PROLOG
Große Fußstapfen
Asch war vor Erschöpfung halbtot, als sie ihn in die Halle der Eisfestung schleppten und ihrem König vor die Füße warfen. Mit einem grunzenden Laut der Überraschung landete er auf den Pelzen; sein Körper zitterte, und er wollte nichts anderes, als sich um die schwache Wärme seines Herzens zusammenzurollen. Sein keuchender Atem bestrich die Luft mit Dunst.
Man hatte ihm seine Felle ausgezogen, und er lag frierend in den steifen Falten seiner wollenen Unterwäsche. Auch sein Schwert war ihm genommen worden. Er war allein. Dennoch wirkte es so, als wäre ein wildes Tier mitten unter die Dorfbewohner geschleudert worden. Sie brüllten in der rauchgeschwängerten Luft, und bewaffnete Stammesangehörige plapperten sich Mut zu, während sie sich mit ihren Speeren näherten und die Knochenspitzen auf ihn gerichtet hielten. Vorsichtig hüpften sie im Kreis um ihn herum.
Sie spähten durch den Dampf, der von dem Fremden aufstieg; sein Atem legte sich wie Wolken auf die verlauste Haut der Anwesenden. Durch Risse in diesen Ausdünstungen war zu erkennen, wie Feuchtigkeit an seinem reifbedeckten Schädel herabperlte, vorbei an den Eisstückchen der Brauen und den Runzeln um die Augen, und schließlich tropften sie von den scharfkantigen Wangenknochen, der Nase und dem steif gefrorenen Bart. Unter dem tauenden Eis auf seinem Gesicht wirkte die Haut schwarz wie nächtliches Wasser.
Die Alarmrufe wurden lauter, bis es den Anschein hatte, als ob die verängstigten Eingeborenen seinem Leben hier und jetzt auf dem Boden ein Ende setzen wollten.
»Bruschka«, knurrte der König auf seinem Knochenthron. Seine Stimme drang aus den Tiefen seiner Brust herauf; sie umhallte die Säulen aus Eis, die im Raum aufgereiht standen, und fiel von der hohen Kuppeldecke auf ihn zurück. Am Eingang trieben Stammesangehörige nun die verblüfften Dorfbewohner durch die Vorhänge zurück, die den Durchgang verhüllten. Zuerst leisteten sie Widerstand und beschwerten sich laut. Sie waren hinter diesem alten Fremden hereingeströmt, der aus dem Sturm gekommen war, und nun wollten sie unbedingt erfahren, was mit ihm geschah.
Asch nahm all dies nicht wahr. Er bemerkte nicht einmal die gelegentlichen Speerstiche, die ihn trafen. Es war das Gefühl der nahen Wärme, das ihn schließlich aufweckte und dazu brachte, den Kopf vom Boden zu heben. Nicht weit von ihm entfernt stand eine kupferne Räucherpfanne, in der Knochen, Klumpen aus Tierfett und Innereien brannten und rauchten.
Langsam kroch er auf die Wärme zu, während zustoßende Speere ihn davon abzuhalten versuchten. Die Angriffe wurden noch fortgesetzt, als er sich bereits gegen die Wärme der Kohlenpfanne schmiegte, und obwohl er unter jedem neuen Angriff zusammenzuckte, weigerte er sich zurückzuweichen.
»Ak ak!«, bellte der König, und sein Befehl zwang die Krieger schließlich, von dem Fremden abzulassen.
Stille senkte sich über die Halle, nur unterbrochen durch die knisternden Flammen und das schwere Atmen der Stammesangehörigen, das klang, als wären sie soeben von einem langen Lauf zurückgekehrt. Dann drang plötzlich ein lautes und deutliches Ächzen der Erleichterung aus Aschs Kehle.
Ich lebe noch, dachte er mit einiger Verwunderung und in einer Art Delirium, als ihn das Glühen der Kohlenpfanne durchströmte. Er ballte die tauben Hände zu Fäusten, damit er die kostbare Wärme in ihnen deutlicher spürte. In der Haut seiner Handflächen setzte ein Kribbeln ein.
Schließlich schaute er auf und verschaffte sich einen Überblick. Überall um ihn herum sah er das Glänzen von Fett auf nackter Haut, Laken über ausgemergelten Körpern, hagere und hungrige, mit Knochenstücken durchbohrte Gesichter, der Verzweiflung nahe.
Insgesamt zählte er neun bewaffnete Männer. Hinter ihnen wartete der König.
Asch riss sich zusammen, aber er bezweifelte, dass er schon wieder stehen konnte. Stattdessen kämpfte er sich auf die Knie und betrachtete den Mann, für den er diesen weiten Weg zurückgelegt hatte.
Der König beobachtete ihn, als ob er sich überlegte, welchen Teil von ihm er zuerst verspeisen wollte. Seine Augen waren wie Kiesel, die beinahe in seinem fleischigen Gesicht verschwanden, denn er war ein mächtiger Mann und so aufgequollen vor lauter Fett, dass es eines Korsetts aus steifem Leder bedurfte, um seinen herabsackenden Bauch zu halten. Ansonsten war er fast nackt. Auf seiner Haut schimmerte eine dick aufgetragene Fettschicht, und nur eine Kette aus Leder hing vor seiner Brust, während seine Füße in einem Paar gefleckter, pelzbesetzter Stiefel steckten.
