KAPITEL FÜNF
Im Fluge
Die Kabine stank nach Schimmel, Feuchtigkeit und Erbrochenem. Nichts regte sich in dem Raum, aber die sanfte Bewegung des Luftschiffes war an dem gelegentlichen Knirschen der Holzbohlen, dem Klappern der Laterne an der Decke und dem schwachen Gefühl des Steigens und Fallens in den Tiefen seiner Eingeweide zu spüren. Nico lag mit bleichem Gesicht in seiner Koje. Ihm war schlecht.
Kurz nachdem das Schiff von Bar-Khos abgelegt hatte und in den wolkigen Himmel gestiegen war, hatte Nico auf das tief unter ihm liegende und immer kleiner werdende Land gestarrt und sich mit einem Gefühl der Leichtigkeit im Kopf und Übelkeit im Bauch an der Reling festgehalten. Drei Tage lag er nun schon elend und in ängstlicher Spannung in seiner Koje. Gelegentlich beugte er sich über den Rand und übergab sich in einen hölzernen Eimer, der auf dem Boden stand. Das Sprechen bereitete ihm inzwischen Schmerzen, denn sein Hals war ganz verbrannt von der Galle, die er ausspuckte. Er aß wenig, nahm nur Wasser oder Suppe zu sich, die er lange genug im Magen behalten konnte. Jeden Augenblick, ob im Schlaf oder in wachem Zustand, war er sich der Tausenden Fuß leerer Luft bewusst, die sich unter ihm erstreckte, und der andauernden Spannung der Seile und Verstrebungen, an denen die Kabine von dem dünnen, gasgefüllten Ballon herabhing. Jeder plötzliche Ruf eines Mitglieds der Mannschaft an Deck, jedes Stampfen von Füßen und jede Drehung des Schiffes schien Nico von bevorstehendem Unheil zu künden. Ein solches Elend hatte er nie zuvor verspürt.
Die meiste Zeit verbrachte er allein. Zwar teilte Asch die enge Kabine mit ihm, aber der alte Farlander schien Nicos andauerndes Gewürge nicht zu schätzen. Er verlor die Geduld, legte irgendwann den kleinen Gedichtband, den er stets las, beiseite und stapfte murmelnd hinaus an Deck. Daher war es der Schiffsjunge Berl, der sich fortan um Nico kümmerte und ihm Speise und Wasser brachte.
»Du musst essen«, beharrte der Junge, als er Nico eine Schüssel mit Brühe entgegenhielt. »Du bist doch nur noch Haut und Knochen.« Aber Nico zog eine Grimasse und schob die Schüssel beiseite.
Berl seufzte über diese Halsstarrigkeit. »Dann wenigstens Wasser«, sagte er. »Du musst etwas Wasser trinken, egal ob du es bei dir behalten kannst oder nicht.«
Nico schüttelte den Kopf.
»Wenn du es nicht tust, muss ich deinen Meister holen. «
Schließlich willigte Nico ein, einen Schluck Wasser zu trinken, auch wenn er es nur tat, um den Jungen zu besänftigen. Er fragte, wie spät es war.
»Später Nachmittag. Hier drinnen merkst du nichts davon, weil die Fensterläden die ganze Zeit über geschlossen sind. Du brauchst frische Luft. Hier stinkt’s. Kein Wunder, dass dein Meister fast die ganze Zeit an Deck verbringt.«
»Mir gefällt die Aussicht nicht«, sagte Nico zu ihm und dachte an den ersten Morgen im Schiff, als er die Läden aufgestoßen hatte und sofort vor dem Anblick, der sich ihm geboten hatte, zurückgewichen war.
Er ächzte und packte sich an den schmerzenden Bauch. »Ich glaube, mit mir stimmt etwas ganz und gar nicht.«
Berl grinste. »Als ich das erste Mal hier oben war, bin ich eine ganze Woche lang krank gewesen. Das ist normal. Manche bekommen ihre Flügel schneller als andere.«
»Flügel?«
»Ja. Mach dir keine Sorgen. In ein paar Tagen geht es dir wieder prima.«
»Ich fühle mich, als würde ich sterben.«
Der Junge legte die Öffnung des Wasserschlauchs wieder an Nicos Lippen.
Berl schien nicht älter als vierzehn zu sein, aber er strahlte die Zuversicht eines Erwachsenen aus. Während sich Nico den Mund trockenwischte, betrachtete er das schmale Gesicht des Jüngeren. Es befanden sich Narben darauf, vor allem an der Stirn und um die Augen, die selbst so hart wie vernarbte alte Wunden wirkten.
»Früher habe ich unter dem Schild gearbeitet«, erklärte Berl, dem Nicos Aufmerksamkeit nicht entgangen war.
Aha, dachte Nico. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, dass Kinder manchmal in den Tunneln unter den Mauern von Bar-Khos eingesetzt wurden, weil es dort teilweise zu eng für Erwachsene war, aber Kinder und Angriffshunde genug Platz hatten. Das erzählte er Berl nun und sagte ihm auch, dass Nicos Vater zur Sondereinheit gehört hatte. Vielleicht konnte er dadurch eine persönliche Beziehung zu ihm herstellen. Doch der Junge nickte nur und legte den Wasserschlauch auf den Boden neben dem Eimer.
