KAPITEL VIER
Flaggen der Eroberung
»Ich bin hungrig«, beschwerte sich der junge Priester Kirkus.
Die Frau, die ihm gegenüber auf dem Diwan lag, schenkte ihm ein breites Lächeln, das ihre verwitterten Gesichtszüge beinahe spaltete, und entblößte dabei ebenmäßige Zähne, die nicht ihre eigenen waren. »Gut«, schnurrte die alte Priesterin, während sie mit einem bemalten Fingernagel in spiralförmigen Bewegungen über ihren glänzenden Kugelbauch fuhr und den Verlauf alter Runzeln bis zu ihrem Goldring im Nabel nachzog. »Das Fleisch ist stark, Kirkus. Aber es wird erst dann wirklich göttlich, wenn es im Einklang mit dem Willen handelt. Verleugne deinen Hunger. Wenn du das nächste Mal isst, dann tust du es, weil dein Wille es genauso entschieden hat wie dein Bauch. Auf diese Weise maximieren wir unseren Appetit, so dass er wahre Macht erlangt. Und so erheben wir uns zu Mhann.«
»Allmählich langweilst du mich«, brummte Kirkus verärgert. »Du bietest mir nichts als Predigten, die ich schon tausendmal gehört habe.«
Ihr Kichern erinnerte ihn an trockenes Papier, das absichtlich zertreten wird. Sie kicherte weiter, während sie ihren knochigen Körper auf dem Diwan drehte und den nackten, faltigen Rücken der Sonne entgegenhielt. Das Geräusch ihres Lachens ergoss sich über den Rand der Reichsbarke, versank zwischen den plätschernden, langsamen Bewegungen der Ruder in den braunen Wassern des Toin und verblasste allmählich am fernen schlammigen Ufer, an dem sich ein Krokodil regte und in den trägen Strom glitt, wobei es kurz im Sonnenlicht aufglitzerte.
Plötzlich biss sie die Zähne zusammen.
»Ich glaube, du hast dich vergessen, junger Mann, nicht wahr? Du bist noch nicht ganz trocken hinter den Ohren und siehst dich schon als den nächsten Heiligen Patriarchen. Sehr gut, aber wir befinden uns in der Zwischenzeit auf dem Weg des großen Fortgangs, und es ist meine Aufgabe, dich zu unterrichten, bis du dich des Glaubens als würdig erweist. Du musst diese Dinge wissen … und mehr als nur wissen. Du musst sie auch fühlen, und zwar tief in deinen Eingeweiden.«
»Da fühle ich sie schon«, fuhr er sie an. »Genau das ist das Problem, du alte Vettel.«
In ihrem Blick lag wohl abgewogene Wertschätzung. Kirkus wusste, dass er ihr Lieblingsschüler war, und wenn sie ihn so ansah, wirkte sie auf ihn manchmal wie eine besessene Bildhauerin, die seit Jahren in einer Dachkammer eingesperrt war und ihr letztes kostbares Werk allzu gierig und verzehrend betrachtete. Kirkus wandte den Blick von diesen hungrigen Augen ab und war ein wenig angeekelt. Er warf der Sklavin hinter seinem eigenen Diwan einen Blick zu. Sie fächelte ihm an diesem Ort, der durch Stellwände vom Rest des Schiffsdecks abgetrennt war, mit Straußenfedern Kühlung zu. Sie war ein dünnes nathalesisches Mädchen mit roten Haaren, die ihr bis auf die kleinen, festen Brüste hingen. Ihre zerstörten Augen waren hinter einem Schal aus pfirsischfarbener Seide verborgen, ihre Hände steckten in weißen Handschuhen, damit sie nicht unbeabsichtigt die göttliche Haut derer von Mhann berührten. Appetit, dachte Kirkus träge, als er ihre geschmeidige Haut betrachtete und zusah, wie sie sich im regelmäßigen Rhythmus ihrer Bewegungen dehnte. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie es wohl wäre, wenn er sie jetzt und hier auf dem Deck nähme – dieses blinde und taube Mädchen, dem nur der Tastsinn und damit die Erfahrung von Schmerz und Vergnügen geblieben war. Bei dem Gedanken daran setzte plötzlich eine körperliche Reaktion bei ihm ein.
»Geduld«, verkündete die alte Priesterin fröhlich. Ihre Aufmerksamkeit war allzu deutlich auf den Beweis seiner unvermittelten Begeisterung gerichtet. »Zum Mittag legen wir in der nächsten Stadt an. Ich bin sicher, dass du von ihr gehört hast. Sie heißt Skara-Brae.«
Kirkus nickte. Darüber hatte er im Zuge seiner Studien in Valores kürzlich erschienenem Bericht über das Reich gelesen und wollte eine weitere Lektion der Priesterin vermeiden.
»Wir werden noch ein paar Spielzeuge für deine Initiation finden. Und danach werden wir den Hohepriester der Stadt besuchen und zur vollen Zufriedenheit unserer Mägen essen und trinken.«
»Ich sehne mich nicht bloß nach etwas zu essen«, bemerkte er mürrisch und schenkte der Sklavin einen weiteren eindringlichen Blick.
»Du armes, schwaches Kind; am Ende wird es alle Entbehrungen wert sein. Habe Vertrauen in eine alte Frau, die nur das Beste für dich will.«
Sie schaute kurz auf den Fluss hinaus, und ihre Züge entspannten sich bei irgendeiner fernen Erinnerung, vielleicht an ihre eigene Initiation als Priesterin. Plötzlich huschte ein Ausdruck von Jugendlichkeit über ihr Gesicht, als ob sie sich glänzender Zeiten entsinnen würde. »In der Nacht der Erwählung«, sagte sie, während sie noch auf den Fluss schaute, »wirst du so kurz vor dem Zerspringen stehen, dass du erfahren wirst, was es heißt, göttlich zu sein, wenn du diese Begierden endlich entfesseln darfst.«
Noch eine Predigt, dachte Kirkus. Aber er schluckte seine Verärgerung herunter und gab ein zustimmendes Grunzen von sich, bloß um sie zum Schweigen zu bringen. Sollte sie doch ihre hohlen Weisheiten genießen, dachte er. Ihr war nichts anderes mehr geblieben – weder Schönheit noch wirkliche Macht am Hof seiner Mutter.
Kirkus versuchte an andere Dinge zu denken. Er betrachtete das Wasser und das ferne Ufer und hielt nach etwas Ausschau, das seinen schweifenden Blick zu fesseln vermochte. Doch da gab es nur Vögel und umherschwirrende Insekten und gelegentlich ein schwarzweiß gestreiftes Zel, das am Rande des Wassers trank. Das alles langweilte ihn sehr. Seit zwölf Tagen befand er sich auf diesem stinkenden, träge dahinfließenden Strom im Hinterland des Reiches – und dem waren zehn Monate des Reisens und Besichtigens vorausgegangen –, und nie war ihm in dieser ganzen Zeit erlaubt worden, frei und nach seinen eigenen Bedürfnissen zu handeln.
Aber was sollte er tun? Diese alte Schachtel war schließlich seine Großmutter.
Der Toin war einer der großen Flüsse im Midères. Er entsprang im Hochland des mächtigen Aradèrē̄s-Gebirges und war zunächst lediglich ein rasch dahinfließender Bach, in den jedoch bald etliche Nebelflüsse mündeten, bevor er in den Vogelsee stürzte und sich von dort als immer mächtigerer Strom weiterwälzte. An manchen Stellen war er mehr als ein Laq breit. Der Fluss war die wirtschaftliche Lebensader von Nathal, und alle größeren Städte des Landes lagen an seinem Verlauf.
Die Nathaleser waren eine stolze Nation. Nie waren sie von ihren Nachbarn erobert worden – weder von Serat im Westen noch von Tilana und Pathia im Osten. Seit tausend Jahren blühte ihre Kultur ununterbrochen und hatte große Leistungen in Philosophie, Wissenschaft und Kunst hervorgebracht. Der Daoismus war zu ihnen gedrungen, und sie hatten ihn genauso vereinnahmt wie alle neuen Ideen und Gedanken und ihn den vielen anderen Glaubensrichtungen hinzugefügt, die in ihrem Land gediehen und ausgeübt wurden.
