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ZWEI LEICHEN UND EIN FAHRRAD
Als Siri am Montagmorgen in die Klinik kam,
herrschte in seinem wodkaschwangeren Schädel ein eitel Hämmern und
Sicheln. Hätte er das Formalin direkt aus den Probenflaschen
gepichelt, wäre sein Kater kaum schlimmer ausgefallen. Jeder
Schritt vom Motorradparkplatz bis zur Pathologie bescherte seinem
leidgeprüften Hirn neue, bislang ungekannte Qualen. Die Sowjetunion
war ohne Frage dem Untergang geweiht.
Unter dem französischen MORGUE-Schild blieb er
stehen, streifte sich an der amerikanischen WELCOME-Matte
sorgfältig die Füße ab und betrat den kühlen, dunklen Bungalow.
Sofort spürte er die Gegenwart eines oder mehrerer Geister, war vom
Wodka aber noch viel zu benebelt, um ihnen Beachtung zu schenken.
Sie konnten warten.
Er ging in sein Büro, dessen blaue Wände er so
lange mit weißer Farbe hatte überpinseln lassen, bis sie grau
waren. Alles außer Blau kam Siris Geschmack sehr entgegen.
Schwester Dtui saß an ihrem Schreibtisch.
»Morgen, Genosse Siri«, sagte sie und zeigte ihm
ihre hübschen weißen Zähne, bewegte ihren massigen, unförmigen
Körper jedoch nicht vom Fleck.
»Guten Morgen, Dtui.«
Die ersten drei Wörter des Tages erbrachen sich
über seine Lippen wie eine Wagenladung Kies.
»Oha. War wohl eine längere Sitzung gestern
Abend?«
»Ein kulturelles Experiment.«
Er plumpste auf seinen Stuhl, und sein Schädel
spielte ein Schlagzeugsolo. Er vergrub ihn in den Händen.
»Sieht aus, als ob das Experiment gründlich
misslungen wäre.«
»Keineswegs, meine getreue Assistentin, keineswegs.
Negative Erfahrungen sind nämlich mindestens ebenso lehrreich wie
positive. Ich weiß jetzt, dass ich russischen Wodka, auch wenn es
sich um eine fromme Gabe handelt und mich der Schriftzug auf dem
Etikett gar lieblich und verführerisch anlächelt, in Zukunft meiden
werde wie einen stinkenden Elefanten.«
Dtui stand auf. Ihre blendend weiße
Schwesterntracht spannte sich über ihrer breiten Brust wie
Wachspapier um eine Schweinshaxe.
»Was Sie brauchen, ist ein guter Schluck vom
Kräutertrank meiner Mutter.«
»Ach nein. Bitte nicht. Leide ich denn nicht schon
genug?«
»Ich bin gleich wieder da.«
Sie ging zur Tür.
»Wo steckt unser anderer tapferer Soldat?«
»Er ist im Sektionssaal und bereitet die Neuzugänge
vor.« In der Tür blieb sie stehen. »Das wird Ihnen gefallen: zwei
tote Männer auf einem Fahrrad, mitten auf der Straße, in der Nähe
des Nam-Phou-Brunnens im Zentrum. Da wird morgens um zwei
normalerweise niemand überfahren. Sie wurden neben dem Rad
gefunden. Kein Soziussitz, kein
Gepäckträger. Kein Blut. Das klingt ganz nach einem Fall für...
ta-ta-ta-tah!«
»Dtui?«
»... Supergeisterdoc.«
Gickelnd verließ sie das Büro. Siri stöhnte. Das
Letzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand, war das Öffnen einer
Leiche. Vor allem aber hatte er nicht die geringste Lust, seinen
schmerzenden Schädel mit Rätseln und Mysterien zu belasten.
Dtui fischte in den Untiefen der Kühlkammer nach
der verkorkten Flasche mit dem Geheimtrank ihrer Frau Mama. Zwar
war es laut Hausordnung streng verboten, Lebensmittel zum
persönlichen Gebrauch in der Kühlkammer der Pathologie
aufzubewahren, doch das Gebräu ihrer Mutter hatte solche
Ähnlichkeit mit Sektionsabfällen, dass nicht einmal der
pedantischste Inspektor den Unterschied bemerkt hätte. Es war eine
böser Hexensud aus allerlei bizarren Ingredienzen, der scheußlich
schmeckte, aber gegen so ziemlich alles half.