Der König trank einen Schluck aus einem umgedrehten menschlichen Schädel und schmatzte in betulicher Anerkennung. Ein Rülpser drang aus seinem Schlund und verursachte ein Zittern in der Speckfalte am Hals, und dann stieß er einen langen, selbstzufriedenen Furz aus, der rasch die Luft verpestete. Asch blieb still und gelassen. Es schien ihm, als hätte er während seines langen Lebens andauernd Männern wie diesem gegenübergestanden: kleinen Häuptlingen und Bettlerkönigen und einmal sogar einem selbst ernannten Gott – Gestalten, die sich manchmal hinter dem Glanz ihres Standes oder sogar dem Anschein höfischer Eleganz verbargen, aber stets nichts anderes als Ungeheuer waren, so wie dieser Mann vor ihm und alle anderen selbst ernannten Führer.
»Stobay, chem ya nochi?«, fragte der König Asch und bedachte ihn mit Blicken gewichtiger Einsicht.
Asch hustete seine Kehle ins Leben zurück. Er öffnete die trockenen Lippen und schmeckte Blut auf ihnen. Mit einer Geste der Dringlichkeit strich er sich über den Hals.
»Wasser«, brachte er mühsam hervor.
Königliches Nicken. Ein Wasserschlauch landete vor seinen Füßen.
Lange trank Asch gierig daraus. Dann keuchte er, wischte sich über den Mund und hinterließ eine rote Schliere auf seinem Handrücken.
»Ich spreche Eure Sprache nicht«, begann er. »Wenn Ihr mich etwas fragen wollt, müsst Ihr das in der Handelssprache tun.«
»Bhattat!«
Asch neigte den Kopf, gab aber keine Antwort.
Der König runzelte die Stirn, und seine Muskeln zitterten, als er seinen Männern einen Befehl zubrüllte. Einer der Krieger, der kräftigste, ging zur Seite des großen Raumes, wo vor der Wand aus behauenem Eis eine kleine Truhe stand. Sie war schmucklos, aus Holz und von der Art, wie Kaufleute sie zum Transport von Chee oder Gewürzen benutzten. Alle Augen folgten in tiefem Schweigen den Bewegungen des Kriegers, als er den ledernen Verschlussgurt löste und den Deckel zurückklappte.
Er bückte sich und ergriff etwas mit beiden Händen. Ohne die geringsten Mühen zog er es hervor. Es war ein lebendes Skelett, das noch immer von Haut und zerrissener Kleidung überzogen war. Haare und Bart waren gewuchert und verfilzt, und die Gestalt blinzelte mit rot geränderten Augen in das Licht.
Wut kochte in Aschs Eingeweiden auf. Ihm war nie der Gedanke gekommen, dass es noch Überlebende aus der Expedition des letzten Jahres geben könnte.
Er hörte, wie er mit den Backenzähnen knirschte. Nein. Erlaube dir kein Mitleid.
Der Stammesangehörige hielt den Verhungernden aufrecht, bis die stockartigen Beine nicht mehr so stark zitterten und das Gewicht des Körpers zu tragen vermochten. Zusammen näherten sie sich langsam dem Thron. Seinem noch immer grimmigen Blick nach zu urteilen, war der Gefangene ein Nordmann, einer von den Wüsten-Alhazii.
»Ya groschka bhattat! Vascheda ty savonya nochi«, befahl der König, der den Alhazii nun unmittelbar ansprach.
Der Wüstenmann blinzelte. Seine Hautfarbe, die früher so dunkel wie bei allen Angehörigen seines Volkes gewesen war, hatte inzwischen das Gelb alten Pergaments angenommen. Der Stammeskrieger neben ihm stieß ihn immer wieder an, bis er Asch ansah. Nun wurde sein Blick heller, und ein schwaches, lebendiges Flackern kehrte in seine Augen zurück.
Er öffnete den Mund, was ein trockenes, klickendes Geräusch verursachte. »Der König … will, dass du sprichst, Dunkelgesicht«, krächzte er in der Handelssprache. »Wie bist du hierhergekommen?«
Asch sah keinen Grund zu lügen – noch nicht. »Mit dem Schiff«, sagte er, »vom Herzen der Welt. Es wartet an der Küste auf mich.«
Der Alhazii übersetzte dem König diese Information in die grobe Sprache des Stammes.
Der König machte eine ausladende Handbewegung. »Tul kuvescha. Ya schizn al khat?«
»Von dort«, übersetzte der Alhazii. »Wer hat dir geholfen, von dort hierherzukommen?«
»Niemand. Ich habe einen Hundeschlitten gemietet. Er ist zusammen mit meiner Ausrüstung in einer Gletscherspalte versunken. Danach bin ich in einen Sturm geraten.«
»Dan choto, pasch ta ya neplocho dan?«
»Dann sage mir«, lautete die Übersetzung, »was es ist, das du mir nehmen willst.«
Asch kniff die Augen zusammen. »Was soll das heißen? «
»Pasch tak dan? Ya tul kraschyavi.«
»Was das heißen soll? Du hast einen langen Weg bis hierher zurückgelegt.«
»Ya bulsvidanya, sach anay namosti. Ya vis preznat.«
»Du bist ein Nordmann von jenseits des Großen Schweigens. Du bist aus einem bestimmten Grund hergekommen.«
»Ya vis neplocho dan.«
»Du bist hergekommen, um mir etwas zu nehmen.«
Der König stach mit wurstgroßem Daumen auf eine seiner durchhängenden Brüste ein. »Vir paschak!«, spuckte er.