»Das reicht für diesmal«, sagte er. »Aber du musst weiter daraus trinken, hast du verstanden?«
»Das werde ich«, antwortete Nico. »Sag mir, wo wir sind.«
»Über Salina. Wir haben heute Morgen seine Ostküste erreicht.«
»Ich dachte, wir steuern bereits auf Cheem zu.«
»Sobald wir eine passende Luftströmung gefunden haben. Der Kapitän spart unser Weißpulver, wo er nur kann. Wenn wir den richtigen Wind haben, fliegen wir nach Norden durch die Blockade. Mach dir keine Sorgen; die Mhannier haben so wenige Luftschiffe wie wir, und die Falke hier ist ein ganz schnelles. Wir sollten rasch auf der anderen Seite sein.«
Er stand auf und sagte noch: »Komm später an Deck, wenn du dich besser fühlst. Die frische Luft wird dir guttun. « Dann ging er mit leichten Schritten über den Boden, der sichtbar nach oben zeigte, denn das Schiff befand sich anscheinend im Steigflug. Nico hörte, wie die Antriebsröhren des Schiffes zündeten und den kostbaren Brennstoff verzehrten.
Bevor Berl ging, drehte er sich an der Tür um und hielt sich mit der Hand am Rahmen fest. »Wirst du wirklich zum Rō̄schun ausgebildet?«, fragte er.
»Ich glaube, das ist ein Geheimnis«, erwiderte Nico. Der Junge nickte, streckte die Unterlippe vor und dachte nach. Dann schloss er die klapprige Tür hinter sich.
Nico legte sich zurück und schloss die Augen. Es verringerte sein Gefühl der Übelkeit ein wenig, wenn er nicht auf den ansteigenden Boden der Kabine schauen musste.
Schon jetzt schien sein Leben in Bar-Khos ungeheuer weit zurückzuliegen.
Am nächsten Morgen fühlte er sich besser. Es war, als ob sein Körper der Erschütterungen müde geworden wäre und entschieden hätte, sich trotz Nicos zahlreicher Ängste zu entspannen. Nico seufzte vor Erleichterung und rollte sich aus der schweißdurchtränkten Koje.
Die Kabine befand sich im hinteren Teil des Luftschiffes. Unter dem geschlossenen Fenster in der Rückwand des Raums verlief ein Sims mit einem Waschbecken darin, und daneben, in der Ecke, verbarg eine Klappe die Toilette. Nico holte tief Luft und tastete an dem Verschluss des Fensterladens herum, bis er sich endlich öffnen ließ. Nico blinzelte in den klaren blauen Himmel, durch den in Augenhöhe einige weiße Wolken segelten. Eine schwache Brise strich über sein Gesicht und machte ihn vollends wach. Unwillkürlich wurde er dazu verlockt, über den Fenstersims zu schauen. Tief unten lag eine grüne und braune Landschaft – eine Insel, der kurvenreichen Küstenlinie nach zu urteilen – mit Straßen, die sich zwischen einigen verschwommen erkennbaren Städten wie Fäden erstreckten, bevor sie alle in einem ausgedehnten, von Mauern geschützten Hafen zusammenliefen. Das Glitzern von Flüssen, die aus bewaldeten Hügeln in etliche Seen herab und von dort aus dem Meer zu flossen, machte ihn schwindlig. Nico hielt sich am Fensterrahmen fest und zwang sich, ruhig zu bleiben.
Er schüttete den Inhalt des Eimers in die Toilette, damit der Gestank aus dem Raum verschwand, und zog dann seine schmutzige Kleidung aus. Asch hatte ihm vor ihrer Abreise einen Beutel mit Reiseausrüstung gekauft, aus dem Nico nun ein Stück Seife nahm. Damit rieb er sich von Kopf bis Fuß ab und durchnässte den hölzernen Boden bei seinen Bemühungen vollständig. Dann zog er einen neuen Hohlstecken hervor, wickelte ihn aus dem Wachspapier und putzte sich die Zähne lange und gründlich.
Als er sich frische Kleidung anzog – ein weiches Unterhemd aus Baumwolle, Hemd und Hose aus starker Leinwand, Lederstiefel und ein Gürtel mit Hartholzschnalle – , bemerkte er endlich, dass er unbedingt etwas zu essen brauchte.
Mit kurzen, vorsichtigen Schritten verließ Nico die Kabine und folgte dem Korridor sowie dem Geruch von Chee bis zu einem großen Gemeinschaftsraum mit niedriger Decke. Besatzungsmitglieder saßen um die verstreut stehenden Tische und unterhielten sich leise miteinander, während sie ihr Frühstück einnahmen und die trübe Luft mit ihrem Pfeifenqualm erfüllten. Einige warfen Nico düstere Blicke zu, während er zum hinteren Teil des Raumes ging, wo die Tür zur Kombüse offen stand und der Koch, ein dürrer, kahlköpfiger Mann, der sich Bartkräuselungen ins Gesicht hatte tätowieren lassen, Becher mit warmem Chee sowie Teller mit Käse und Keksen ausgab. Auch Berl arbeitete in der Kombüse und fütterte das Feuer in dem gemauerten Brennofen eifrig mit Holz. Der Junge nickte Nico zu, hielt in seiner Arbeit aber nicht inne. Nico begnügte sich damit, einen Teller mit Essen zu füllen. Der Koch stellte einen Becher mit Chee vor ihn und machte sich wieder an die Küchenarbeit, die darin zu bestehen schien, Pfannen gegeneinander zu schlagen, durchtränkte Tücher in der Gegend herumzuschleudern, zu schwitzen und zu fluchen. Nico setzte sich an einen freien Tisch und aß vorsichtig, denn er wollte seinen Magen nicht gleich allzu sehr belasten. Er warf einen Blick auf die Kanonen, die an beiden Längsseiten dieses warmen Mannschaftsraumes vor den Schießscharten standen und versuchte die gelegentlichen verstohlenen Blicke, die in seine Richtung geworfen wurden, nicht zu beachten. Er fragte sich, ob der Rest der Mannschaft auch so freundlich war.