Aber inzwischen war es kein so stolzes Volk mehr. Vor fünfzehn Jahren war ihre geliebte Unabhängigkeit unter den nietenbeschlagenen Stiefeln des Heiligen Reiches von Mhann zertrampelt worden. Eine Weile hatten sie einen Guerillakrieg gegen die Besatzer geführt, doch auch diese kleinen Feuer des Widerstands waren schließlich ausgelöscht worden. Die Kreuzigung ganzer Dörfer als Vergeltung für die Rebellionen hatte sogar den stolzesten Nathaleser unterwürfig gemacht. Nun war Nathal nur noch eine weitere Provinz im Heiligen Reich. Wie alle anderen unterlegenen Nationen wurde es von einer Hierarchie aus Priestern von Mhann verwaltet, die überlieferten Glaubensrichtungen waren verboten und alle Weltanschauungen, die nicht im Einklang mit dem göttlichen Fleisch standen, unbarmherzig ausgemerzt worden.
Als die verschwenderische Reichsbarke schließlich in den Hafen von Skara-Brae einlief, sah die Wasserfront der Stadt genau so aus wie jede andere Siedlung innerhalb des Reiches. Übergroße Aushängeschilder schmückten die Fassaden alter und neuer Häuser und bewarben Güter und Dienstleistungen für all jene, welche die Handelssprache lesen konnten, während vor den Lagerhäusern Meuten von Arbeitslosen warteten und auf eine Beschäftigung für den heutigen Tag hofften, und fette Patrizier unter dem Schutz ihrer Leibwächter das Be-und Entladen ihrer kostbaren Frachten überwachten. Prostituierte und Bettler lungerten in den schattigen Öffnungen der Gassen herum; viele von ihnen waren krank, weil sie ihre tägliche Dosis Schlack nicht bekommen hatten. Überall waren kaiserliche Hilfskräfte zu sehen, die in der Hauptsache aus der örtlichen Bevölkerung stammten und die öffentliche Ordnung aufrechterhielten. Sie trugen weiße Lederrüstungen und hatten die harten, misstrauischen Mienen derjenigen, die von den eigenen Mitbrüdern verachtet wurden.
Wie laut die Nathaleser auch nach Unabhängigkeit rufen mochten, so war doch die Besatzung durch das Reich in einer Hinsicht für sie gut gewesen. Vor fünfzehn Jahren war der Warenaustausch in diesem Hafen genauso träge gewesen wie der Fluss selbst. Doch jetzt florierten die Geschäfte.
Als die Barke vertäut war, senkte sich Schweigen über die Kaianlagen. Sechzig tropfende Ruder fuhren gleichzeitig in die Höhe. Eine Abordnung von Akolyten marschierte als Erste von Deck, bewaffnet mit Speeren und Langschwertern und gelegentlich auch mit einem Gewehr. Sie trugen schwere Kettenhemden, die ihnen bis auf die Knie hingen und in dieser Hitze sehr unangenehm zu tragen waren, obwohl die männlichen und weiblichen Kriegerpriester keine Anzeichen von Unbehagen zeigten. Ihre Gesichter wurden von weißen, ausdruckslosen Masken bedeckt, die lediglich vereinzelte Löcher zum Atmen und Sehen aufwiesen, und über den Kettenhemden trugen sie die eindrucksvollen dünnen weißen Roben des Ordens, deren Kapuzen ihre Köpfe bedeckten und die mit verschlungenen Mustern aus weißen Seidenfäden bestickt waren, in denen sich das Sonnenlicht auf zarte, immer neue Weise widerspiegelte. Aus ihren Reihen löste sich sofort ein Läufer und rannte mit Nachrichten für den Hohepriester und Gouverneur in die Stadt. Dieser würde heute Abend Gäste zum Essen haben, ob es ihm gefiel oder nicht.
Die Akolyten drängten sich mit der Zuversicht von Fanatikern, die nur zu einem einzigen Zweck geboren und erzogen waren, durch die Menschenmenge, drückten die Bürger zurück und bildeten einen großen, offenen Kreis. Sobald dieser eingerichtet war, zwangen sie diejenigen, die ihm am nächsten standen, auf die Knie. Die örtlichen Hilfskräfte folgten allmählich ihrem Beispiel und pressten alle anderen einschließlich der Kinder und reichen Kaufleute zu Boden, bis die einzigen Personen, die noch aufrecht standen, die Akolyten selbst waren.
Als das geschehen war, erschienen zwei Priester auf einer Sänfte, die von zwölf Sklaven getragen wurde. An den Hälsen waren sie durch vergoldete Ketten miteinander verbunden. Um die Priester stellten sich die Akolyten in mehreren Reihen auf, während einige hundert Gesichter gefügig zu Boden schauten oder aus den Augenwinkeln heraus einen Blick auf jene Wesen zu erhaschen versuchten, die von sich selbst behaupteten, Gottheiten zu sein. Sie sahen nicht viel: nur zwei Gestalten, die sich auf der Sänfte zurücklehnten, deren Gesichter mit goldenen Masken bedeckt und deren Köpfe glänzend kahlgeschoren waren.
Mit einem lauten Ruf setzte sich die Prozession zu den ruhigeren Straßen der Stadt in Bewegung und durchbrach die Stille durch das Getrappel von Nietenstiefeln auf dem Pflaster sowie einen gelegentlichen gebellten Befehl des Hauptmanns der Akolyten. An der Spitze schritt ein einzelner junger Mann, der das kaiserliche Banner trug, auf dem die rote Hand von Mhann abgebildet war. Wieder teilten sich die Akolyten auf und zwangen die Schaulustigen allein oder zu zweit grob zu Boden.
»Hauptmann«, sagte Kira, die Großmutter, leise zum Kommandanten der Wachen, »lass es fürs Erste gut sein. Wir können sie nicht sehen, wenn sie alle auf dem Bauch liegen.«
Der Hauptmann nickte und gab den Befehl weiter.
Die beiden Priester auf der Sänfte trugen die gleichen weißen Roben wie die Akolyten. Sie lagen bequem und knabberten gelegentlich durch die engen Schlitze ihrer Masken an einer Trockenfrucht. Das war alles, was Kirkus augenblicklich essen durfte. Erregung glitzerte in ihren Augen, denn seit ihrem letzten Ausflug in eine nathalesische Stadt waren zwei Tage vergangen, und sie beide brauchten dringend die Ablenkung, die ihnen dieser Ort bieten würde.
Es war Kirkus, der zuerst etwas bemerkte, das seine Aufmerksamkeit fesselte: ein junges Mädchen mit schmutzigen nackten Füßen, das Kisch-Spieße aus einem Korb verkaufte.
Die alte Priesterin sah ihren jungen Schützling an; ihr war sein Interesse nicht entgangen. Abwartend beobachtete sie ihn, bis sich Kirkus räusperte.
»Die da«, befahl er und zeigte mit dem Finger auf das Mädchen. Der Hauptmann gab ein Kommando, und eine Gruppe löste sich aus der Vorhut und umzingelte sie rasch. Die Männer warfen ihren Korb zu Boden und trugen die sich Wehrende zum Ende der Prozession. Diejenigen Zuschauer, die sich noch auf den Beinen befanden, stießen aufgeregte Rufe aus. Einige wollten dem Mädchen sogar helfen, aber andere hielten sie zu ihrem eigenen Besten und dem der ganzen Stadt davon ab.
Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie die Akolyten das weinende Mädchen, das sich verzweifelt nach Hilfe umsah, in Ketten legten. Die Blicke der stillen Einwohner wurden noch trotziger; das war der einzige Protest, der ihnen verblieben war. Doch selbst dieser dauerte nicht lange an.