»Genau das meine ich.«
Asch hätte ein Fels sein können, der zum vollkommenen Abbild eines Menschen behauen war; zumindest zeigte er keinerlei Reaktion auf die Frage, die zwischen ihnen hing. Ein kalter Windstoß pfiff von draußen herein und brachte die schweren Felle vor dem Eingang ebenso zum Zittern wie die Flammen in der Räucherpfanne. Der Sturm rief sich in Erinnerung und wartete auf Aschs Rückkehr. Einen winzigen Augenblick lang fragte er sich, ob nun die richtige Zeit war, einige ausgewählte Lügen zu präsentieren. Es lag nicht in Aschs Natur, ausgiebig über wichtige Dinge nachzugrübeln. Er war ein Anhänger Daos – wie alle Rō̄schun –, und daher war es besser, ruhig zu bleiben und spontan zu handeln, indem er sich von seinem Cha leiten ließ.
In seinem Innersten folgte er dem stetigen Luftstrom und spürte, wie dieser in seine Nase drang, ihm stechende Kälte in die Lunge blies und als Wärme und Dampf wieder hervortrat. Ruhe überkam ihn. Er atmete und wartete, bis sich die Worte seiner Antwort von selbst geformt hatten; dann hörte er zu, wie er sie aussprach und war genauso verblüfft von ihnen wie alle übrigen.
»Ihr tragt etwas, das jemand anderem gehört«, ertönte Aschs Stimme, während er den Finger hob und auf das Halsband deutete, das zwischen den hängenden Brüsten des Königs lag. Er dachte: Der direkte Weg. Ich hätte es wissen müssen.
Der Gegenstand, der an einem Zwirnfaden hing, war von der Größe und Form eines der Länge nach durchgeschnittenen Eies. Es war kastanienbraun und schrumpelig wie altes Leder.
Nun packte der König es wie ein kleines Kind.
»Es gehört Euch nicht«, wiederholte Asch. »Und Ihr wisst nicht einmal, welchem Zweck es dient.«
Der König beugte sich vor; sein Knochenthron knirschte.
»Khut«, sagte er gelassen.
»Sag es mir«, dolmetschte der Alhazii.
Asch starrte ihn fünf Herzschläge lang an und betrachtete die Hautschuppen in den dicken Augenbrauen des Mannes sowie die Schlafkrümel in seinen Augenwinkeln. Sein schwarzes, mit Fettschmiere gesättigtes Haar fiel ihm wie ein Vorhang auf die Schultern und erinnerte an eine Perücke.
Schließlich nickte Asch. »Hinter dem Großen Schweigen«, begann er, »gibt es im Midèrēs, das wir das Herz der Welt nennen, einen Ort, an dem ein Mann – oder eine Frau – um Hilfe und Schutz ersuchen kann. Mit Geld – mit viel Geld – kaufen sie dort ein Siegel wie jenes, das Ihr nun tragt, und sie hängen es sich um den Hals, damit jedermann es sehen kann. Dieses Siegel, alter König, bietet ihnen Schutz, denn wenn sie sterben, stirbt es mit ihnen.«
Die Übersetzung des Alhazii holperte sich durch diese Worte. Verzückt lauschte der König. »Das Siegel, das Ihr nun tragt, gehörte einst Omar Sar, einem Kaufmann und Abenteurer. Es hat einen Zwilling, den wir nach Anzeichen des Todes abgesucht haben, so wie wir es mit allen tun. Omar Sar reiste vor vielen Monden mit einer Handelsexpedition hierher. Anstatt ihm den Handel in den Siedlungen Eures … Königreiches zu erlauben, zogt Ihr es vor, ihn und seine Männer zu ermorden und alles, was er in seinem Besitz hatte, an Euch zu bringen. Aber Euch war nicht bewusst, dass dieses Siegel ihn schützte. Ihr wusstet nicht, dass im Falle seines Todes auch sein Siegel sterben würde, und ebenso dessen Zwilling ... und dass der Zwilling den Weg zu jenem weisen würde, der ihn getötet hatte.«
Langsam und unter heftigen Schmerzen in Hüfte und Knien erhob sich Asch vom Boden und stellte sich vor den König. »Mein Name ist Asch«, verkündete er. »Ich bin ein Rōschun, was in meiner Sprache so viel bedeutet wie Herbsteis – jenes, das früh kommt. Dies bedeutet, dass ich von dem Ort des Schutzes komme, von dem alle Rōschun kommen, denn das ist der Ort der Blutrache.«
Er machte eine Pause, damit seine Worte in den König einsinken konnten, bevor er fortfuhr: »Daher hast du Recht, du fettes Schwein, denn ich bin wirklich hergekommen, um dir etwas zu nehmen. Ich bin hergekommen, um dir das Leben zu nehmen.«
Als die aufgeregt rasselnde Übersetzung zum Ende kam, brüllte der König vor Wut auf. Er schob den Alhazii vom Thron fort, und der Mann fiel zu Boden. In den Augen des Königs loderten Feuer, als er mit dem Schädel in seiner Hand ausholte und ihn auf Asch zuschleuderte.
Asch bewegte sich leicht zur Seite, und der Schädel flog an seinem Kopf vorbei.
»Ulbaska!«, brüllte der König, und das überschüssige Fleisch in seinem Gesicht zitterte im Einklang mit den einzelnen Silben.
Seine Stammeskrieger standen einen Moment lang starr da und hatten offensichtlich Angst, sich dem dunkelhäutigen Mann zu nähern, der es gewagt hatte, ihren König zu bedrohen.