Als er gegessen hatte, dankte er dem Koch und kletterte die Treppe hoch, die zum Oberdeck führte. Langsam nahm er eine Stufe nach der anderen, und seine Hände glitten mit jeder Aufwärtsbewegung der Beine weiter am Geländer hoch. Kurz vor dem Ende der Treppe blieb er stehen und sammelte sich.
Dann stieg er auf das Wetterdeck des Schiffes, und einen Augenblick lang tat er so, als stünde er auf einem ganz gewöhnlichen Schiff, das nicht in der Luft, sondern auf dem Wasser dahintrieb, denn die Decks der Falke sahen nicht anders aus als bei den Schiffen, die er im Hafen gesehen hatte. Hinter ihm ragte das hohe Achterdeck auf, und vor ihm erstreckte sich das Vorderdeck. Einige Besatzungsmitglieder saßen in der Nähe und unterhielten sich, während sie Seile flochten. Eine andere Gruppe befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Decks und spielte ein Knochenspiel. Sie stritten miteinander, und einer hielt einen anderen zurück, der offenbar einen Kampf provozieren wollte. Alles in allem schien die Mannschaft sehr jung zu sein; nur wenige waren älter als zwanzig Jahre. Sie waren bemerkenswert dürr, und alle hatten einen Bart und zottelige Haare.
Abgesehen vom Peitschen der Leinwand war es seltsam still. Nico hob den Blick und sah die großen Gasballons aus weißer Seide, die vom Wind gekräuselt wurden und in einem feinen Netz aus Seil und hölzernen Verstrebungen steckten. Sie warfen einen großen Schatten über das gesamte Deck. Am vorderen Ende waren etliche verschiedene Segel zwischen Sparren gespannt, und zwei große Fahnen aus demselben Material standen von den Flanken des Ballons wie Flügel ab. Männer befanden sich dort oben und kletterten halsbrecherisch über das Netzwerk, das um die gewölbte Seide geschlungen war. Ihre Füße waren nackt, und mit ihren schmutzigen rosafarbenen Sohlen glitten sie an den Seilen entlang, die eigentlich viel zu ausgefranst waren, um ein solches Vertrauen zu rechtfertigen. Verrückte, dachte Nico. Verdammte Wahnsinnige.
In dieser großen Höhe war die Luft kalt. Die Brise fuhr ihm durch die Kleidung, und er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Einen Moment lang überlegte er, ob er in die Kabine zurückgehen und seinen Reisemantel holen sollte, doch dann erspähte er Asch, der mit untergeschlagenen Beinen auf dem ansteigenden Vorderdeck des Luftschiffes saß. Er schien in tiefer Meditation versunken und trug seine gewöhnliche schwarze Robe.
Nico stellte fest, dass er ganz gut über das Deck gehen konnte, solange er nicht über die Reling schaute und in sich die Vorstellung aufrechterhielt, er befände sich auf einem ganz gewöhnlichen Schiff. Er hielt den Blick starr auf die Planken gerichtet, erreichte die Treppe, die zum Vorderdeck führte, stieg sie hoch und gesellte sich zu dem alten Mann.
Aschs Augen schienen geschlossen zu sein, aber zwischen seinen Lidern war das Glitzern der Pupillen zu erkennen, die auf einen Punkt gerichtet waren, der nah oder fern liegen konnte. Der alte Mann saß wie versteinert da; nicht einmal seine Brust hob und senkte sich beim Atmen.
»Wie geht es dir?«, fragte Asch, ohne sich zu bewegen.
Fröstelnd schlang Nico die Arme um sich. »Besser«, antwortete er. »Danke für deine Anteilnahme, alter Mann.«
Ein trockenes Kichern ertönte. »Ich bin nicht hier, um dich zu beglucken, Junge.« Endlich öffnete Asch die Augen weit, sah hoch zu ihm und streckte die Hand aus.
Nico schaute sie eine Weile an. Die Fingernägel stachen hell gegen die rosigschwarze Haut um sie herum ab. Dann ergriff er die Hand, die so rau wie eine Borke war, und half dem alten Mann auf die Beine.
»Da du wieder auf den Beinen bist, muss es dir gutgehen«, verkündete Asch. »Also ist es an der Zeit, dass wir mit deiner Ausbildung anfangen. Lektion eins: Du bist mein Lehrjunge. Daher wirst du mich Meister nennen, oder Meister Asch, und niemals mehr alter Mann, und du wirst mich nicht länger duzen.«
Nico spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Ihm gefiel der Tonfall des anderen nicht. »Wie Ihr befehlt.«
»Reize mich niemals, Junge. Ich werde dich an Ort und Stelle niederschlagen, wenn du dich mir gegenüber anmaßend verhalten solltest.«
Er klang wie Nicos Vater, nachdem er zur Sonderein-heit gegangen war, oder wie einer der Idioten, die seine Mutter ins Haus gelassen hatte. »Dann schlagt mich doch«, sagte Nico. »Das wäre eine Lektion, die ich schon gut kenne.«
Asches Miene veränderte sich nicht, aber aus den Augenwinkeln heraus sah Nico, wie der Mann eine Hand zur Faust ballte, und er spannte sich an.