»Wo... wo... wofür ist das, Dtui?« Herr Geung
bettete den zweiten Radfahrer auf den Reservetisch. Geung war ein
gutaussehender Mann von Anfang vierzig mit ausgeprägtem
Down-Syndrom-Gesicht und pechschwarzem Haar, das links und rechts
des schiefen Mittelscheitels an seinem Schädel klebte. Wenn er eine
Frage stellte, hatte er die Angewohnheit, leicht auf den Fersen zu
wippen. Richter Haeng aus dem Justizministerium, das die Arbeit von
Siri und seinen beiden Helfern überwachte, setzte sich für die
Entlassung des »Idioten« ein, dabei leistete Geung trotz seiner
Behinderung hervorragende Dienste. Zwar wurde er bisweilen nervös,
wenn etwas seinen gewohnten Tagesablauf
störte, doch alles in allem war er ein erstklassiger Assistent.
Siris Vorgänger hatte ihn mit unendlicher Geduld zum Gehilfen
ausgebildet, und er war in vielerlei Hinsicht beschlagener als Dtui
oder Siri. Er war stark und zuverlässig und nicht zuletzt ein
wahrer Künstler im Umgang mit der Knochensäge.
»Der Chef hat einen Kater«, sagte Dtui.
Geung lachte schnaubend. »Al... Alkohol ist das
Elixir des T... des Teufels.«
»Ist das wieder eine der Weisheiten deines
Vaters?«
»Nein. Das hat Genosse Dr. Siri ges... gesagt, als
wir an Neujahr den Besoffenen aufgeschnitten haben.«
Das war die Kehrseite der Medaille. In Geungs
Gegenwart hütete man am besten seine lose Zunge. Er vergaß so gut
wie nichts.
Die Obduktion verlief nach dem üblichen Prozedere.
Siri hielt sich im Hintergrund und ließ Dtui die Leiche
untersuchen, während er sich Notizen machte. Sie lernte noch und
hoffte auf ein Medizinstipendium im Ostblock. Dtui hatte Augen wie
ein Luchs und entdeckte oftmals Kleinigkeiten, die Siri übersehen
hatte. Der einzige Nachteil dieses neuen Systems bestand darin,
dass Siris Notizen nachher niemand lesen konnte. Nicht einmal Siri
selbst.
Da die beiden Leichen in der Pathologie bislang
nicht als vermisst gemeldet waren, wurden sie vorerst Mann A und
Mann B genannt. Sie bildeten ein ungleiches Paar. Mann A war adrett
gekleidet. Er trug nicht nur ein weißes Hemd und bügelfreie Hosen,
sondern auch eine alte, aber kostspielige Uhr und hatte zarte,
schwielenlose Hände, was darauf hindeutete, dass ihm körperliche
Arbeit fremd war. Weitaus bemerkenswerter jedoch fanden Siri und
Dtui den
Umstand, dass er Socken trug. Draußen war es über vierzig Grad
heiß. Selbst in den wenigen Büros, in denen museumsreife
französische Klimaanlagen einen aussichtslosen Kampf gegen die
Hitze führten, war »lauwarm« das höchste der Gefühle. Es war
nie so kalt, dass man Socken tragen musste.
Nein, der arme Mann hatte vermutlich keine andere
Wahl gehabt. Seit seiner Berufung zum Leichenbeschauer versuchte
man Siri dazu zu bewegen, seine Füße in die schwarzen Plastikschuhe
zu quetschen, welche die Partei ihren Beamten zur Verfügung
stellte. Er nannte das die »Schuhbi-du-Doktrin«. Allein seinem
Alter und seiner Sturheit war es zu verdanken, dass er seine
braunen Ledersandalen anbehalten durfte. Doch er wusste, wenn man
ihn eines Tages in diese Zehenquäler zwängte, würde auch er wohl
oder übel Socken tragen müssen.
Dtui sprach seine Gedanken aus. »Ich würde sagen,
er arbeitet für die Regierung.«
»Die Socken?«
»Die Finger.«
Sie erstaunte ihn immer wieder. Siri trat an den
Sektionstisch und hielt die Hand von Mann A in die Höhe. Sämtliche
Fingerkuppen waren violett verfärbt: ein klassischer Fall von
Triplikatsyndrom.
Civilai hatte diesen Ausdruck geprägt; er
bezeichnete die seltsamen »blauen Flecken«, die in sozialistischen
Bürokratien weit verbreitet waren. Da für jede Abteilung
Durchschläge angefertigt werden mussten, erstickten die Beamten
förmlich in Papierkram. Das rief das Zeitsparwunder moderner
Büroführung auf den Plan: Kohlepapier.