»Ulbaska neya!«, brüllte er noch einmal, und nun stürzten sich die Krieger endlich auf Asch. Der König lehnte sich zurück; seine Brüste hoben sich, und er ließ einen Sturzbach aus wütenden Worten los, während die Speerspitzen gegen Aschs Flanken drückten. Der Alhazii übersetzte vom Boden aus die königliche Tirade in der Handelssprache; er war wie ein Uhrwerk, das sich nicht anhalten ließ.
»Weißt du, wie ich hier zum Herrscher geworden bin?«, fragte der König. »Eine ganze Dakuscha lang war ich in der Eishöhle eingesperrt, mit fünf weiteren Männern und nichts zu essen. Als einen Mond später die Sonne zurückkehrte und den Eingang schmolz, bin ich herausgekommen. Ich allein!« Als er zu Ende gesprochen hatte, schlug er sich gegen die Brust und stieß einen schweren, fleischigen, tierischen Laut aus.
»Du kannst mich bedrohen, wenn du willst, alter Narr aus dem Norden« – der Alhazii machte eine Pause, als der König innehielt und tief einatmete – »aber heute Abend wirst du leiden, schwer leiden, und morgen früh, wenn ich aufgewacht bin, wirst du uns sehr nützlich sein.«
Die Stammeskrieger packten Asch, aber ihre Hände bebten. Sie zogen ihm die Unterwäsche aus, bis er nackt dastand und in der eisigen Luft zitterte.
»Bitte«, flüsterte der Alhazii vom Boden aus. »Gütige Gnade, du musst mir helfen.«
Der König machte eine zuckende Kopfbewegung, und Asch wurde weggetragen.
Sie gingen mit ihm durch den Vorhang, hinter dem die Kämpfer kurz stehen blieben und sich schwere Felle überzogen, und dann wurde er durch den anschließenden Gang hinaus ins Freie gezerrt.
Draußen zerriss der Sturm noch immer die Nacht. Unter dem Kälteschock wäre Aschs Herz beinahe stehen geblieben.
Der Wind umpeitschte ihn umbarmherzig, stieß ihn genauso grausam voran wie die Krieger und winselte nach seiner Körperwärme, während der Schnee wie Feuer auf seiner bloßen Haut brannte. Schmerz drang ihm bis in die Knochen, in die inneren Organe und ins Herz, dessen hämmernder Schlag vor Unglauben unregelmäßig geworden war.
In wenigen Augenblicken würde er sterben.
Die düster dreinblickenden Männer schleppten ihn durch den Schnee auf die erste der im Kreis stehenden Eishütten zu. Der größte Krieger hatte die Führung übernommen und schlüpfte hinein, während die anderen anhielten. Sie richteten ihre Speere auf Asch und waren bereit zuzustechen, falls es nötig werden sollte.
Asch trat im Schnee von einem Fuß auf den anderen und schlang hilflos die Arme um sich. Langsam drehte er sich und bot zuerst die eine und dann die andere Seite dem Wind dar. Die Männer um ihn herum lachten.
Aus dem Eingang der Schneehütte trat ein Paar mit gebündelten Schlaffellen in den Händen. Die beiden warfen dunkle, verbitterte Blicke auf die Stammeskrieger, aber sie sagten kein Wort, während sie auf eine andere Hütte in der Nähe zutaumelten. Als Nächstes kam der große Krieger heraus und zerrte die Felle, die den Boden der Hütte bedeckt hatten, hinter sich her; dann riss er die Häute ab, die den tunnelartigen Eingang bedeckt hatten.
»Huhm!«, grunzte der Anführer, und die Krieger drängten Asch ins Innere.
Dort war es stockfinster und still, aber die Luft fühlte sich im Vergleich zum Sturm draußen warm an. Allerdings würde Asch ohne Kleidung bald wieder frieren.
Hinter ihm wurde der Eingang mit Eisblöcken versiegelt. Asch hörte, wie Wasser gegen sie geschüttet wurde und wartete reglos, bis er schließlich vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war.
Er trat mit der Fußseite gegen die Hüttenwand, aber es war, als würde er gegen Stein treten.
Asch seufzte. Einen Augenblick lang schwankte er auf den Beinen und wäre beinahe ohnmächtig geworden. In diesem Moment spürte er überdeutlich das erdrückende Gewicht seiner zweiundsechzig Jahre.
Er ging auf dem festgestampften Boden in die Knie und beachtete das Brennen des Eises an seinen Waden nicht. Er musste sich unter Aufbietung all seiner Willenskräfte davon abhalten, die Augen zu schließen, sich hinzulegen und zu schlafen. Wenn er jetzt einschlummerte, würde er nicht wieder aufwachen.
Kalt. Ihm war so kalt, dass er schon befürchtete, vor lauter Zittern auseinanderzufallen. Er blies in die hohlen Hände, rieb sie heftig und schlug mit den stechenden Handflächen gegen seinen Körper. Das machte ihn etwas munterer, also gab er sich etliche Ohrfeigen. Schon besser.
Als er bemerkte, dass er eine Schnittwunde am Kopf hatte, presste er einen Schneeball gegen die Wunde, bis sie nicht mehr blutete. Nach einer Weile gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Die Eiswände wurden heller und schienen von einem schwachen milchigen Licht durchtränkt zu sein.