Doch anstatt Nico zu schlagen, atmete Asch tief aus und sagte: »Komm, setz dich zu mir.«
Er kniete sich wieder auf das Deck, diesmal Nico gegenüber. Nach kurzem Zögern folgte Nico seinem Beispiel.
»Hol tief Luft«, befahl Asch. »Gut. Noch einmal.«
Nico tat es und spürte, wie seine Wut verflog.
»Du bist ein Mercier«, begann Asch. »Dein Volk folgt dem Dao, das es auch manchmal Schicksal nennt. Also kennst du bestimmt die Wege des Großen Narren.«
Diese Frage kam unerwartet. »Natürlich«, antwortete Nico mit einer gewissen Vorsicht. Der alte Mann nickte bloß; das war eindeutig nur das Vorspiel für etwas anderes. »Ich bin ein paarmal in den Tempeln gewesen und habe gehört, wie seine Worte rezitiert wurden. Und an jedem Narrentag musste ich neben meiner Mutter sitzen, während sie ihre Anbetungen verrichtet hat.«
Asch hatte die Augenbrauen zusammengezogen und schien nicht beeindruckt zu sein. »Sag mir, weißt du, wo der Große Narr geboren wurde?«
»Man hat mir gesagt, dass er auf einem der Monde geboren wurde und auf einem brennenden Felsen hinunter zu Erē̄s gestürzt ist.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Er ist vor sechshundertneunundvierzig Jahren in meiner Heimat Honschu zur Welt gekommen. Das ist der Geburtsort des Daoismus. Der Große Narr hat Honschu nie verlassen, obwohl all eure Legenden das Gegenteil behaupten. Es war seine Große Schülerin, die die Lehre ins Midèrēs gebracht hat, und nur wegen ihr und ihrer eigenen Schüler hat sie sich in verschiedenen Formen in den südlichen Ländern einschließlich deines eigenen verbreitet. Sag mir, meditierst du?«
»Wie die Mönche?«
»Ja, wie die Mönche.«
Nico schüttelte den Kopf.
»Hoh! Dann weißt du nichts von deiner Religion, wie ich vermutet hatte. In meinem Orden sind wir ebenfalls Daoisten, aber wir folgen den Lehren des Großen Narren ohne all den Unsinn, der sich um seine Worte angesammelt hat. Wenn du seinen Wegen folgen willst, was du tun solltest, wenn du ein richtiger Rōschun werden willst, dann musst du all diese Dinge vergessen und dich ganz auf eines konzentrieren. Du musst lernen, still zu sein.«
Nico nickte langsam. »Ich verstehe.«
»Nein, das tust du nicht, aber du wirst es noch. Tu das, was ich dir sage. Lege deine linke Hand in die rechte. Ja, genau so. Jetzt richte den Rücken auf. Noch mehr, du kauerst ja immer noch. Gut. Halte die Augen einen Spaltweit offen. Wähle einen Punkt vor dir aus und sieh ihn an. Atme. Entspann dich.«
Nico atmete ein und aus und war verwirrt. Er begriff nicht, was all das mit den Tätigkeiten eines Rō̄schun zu tun haben sollte.
»Achte auf die Luft, die durch deine Nase eintritt, durch deinen Körper fließt und dich wieder verlässt. Atme tief, aus dem Bauch heraus. Ja, genau so.«
»Und jetzt?« Seine Knie schmerzten bereits.
»Sitz einfach da. Erlaube deinen Gedanken, sich zu beruhigen. Leere deinen Geist.«
»Was soll das alles?«
Aus Aschs Nase drang leise rauschend der Atem, aber sein Blick war noch immer fest auf Nico gerichtet.
»Ein Geist, der andauernd beschäftigt ist, ist krank. Ein Geist, der still ist, fließt mit dem Dao. Wenn du mit dem Dao fließt, handelst du im Einklang mit allen Dingen. Das ist es, was der Große Narr uns lehrt.«
Nico versuchte, das zu tun, was ihm der alte Mann aufgetragen hatte. Es war wie der Versuch, mit drei Bällen gleichzeitig zu jonglieren. Zum einen musste er die Strömungen seines Atems verfolgen, zum anderen den Rücken durchgedrückt halten und schließlich den Blick starr auf einen Splitter in der Reling vor ihm richten. Andauernd vergaß er, auf alles gleichzeitig zu achten, und er wurde immer frustrierter. Die Zeit schien sich auszudehnen, und bald konnte er nicht mehr sagen, ob er erst seit wenigen Augenblicken oder schon seit Stunden hier saß.
Je mehr er versuchte, still zu sein, desto mehr wollte sein Geist ein Schwätzchen halten. Es juckte ihm im Gesicht, der durchgedrückte Rücken tat weh, und die Knie pochten vor Schmerz. Es hätte auch eine Art von Folter sein können, und nach einer Weile beschäftigte er seinen Geist absichtlich mit anderen Gedanken. Er dachte darüber nach, wohin das Schiff unterwegs war, was es zum Abendessen geben mochte, und was ihn sonst noch von seiner unbequemen Lage ablenken konnte.
Es schienen mehrere Stunden vergangen zu sein, als eine Glocke ertönte und das Ende der Stunde anzeigte.
Asch erhob sich unter einem leisen Rascheln seiner Robe. Diesmal war es der alte Mann, der Nico auf die Beine half.