Nun war Kira, die Großmutter, an der Reihe. Mit einem Fingerschnippen jagte sie die Akolyten auf die feindseligen Einwohner los. Sofort flohen sie vor diesem plötzlichen Gewaltausbruch in alle Richtungen, während die Kriegerpriester einzelne Personen aus dem Aufruhr herauszerrten.
»Wunderbar«, höhnte Kirkus. »Jetzt hast du unsere Beute vertrieben.«
»Es ist eine große Stadt. Sie hat viele Straßen.«
Natürlich hatte sie Recht. Andere Straßen in anderen Stadtteilen würden ruhiger als jene sein, durch die die Prozession gezogen war. Aber sicherlich hatte sich die Nachricht bereits verbreitet, denn die Straßen waren leerer als erwartet. Dennoch gingen die Bewohner hier und da ihren Geschäften nach. Vielleicht hielten sie die Gerüchte für übertrieben, oder sie wollten sich einfach nicht auf ihrem eigenen Grund und Boden herumjagen lassen. Inzwischen schaute niemand mehr die vorbeiziehende Prozession direkt an.
»Hast du etwas Interessantes gesehen, mein Kind?«
Kirkus schüttelte den Kopf hinter der scharf konturierten Maske. Aber er betrachtete seine Umgebung fasziniert, taxierte jeden, den er sah, und wartete auf etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte.
Als er das junge Mädchen ansah, das nun in Ketten am Ende der Prozession marschierte, meinte Kira nachdenklich: »Manchmal frage ich mich, ob wir mit der Errichtung des Reiches nicht gleichzeitig etwas verloren haben. Mir zumindest scheint es so. Für jeden Gewinn gibt es einen Verlust. Und für jeden Verlust einen Gewinn. Früher waren wir auf Heimlichkeit und Verrat angewiesen: auf Betrunkene, die von der Taverne nach Hause taumelten, auf Straßenkinder, die spät abends noch auf den Beinen waren oder auf unvorsichtige Reisende. Aber das ist lange her. Ich habe den Eindruck, dass es damals besser war.«
Kirkus hörte ihr kaum zu. Noch immer sah er sich aufmerksam um – und wartete – und wartete.
Die Sänfte hielt schließlich auf einem lauten Marktplatz an. Kirkus wusste, dass das hier das Stadtzentrum war, denn wo sonst konnte man erwarten, einen rostfarbenen, einhundert Fuß hohen Stachel aus dem Steinpflaster aufragen zu sehen? Er starrte den großen Pfahl an, der sich hoch über den Marktplatz erhob.
Seine Großmutter bemerkte Kirkus’ Verwunderung. »Das war Mokabis Idee«, begann sie. »Nachdem die Stadt gefallen war, hat er…«
»Ich weiß.«
Die Passanten schienen dem Monument wenig Aufmerksamkeit zu schenken, während sie ihren eigenen Angelegenheiten nachgingen. Er sah Blumengebinde um das fleckige Podest, an dem Soldaten Wache standen und die Menge beobachteten.
Die Stadt Skara-Brae war die letzte nathalesische Festung gewesen, die bei der Dritten Eroberung gefallen war. Hano, die junge Königin von Nathal, die gleichzeitig ein militärisches Genie gewesen war, hatte auf dem Feld eine Niederlage erlitten und war mit den Resten ihrer Streitkräfte hierher nach Skara-Brae geflüchtet. Erzgeneral Mokabi, der Oberbefehlshaber der Vierten Armee, war ihr nachgejagt, hatte die Stadt belagert und gefordert, dass die Tore geöffnet wurden, ansonsten würde er alle Einwohner umbringen lassen. Es hieß, dass die junge Königin ihm daraufhin angeboten hatte, sich selbst an ihn auszuliefern, aber ihre Soldaten und die Bewohner der Stadt hatten sie nicht gehen lassen. Für diesen Widerstand hatten sie einen schrecklich hohen Preis gezahlt.
Als die Stadt endlich und unter großen Verlusten der Vierten Armee gefallen war, entschied Erzgeneral Mokabi, ein Fest für die Eroberungstruppen zu feiern, die während des Feldzuges so große Entbehrungen erlitten hatten. Zuerst wurde die Stadt in ein Bordell verwandelt, und alle, die nicht oder nicht mehr gewünscht waren, wurden umgebracht. Dann ordnete der General einer plötzlichen Eingebung folgend an, die Rüstungen all seiner Männer, die während der Belagerung gestorben waren, einzuschmelzen und daraus einen großen Stachel zu schmieden. Am Ende war er einhundert Fuß hoch und erhielt ein Fundament aus Beton. Er sollte auf dem Marktplatz errichtet werden, damit jedermann ihn sehen konnte, wurde aber zunächst in die Horizontale gelegt.
In der fünften Nacht nach dem Fall der Stadt zwangen die Soldaten des Erzgenerals in einer Orgie der Trunkenheit und Ausschweifung die besiegten Offiziere und die Anführer der Stadt einen nach dem anderen, zur Spitze des Stachels zu gehen. Sie wurden dagegen gepresst und horizontal gepfählt; Männer und Frauen wurden hintereinander durchbohrt, bis der Eisenstachel vollständig mit ihnen bedeckt war. Die meisten starben dabei. Auf die Spitze wurde Hano selbst gesteckt.
Auf den Befehl des Erzgenerals und mit einem herausgebrüllten Salut an die besiegte Königin – zumindest berichtete Valores es so – wurde der mit Leichen gespickte Stachel von dreihundert versklavten Einwohnern aufgerichtet, damit er als ewiges Monument der Eroberung diente.
Das war eine mitreißende Geschichte, und als Kirkus Jahre später schließlich Mokabi auf einer Geburtstagsfeier für Kirkus’ Mutter, der Heiligen Matriarchin, begegnet war, hatten ihm die Worte gefehlt, als sich der alte Mann freundlich nach dem Fortgang seiner jugendlichen Studien erkundigt hatte. Kirkus war in der Gegenwart dieser lebenden und atmenden Legende von Ehrfurcht ergriffen worden. Doch da war noch etwas gewesen, etwas Unterschwelliges, das seine junge Zunge gelähmt hatte, als er vor dem Erzgeneral gestanden hatte, und das ihn einige schlaflose Nächte im Tempel des Wisperns gekostet hatte. Denn als der junge Kirkus die große Hand des Mannes ergriffen hatte, war er über irgendetwas an dieser fleischigen, kühlen und ein wenig schweißfeuchten Berührung entsetzt gewesen. Plötzlich waren all die Geschichten über die Heldentaten des Generals mehr als bloße Wörter auf einer Buchseite gewesen. Dieser Mann, dessen Hand so lebendig in seiner eigenen gelegen hatte, hatte den Tod von Tausenden Menschen befohlen – nicht nur von besiegten Soldaten, sondern auch von Frauen und Kindern, von alten Männern und Neugeborenen. In diesem Augenblick hatte sich Kirkus durch die Berührung abgestoßen gefühlt, als ob ihn der bloße Handschlag mit etwas Schrecklichem und Verdorbenem infiziert hätte. Danach hatte er sogar geglaubt, Blut an seinen Händen zu riechen. Wie sehr er sie auch waschen mochte, immer roch er den schwachen metallischen Geruch, wenn er nachts allein mit seinen Gedanken im Bett lag.