Asch atmete bewusst aus. Er faltete die Hände und schloss den Mund, damit seine Zähne nicht länger klapperten. Er begann mit einem stillen Mantra.
Bald strahlte sein Innerstes Wärme aus, die langsam, aber stetig durch seine Glieder bis zu den Fingern und Zehen strömte. Dunst stieg aus seiner Gänsehaut auf. Das Zittern verging.
Hoch über seinem kahlen Kopf heulte der Wind durch ein kleines Luftloch in der kuppelförmigen Decke. Er schien nach Asch zu rufen und brachte hin und wieder eine Schneeflocke mit.
Er stellte sich vor, er habe sein schweres Leinwandzelt aufgebaut, kauere nun geschützt vor dem Wind darin und wärme sich an dem kleinen Ölofen aus Messing. Eine Brühe dampfte fröhlich darauf. Die Luft war dunstig und schwer vom Geruch der auftauenden Kleidung und der süßlichen Brühe. Draußen jaulten die Hunde, während sie im Sturm kauerten.
Oschō̄ befand sich bei ihm im Zelt.
»Du siehst schlecht aus«, sagte sein Meister auf Honschu, ihrer gemeinsamen Muttersprache. Sorgenfalten durchfurchten seine alte Haut, die so dunkel wie die von Asch war.
Asch nickte. »Ich glaube, ich bin fast tot.«
»Überrascht dich das, nach allem, was du durchgemacht hast – und noch dazu in deinem Alter?«
»Nein«, gestand Asch und goss ein wenig Brühe in einen Becher, obwohl Oschō̄ ablehnte, indem er den Zeigefinger hob. Asch trank unter lautem Schlürfen. Hitze rieselte hinab in seinen Magen und schenkte ihm neue Kraft. Von irgendwo drang ein Jammern herbei, es klang nach großem Verlangen.
Sein Meister beobachtete ihn aufmerksam.
»Dein Kopf«, sagte er. »Schmerzen?«
»Ein bisschen. Ich glaube, es könnte ein weiterer Anfall bevorstehen.«
»Ich habe dir gesagt, dass es so sein wird, nicht wahr?«
»Ich bin noch nicht tot.«
Oschō̄ runzelte die Stirn. Er blies sich in die Hände und rieb sie.
»Asch, auch du musst am Ende erkennen, dass deine Zeit abgelaufen ist.«
Die Flammen im Ölofen zischten gegen Aschs Seufzen an. Er sah sich um, beobachtete die laut flatternde Zeltklappe, den Dampf, der von der Brühe aufstieg, sein Schwert, das aufrecht gegen seinen ledernen Rucksack lehnte, wie eine Markierung auf einem Grab. »Diese Arbeit … sie ist alles, was ich habe«, sagte er. »Willst du sie mir wegnehmen?«
»Das brauche ich nicht, denn das besorgt allein dein Zustand für mich. Asch, wie viel Zeit bleibt dir deiner Meinung nach, selbst wenn du die heutige Nacht überleben solltest?«
»Selbst wenn mein Dasein keinen Sinn mehr haben sollte, werde ich mich nicht hinlegen und auf das Ende warten.«
»Darum werde ich dich keinesfalls bitten. Aber du solltest zusammen mit dem Orden und deinen Gefährten hier sein. Du hast dir Ruhe verdient und so viel Frieden, wie du noch finden kannst.«
»Nein«, erwiderte Asch erregt. Er wandte den Blick ab und schaute in die Flammen. »Mein Vater ist diesen Weg gegangen, als sich sein Zustand verschlechterte. Er hat sich dem Kummer ergeben, nachdem er blind geworden war, und hat weinend in seinem Bett gelegen und auf das Ende gewartet. Dadurch ist er zum Gespenst seiner selbst geworden. Nein, ich werde die wenige Zeit, die mir noch bleibt, nicht auf diese Weise vergeuden. Ich will aufrecht und nach vorn schauend sterben.«
Oschō̄ tat diese Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Dazu bist du nicht mehr in der Lage. Deine Anfälle werden immer schlimmer. Wegen ihnen kannst du schon seit Tagen nur noch schlecht sehen und dich kaum mehr bewegen. Wie kannst du erwarten, einfach weiterzumachen und eine Vendetta bis zum Ende durchzuführen? Nein, das darf ich nicht zulassen.«
»Du musst!«, brüllte Asch.
Oschō, das Haupt des Ordens der Rōschun, saß still vor der gegenüberliegenden schrägen Zeltwand. Er blinzelte, sagte aber nichts.
Asch senkte den Kopf, atmete tief durch und fasste sich.
Leise drangen die Worte aus seinem Mund, dargeboten wie die Opfergabe auf einem Altar: »Oschō, wir kennen einander länger als eine halbe Lebensspanne. Wir beide sind mehr als nur Freunde. Wir stehen uns sogar näher als Vater und Sohn oder als Brüder. Bitte höre mich an. Ich brauche das.«
Ihre Blicke trafen sich: er und Oschō, umgeben von Leinwand und Wind und tausend Laq schierer Eiswüste; hier in dieser imaginären Zelle aus Wärme, die so klein war, dass sie den Atem miteinander teilten.
»Also gut«, murmelte Oschō̄ schließlich. Asch ruckte vor Überraschung nach hinten.
Er öffnete den Mund und wollte ihm danken, aber Oschō hob die Hand.