»Wie fühlst du dich?«
Er entschied sich, nicht das zu sagen, was ihm als Erstes in den Sinn kam. »Ruhig«, log er. »Sehr still.«
Die Augen des alten Farlanders leuchteten vor Belustigung.
Später an jenem Tag stieg das Schiff mehrere hundert Fuß ab in der Hoffnung, eine bessere Luftströmung zu finden, und tatsächlich erwischten sie bald eine schnelle Brise, die in nordwestlicher Richtung blies. Auf dem erhöhten Achterdeck flatterte dem Kapitän das geölte schwarze Haar über die eine Seite des Kopfes, als er den Befehl brüllte, die Heckflügel einzuholen und die Hauptflügel auszubreiten. Unter seiner tiefen Stimme eilten die Männer in die Takelage, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Käpt’n Graber war ein großer Mann von etwa dreißig Jahren, sauber rasiert und unglaublich hager. Seine knochigen weißen Hände ruhten in den Taschen eines graublauen Marinemantels ohne sichtbare Rangabzeichen. Vielleicht war das eine Affektiertheit, vielleicht auch die Andeutung einer früheren Karriere bei der Marine, denn jetzt befehligte er nur noch ein Handelsschiff, wenn auch ein ziemlich bemerkenswertes. Sein eines gutes Auge spähte nach oben zu dem Gasballon, der sie in der Luft hielt und sich an der Windseite unablässig kräuselte, während auf der Schulter des Kapitäns sein Kerido saß und ihm ins Ohr schnatterte, als ob er sich mit dem Mann unterhielte. Der Kerido verlagerte sein Gewicht vom einen Bein auf das andere, als dies zur gleichen Zeit auch sein Herr tat. Die Falke drehte sich wie ein Fisch und zappelte in die Strömung hinein. Das Deck kippte, als sie umschwenkte und noch immer an Höhe verlor.
Nico packte die Reling mit Fingern, die immer weißer wurden. Ängstlich lauschte er auf das Knarren der hölzernen Verstrebungen über seinem Kopf, die das eigentliche Schiff mit dem Ballon verbanden. Die großen gebogenen Hauptruder zu beiden Seiten des Ballons hatten den Wind jetzt voll erfasst. Ein Mitglied der Mannschaft beobachtete ein sich drehendes Instrument neben dem Steuerrad und rief die Geschwindigkeit, als das Schiff voranschoss.
Endlich verließen sie die Freien Häfen.
An jenem Abend speisten sie mit dem Käpt’n in seiner stattlichen Kajüte unter dem Achterdeck; es war ein niedriger, großer Raum, der die ganze Breite des Schiffes einnahm. Fenster durchbrachen die rückwärtige Wand; ihre dicken, wässrigen Scheiben waren durch überkreuzte Bleistege in Rauten unterteilt, von denen einige in durchscheinendem Grün oder Gelb eingefärbt waren. Hinter ihnen verschmolz der Horizont mit den Wolken, die von dem sinkenden Sonnenball erhellt wurden.
Das Essen war eine gesunde Angelegenheit aus Reissuppe, Bratkartoffeln, grünem Gemüse, geräuchertem Wild und Wein. Die Gänge wurden in knochenweißer Töpferware serviert, die sehr zart und bestimmt auch sehr wertvoll war. Jedes einzelne Stück war mit dem Motiv eines fliegenden Falken geschmückt. Nico vermutete, dass es sich um ein Geschenk an den Kapitän handelte.
Es wurde nur wenig gesprochen, als alle über das dampfende Essen herfielen. Asch und der Kapitän aßen mit der Hingabe von Männern, die alles im Leben genießen wollten, solange es ihnen noch gutging. Dalas, der Erste Maat des Kapitäns – ein großer Coricianer mit Korkenzieherlocken, der ein offenes Lederwams und um den Hals ein gebogenes Jagdhorn trug – war anscheinend seit seiner Geburt stumm. Selbst der Kerido des Kapitäns, der sich zunächst fürchterlich über die beiden Gäste bei Tisch aufgeregt hatte, hockte nun still vor dem Teller seines Herrn, machte mit der Schnauze leise klickende Geräusche und sabberte in Vorfreude, während der Kapitän aß. Das Tier erinnerte Nico an Kumpel und an die heimische Hütte, in der Nico das lustlos gekochte Essen seiner Mutter verspeist und heimlich Stückchen unter den Tisch geworfen hatte. Nie zuvor hatte er einen Kerido gesehen, aber er hatte durch die Straßenaufführungen von Die Geschichten des Fisches von ihnen erfahren, in denen oft von Kaufleuten berichtet wurde, die sich in die Waldoase in der flachen Wüste gewagt und dort Wahnsinn und Tod gefunden hatten. In den Geschichten wurde der Kerido trotz seiner geringen Größe stets als gefährliche und bösartige Kreatur geschildert. Nun, da einer vor Nico saß, konnte er sich vorstellen, warum das so war. Die Farben auf der harten Haut erweckten Bilder von üppiger, in Schatten gekleideter Vegetation, verstohlener Bewegung und dem plötzlichen Sprung eines Raubtiers. Er hatte nicht gewusst, dass man sie als Haustier zähmen konnte.
Aus einem verschlossenen, am Boden festgeschraubten Schrank war roter Wein geholt worden, und Asch, Dalas sowie der Kapitän waren inzwischen bei der zweiten Flasche angekommen, während Nico noch immer an seinem ersten Glas nippte. Er vermutete, dass die anderen schon ein wenig betrunken waren.