Dieses Gefühl war erst nach seinem vierzehnten Geburtstag vergangen, als es ihm erlaubt worden war, das Bett mit seinen Tempelfreunden zu teilen: mit Brice und Asam, aber nach einer Weile hauptsächlich mit Lara. Angesichts solch berauschender neuer Erfahrungen vergaß er den eingebildeten Geruch von Blut an seinen Händen. Während derselben Zeit hatte er verstärkt Unterweisungen in den Ritualen von Mhann erhalten. Er hatte seine erste Reinigung durchgemacht. Seine Mutter hatte ihm erlaubt, die Intrigen und Verantwortung, die ihre neue Position nach der Thronbesteigung mit sich brachten, immer eingehender zu beobachten. Mit der Zeit verlor Kirkus seine Empfindsamkeit. Er lernte, die Notwendigkeit einer rücksichtslosen Tat und die grundlegende Selbstsüchtigkeit des Mitleids anzuerkennen. Und wenn ihn bei seltenen Gelegenheiten wieder einmal ein Gefühl der Verderbtheit überkam – wenn er zum Beispiel eine schmierige Türklinke oder ein Weinglas anfasste, das mehrere Freunde miteinander geteilt hatten, oder wenn er in ein Bad stieg, dessen Wasser zuvor von anderen benutzt worden war –, zog er sich immer erst in die Abgeschiedenheit seiner Gemächer zurück, bevor er dem Drang nachgab, seine Haut so stark zu scheuern, bis sie blutete. Schließlich war er ein geweihter Priester von Mhann und der Erste in der Thronfolge. Er durfte es sich nicht erlauben, schwach zu erscheinen.
»Kommst du?«, fragte seine Großmutter, als sie von der Sänfte kletterte.
Kirkus riss den Blick von dem gewaltigen Stachel und vor allem von den rostbraunen Flecken daran. Er starrte Kira einige Herzschläge lang an, bevor ihre Worte in ihn einsanken.
Er schüttelte den Kopf und sah zu, wie die alte Priesterin über den Markt schlenderte, begleitet nur von ihren Leibsklaven, und ausgiebig von den Süßigkeiten und örtlichen Weinen kostete. Sie lehnte eine bewaffnete Eskorte ab und vertraute ihr Leben ganz der einschüchternden Macht ihrer weißen Robe an, die überall die Menge auseinandertrieb.
Für eine Weile blieb Kirkus einfach sitzen und genoss die Möglichkeiten, die sich ihm boten. Seine Fantasie spielte mit denjenigen Passanten, die seine Aufmerksamkeit erregten. Als er endlich wusste, wen er haben wollte, erhob er sich.
Diesmal zeigte er unauffälliger auf die beiden, die es ihm angetan hatten. Es waren zwei Schwestern mit blonden Haarmähnen, die bis fast auf den Boden reichten, dazu ein fetter Metzger, der sein Hackbeil wie ein Kriegsveteran gebrauchte und eine gewisse Gegenwehr bieten würde, ferner ein junger Mann, der ihn an seinen Jugendfreund Asam erinnerte, und schließlich ein altes Fischweib mit einem Körper, der noch immer dünn, stark und interessant war.
Die Akolyten huschten durch die Menge und packten diejenigen, auf die Kirkus gezeigt hatte. Rufe ertönten, gingen aber sofort in dem allgemeinen Lärm des Marktes unter. Kirkus beobachtete den einsetzenden Aufruhr und folgte seinen Strömungen und Wirbeln, die sich über den ganzen Platz ausdehnten. Er war fasziniert von alldem, als sich die entsetzten Freunde und Verwandten an diejenigen klammerten, die ihnen weggenommen wurden und inmitten der Zuschauer nach Hilfe schrien. Einer nach dem anderen wurde ergriffen, und die Alarmrufe wurden lauter und übertönten schließlich sogar den Lärm des geschäftigen Marktplatzes.
In diesem Augenblick wusste Kirkus, dass es ihm wegen solcher Tage bis zum Ende seines Lebens nie langweilig sein würde.
Als Kira mit einem Korb voller ausgewählter Köstlichkeiten zurückkehrte, hatte sie hinter sich einen Markplatz voller verlassener Buden und noch immer sich drehender Körbe zurückgelassen, deren Eigentümer schreiend geflohen waren und ihre Warnungen in die angrenzenden Straßen getragen hatten. Hinter der Sänfte strahlte das Entsetzen der neu erworbenen Sklaven wie eine spürbare Kraft aus, als sie in Ketten gelegt wurden.
Einige Straßen später ritt ein Mann in dem ausgebleichten Lederwams eines Kuriers zum Beginn der Kolonne; sein gestreifter Zel war aufgrund der angespannten Atmosphäre unruhig. Der Reiter redete kurz mit dem Hauptmann der Akolyten und überreichte ihm ein gefaltetes Papier, bevor er wieder umdrehte und sein Pferd zu einem Galopp antrieb.
Kira las die Nachricht mit wachsender Verwirrung in den Augen.
»Anscheinend hat die Nachricht von unserem Eintreffen mehr als nur Angst in dieser Stadt hervorgerufen. Hör zu, was hier steht: Wenn Ihr Euch heute Abend mit dem Hohepriester Belias trefft, achtet genau auf den Sitz seiner Robe. Darunter werdet Ihr einen Scharlatan finden.«
»Ist es unterschrieben?«, fragte Kirkus, der nicht sonderlich interessiert daran war.
»Ein treuer Untertan von Mhann.«
Kirkus zuckte die Achseln. »Es ist doch überall dasselbe «, bemerkte er herablassend. »Der Hohepriester hat zweifellos Feinde, die sich jetzt, wo du hier bist, um die besten Plätze balgen wollen.«
»Du hast einen klaren Verstand, wenn du ihn einmal einsetzt. Du könntest Recht haben, aber du solltest den Mann trotzdem ganz genau beobachten. Das ist eine Fähigkeit, die du noch lernen musst – die wahren Gläubigen von den falschen zu unterscheiden. Und du musst lernen, wie du mit denen umzugehen hast, die sich als die falschen erweisen.«
»Wir entledigen uns ihrer. Was sonst soll es da noch zu lernen geben?«, erwiderte er, während er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straßen in der Umgebung richtete. Er suchte noch immer.
»Manchmal verblüfft mich dein Mangel an Fantasie wirklich«, säuselte sie hinter ihrer Maske hervor. »An diesem Mangel müssen wir noch arbeiten.« Sie schnippte mit den Fingern und holte damit den Hauptmann der Akolyten herbei. »Jetzt sollten wir uns zum Haus des Hohepriesters begeben«, befahl sie ihm. »Ich will mich dort eine Weile ausruhen, bevor wir mit dem Mann speisen, der über unsere Stadt herrscht.«
»Wie Ihr wünscht«, erwiderte der Hauptmann und neigte den Kopf.
Die Prozession rumpelte weiter.
»Ich bin gelangweilt«, verkündete Kirkus zu niemand im Besonderen.
Der junge Priester war nur ein Gast bei diesem Festmahl, aber er saß am Kopf des Tisches und stürzte den schweren seratischen Wein wie Wasser herunter.
»Beachtet ihn nicht«, empfahl Kira der Familie, die heute Abend ihr Gastgeber war. »Er ist bloß betrunken.«
Belias, der Hohepriester der Stadt und daher auch ihr Herrscher, nahm diese Bemerkung mit einem kurzen, ein wenig nervösen Lächeln entgegen, während er sich mit einem Taschentuch den Schweiß abtupfte, der sich auf seinem kahlen Kopf gebildet hatte. Heute Abend fühlte er sich seltsam fehl am Platze, obwohl sie im Speisesaal seines eigenen Hauses saßen, in dem er den Gastgeber für diese beiden Personen aus dem fernen Q’os spielte, dem Sitz des Heiligen Reiches von Mhann. Vielleicht lag es an der Art, wie ihn die alte Priesterin ansah. In ihrem Blick lag etwas Unausgesprochenes.
Abermals wünschte er sich, sie würden das Mahl beenden und sich früh zur Nacht in ihre eigenen Zimmer zurückziehen. Belias musste unbedingt mit seinen Bediensteten sprechen und herausfinden, ob die Stadtbevölkerung seine hastig angeordnete Ausgangssperre beachtet hatte. Doch während der letzten beiden Stunden war er mit seinen Gästen an den Esstisch gefesselt gewesen und hatte Interesse am Gerede der alten Frau heucheln müssen, während er andauernd auf die Geschwindigkeit geachtet hatte, mit der sie ihre Speisen zu sich genommen und ihren Wein getrunken hatten, und sie durch einfache Gebete zu größerer Eile anzutreiben versucht hatte. Sie mussten doch inzwischen satt sein, oder?
