm sogar eine Heidenangst. Er hatte mit Phosy nie offen über diese unverhofften Fähigkeiten gesprochen, doch der Instinkt des Polizisten verriet ihm alles, was er wissen musste.
Siri streckte die Hand nach der Holzkiste aus, dann plötzlich zog er sie abrupt zurück, als hätte sie ihm einen Stromstoß versetzt.
»Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig, was diese Truhe angeht. Sehr vorsichtig sogar.«
Siris Traum in dieser Nacht lieferte keine Antworten auf seine Fragen. Der inzwischen eindeutig als Khampet identifizierte Herr A segelte langsam durch die Luft auf den Nam-Phou-Brunnen zu. Er segelte dahin wie ein Falke, doch der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Man hatte ihm lange Holzpflöcke durch Hände und Füße getrieben. Ein weiterer drang ihm vom Genick aus in den Schädel. Aber das schien ihn nicht weiter zu stören. Seine eigentliche Sorge galt dem, was sich hinter ihm befand, und worum auch immer es sich dabei handeln mochte, es war in der Traumeinstellung nicht zu sehen. Der okkulte Kameramann ließ es buchstäblich im Dunkeln.
Doch einen Sekundenbruchteil lang, zu kurz, um sich Gewissenheit zu verschaffen, glaubte Siri eine Reihe von Zeugen auf dem Dach erblickt zu haben. Sie machten einen glücklichen oder, besser, zufriedenen Eindruck. Sie sahen aus wie alte Schauspieler, dick geschminkt und in traditionellen laotischen Kostümen. Womöglich hatten sie sogar applaudiert, aber da es Siri furchtbar schwergefallen war, überhaupt etwas zu erkennen, hatte er sich das vielleicht nur eingebildet.
Das glaubte er zumindest, als er erwachte. Wie üblich befand er sich nach einem solchen Traum in einem Zustand, in dem er sich fragte, ob er tatsächlich bei Bewusstsein war oder noch träumte. In diesen furchterregenden Momenten erschienen ihm seine Besucher so real, als wären sie bei ihm im Zimmer.
Alles war still. Da die Sterne noch immer in der Hitze flirrten, die von der heißen Erde aufstieg, wusste er, dass er nicht allzu lange geschlafen haben konnte. Er lag draußen auf der Veranda. Ein seltener Sommerwindhauch bauschte das Moskitonetz. Wieder. Und wieder. Kaum merklich wiegte es sich ebenso langsam wie gleichmäßig hin und her.
Siri wandte den Kopf und starrte in die Dunkelheit – und in die stumpfen Augen eines Bären. Er war so nah, dass sein Atem das Netz in Schwingung versetzte. So nah, dass das frische Blut an seinen Lefzen deutlich zu erkennen war; so nah, dass Siri seine Zahnfäule riechen konnte.
Er saß da und beobachtete den Doktor. Siri spürte, welche Macht das Tier über ihn hatte. Trotzdem machte es ihm keine Angst. Zugegeben, die Sache war ihm irgendwie nicht ganz geheuer, doch sein Instinkt sagte ihm, dass der Bär ihm nichts zuleide tun wollte. Als es seine Inspektion beendet hatte, erhob sich das Tier unter Schmerzen und verschwand in Siris stibitztem Dschungel.
 
Als Siri das nächste Mal erwachte, war es Morgen. In Kürze würde die Sonne über Fräulein Vongs blitzblankem Häuschen aufgehen. Bevor er es vergaß und die Lautsprecher der Regierung mit ihrem nervtötenden Geplärr begannen, griff er nach dem Notizbuch auf dem Tisch neben der Pritsche. Er zündete die Öllampe an und protokollierte seinen Traum.
Saloop schleppte sich wie eine fettleibige Motte dem Licht entgegen und legte den Kopf auf den Pritschenrand. Siri kraulte ihn.
»Du hast im Garten heute Morgen nicht zufällig einen Bären gesehen?«, fragte Siri.
Wie immer behielt Saloop seine Geheimnisse für sich. Er hatte seine Pflicht vernachlässigt und stattdessen mit der kessen Hündin aus der Eisfabrik geturtelt. Natürlich hatte er den Eindringling gewittert, als er heimgekommen war. Er wusste zwar nicht, was er da gerochen hatte, aber es war ohne Zweifel groß und furchterregend.