»Es ist gut, dass du wieder auf den Beinen bist«, bemerkte Kapitän Graber gelassen, während er sein Taschentuch als Serviette benutzte und sich damit die blassen Lippen betupfte. Er bedachte Nico mit einem kurzen Blick aus seinem weißen blinden Auge, als ob er damit deutlich sehen könnte. Selbst in den sanften Schattierungen des Sonnenuntergangs, die die Kajüte erfüllten, wirkte seine Haut bleich und erinnerte an das feuchte Grau des Regens.
Asch grunzte bei dieser Bemerkung, und Nico warf dem alten Mann einen Blick zu, doch der Farlander weigerte sich, ihn zu erwidern.
»Es ist nicht ganz leicht, sich an den weiten Himmel zu gewöhnen«, fuhr Graber in seinem weichen, etwas undeutlichen Akzent fort, der auf eine kostspielige Erziehung hindeutete. »Die meisten werden dir bestätigen, dass es schlimmer als auf dem Meer ist. Daher brauchst du dich wegen deiner Reaktion nicht zu schämen. Du kannst mir glauben, dass es mir kaum bessergeht, wenn ich wieder an Land bin. Ich brauche mindestens einen ganzen Tag im Bett mit einer galoppierenden Hure, bevor ich mich wieder wohlfühle.« Er schenkte Nico ein gutmütiges Lächeln und hob eine Braue, bevor er den Blick abwandte, als ob er sich schämte, zu viel gesagt zu haben.
Nico zwang sich, sein Lächeln zu erwidern, denn es war schwer, diesen Mann nicht zu mögen. Er spürte an diesem Abend, dass es für Graber wichtig war, von denjenigen gemocht zu werden, mit denen er Umgang pflegte. Das war überraschend, denn früher am Tag hatte er ein Mitglied der Mannschaft angebrüllt, weil dieses die Takelage verunreinigt hatte, und seine Worte waren unzusammenhängend und unter so viel Speichel hervorgekommen, dass Nico sich gefragt hatte, ob der Kapitän möglicherweise geistig gestört war. Schließlich war Dalas herbeigekommen und hatte Graber in seine Kajüte gezogen – außer Sichtweite der Mannschaft, nicht aber außer Hörweite.
Nun, beim Abendessen, schien der Kapitän ganz ruhig zu sein. Sein Lächeln wirkte ungezwungen, und im Blick seines gesunden, rot geränderten Auges lag so etwas wie eine Entschuldigung. Welche Dämonen ihn auch plagen mochten, sie wurden nun durch seine sanftere Natur zurückgehalten, die auch seine wahre Natur zu sein schien, so dass Nico sich in seiner Gegenwart ruhig fühlte und kaum mehr daran dachte, wie der Kapitän zuvor die Kontrolle über sich verloren hatte.
Dalas beobachtete Nico über den Tisch hinweg mit kühlem Blick, während er sich das Essen mit einer Gabel in den Mund schaufelte. Der große Coricianer hob die freie Hand und machte einige Zeichen in Gebärdensprache, die so schnell aufeinander folgten, dass sie kaum unterscheidbar waren: eine geballte Faust, die von einer Seite zur anderen sprang, eine winkende Bewegung, ein schneller Hieb, ein Aufsteigen der Handfläche.
»Beachte ihn nicht«, riet Graber ihm und machte eine abweisende Handbewegung.
Aber Nico starrte weiterhin auf die Hand des Coricianers, die nun auf dem Tischtuch lag, während der Zeigefinger unablässig gegen die Daumenspitze rieb. »Warum nicht?«, fragte er. »Was hat er gesagt?«
Graber hob sein zusammengeknülltes Taschentuch an den Mund und murmelte gedämpft: »Mein junger Freund, er bezweifelt, dass du je zuvor gesegelt und erst recht noch nicht geflogen bist.«
Der Coricianer hatte aufgehört zu kauen. Seine rechte Backe war vollgestopft mit Essen, als er auf Nicos Antwort wartete.
»Da hat er Recht«, gab Nico zu.
»Ja, aber du hast vermutlich nicht bemerkt, wie er es gesagt hat. Diese Geste aus dem lockeren Handgelenk sollte beleidigend sein.« Graber schüttelte den Kopf, bedachte Dalas mit einem tadelnden Blick und erhielt von diesem ein Stirnrunzeln. »Dalas wurde auf einem Schiff geboren. Sein ganzes Leben hat er auf dem einen oder anderen Deck verbracht. Daher sieht er oft auf Leute herab, die nie auf See waren. Er ist der Meinung, dass ihre Prioritäten allesamt verschoben sind.«
Nico schenkte ihnen beiden ein unbeholfenes Lächeln. »Als ich zehn Jahre alt war und im Meer geschwommen bin, habe ich einmal ein Holzscheit gefunden und es als Boot benutzt.«
Graber entfernte sein Taschentuch ein klein wenig vom Mund.
»Ein Holzscheit, sagst du?«
»Ein großes.«
Graber verschluckte ein Lachen, das zu einem Husten wurde, welches er mit seinem Taschentuch erstickte. Sogar Dalas’ Miene wurde sanfter, und er schluckte das Essen in seiner Backe herunter.
»Du trinkst ja gar nichts«, bemerkte der Kapitän, als er wieder Luft bekam. »Berl, würdest du ihm bitte nachschenken? «
Berl, der als Bedienung neben dem Tisch stand, trat vor. Er goss Nico Wein ein, obwohl das Glas fast voll gewesen war.