Wie seine Schuhe und sein Haarfärbemittel bezog
Laos auch sein Kohlepapier aus China. Leider befand sich zumeist
mehr Tinte an den Fingern der Benutzer als an dem Papier. Herr A
hatte sich offenbar durch ganze Berge von dem Zeug gewühlt.
Nachdem sie ihn ausgezogen und seine Kleider
katalogisiert und eingetütet hatten, machten sie die erlaubten vier
Farbfotos von der Leiche. Siri fiel auf, dass der Tote ohne Schuhe
eingeliefert worden war. Im Mundwinkel klebte ein schmales,
getrocknetes Blutrinnsal, und Brust und Abdomen waren mit schweren
Blutergüssen übersät.
Bevor er mit der inneren Leichenschau begann,
beschloss Siri, zunächst Herrn B zu untersuchen. Das würde erstens
Zeit sparen und ihnen zweitens Gelegenheit geben, die Verletzungen
der beiden zu vergleichen. Siri ignorierte Dtuis Bemerkung: »Sie
hätten Schlachter werden sollen«, und bat sie um ihre Ansicht zu
Herrn B.
Sie meinte, er stamme in jedem Falle aus einem
anderen Stadtteil als Herr A. Seine Kleider waren abgetragen und
ziemlich schmutzig, seine Hände rau und mit verschorften kleinen
Narben übersät, die wie Schnittwunden aussahen.
»Bleibt die Frage«, sinnierte Siri, »warum zwei
Männer völlig unterschiedlicher Herkunft um zwei Uhr morgens auf
ein und demselben Fahrrad sitzen?«
»Vielleicht«, gab Dtui zu bedenken, »war er hier
der Chauffeur und fuhr gerade seinen Herrn nach Hause.«
Geung wieherte vor Lachen.
»Vielleicht saßen sie aber auch gar nicht auf dem
Fahrrad.« Siri schaute zweifelnd drein. »Ich habe den leisen
Verdacht, dass sie rein zufällig neben dem Rad gefunden
wurden.«
»Und wie, bitte, sind sie dorthin gekommen?«
»Ich bin beileibe nicht allwissend, Fräulein Dtui.
Aber
vielleicht hat der Alte ja den Beamten überfahren, als der über
die Straße ging.«
»Aha. Da müsste er ja einen Affenzahn draufgehabt
haben.«
»Oder es war genau umgekehrt, und der Beamte war
mit dem Motorrad unterwegs und hat den Alten versehentlich
angefahren.«
»Und...«
»Und dann hat sich jemand mit dem Motorrad aus dem
Staub gemacht.«
»Da könnte eventuell was dran sein.«
»Hat die Polizei das Fahrrad mitgebracht, Herr
Geung?«
»Es steht hin... hin... hinterm Haus.«
»Gut. Wir schauen es uns später an.«
Sie entkleideten Herrn B. Abgesehen von seinem
zweifellos gebrochenen Genick und einem gewaltigen Bluterguss, der
normalerweise auf eine Verletzung der Arteria vertebralis
hindeutet, wies sein Körper keine frischen Abschürfungen oder
andere Verletzungsspuren auf. Sie verschossen den Rest des Films
und machten alles für die Sektion bereit. Nun ruhten die beiden
Toten wie Tempelstufenornamente jeder an einem Ende des
Saals.
Die Doppelobduktion dauerte genau zwei Stunden.
Herr A wies starke Blutungen in der Brusthöhle und Leichenflecke im
Bereich der Hauptschlagader auf, was für einen
Hochgeschwindigkeitsunfall und damit für Siris Motorrad-These
sprach. Auch war der Aufprall offenbar so heftig gewesen, dass er
einen Hodenriss verursacht hatte. Woraus Siri den vorläufigen
Schluss zog, das Herr B durch Genickbruch und Herr A an inneren
Blutungen gestorben war. Doch um zu einem endgültigen Ergebnis zu
gelangen, waren weitere Untersuchungen vonnöten.
Herr Geung perforierte die harten Schädel der
beiden Männer mit seiner alten Bügelsäge, und Siri packte die
Gehirne in Watte und fixierte sie in Formalin, wo sie zwei oder
drei Tage lagern mussten, bis sie fest genug waren, um seziert
werden zu können.
Dtui entnahm Proben von Blut und Mageninhalt. Da es
kein Labor gab, war die Zahl der Erkenntnisse, die sich daraus
gewinnen ließen, begrenzt. Morgen wollte Siri ins Lycée Vientiane
fahren und Lehrerin Oum beschwatzen, ihm die Reste ihrer
Chemikalien für Farbtests zur Verfügung zu stellen.