»Nur unter einer Bedingung, und über die lasse ich nicht mit mir reden.«
»Sprich weiter.«
»Du wirst endlich einen Lehrling annehmen.«
Ein Windstoß drückte ihm die Leinwand des Zeltes gegen den Rücken. Asch versteifte sich. »Das erbittest du von mir?«
»Ja«, fuhr Oschō̄ ihn an. »Das erbitte ich von dir – so wie du es einmal von mir erbeten hast. Asch, du bist der Beste, den wir haben – besser sogar, als ich selbst je war. Aber in all den Jahren hast du dich stets geweigert, einen Lehrjungen auszubilden und deine Fähigkeiten sowie deine Einsichten weiterzugeben.«
»Du weißt, dass ich dafür meine besonderen Gründe habe.«
»Natürlich weiß ich das! Ich kenne dich besser als jede andere lebende Seele. Hast du etwa vergessen, dass ich dabei war? Aber du warst damals nicht der Einzige, der einen Sohn in der Schlacht verloren hat – oder einen Bruder oder einen Vater.«
Abermals senkte Asch den Kopf. »Nein«, gab er zu.
»Dann wirst du es tun, wenn du diese Sache hier überlebst?«
Noch immer konnte er Oschō̄ nicht in die Augen sehen. Stattdessen war sein Blick erfüllt von der strahlenden Helligkeit, die das Feuer des Ölofens aussandte. Der alte Mann kannte ihn so gut. Für Asch war er wie ein Spiegel – eine lebendige, atmende Oberfläche, die all das zurückwarf, was Asch vor sich selbst zu verbergen versuchte.
»Willst du allein in dieser verlassenen Wildnis sterben? «
Aschs Schweigen war Antwort genug.
»Dann sei mit meinem Angebot einverstanden. Wenn du es bist, verspreche ich dir, dass ich dir hier heraushelfe und du deine Heimat wiedersehen wirst – und dort werde ich dir erlauben, deine Arbeit fortzusetzen, zumindest solange du jemand anderen unterrichtest.«
»Ist das ein bindendes Abkommen?«
»Ja«, sagte Oschō mit Nachdruck zu ihm.
»Aber du bist nicht wirklich. Ich habe das Zelt, in dem wir sitzen, vor zwei Tagen verloren … und du hast mich nicht auf dieser Reise begleitet. Du bist ein Traum. Ein Widerhall. Dein Abkommen ist für mich nicht von Bedeutung. «
»Dennoch sage ich die Wahrheit. Bezweifelst du das etwa?«
Asch starrte in seinen leeren Becher. Die Hitze war aus den metallenen Rundungen gewichen und saugte nun die Wärme aus seinen Händen.
Vor langer Zeit hatte Asch seine Krankheit und deren unausweichliche Auswirkungen akzeptiert. Er hatte sie genauso hingenommen wie die Tatsache, dass er für seine Arbeit hin und wieder Leben auslöschen musste – nämlich mit einer gewissen Schicksalsergebenheit. Vielleicht waren seine Anflüge von Melancholie ein Ausfluss dieser vorteilhaften Haltung. Das Innerste des Lebens war süß und bitter zugleich, ohne eine andere Bedeutung als die, welche man ihm zuschrieb: Gewalt oder Frieden, richtig oder falsch, jede Wahl, die man traf, aber nichts darüber hinaus – sicherlich besaß es keinerlei grundlegende Auswirkungen auf ein Universum, das selbst vollkommen neutral war und nur immer das Gleichgewicht der Kräfte suchte, während es sich auf ewig aus den zahllosen Möglichkeiten des Dao entwickelte. Er lag im Sterben, und mehr war dazu nicht zu sagen.
Aber er wollte nicht, dass sein Leben hier auf dieser kahlen Ebene endete. Er würde gern die Sonne wiedersehen und mit offenem Mund und weit geöffneten Augen ihre Wärme genießen. Er würde gern die durchdringenden Düfte des Lebens einatmen, die kühlen jungen Grashalme unter seinen Sohlen spüren, dem Gurgeln des Wassers über den Felsen lauschen. Und hier, in seinem Traumbild, war Oschō̄ eine Schöpfung dieses Verlangens. In jenem Augenblick wagte Asch nicht zu hoffen, dass er mehr sein könnte.
Er schaute auf. »Selbstverständlich bezweifle ich das«, antwortete er auf die Frage seines Meisters.
Aber Oschō war bereits verschwunden.
Es war ein langsam eindringender und Übelkeit verursachender Schmerz, der ihn nun überkam und unter dem sein Blick unscharf wurde. Der Kopfschmerz schloss sich mit eisernem Griff fester um die Schläfen.
Er zerrte Asch aus seinem Delirium.
Asch blinzelte in der Dunkelheit der Eishöhle. Sein nackter Körper zitterte unkontrolliert. Winzige Eiskristalle hingen an seinen Wimpern. Er wäre beinahe eingeschlafen.
Kein Laut drang durch das Loch im Dach. Der Sturm hatte endlich aufgehört. Asch hielt den Kopf schräg und lauschte. Ein Hund bellte, andere fielen ein.
Er stieß die Luft aus.
»Eine letzte Anstrengung«, sagte er.
Der alte R̄ōschun kämpfte sich auf die Beine. Seine Muskeln schmerzten, und sein Kopf schien sich vor Schmerzen zusammenzuziehen. Dagegen konnte er nichts unternehmen, denn man hatte ihm zusammen mit allem anderen auch seinen Beutel mit den Dulceblättern abgenommen. Doch bisher war es kein ernster Anfall, unvergleichbar jenen, die er auf der langen Reise nach Süden erlitten hatte und deren rasende Qualen ihn tagelang an seine Schlafstätte gefesselt hatten.