Neben ihm saß schweigend seine fette Frau. Sie trug feine Farlander-Seide und präsentierte Juwelen, die einer Königin würdig waren – zumindest einer kleineren Provinzkönigin. Erneut warf sie dem schönen jungen Priester einen sittsamen Blick zu, der wie ein König am Kopfende des langen Tisches saß, und erneut beachtete Kirkus ihre Aufmerksamkeit absichtlich nicht. Auch Belias tat so, als würde er es nicht bemerken. Die Koketterien seiner Frau überraschten ihn nicht. Es hatte sie schon immer zur Macht hingezogen – das war auch der Grund gewesen, warum sie ihn geheiratet hatte.
Er schaute hinüber zu seiner Tochter Rianna. Belias wandte sich oft an seine Tochter, wenn er ein wenig Unterstützung brauchte. Sie flüsterte gerade ihrem Verlobten etwas zu, der zehn Jahre älter war als sie selbst. Er war ein Unternehmer der Patrizierklasse, der sein Mahl schon vor langer Zeit beendet hatte und die drei am Tisch versammelten Priester mit kaum verhülltem Misstrauen beobachtete.
Sicherlich, sie waren eine fröhliche Gruppe, als sie schweigend in dem zugigen Saal speisten und dem Regen lauschten, der gegen die Bleiglasfenster prasselte, sowie den Essgeräuschen, dem Klappern der Bestecke gegen die Teller, der gelegentlichen höflichen Bemerkung und den Rufen der Sklaven, die draußen im Regen auf dem Kiesweg hockten.
Belias war schon vor einiger Zeit von seinem Kanzler über die Ereignisse auf den Straßen von Skara-Brae informiert worden. Das war einer der Gründe, warum er so schrecklich schwitzte und Interesse an den kalten Überresten seines Mahls vortäuschen musste. Nach allem, was er gehört hatte, befanden sich die Einwohner in Aufruhr. Sie wollten ihre Liebsten zurückhaben, und sie dürsteten nach Blut. Diese plötzliche öffentliche Zurschaustellung von Wut machte ihm große Sorgen, denn Belias verstand die Nathaleser nur allzu gut und wusste, wie schnell unter ihnen eine offene Revolte ausbrechen konnte. Schließlich war er selbst ein Nathaleser.
»Ist alles in Ordnung mit Euch, Hohepriester?«, fragte Kira freundlich. Allerdings vermutete er, dass die Freundlichkeit dieser Frau eher dem Spiel der Katze mit einer Maus gleichkam. Belias versuchte sich zusammenzureißen. Nein, es war mit ihm nicht alles in Ordnung. Diese alte Hexe war die Mutter der Heiligen Matriarchin, und der Bengel, der sich auf seinem Stuhl am Kopfende des Tisches lümmelte, war nichts weniger als der einzige Sohn der Matriarchin und damit der Thronfolger. Das war genug, um einen einfachen Priester aus der Provinz zu verunsichern.
»Es geht mir gut«, hörte er sich zu der alten Priesterin sagen. »Ich habe mich nur gerade gefragt … wisst Ihr … warum Ihr heute so viele Sklaven nehmen musstet.«
Die alte Frau nippte an ihrem Weinglas und schaute ihn über den Rand hinweg an. Dann machte sie mit den Lippen einen schnalzenden Laut. »Mein Einfaltspinsel von einem Enkel da hinten wird bald seine Einweihung feiern«, erklärte sie mit einer Stimme, die wie eine alte Treppe knarrte. »Wir holen uns alles, was wir für das Ritual benötigen, indem wir hier und da am Fluss anhalten und jede Stadt besuchen, die uns interessant erscheint. Im letzten Jahr habe ich ihn auf die Große Reise mitgenommen. Ich bin sicher, dass Ihr sie ebenfalls unternommen habt, denn schließlich seid Ihr ein Hohepriester. « Kurz hielt sie den Kristallpokal hoch, als ob sie nach Unvollkommenheiten in ihm suchte, und Belias bemerkte, wie sie ihn durch das Gefäß hindurch anschaute.
Belias nickte und lächelte wie ein Schwachkopf. Er wollte ihr nicht antworten. Nein, er hatte sich nie auf die Große Reise begeben, aber das würde er ihr nicht verraten. Diese Reise war lang und scheußlich teuer, wenn man sie mit einem gewissen Komfort hinter sich bringen wollte, und auf dem Weg mussten alle Arten von Orgien und anderen Festen gefeiert werden, auf denen Tabus zu brechen waren, was seinem schwachen Herz sicherlich den Garaus gemacht hätte. Deswegen hatte sich Belias nie dazu bringen können, diese Reise zu unternehmen.
»Ich verstehe«, sagte Kira, worauf Belias das Lächeln von seinem Gesicht abfallen ließ. Er wusste nicht, was sie sah, aber nun schlug sein Herz ein wenig schneller. Er zwang erneut ein süßliches Lächeln auf seine Lippen – eine Zurschaustellung äußerlicher Gelassenheit, die er jedoch verdarb, als er zu schlucken versuchte und beinahe an einem kaum zerkauten Bröckchen erstickt wäre.
Seine Tochter reichte ihm einen Pokal mit Wasser und runzelte die Stirn in einem Ausdruck der Besorgnis. Belias trank ihn in einem Zug leer und lächelte Rianna dankbar an. Heute Abend trug sie ein Kleid aus weicher grüner Baumwolle, das hervorragend zu ihrem roten Haar passte und so hoch geschlossen war, dass es das Siegel verbarg, das sie auf sein väterliches Beharren hin für gewöhnlich um den Hals trug. Vorhin hatte Belias sie unter vier Augen gescholten, weil sie das Siegel versteckte, wie sie es in Gesellschaft immer tat. Er hatte ihr zu erklären versucht, dass es auf diese Weise seinen Sinn nicht erfüllte. Es konnte nicht abschreckend wirken, wenn die Leute es nicht sahen. Aber Rianna begriff nicht, welche Risiken es mit sich brachte, die Tochter des städtischen Hohepriesters zu sein. In gewisser Weise hoffte er, sie würde es nie verstehen.
Als Rianna sein Lächeln erwiderte, bedauerte er die harschen Worte, die er zu ihr gesagt hatte. Er wusste, dass sie ihm bereits verziehen hatte. Sie verzieh ihm immer.
Er war froh, dass sein priesterlicher Besuch das Gespräch heute Abend wenigstens nicht auf das Thema der Glaubenslehre und des Rituals gebracht hatte. Immer hatte er versucht, seine Tochter vor dem dunklen Herzen dieser Religion und ihren Geheimnissen und geheimen Ritualen abzuschirmen. Er liebte Riannas Unschuld; sie war das einzige helle Licht in seinem ansonsten banalen Leben.
»Seht ihn Euch doch nur an!« Die alte Priesterin deutete mit dem Finger auf ihren Enkel. Sie schien es nicht ganz ernst zu meinen, doch Belias zuckte zusammen. »Vollgefressen und betrunken vom Wein, und er beschwert sich immer noch, ihm sei langweilig. Könnt Ihr glauben, dass er in den letzten zwölf Monden ein ganzes Reich an sich vorbeiziehen sah, was nur wenigen Privilegierten gegeben ist? Nein, er jammert bloß nach mehr, wie ein verdorbenes Kind, und genau das ist er.«
Kirkus rülpste laut.
Es gibt keinen Herrn außer dir selbst, rezitierte Belias stumm, als ob er plötzlich ein echter Anhänger Mhanns wäre, während er verstohlen den betrunkenen jungen Priester beobachtete, der sich auf seinem Stuhl ausgestreckt hatte. War das wirklich das nächste Oberhaupt des Reiches und eines Glaubens, der zwei Kontinente umspannte und mindestens vierzig Rassen einte?
Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute, die bis zur Unabhängigkeit oder zum Tod kämpfen würden, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten, war Belias seiner eigenen Meinung nach ein Realist. Das war ein Wesenszug, den er höher als jeden anderen einschätzte und den er bei den anderen Nathalesen schmerzlich vermisste – außer vielleicht in der Kaufmannsklasse, die eine gute Gelegenheit sofort zu erkennen wusste.