In einem Schuppen des Zollamts stand seit drei
Monaten eine Kiste mit Unterrichtschemikalien, eine freundliche
Spende der Hochschulkooperative in Wladiwostok, was zu einer Flut
von Formularen geführt hatte. Und selbst dem staatlichen
Leichenbeschauer war es nicht gegeben, den altersschwachen Bus der
Bürokratie bergauf ins sozialistische Nirwana zu schieben.
Dtui, Geung und Siri hockten im Halbkreis um das
Fahrrad. Das rostige Vehikel, das viele Schlachten überdauert
hatte, würde nie wieder in den Kampf ziehen.
»Wie könnte es dazu wohl gekommen sein?«, fragte
Siri in die Runde. Die Kettenstrebe war geknickt und berührte fast
den Boden. Sitz und Lenker waren verbogen.
»Sieht aus, als ob ich darauf gesessen hätte«,
sagte Dtui, worauf Herr Geung einen Lachanfall bekam, der sich nur
durch mehrmaliges Klopfen auf den Rücken abstellen ließ.
»Nein«, meinte Siri schließlich. »Dazu brauchte es
schon ein halbes Dutzend Dtuis. Aber ich glaube, ich weiß, was die
Ursache sein könnte. Auf welcher Seite des Brunnens wurden sie
gefunden?«
»Vor dem Ministerium.«
»Dann sehen wir uns die Stelle doch am besten
gleich mal an.«
»Steht Ihr Schädel das denn durch?«
»Ah, Dtui. Es geht doch nichts über eine zünftige
Leichenöffnung und einen Schluck vom Gebräu Ihrer Mutter, um einen
Kater zu kurieren.«
Das Ministerium für Sport, Information und Kultur
residierte in einem siebenstöckigen Gebäude mit Blick auf den
trockenen Brunnen am Nam Phou Square. Rings um den kreisrunden
Platz gruppierten sich malerische, wenngleich ziemlich
heruntergekommene zweistöckige Häuser, die auch in einem kleinen
südfranzösischen Dorf nicht weiter aufgefallen wären. Es war ein
verschlafener Platz, wo alte Damen Frühlingsrollenteig zum Trocknen
auf Drahttischchen auslegten und Rajid, der verrückte Inder, träge
seine Runden um den tristen Betonbrunnen drehte.
Obgleich die Laoten es den meisten
Regierungsstellen gegenüber an Respekt bislang erheblich fehlen
ließen, nannten die Einwohner von Vientiane das geschmacklose
Gebäude, in dem das Sportressort logierte, »Das Ministerium«, auch
wenn es wohl eher seine Größe war, die ihnen imponierte, als seine
Grandezza. Das ehemalige Französische Kulturzentrum konnte es an
architektonischer Finesse ohne Weiteres mit einem Zwei-Sterne-Hotel
in einem beliebigen Badeort aufnehmen. Die Beamten für Sport,
Information und Kultur hasteten durch die weitläufigen Hallen, und
ihre Schritte klapperten wie die Perlen in der ehemals prall
gefüllten Schmuckschatulle einer an den Bettelstab geratenen
Frau.
Herr Geung war in der Pathologie geblieben, um die
Neuzugänge im Auge zu behalten. Dtui, die ihren ersten
Ermittlungseinsatz außerhalb der Klinik absolvierte, stand in der
Straßenmitte neben den Engeln, die dort mit Kreide auf die Fahrbahn
gezeichnet waren. Siri stand zwölf Meter entfernt, mit dem Rücken
zum Ministerium. Seine Augenbrauen beschrieben einen imaginären
Bogen von Dtui zur obersten Etage des Gebäudes hinter ihm.
Kopfschüttelnd trat er neben die Krankenschwester.
»Doch nicht?«, fragte sie.
»Nun ja, möglich wäre es durchaus, aber... ich weiß
auch nicht. Entweder hat er mächtig Anlauf genommen, oder aber er
ist geworfen worden. Und hätte ihn jemand geworfen, hätten wir Male
an den Armen oder Beinen finden müssen. Haben wir aber
nicht.«
»Meinen Sie nicht, er könnte...«
Eine Vespa kam um den Brunnen geknattert und
nötigte Siri, aus dem Weg und der verdutzten Dtui in die Arme zu
springen.
»Dr. Siri. Sie alter Charmeur, Sie.«
Peinlich berührt löste er sich aus ihrer
Umklammerung. Ein paar Meter weiter hielt der Motorroller an, und
der Fahrer, ein durchtrainierter, attraktiver Mann von Mitte
vierzig, drehte sich lachend zu ihnen um. Inspektor Phosy stieg ab,
wuchtete das alberne Gefährt auf seinen Ständer, und eilte mit
ausgestreckter Hand auf sie zu. Siri ergriff die Hand, und die
beiden Männer umarmten sich und klopften einander auf den
Rücken.