Asch stampfte mit den Füßen auf und schlug gegen seinen Körper, bis ein gewisses Gefühl in ihn zurückkehrte. Er sog heftig und schnell die Luft ein und wurde mit jedem Atemzug stärker, und mit jedem Ausatmen reinigte er sich von Erschöpfung und Zweifel.
Er hauchte in die Hände, klatschte zweimal und sprang hoch. Er steckte eine Hand durch den Luftschacht und hielt sich fest, so dass seine Beine in der Luft hin und her pendelten. Mit der anderen Hand hämmerte er gegen das Eis in der Umgebung des Lochs, wobei er jedes Mal ein leises »Hu!« ausstieß, das mehr ein Keuchen als ein richtiges Wort war. Jeder Schlag sandte unerträgliche Schockwellen durch seine Armknochen.
Zuerst geschah nichts. Abermals schien es ihm, als schlage er gegen Stein.
Nein, auf diese Weise würde er nichts erreichen. Also dachte er an schmelzendes Eis, das einen Teich überzog und dessen Kruste so dünn war, dass sie bald brechen würde. Während die Luft pfeifend durch seine Nase austrat, wurde ihm schwindlig, und es fiel ihm noch schwerer, sich zu konzentrieren.
Schließlich brach ein Eisstück ab. Er ließ es zu, dass ihn ein Gefühl des Triumphes durchströmte, doch er hielt nicht in seinen Bemühungen inne. Weitere Eissplitter lösten sich, und schließlich regneten sie auf sein Gesicht herab. Er schloss die Augen und blinzelte den Schweiß fort. Bluttropfen fielen ihm auf die Stirn und zu Boden und gefroren, bevor sie in das Eis eindringen konnten.
Asch schnaufte heftig, bis er schließlich ein so großes Loch geschaffen hatte, um einen Teil des Nachthimmels sehen zu können. Einen Moment lang stellte er seine Bemühungen ein, hing einfach nur da und holte Luft.
Je länger dieser Moment wurde, desto schwerer fiel es ihm, sich wieder an die Arbeit zu machen. Mit einem angestrengten Ächzen wuchtete er sich durch die Öffnung und scheuerte sich dabei die nackte Haut auf.
In der Ansiedlung schien alles ruhig zu sein. Der Himmel war ein schwarzes Feld, besät mit Sternen, die so klein und leblos wie Diamanten waren. Asch glitt zu Boden, hockte knietief im Schnee und schaute nicht zurück auf den Streifen aus Blut, der nun an der Kuppeldecke der Eishütte klebte.
Asch schüttelte den Kopf, damit er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, und versuchte sich zu orientieren. Überall um ihn herum standen Eishäuser, die halb in Schneewehen versunken waren. Kleine Hügel bewegten sich dort, wo die Hunde schliefen. In der Ferne bereitete eine Gruppe von Männern einen Schlitten für die morgendliche Jagd vor; keiner von ihnen bemerkte die Gestalt, die sie gelassen in der Dunkelheit beobachtete.
In gebückter Stellung lief Asch auf die Eisfestung zu; seine nackten Sohlen verursachten knirschende Geräusche auf der frischen Schneekruste.
Das Gebäude hob sich immer deutlicher vor den Sternen ab, je näher Asch ihm kam.
Er wurde nicht langsamer, rannte auf den Eingangstunnel zu und huschte zwischen den Vorhängen in den Gang dahinter. Er schreckte die beiden Stammeskrieger auf, die neben einer brennenden Kohlenpfanne Wache standen. Es war eng hier, und Asch konnte sich nicht frei bewegen. Er rammte die Stirn geradewegs in das Gesicht des einen Wächters, brach ihm die Nase und schickte den völlig Verblüfften zu Boden. Schmerz zuckte durch Aschs Kopf, und beinahe hätte der andere Wächter ihn mit einem Speerstoß erwischt. Asch duckte sich gerade noch rechtzeitig und spürte, wie die geschnitzte Knochenspitze über seine Schulter glitt. Ersticktes Ächzen war zu hören, dann das Schlagen von Fleisch gegen Fleisch, als Asch das Knie in die Weichteile seines Gegners rammte und ihm die Fingerknöchel in den Hals bohrte.
Asch schritt über die beiden am Boden liegenden Körper hinweg und kniff die Augen zusammen, als er sich in das Innere wagte.
Er stand in einem engen Gang. Vor ihm lag die Haupthalle, deren Eingang mit Häuten verhangen war. Dahinter schien alles ruhig zu sein. Nein, nicht ganz. Er hörte von dort ein Schnarchen.
Mein Schwert, dachte Asch.
Er schoss nach links durch eine andere Öffnung. Sie führte in einen kleinen, verräucherten Raum, der nur von einer kleinen Kohlenpfanne in der Ecke erhellt wurde. Das fettig glänzende Gezweig, das darin brannte, warf einen roten Schein, der den Raum nur in einem Umkreis von wenigen Fuß erhellte; dahinter lag Düsternis.
Neben der Kohlenpfanne stand ein Feldbett, auf dem ein Mann und eine Frau eng aneinandergeschmiegt schliefen. Asch war nichts als ein finsterer Schatten, als er zur gegenüberliegenden Wand huschte, gegen die seine Ausrüstung lehnte. Alles war noch da.