Als die kaiserliche Armee vor vielen Jahren an der nathalesischen Grenze erschien und sie sogleich überrannt hatte, hatte er die kommende kaiserliche Besatzung als das erkannt, was sie tatsächlich war. Unausweichlich. Und daher hatte Belias nach der letzten Niederlage von Königin Hano und ihren Streitkräften hier in dieser unglückseligen Stadt, aus der er glücklicherweise hatte entkommen können, indem er rechtzeitig mit seiner Frau und seinem Kind auf den Familienbesitz geflohen war, die Seiten gewechselt, denn schließlich war er ein ehrgeiziger junger Politiker gewesen. Er war ausgerechnet zu einem Priester Mhanns geworden, denn darin hatte er die Möglichkeit erkannt, innerhalb der neuen Ordnung politisch voranzukommen. Es war ganz einfach gewesen. Er hatte lediglich drei Jahre lang in dem neu eröffneten Tempelkomplex in Serat studieren müssen, wo Männer aus allen möglichen Provinzen zusammengekommen waren, um die Robe des Ordens zu nehmen, und danach hatte er tapfer die Erwählung hinter sich gebracht, jenes rätselhafte Ritual, das auch seine endgültige Aufnahme in die Glaubensgemeinschaft von Mhann bedeutet hatte.
Dieser Wechsel zur anderen Seite hatte wunderbar funktioniert – und daran sowie an den Erfolg, der aus dieser Entscheidung erwachsen war, erinnerte sich Belias gern in jenen dunklen Nächten, wenn ihn sein Gewissen plagte. Schließlich war er jetzt der Herrscher über seine eigene Stadt.
Aber trotz all dieses Pragmatismus – oder vielleicht gerade deshalb – verstand Belias seine weniger raffinierten Landsleute nur allzu gut. Ein Ereignis wie das des heutigen Tages, eine öffentliche Entführung von Einwohnern seiner Stadt hätte durchaus der Auslöser für eine Revolte sein können, obwohl dies zu einer schrecklichen Vergeltung geführt hätte, wie allen Beteiligten klar gewesen wäre. Und wenn es zu einem solchen Aufstand gekommen wäre, dann wäre der Hohepriester Belias zweifellos ein toter Mann gewesen. Er wäre als verräterische Galionsfigur angesehen und als Erster hingerichtet worden. Selbst wenn er diesem Schicksal irgendwie hätte entgehen können, hätte ihn die Priesterschaft getötet, weil er einen solchen Aufstand nicht unterdrückt hatte. Man hätte ihn als schwach bezeichnet, als keinen wahren Priester Mhanns, und er wäre auf die vom Orden bevorzugte Weise seiner Robe entkleidet worden – man hätte ihn auf einen brennenden Scheiterhaufen gestellt.
Und das alles nur wegen dieser Fanatiker aus Q’os, die an seinem Tisch saßen, in seinem eigenen Haus, und seine Speisen verschlangen, während ihre stinkenden Sklaven sich auf der Zufahrt drängten. Es wäre ihre Schuld, wenn die Einwohner einen Aufstand anzettelten, und ihre Hälse würden vielleicht genau wie seiner in der Schlinge stecken. Aber das wäre kein großer Trost. Tot war schließlich tot.
Mhann, dachte der Hohepriester verbittert. Das göttliche Fleisch. Belias hatte es sich zum Prinzip gemacht, alles über diese zerstörerische Religion zu wissen, der er beigetreten war. Und er glaubte, dass er wusste, worum es sich bei ihr in Wirklichkeit handelte.
Der Heilige Orden von Mhann war nicht immer so heilig gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er nichts anderes als ein dunkler großstädtischer Kult gewesen war, ein geflüstertes Gerücht in den Stadtstaaten der Lanstrada, wo die Mütter ihn als Drohung benutzten, um ihre Kinder gefügig zu machen. Doch das war gewesen, bevor dieser heimliche Kult in dem reichen Stadtstaat Q’os an die Herrschaft gekommen war, dessen Bevölkerung durch lange Jahre von Krankheit und Missernten von Angst und Aberglaube beherrscht wurde. Hier hatte der Kult die Macht durch einen Staatsstreich an sich gerissen, der als die Längste Nacht bekannt war.
Angetrieben durch seinen Sieg und das Ziel, die eigene Macht so schnell wie möglich zu festigen, hatte der Kult den gewaltigen Reichtum, der sich nun unter seiner Kontrolle befand, dazu benutzt, die städtische Armee zu einer Eroberungsmaschinerie auszubauen. Es war sein Traum gewesen, die mhannische Philosophie in der ganzen bekannten Welt zu verbreiten. Zuerst liefen die militärischen Bestrebungen nicht so gut. Aber schließlich wendete sich das Glück auf dem Schlachtfeld durch die Hilfe einer neu konstruierten Kanone, die genauer zielen konnte und weniger dazu neigte, unerwartet zu explodieren; außerdem benötigte sie geringere Mengen von Schwarzpulver. Dies führte zu einem neuen Zeitalter von Invasion und Besatzungsherrschaft, das in weniger als fünfzig Jahren das brutale Schmieden eines neuen Reiches sah, wobei die Art der Kriegsführung vollkommen verändert wurde.
Während seiner fünfzigjährigen Herrschaft hatte sich der Kult das Mäntelchen des Göttlichen umgehängt. In relativ kurzer Zeit war er zur Staatsreligion geworden, und viele seiner frühesten Gebräuche waren inzwischen zur Tradition ausgehärtet. Die Erwählung war ein Beispiel dafür. Die neuen Priester mussten ein Einweihungsritual durchlaufen, in dem sie die Spitzen ihrer kleinen Finger verloren und danach mit bloßen Händen einen unschuldigen Menschen ermorden mussten. Dieser Tabubruch sollte das tiefste Selbst vervollkommnen, bis es unbesiegbar war.
Zumindest lautete so der Glaubenssatz, aber Belias hatte ihn am Ende jenes Tages für aufgebauschten Unsinn gehalten. Nach der langen Nacht der Initiation hatte er sich bloß elend gefühlt. Während frommere Priester die Zeremonie der Erwählung während ihres Lebens oft wiederholten, damit ihr göttliches Fleisch angeblich noch weiter verbessert wurde, hatte Belias diese Erfahrung nicht noch einmal machen, sondern sie im Gegenteil aus seiner Erinnerung verbannen wollen. Nie hatte er seiner Familie erzählt, was er getan hatte, um die weiße Robe zu erhalten, die zu seiner Stellung gehörte.
Bisher schien es keine Rolle gespielt zu haben, dass Belias nichts von Mhanns grundlegendem Unsinn glaubte. Er war ein ehrgeiziger verräterischer Priester einer Religion, die sich nicht mit Selbstlosigkeit oder Opfer abgab, sondern nur mit Macht und der Vergöttlichung des Selbst, und deshalb hatte sich Belias, der in seinen jüngeren Jahren höchster Selbstanbetung gefrönt hatte, nie wirklich als Betrüger angesehen.
Aber es war seltsam, dass sich Belias nun, da er an seinem eigenen Tisch mit diesen Fanatikern aus Q’os zusammensaß – sie waren mit ihren sorgfältig geschorenen Köpfen und ihrem übermäßigen Gesichtsschmuck in jedem Sinne des Wortes wahre Priester –, als der Scharlatan empfand, der er in Wirklichkeit war. Und es war dieser Gedanke, der ihn vor allem beschäftigte, als er die Szenerie vor seinen Augen betrachtete. Seine dunklen Vorahnungen wuchsen mit jeder Minute. Er fragte sich, was sie wohl mit ihm tun würden, wenn sie es je herausfinden sollten.
Kirkus war verärgert. Der Wein war erträglich, das Essen zumindest sättigend, aber er fühlte sich, als hätte er die letzte Stunde in Gesellschaft von Leichnamen gespeist, so steif und formell waren die kleinen Gespräche bei Tisch gewesen. Nicht zum ersten Mal während der letzten sechs Monate wünschte er sich, er befände sich wieder unter seinesgleichen im Tempel des Wisperns.