»Heiß heute, was?«
»Verdammt heiß.«
»Wie geht es meinem Lieblingspolizisten?«
»Dr. Siri. Ich dachte, Sie wären tot.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden.« Sie machten
sich
voneinander los, und Siri blickte die Straße entlang. »Ein
bemerkenswertes Dienstgefährt haben Sie da. Und die Farbe erst.
Lila soll bei der Verbrechensbekämpfung ja wahre Wunder
wirken.«
»Ich bitte um Nachsicht, Genosse. Die Zeiten sind
schwer. Da muss man nehmen, was man kriegen kann.« Er blickte Siri
über die Schulter. »Wohlsein, Dtui. Sie haben kein Gramm
abgenommen.«
»Sie werden aber auch nicht schöner.«
Sie schüttelte ihm herzlich die Hand.
»Und?«, fragte Siri. »Wie kommen Sie zu diesem
Fall?«
»Inzwischen landet alles, was auch nur ansatzweise
nach ›Regierung‹ riecht, auf meinem nicht vorhandenen Schreibtisch.
Als Dtui anrief und durchblicken ließ, dass es sich bei dem Opfer
um einen Regierungsbeamten handeln könnte, holten sie mich aus der
Versenkung. Was halten Sie von der Geschichte? War es
Selbstmord?«
»Ich weiß nicht. Es ist merkwürdig. Sofern er nicht
gerade seine Flugkünste erproben wollte, frage ich mich, weshalb er
nicht einfach vom Dach gesprungen ist. Er wäre mindestens ebenso
tot, wenn er nicht den Brunnen angesteuert hätte.«
»Na schön. Mal sehen, ob uns das
Informationsministerium mit Informationen dienen kann.«
Sie traten gemeinsam durch die elegante Flügeltür
und fanden sich in einer Eingangshalle wieder, die bis auf einen
Tisch vollkommen leer war. Auf dem Tisch stand ein kleines,
handgemaltes Schild mit der Aufschrift AUSKUNFT 1. STOCK.
Ihre Schritte hallten durch das teakholzgetäfelte
Treppenhaus. Die Luft war stickig und verbraucht. Trotz der Hitze
waren die meisten Fenster seit dem Abzug der Amerikaner
nicht mehr geöffnet worden. (Amerikanische Sprachkurse hatten die
französische Kultur vorübergehend verdrängt, bevor das Gebäude
seinem derzeitigen Zweck zugeführt worden war.) Allein die
laotische Kultur trat nirgends in Erscheinung. Was wiederum typisch
war für die laotische Kultur.
Im ersten Stock kamen sie zunächst an zwei
Amtszimmern vorbei, in denen es weder Leben gab noch Mobiliar. Die
dritte Tür war angelehnt, und durch den Spalt sahen sie zwei
Aktenschränke aus Metall, ein schiefes Regal, in dem sich alle
Bücher auf einer Seite drängten, und einen Schreibtisch mit einem
Mann darauf.
Er schlief im Unterhemd, mit einem beseelten
Ausdruck in seinem jugendlichen Gesicht. Sein gebügeltes weißes
Hemd verwandelte seinen Schreibtischstuhl in eine Vogelscheuche.
Obwohl es zwanzig nach eins war und der Mann eigentlich Dienst
hatte, klopfte Phosy höflich an und sagte: »Verzeihung.«
Der Beamte rührte sich nicht, und Phosy wollte eben
ein zweites Mal anklopfen, als Siri sich an ihm vorbei ins Zimmer
zwängte. Der Doktor war erstaunlich geduldig, doch für
bürokratische Inkompetenz hatte er keine Zeit. Boua und er hatten
Jahrzehnte ihres Lebens dem Kampf gegen die Korruption gewidmet,
und er hatte nicht die Absicht, sich auf seine alten Tage von einem
korrupten System vereinnahmen zu lassen. Im schönsten
Beamtentonfall bellte er: »Um Himmels willen, Mann! Was treiben Sie
denn da? Das hier ist eine Regierungsstelle und kein Ruhestift.
Was, wenn plötzlich Not am Sportsmann wäre?«
Phosy und Dtui wechselten einen stirnrunzelnden
Blick.