Er durchstöberte seine Felle, bis er den kleinen Beutel mit den Dulceblättern gefunden hatte. Er nahm eines heraus, überlegte es sich anders, nahm noch zwei weitere und stopfte sich die braunen Blätter in den Mund zwischen Wange und Zähne.
Kurz sackte er gegen die Wand, kaute und schluckte den bitteren Geschmack herunter. Der Schmerz in seinem Kopf wich ein wenig.
Seine Felle beachtete er nicht weiter. Der Stahl glänzte auf, als er sein Schwert aus der Scheide zog. Das Paar schlief noch immer, als er zurück zum Eingang der Haupthalle schlich.
Licht ergoss sich aus einem Spalt unter den Vorhängen auf seine nackten Zehen. Mit geöffnetem Mund holte Asch tief Luft, stieß sie durch die Nase wieder aus und trat hinter den Vorhang. Noch immer war er so nackt wie die Klinge, die er in der Hand hielt.
Der König schlief auf seinem Thron am anderen Ende der Halle. Seine Männer lagen zusammengeklumpt vor ihm auf dem Boden, einige hielten ihre Frauen umarmt. Neben dem Eingang stützte sich ein Stammeskrieger im Halbschlaf auf seinen Speer.
Nun zitterte Asch nicht mehr. Er war in seinem Element, und er trug die Kälte beinahe wie einen Mantel. Er hatte keine Angst – Angst war für ihn nur noch eine ferne Erinnerung, so alt wie sein Schwert. Kurz bevor er zuschlug, schärften sich all seine Sinne. Er bemerkte einen Eiszapfen an der Decke über einer Kohlenpfanne, in der es jedes Mal zischte, wenn ein Tropfen in die Flammen fiel; er nahm den durchdringenden Geruch von Fisch, Schweiß, brennendem Fett und von etwas anderem, Süßem wahr, das ihm den Magen umdrehte. Er spürte, wie seine Muskeln in steigender Vorfreude sangen.
Der Wächter hatte eine Bewegung bemerkt und regte sich, bis er ganz wach war. Der Stammeskrieger bemerkte gerade noch, wie Asch ihn mit blutigem Gesicht und gebleckten Zähnen ansprang. Die Klinge fuhr auf ihn zu. Sie durchschnitt die rauchige Luft und begegnete in der Brust des Mannes nur geringem Widerstand. Er keuchte einen Schrei aus, während er fiel.
Doch das genügte, um die anderen zu wecken.
Die Stammeskrieger griffen nach ihren Speeren und kämpften sich auf die Beine. Ohne den Befehl dazu erhalten zu haben, stürmten sie von allen Seiten auf Asch zu.
Er zersprengte sie, als ob sie Kinder wären. Er schlachtete jeden Krieger ab, der den Pfad seiner Klinge kreuzte, und war sich dabei seiner selbst völlig unbewusst. Er war das Schweigen inmitten des Aufruhrs, seine Bewegungen wurden ausschließlich von dem Instinkt angetrieben, vorwärtszukommen, und seine Hiebe und Stiche und Schwünge befanden sich im natürlichen Einklang mit seinen Schritten.
Noch bevor der letzte Stammeskrieger gefallen war, hatte Asch den Thron erreicht. Hinter ihm stieg ein Nebel aus den blutenden Leichnamen am Boden auf.
Der König saß zitternd vor Wut da und drückte die Hände gegen die Knochenarme des Stuhls, als ob er aufzustehen versuchte. Er war betrunken; der Gestank des Alkohols lag dick in seinem Atem. Sein Brustkorb hob sich, als ob er nach Luft ränge, und Speichel drang ihm aus den geöffneten Lippen, während er mit halbgeschlossenen Augen den R̄ōschun betrachtete, der vor ihm stand.
Er sieht aus wie ein wütendes Kind, dachte Asch, dann vertrieb er diesen Gedanken.
Asch wischte das Blut von seiner Klinge und setzte die Spitze unter das Kinn des Königs. Der König atmete sichtbar schneller.
»Ha!«, rief Asch und drückte, bis die Klinge die Haut ritzte und den König zwang, den Kopf zu heben, so dass sich ihre Blicke begegneten.
Der König schaute hinunter auf das Schwert, das gegen seine Kehle gepresst war. Ein Blutrinnsal floss ohne jeden Widerstand durch eine Vertiefung in der Klinge – wie Wasser über eine eingeölte Leinwand. Er sah Asch an, und unter seinem linken Auge zuckte ein Muskel.
»Akuzhka!«, spuckte der König aus.
Mit einer plötzlichen Bewegung drang ihm die Klinge bis ins Hirn. Im einen Moment hatte noch der Hass in seinem Blick geglitzert, im nächsten war alles Leben daraus gewichen.
Asch richtete sich auf und rang nach Luft. Dampf stieg um den Thron herum auf, als sich der Inhalt der königlichen Blase plötzlich auf den Boden entleerte.
Asch nahm das Siegel vom Hals des Königs und legte es sich um. Dann, als wäre es ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen, schloss er die Augen des Mannes.
Als Nächstes begab er sich zu der hölzernen Truhe an der Wand und öffnete sie. Er hob den Alhazii heraus, der darin eingerollt gelegen hatte.
»Ist es vorbei?«, krächzte der Mann und packte Asch so fest, als wollte er ihn nie wieder loslassen.
»Ja«, war die ganze Antwort, die Asch ihm gab.
Dann gingen sie fort.