Nico betrachtete das vor ihm stehende Glas.
»Wie ich sehe, hast du noch keinen richtigen Geschmack daran gefunden«, bemerkte Graber über den Rand seines eigenen Pokals hinweg. »Das wirst du noch, glaube mir. Bei einem Leben wie dem unseren kommt das schnell. Sieh dir bloß einmal deinen Meister an. Als er beim letzten Mal hier an Bord war, musste ich alle Vorräte unter Verschluss halten, denn sein Durst war wirklich grenzenlos.«
»Unsinn«, sagte Asch, trank den Rest seines Weins und streckte das leere Glas zum Nachfüllen aus.
Nico lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hoffte, dass das Gespräch nun an ihm vorbeilief. Er nahm sein Glas auf, damit seine Hände wenigstens etwas zu tun hatten. Überall um ihn herum knarrte das Holz in eigenen, voneinander unabhängigen Rhythmen. Es erinnerte ihn an die bewaldeten Vorgebirge seiner Heimat und daran, wie er mitten unter den Kiefern gestanden hatte, die in einer mittäglichen Brise geschwankt und geächzt hatten. Er nahm noch einen Schluck Wein. Der Nachgeschmack war süß, nicht wie das billige, bittere Zeug, das seine Mutter manchmal trank. Daran könnte er sich gewöhnen, dachte er, falls er je das Geld für solchen Wein haben sollte.
Ein Bild seines Vaters kam ihm in Erinnerung. Sein Vater war sturzbetrunken gewesen, hatte den Atem zischend durch die Nase ausgestoßen, und seine Zunge hatte versucht, sich an dem Hindernis der Unterlippe vorbeizudrücken. Sofort stellte Nico das Glas wieder ab.
Auch Graber lehnte sich nun auf seinem Stuhl zurück, bis er nur noch auf den zwei hinteren Beinen stand. Sein Seufzen verstärkte den Eindruck der Müdigkeit, die über ihm zu liegen schien.
»Ich habe dich von deinem Landurlaub abgehalten«, sagte Asch entschuldigend.
»Und den Rest der Mannschaft ebenfalls«, murmelte Graber, stellte seinen Stuhl wieder gerade und lächelte dünnlippig, während der Blick seines blinden Auges über den Tisch schweifte, ohne etwas zu sehen. »Sie sind im Augenblick etwas unzufrieden mit ihrem Kapitän, und das kann ich ihnen kaum vorwerfen. Wir waren gerade von unserer letzten Fahrt zurückgekommen. Du hast gesehen, in was für einem schlechten Zustand wir waren, und das nach einer ganzen Woche Reparaturen. Jetzt müssen sie wieder durch die Blockade fliegen und hatten kaum eine Woche Ruhe an Land. Es ist schwer für sie – schwer für uns alle.« Wieder betupfte er sich das Gesicht mit seinem Taschentuch.
Asch wischte sich den Wein von den Lippen. »Wenigstens ist es diesmal eine kurze Reise.«
»Ja«, gab der Kapitän zu. »Aber es ist wenig Gewinn darin, außer vielleicht ein wenig Stoff, den wir für unser Getreide bekommen. Das wird zumindest meine Geldgeber glücklich machen. Und natürlich kann ich damit meine Schulden bei dir abtragen. Ich glaube, damit sind wir quitt.«
»Du hast mir überhaupt nichts geschuldet.«
»Hast du das gehört?«, fuhr Graber plötzlich den Kerido an, der inzwischen aufgehört hatte, mit einer schuppigen Klaue nach den Überresten auf Grabers Teller zu angeln, und stattdessen aufschaute. »Selbst jetzt noch leugnet er, dass er mich in der Hand hat.« Geistesabwesend nahm er eine halbgegessene Süßwurzel in die Hand, und die Kreatur öffnete das Maul, als er ihr das Stück entgegenhielt.
»Du musst mir eines versprechen«, sagte Graber zu Asch und hielt inne, als Nico plötzlich entsetzt vom Tisch zurückwich. Graber schaute hinunter auf das Geschöpf, das zwischen ihnen hockte. Es streckte die Zunge durch das offene Maul, ein langes, steifes und hohles Ding wie eine Kinderrassel, mit dem es ein Geräusch von sich gab, das eindeutig bedrohlich klingen sollte. Graber warf ihm das Wurzelstück ins Maul, damit es Ruhe gab, und fuhr fort:
»Wenn das nächste Mal ein alter Seebär in einer Taverne von hinten auf mich zukommt, dann erlaube mir, mich selbst um ihn zu kümmern. Freundschaft ist eine schöne Sache, aber ich hätte lieber eine durchstochene Leber, als noch einmal in deiner Schuld zu stehen.«
Asch neigte zustimmend den Kopf.
Nico schaute dem Geschöpf beim Fressen zu. Es hielt die Wurzel mit beiden Klauen und riss mit raschen Bewegungen seines schnabelartigen Mauls Streifen heraus. Er stellte fest, dass er sein Besteck wie Waffen vor sich hielt.