Der Mann schreckte zappelnd und fuchtelnd aus
seinem Traum, worauf eine Handvoll akkurat gespitzter Bleistifte
quer durchs Zimmer flog. Er hüpfte von der Schreibtischplatte in
seine Schuhe. Dann lief er um den Tisch, fischte sein Hemd vom
Stuhl und zog es an. Er war ein unscheinbares Männlein mit
verwirrter Miene. Er sank auf den Stuhl, knöpfte sich das Hemd zu
und fragte seine Besucher, ganz so als hätten sie seine
Auferstehung nicht gerade persönlich miterlebt: »Was kann ich für
Sie tun?«
Phosy reichte ihm lächelnd ein mittels Matrize
vervielfältigtes Blatt Papier, an dem sein Foto klemmte. Es war
sein Dienstausweis. Der Mann studierte ihn ausgiebig.
»Polizei?«, kombinierte er.
»Sehr gut. Heute am frühen Morgen wurde vor dem
Ministerium ein Toter gefunden. Sie vermissen nicht zufällig
jemanden?«
»Schwer zu sagen.«
»Warum?«
»Weil uns ständig Mitarbeiter abhandenkommen.
Entweder sie werden in andere Provinzen versetzt. Oder sie sind
krank. Wir haben den Amtsleiter und seinen Stellvertreter seit über
einer Woche nicht gesehen.«
»Gibt es denn keine Übersicht? Der sich entnehmen
ließe, wer sich wo aufhält?«
»Hmm. Nein.«
»Wer ist für die Reiseplanung zuständig?«
»Ähm. Meine Wenigkeit.«
»Und Sie führen keine Liste?«
»Das ist eine gute Idee, aber es hat noch nie
jemand danach gefragt. Wenn Sie wissen wollen, wer fehlt, müssen
Sie schon von Zimmer zu Zimmer gehen.«
Und das taten sie denn auch. Siri fragte sich, wie
das Informationsministerium zu seinem Namen gekommen war, hatte es
in dieser Hinsicht doch wenig Brauchbares
zu bieten. Sie begannen im ersten Stock mit der Durchsuchung und
arbeiteten sich langsam in die oberen Etagen vor. Der junge Mann
führte sie durchs Haus und stellte ihnen recht entspannt wirkende
Sekretärinnen und gesichtslose Männer vor, deren Arbeit sich in der
eingehenden Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und Romanen zu
erschöpfen schien.
Siri beschrieb den Toten immer wieder, bis ihm klar
wurde, dass die Beschreibung auf gut die Hälfte aller Bediensteten
des Ministeriums passte. Sie alle trugen bügelfreie Hosen und
Plastikschuhe und litten an einer mehr oder minder schweren Form
des Triplikatsyndroms.
Die Verwaltungsräume im vierten Stock standen
größtenteils leer, und die Tür zu den beiden oberen Etagen war
offenbar verschlossen. Während die Beamten händeringend nach dem
Schlüssel suchten, bemerkte die überaus findige Dtui, dass von
innen bereits ein Schlüssel steckte. Sie klopften und riefen, damit
jemand herunterkam und ihnen aufschloss, doch ihre Bemühungen
trafen auf eisiges Schweigen, was nichts Gutes ahnen ließ.
»Was ist da oben?«, fragte Siri.
»Das Archiv«, sagte der junge Mann. »Unsere
historische Abteilung, wenn Sie so wollen. Denkmalerhaltung und
dergleichen.«
Siri fragte sich, welchen Wert die Regierung der
Bewahrung des nationalen Erbes beimaß, mochte sie doch nicht einmal
den Einsatz von Wachleuten zum Schutz der Kulturstätten
finanzieren. Wer sich eine Buddha-Büste ins Regal stellen wollte,
brauchte sich bloß zu bedienen.
Dtui ging auf die Knie und konnte den Schlüssel,
unter geschicktem Einsatz ihrer Haarnadel und einer sorgfältig
platzierten Zeitung, nach kaum zwei Minuten aus dem Schloss
und unter der Tür hindurchbefördern. Phosy war fassungslos vor
Staunen.
»Wissen Sie, was? Es gibt da noch ein oder zwei
ungeklärte Einbruchsfälle aus der Zeit vor der Revolution...«
»Ich kann’s nicht gewesen sein, Inspektor. Ich
trage normalerweise Handschuhe. Hoppla.«
Sie steckten den Schlüssel wieder ins Schloss,
öffneten die Tür, und Phosy ging voran, die Stufen in den fünften
und sechsten Stock hinauf, eine Reihe von Bretterverschlägen unter
dem Dach. Auf der Treppe spürte Siri mit einem Mal eine entfesselte
Kraft, war sich seiner Instinkte jedoch nicht sicher genug, um die
anderen zur Vorsicht zu ermahnen.