Ein scharfer Schrei von draußen durchbrach seine missmutigen Gedanken. Vermutlich war einer der neu erworbenen Sklaven durch einige Peitschenschläge zum Schweigen überredet worden.
»Das wurde aber auch Zeit«, bemerkte er und füllte sein Glas erneut. Diese Anmaßung war zum Teil gespielt, denn Kirkus war nicht ganz der verzogene Bengel, der zu sein er vorgab. Es gefiel ihm bloß manchmal, so zu wirken.
Niemand erwiderte etwas auf seine Bemerkung. Das Klappern der Bestecke und das Mahlen der Zähne ertönten weiterhin.
Kirkus legte Messer und Gabel vor sich, bis sie perfekt ausgerichtet waren. Er biss die Zähne zusammen. Wenn er nicht bald etwas tat, um diese Langeweile zu vertreiben, würde er wahnsinnig werden.
Ein leises Gespräch flatterte kurz zwischen Kira und dem Hohepriester hin und her. Es ging um den Fluss und darum, wie weit es auf ihm noch bis zum Vogelsee sein mochte. Belias schwitzte noch stärker als zuvor.
»Mir ist langweilig!«, rief Kirkus wieder, lauter diesmal, aber es genügte noch immer nicht, um die höfliche Konversation bei Tisch gänzlich zum Erliegen zu bringen.
Allerdings reichte es aus, um die Aufmerksamkeit der Tochter des Hohepriesters von dem frischen Lachs auf ihrem Teller abzulenken. Sie drehte sich um und bedachte Kirkus mit einem verärgerten Blick. Seit sie sich zu Tisch begeben hatten, war es das erste Mal, dass sie ihn ansah. Er schaute sie anzüglich an, machte eine große Schau daraus und schenkte dann ihrem Verlobten einen höhnischen Blick, diesem glatten Profiteur, der nur kurz aufsah und ihm zunickte. Kirkus beobachtete die Blicke, die sich die beiden danach zuwarfen. Sie teilten etwas miteinander; zwischen ihnen herrschte eine unausgesprochene Verbindung.
Vermutlich reitet er sie wie ein Hengst, sobald die Eltern nicht in der Nähe sind, dachte Kirkus mürrisch. Und es drängte sich ihm eine ungebetene Erinnerung an Lara und an das letzte Mal auf, als sie einander geritten hatten. Ihr verdorbener, von Drogen angestachelter Hunger nach Sex hatte ihn in Höhen getrieben, die er nie zuvor gekannt hatte.
Diese Erinnerung lag ihm wie eine bleierne Kugel im Magen, und nun drängten weitere an die Oberfläche. Ein Abend mit seiner Großmutter in dem kühlen, schattigen Raum ihres Privatgemachs, und ihr andauerndes Krächzen, mit dem sie an all die Dinge erinnert hatte, an die er nicht denken sollte, während er nur daran denken wollte, wann er Lara wiedersehen konnte. Für ihn war nichts anderes von Bedeutung als der Duft ihrer Haut, die so glatt und geschmeidig unter seiner Berührung und auch unter seinem Biss war, und der klare und melodische Klang ihres Lachens, das durch Begebenheiten hervorgerufen wurde, die er nur vermuten konnte, und der Anblick ihres vollkommenen Gesichts, das unter ihm oder über ihm errötete, und ihre Gabe der Ungezwungenheit und Munterkeit.
»Die kleine Lara kann niemals deine Glammari sein«, hatte seine Großmutter offen zu ihm gesagt, nachdem sie eine ganze Stunde lang erklärt hatte, dass nur die Frauen von Mhann die Macht und den Reichtum ihrer Familien weitergeben konnten, denn nur sie waren in der Lage, die alte Blutlinie mit Sicherheit fortzuführen.
»Diese Dinge darfst du nie vergessen. Sie sind wichtiger als die Frage, welche Frau deinem Schwanz am besten gefällt«, hatte sie tadelnd zu ihm gesagt. »Laras Familie ist schon mit unserer eigenen verbunden. Du, mein Kind, musst deine Gemahlin aus einer mächtigen Familie wählen, die wir auf unsere Seite ziehen wollen, damit du daraus Vorteile erlangst. Lara kann für dich nie etwas anderes als das sein, was sie schon für dich ist, und damit müsst ihr beiden euch zufriedengeben.«
Kirkus hatte die alte Frau verflucht und ihr gesagt, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Nichts davon hatte er Lara mitgeteilt – er hätte nicht einmal gewusst, wie er es hätte tun sollen. Aber irgendwie war es ihr doch zu Ohren gekommen.
Laras Verhalten war ungebärdig gewesen in jener Nacht, die ihre letzte gemeinsame sein sollte, was nur ihr selbst klar gewesen war. Nach stundenlangem Liebesspiel hatten sie sich über irgendwas Unwichtiges gestritten; es war ein vages Missverständnis gewesen, an das er sich nicht mehr erinnern konnte. Lara war davongestürmt und hatte ihm zugerufen, sie wollte nie wieder mit ihm reden. Er hatte über ihren theatralischen Auftritt gelacht und ihn bloß für ihr übliches Gezänk gehalten, ohne zu wissen, dass er sie verloren hatte.
Wenige Tage später war Lara auf dem Da-Bohr-Ball mit einem neuen Liebhaber aufgetaucht – mit diesem Esel von Da-Ran, der angeberisch in seiner Paraderüstung mit den vielen bunten Bändern herumstolziert war. An seiner Wange hatte eine kaum verheilte Narbe geprangt; er war gerade erst vom Kampf gegen einige Stämme im Norden zurückgekehrt.
In jener Nacht hatte Lara Kirkus nicht einmal angesehen.
Nicht ein einziges Mal.
Dieses Mädchen am Tisch – Rianna – hatte eine Art, ihren Verlobten anzusehen, die Kirkus unangenehm war. Wenn er auch nur im Geringsten zur Selbstbetrachtung geneigt hätte, wäre ihm sein Gefühl des Neides nicht entgangen. Doch so saß er bloß mit zunehmend schlechter Laune da und bedachte die beiden mit bösen Blicken.
Kirkus bemerkte, dass Rianna eine Hand unter dem Tisch hielt, während sie aß. Er sah genauer hin und erkannte, dass dieser Arm einen bestimmten Rhythmus beibehielt, der so zart war, dass Kirkus ihn kaum wahrnahm. Er grunzte. Mit der auffälligen Raffinesse eines Betrunkenen ließ er seine unbenutzte Serviette zu Boden fallen, duckte sich unter den Tisch und warf einen Blick in die Runde. Da. Er sah ihre zarte, weiße, spitzenumrahmte Hand. Die Finger rieben leicht über den Schritt ihres Verlobten.
Kirkus hob seine Serviette auf und legte sie wieder auf den Tisch. Nun grinste er, und als er das Mädchen abermals ansah, war es, als sähe er plötzlich eine andere Person. Seine ganze Aufmerksamkeit war nun auf ihren sehnigen Körper unter dem grünen Kleid, auf die jugendlich schwellenden Brüste und den langen Schwanenhals gerichtet, der sowohl weiß geschminkt als auch gerötet und von einem gewaltigen Aufruhr aus rotem Haar umgeben war.
»Ich will sie«, sagte er in den Raum hinein, und seine stille und nachdrückliche Forderung erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
»Wie bitte, mein Liebster?«, fragte seine Großmutter vom anderen Ende des Tisches. Die alte Hexe tat so, als wäre sie taub.
Er deutete mit dem Finger auf Rianna.
»Ich will sie«, wiederholte er.
Die fette Mutter des Mädchens unterbrach endlich das Schweigen. Sie kicherte in ihre Faust hinein, als ob sie plötzlich herausgefunden hätte, dass sie sich in Gesellschaft von lauter Verrückten befände. Den übrigen Tischgenossen schien es jedoch nach allem anderen als nach Lachen zumute zu sein. Sie hingen noch immer an Kirkus’ Mund und waren reglos vor Entsetzen.