Das Hauptarchiv befand sich in einem langen Raum im
obersten Stock. Er bot ein Bild der Verwüstung. Tongefäße lagen in
Scherben auf dem Fußboden verstreut. Landkarten und alte
Steinabreibungsdrucke waren von der Wand gerissen worden. Trotz des
Durcheinanders entging Phosy nicht, dass die großen Fenstertüren
offen standen; das Glas war eingeschlagen, der Riegel gebrochen.
Ein Satz aus diesem Fenster, und der Betreffende wäre haargenau bei
den Kreideengeln auf der Straße neben dem Brunnen gelandet. Dazu
hätte er allerdings Anlauf nehmen müssen.
Er bemerkte auch die Schuhe, die ordentlich neben
dem umgestürzten Schreibtisch standen. Da der Fußboden mit Scherben
übersät war, schien es unwahrscheinlich, dass der Mann sie
ausgezogen hatte, bevor er gesprungen war. Also war das Chaos erst
danach entstanden. Phosy steckte den Kopf zum Fenster hinaus und
sah nach links und rechts. Falls der Eindringling durchs Fenster
entkommen war, musste er einen Fallschirm benutzt haben. Er drehte
sich um und sah, dass die anderen mit Aufräumen begonnen
hatten.
»Halt. Es wird nichts angerührt, bis meine Leute
sich hier umgesehen haben. Äh, Herr... wie war Ihr Name?«
»Santhi.«
»Herr Santhi. Wer arbeitet in diesem Büro?«
»Frau Bounhieng. Sie ist gerade zum x-ten Mal
schwanger. Und Herr Chansri. Er ist der Leiter des Archivs. Herrn
Khampet nicht zu vergessen.«
»Und passt die Beschreibung des Mannes im
Leichenschauhaus auf einen der beiden Herrn?«
»Ja. Eindeutig. Auf Herrn Khampet. Herr Chansri ist
schon etwas älter und ein wenig dicker.«
»Und wo finden wir den Leiter des Archivs?« Santhi
trat verlegen von einem Bein aufs andere und starrte zu Boden.
»Haben Sie die Frage verstanden?«
»Ja.«
»Und?«
»Er könnte auf dem Thongkhankham-Markt sein.«
»Dienstlich?«
»Nicht direkt. Er verkauft Fisch.«
»Soso.«
»Ich hätte Ihnen das wahrscheinlich nicht sagen
sollen. Aber Sie müssen verstehen. Unser Gehalt ist sehr
bescheiden, darum bessern manche es durch...«
»Herr Santhi. Ich bin kein Regierungsinspektor.«
Phosy blickte zu Siri, der in die Hocke gegangen war und unter die
schwere hölzerne Werkbank schaute. »Was ist denn?«
»Sehen Sie das?«
Der Polizist trat neben den Doktor und sah unter
die Bank.
»Eine alte Truhe.«
»Nein. Das ist weitaus mehr als eine alte Truhe.
Sie trägt das königliche Siegel.«
Die massive Teakholzkiste war mit dem Emblem eines
dreiköpfigen Elefanten beschlagen, der im Schutze eines
mehrstöckigen Schirms auf einem Podest balancierte wie ein
Zirkusakrobat beim That-Luang-Fest. Allein die Zeit hatte ihm etwas
von seinem Glanz geraubt. Siri senkte die Stimme. »In der Truhe
steckt eine unglaubliche Energie. Sie verströmt jede Menge
Aggression.«
»Siri, Sie haben doch wohl nicht schon wieder eine
Ihrer übersinnlichen Eingebungen?«
Sehr wenige Menschen wussten von Siris mystischen
Verbindungen. Eigentlich wussten nur Civilai, Dtui und auf seine
Art auch Geung, wie wunderlich der Doktor war. Siri kannte das
wahre Ausmaß seiner Fähigkeiten selbst erst seit kurzer Zeit. Als
er an seinen Geburtsort in Khammouan gereist war, um die erzürnten
Phibob zu besänftigen, hatte er etwas Bemerkenswertes über
sich erfahren. Auch wenn er daran selbst nicht glauben mochte. Den
Ältesten eines kleinen Dorfes zufolge war Siri die Reinkarnation
von Yeh Ming, einem mächtigen Hmong-Schamanen, der vor über tausend
Jahren gelebt hatte. Seither spürte Siri, dass irgendwo in seinem
tiefsten Innern phänomenale Kräfte lauerten. Leider wusste er sie
bislang nicht recht zu nutzen, und in vielerlei Hinsicht machten
sie ihm sogar eine Heidenangst. Er hatte mit Phosy nie offen über
diese unverhofften Fähigkeiten gesprochen, doch der Instinkt des
Polizisten verriet ihm alles, was er wissen musste.