»Meinst du das ernst?«, fragte seine Großmutter in einem Tonfall, der deutlich machte, dass Kirkus sich gut überlegen sollte, was er als Nächstes sagte.
Kirkus wusste genau, was er verlangte. Zu Hause in Q’os hätte sie seine Bitte vermutlich abgeschlagen. So hatte sie es bei Lara getan, als er sie nach der Nacht des Balls für sich beansprucht hatte. Kira hatte zu große Angst davor gehabt, das zarte Gleichgewicht der Kräfte zu stören, das seine Mutter geschaffen hatte, um ihre eigene Position zu festigen. Aber hier? Bei diesem hohepriesterlichen Provinznarren? Der Bericht, den sie vorhin erhalten hatte, entsprach der Wahrheit. Belias spielte seine Rolle, aber er füllte sie nicht aus.
»Du weißt genauso gut wie ich, wer diese Leute sind. Ja, Großmutter. Ich will sie – für mein Fest der Erwählung. «
Die junge Rothaarige hielt sich die Hand an die Kehle und sah ihren Vater hilfesuchend an. Ihr Verlobter legte ihr die Hand auf den Arm und stand in protestierender Haltung auf, aber er sagte nichts. Die Mutter kicherte weiterhin.
Die alte Priesterin Kira seufzte. Was ihr in den nächsten Augenblicken durch den Kopf ging, vermochte niemand im Raum zu erraten, nicht einmal Kirkus, aber sie sah ihn über den Tisch hinweg lange und eingehend an, bis das Schweigen geradezu mit den Händen zu greifen war.
Kira drehte sich zu Belias und sah ihn aufmerksam an. Er hatte das Gesicht verzogen, und es war weiß vor Furcht. Es schien sie in ihrer Entscheidung zu bestärken. Als sie schließlich lächelte, schien es nur eine Geste der Höflichkeit zu sein.
»Hohepriester Belias«, sagte sie wohlüberlegt und legte das Besteck neben ihren Teller, »ich möchte Euch eine Frage stellen.«
Der Mann räusperte sich. »Herrin?«
»Was ist Eurer Meinung nach die größte Bedrohung für unseren Orden?«
Er öffnete und schloss den Mund mehrmals, bevor er seinen Worten eine Stimme verleihen konnte. »Ich … ich weiß nicht. Wir herrschen über den größten Teil der bekannten Welt. Wir sind überall die stärkste Kraft. Ich … sehe keine Bedrohung für unseren Orden.«
Sie schloss kurz die Augen, als ob ihr die Lider zu schwer wären. »Die größte Bedrohung«, psalmodierte sie, »kommt immer von innen. Beständig müssen wir uns gegen unsere eigenen Schwächen schützen. Wir müssen es verhindern, dass wir verweichlicht werden und jene in unseren Orden aufnehmen, die nicht den rechten Glauben haben. Auf diese Weise werden alle Religionen am Ende hohl und bedeutungslos. Sicherlich stimmt Ihr mir zu.«
»Herrin, ich …«
Sie öffnete wieder die Augen, und der Hohepriester verstummte. Seine Hände, die auf dem Tischtuch lagen, zitterten deutlich.
»Ich möchte mich für Eure Gastfreundschaft an diesem Abend bedanken«, sagte sie zu ihm und betupfte sich den Mund mit der Serviette, bevor sie auch diese ablegte.
Die alte Priesterin hob die skelettartige Hand und schnippte einmal. Es klang wie das Brechen eines Knochens. Sofort setzten sich die vier Akolyten, die reglos im Raum gestanden hatten, in Bewegung.
Das Mädchen kreischte auf, als sie über es herfielen.
Ihr Verlobter schwang die Faust und war so verzweifelt und in Panik, dass er einen der herbeieilenden Akolyten am Kinn traf.
Sofort zog ein anderer Akolyt sein Schwert und wollte zuschlagen. Der Verlobte hob instinktiv den Unterarm, um den Schlag abzufangen, und mit der gedankenlosen Schlichtheit eines Metzgers hieb der Akolyt ihn sauber ab, hob dann erneut seine Waffe und senkte sie in die Schulter des Verwundeten. Die abgetrennte Hand war bereits auf den Boden gefallen. Der Arm schlug daneben auf, rollte herum und blieb neben der nach oben weisenden Handfläche liegen, während der Verlobte schreiend niederstürzte. Blut spritzte in alle Richtungen.
Die Mutter erhob sich und erbrach einen Schauer aus kaum verdauten Krabben auf das bestickte Tischtuch.
Der Vater murmelte unverständliche Worte, taumelte am Tisch entlang auf seine Tochter zu und erhob die Stimme. Aber er rutschte auf der sich rasch vergrößernden Blutlache aus, brachte sich wieder ins Gleichgewicht und griff sich an die Brust. Sein Gesicht war zu einer Maske der Anspannung geworden.
Die Tür am gegenüberliegenden Ende des Zimmers wurde aufgeworfen, und die Wachen des Hauses stolperten mit bereits gezogenen Schwertern herein. Sie betrachteten die Szenerie: Ihr Herr taumelte am anderen Ende des Zimmers, als ob er betrunken wäre, auf dem Boden lag die blutende Masse eines Mannes, der noch immer schrie, die Tochter kämpfte im Griff der Akolyten, und an den schmalen Enden des Tisches saßen die beiden weiß gekleideten Gäste aus Q’os in aller Gelassenheit und nippten an ihrem Wein.
Die Männer wichen langsam aus dem Raum und schlossen die Tür leise hinter sich.
Der Hohepriester ächzte und fiel auf die Knie, während Kira sich über ihn stellte.
»Bitte«, gelang es ihm kaum zu sagen, während er sich weiterhin an die Brust packte. Eine kleine Klinge erschien in Kiras Hand. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung fuhr sie ihm damit über die Kehle.
»Ergreift auch die Mutter«, befahl sie, während sie über dem Sterbenden stand.
Die Akolyten packten die Mutter und zerrten sie und ihre kreischende Tochter aus dem Zimmer. Kira hielt inne und schaute hinunter auf Belias. Sie starrte in seine rollenden Augen.
»Seid nicht verbittert«, sagte sie zu ihm, obwohl es zweifelhaft war, dass er sie überhaupt verstand. »Ihr habt uns gut ausgebeutet – solange Ihr Gelegenheit dazu hattet.«
Kira trat über den Hohepriester, anstatt um ihn herum zu gehen, und hinterließ eine Spur aus anmutigen blutigen Fußabdrücken.
Kirkus trank seinen Wein mit einem Schluck aus und stand auf.
In der großen Halle des Hauses warteten die Wachen mit schlecht verhüllter Angst. Egan, der Kanzler des Hohepriesters, stand vor ihnen und hatte die Hände in den Ärmeln seiner weißen Robe verborgen. Sein silbernes Haar bildete einen starken Kontrast zur Röte seines Gesichts. Zuerst glaubte Kirkus, es wäre Zorn, bis er ein interessantes Glimmern in den Augen des Mannes bemerkte, die nun Mutter und Tochter folgten, während sie hinaus in den Regen geschleift wurden. Kirkus fragte sich, ob es dieser Mann gewesen war, der früher am Tag die Botschaft geschrieben hatte.
»Wir benötigen einen neuen Hohepriester, Kanzler Egan«, verkündete Kira.
»Allerdings«, schnurrte der Mann.
»Ich hoffe, Ihr werdet ein hingebungsvollerer Anhänger unseres Glaubens sein, als es Euer Vorgänger je war.«
Egan neigte den Kopf. »Er war schwach, Herrin. Das bin ich nicht.«
Kira taxierte den Mann noch einen Augenblick lang, dann drehte sie sich mit einem schnaubenden Geräusch rasch um und huschte durch die Vordertür.
Kirkus folgte seiner Großmutter pflichtergeben nach draußen.