Siri streckte die Hand nach der Holzkiste aus, dann
plötzlich zog er sie abrupt zurück, als hätte sie ihm einen
Stromstoß versetzt.
»Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig, was diese
Truhe angeht. Sehr vorsichtig sogar.«
Siris Traum in dieser Nacht lieferte keine
Antworten auf seine Fragen. Der inzwischen eindeutig als Khampet
identifizierte Herr A segelte langsam durch die Luft auf den
Nam-Phou-Brunnen zu. Er segelte dahin wie ein Falke, doch der
Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben. Man hatte ihm lange
Holzpflöcke durch Hände und Füße getrieben. Ein weiterer drang ihm
vom Genick aus in den Schädel. Aber das schien ihn nicht weiter zu
stören. Seine eigentliche Sorge galt dem, was sich hinter ihm
befand, und worum auch immer es sich dabei handeln mochte, es war
in der Traumeinstellung nicht zu sehen. Der okkulte Kameramann ließ
es buchstäblich im Dunkeln.
Doch einen Sekundenbruchteil lang, zu kurz, um sich
Gewissenheit zu verschaffen, glaubte Siri eine Reihe von Zeugen auf
dem Dach erblickt zu haben. Sie machten einen glücklichen oder,
besser, zufriedenen Eindruck. Sie sahen aus wie alte
Schauspieler, dick geschminkt und in traditionellen laotischen
Kostümen. Womöglich hatten sie sogar applaudiert, aber da es Siri
furchtbar schwergefallen war, überhaupt etwas zu erkennen, hatte er
sich das vielleicht nur eingebildet.
Das glaubte er zumindest, als er erwachte. Wie
üblich befand er sich nach einem solchen Traum in einem Zustand, in
dem er sich fragte, ob er tatsächlich bei Bewusstsein war oder noch
träumte. In diesen furchterregenden Momenten erschienen ihm seine
Besucher so real, als wären sie bei ihm im Zimmer.
Alles war still. Da die Sterne noch immer in der
Hitze flirrten, die von der heißen Erde aufstieg, wusste er, dass
er nicht allzu lange geschlafen haben konnte. Er lag draußen auf
der Veranda. Ein seltener Sommerwindhauch bauschte das Moskitonetz.
Wieder. Und wieder. Kaum merklich
wiegte es sich ebenso langsam wie gleichmäßig hin und her.
Siri wandte den Kopf und starrte in die Dunkelheit
– und in die stumpfen Augen eines Bären. Er war so nah, dass sein
Atem das Netz in Schwingung versetzte. So nah, dass das frische
Blut an seinen Lefzen deutlich zu erkennen war; so nah, dass Siri
seine Zahnfäule riechen konnte.
Er saß da und beobachtete den Doktor. Siri spürte,
welche Macht das Tier über ihn hatte. Trotzdem machte es ihm keine
Angst. Zugegeben, die Sache war ihm irgendwie nicht ganz geheuer,
doch sein Instinkt sagte ihm, dass der Bär ihm nichts zuleide tun
wollte. Als es seine Inspektion beendet hatte, erhob sich das Tier
unter Schmerzen und verschwand in Siris stibitztem Dschungel.
Als Siri das nächste Mal erwachte, war es Morgen.
In Kürze würde die Sonne über Fräulein Vongs blitzblankem Häuschen
aufgehen. Bevor er es vergaß und die Lautsprecher der Regierung mit
ihrem nervtötenden Geplärr begannen, griff er nach dem Notizbuch
auf dem Tisch neben der Pritsche. Er zündete die Öllampe an und
protokollierte seinen Traum.
Saloop schleppte sich wie eine fettleibige Motte
dem Licht entgegen und legte den Kopf auf den Pritschenrand. Siri
kraulte ihn.
»Du hast im Garten heute Morgen nicht zufällig
einen Bären gesehen?«, fragte Siri.
Wie immer behielt Saloop seine Geheimnisse für
sich. Er hatte seine Pflicht vernachlässigt und stattdessen mit der
kessen Hündin aus der Eisfabrik geturtelt. Natürlich hatte er den
Eindringling gewittert, als er heimgekommen war. Er wusste zwar
nicht, was er da gerochen hatte, aber es war ohne Zweifel groß und
furchterregend.