Ein gleißendes Licht durchdrang inzwischen die Kajüte. Die Sonne ging unter. Sie warf ihre letzten Strahlen durch die Bleiglasfenster in der hinteren Kajütenwand und druckte Rauten aus Farbe auf die Holzbalken, die nicht weit von ihren Köpfen entfernt waren, sowie auf die Plankenwände und den langen Tisch, auf dem etliche Karten lagen, die mit abgerundeten Steinen beschwert waren. Nico warf einen Blick auf diese Karten. Er saß ihnen nahe genug, um einige undeutliche Einzelheiten zu erkennen: Landmassen, begraben unter Symbolen, Anmerkungen und geschwungenen Pfeilen. Es schienen sowohl Karten der Luft als auch des Landes zu sein.
Dieser Gedanke trieb ihn dazu, den Blick hinter den Tisch zu richten. Durch den unteren Teil der rückwärtigen Fenster war ein Meer zu erkennen, das aufgrund der Höhe flach und ununterscheidbar wirkte.
»Wenn mir die Frage erlaubt ist«, wagte er zu sagen, während er den Blick von der Wassertiefe riss, »wie lange wird die Überquerung dauern?«
Ganz kurz legte sich ein Schatten auf das Gesicht des Kapitäns. Graber beugte sich vor und deutete mit seinem Pokal auf Nico. Wein spritzte hervor, und Berl runzelte die Stirn, als rote Tropfen auf das saubere Leinen fielen. »Das kommt darauf an«, sagte er mit einer Stimme, die nüchterner als vorhin klang. »Irgendwann heute Nacht werden wir die kaiserliche Seeblockade erreichen. Vielleicht hält der Wind an. Vielleicht haben sie hier nichts in der Luft.«
»In der Luft?«, platzte Nico heraus. »Ihr meint mhannische Luftschiffe?«
»So weit draußen besteht diese Gefahr immer.«
Wieder sah Nico Asch an, doch der alte Mann zeigte plötzlich großes Interesse am Boden seines Weinglases.
Graber bemerkte Nicos Besorgnis. »Aber es ist ganz unwahrscheinlich«, sagte er. »Die meisten ihrer Kriegsvögelchen schwirren drüben im Osten herum und stürzen sich auf die Zanzahar-Route. Nicht hier, sondern dort finden die meisten Kriegshandlungen statt. Glaub mir, ich weiß es. Zanzahar ist alles, was uns zum Außenhandel geblieben ist, und daher sind die meisten Handelsluftschiffe darauf angewiesen, dorthin zu fliegen, einschließlich der Falke. Wenn die Meeresflotten nicht durchkommen oder schwere Verluste erleiden, füllen die Luftschiffe die entstandene Lücke aus. Wir fliegen schon seit fast vier Jahren auf der Zanzahar-Route.« Er verstummte und trank seinen Pokal bis zum letzten Tropfen leer. »Ich bin sicher, dass du die Geschichten darüber gehört hast.«
Allerdings hatte Nico die Geschichten gehört. Geschichten über die mhannischen Luftschiffe, die wie Wolfsrudel entlang der Route warteten und jedes Handelsschiff überfielen, das dort vorbeikam. Jahr für Jahr wurden die Handelsschiffe weniger. Graber musste das nicht erst erwähnen, denn es war an seinem grimmigen Tonfall zu erkennen, bei dem sogar der Kerido sein Geknabber eingestellt hatte und ihn ansah.
Auch Nico starrte den Kapitän an. Graber schien nicht mehr anwesend zu sein, sondern sich ganz in den Flecken auf dem Tischtuch vor ihm verloren zu haben. Während die Sonne ihre letzten Strahlen auf ihn warf, schaute Graber verwirrt auf, als wäre er aus großer Ferne zurückgekehrt, und drehte den Kopf langsam dem abnehmenden Licht zu. Im Profil war seine Hakennase deutlich zu erkennen, was möglicherweise auf altes Alhazii-Blut hindeutete, auch wenn er hier in der Kajüte lediglich ein ferner Widerhall der Alhazii-Wüste war und eher wie ein krank aussehender Khosier wirkte, der seine Mannschaft mit einer manchmal zitternden linken Hand und einer nur wenig festeren rechten zusammenhielt, die andauernd ein weißes, schweißfleckiges Taschentuch aus spitzenbesetzter Baumwolle zu zerknüllen schien.
Nico spießte eine Kartoffel auf seinem Teller auf und stopfte sie sich in den Mund. Sie war kalt geworden, und in seinem Magen machte sich wieder ein flaues Gefühl breit, aber er aß trotzdem. Dieses Gespräch gefiel ihm nicht. In Bar-Khos waren die Stadtmauern wenigstens ein Symbol des Schutzes und des weiterlaufenden Alltagslebens. Hier oben hingegen gab es nichts als Himmel und eine anscheinend vollkommene Abhängigkeit von Wind und Glück. Das klang gar nicht beruhigend.
Und was würde nach dieser Reise kommen? Auf Cheem, dieser berüchtigten Insel der Plünderer und Bettlerkönige, würden sie sich Asch zufolge in das bergige Innere begeben und dort nach dem versteckten Orden von Rō̄schun suchen, in dem er zum Mörder ausgebildet werden sollte. Je mehr er über all das nachdachte, desto mulmiger wurde es Nico. Das Leben in Bar-Khos schien ihm so viel einfacher gewesen zu sein, denn dort hatte er einfach nur jeden Tag ums Überleben kämpfen müssen. Und wenigstens hatte er Kumpel an seiner Seite gehabt.
Von draußen drang ein Ruf herein.
Graber und Dalas sahen sich an. Der Ruf ertönte noch einmal. Der Kerido schnappte sich mit dem Maul die Überreste der Süßwurzel und kletterte auf die Schulter des Kapitäns. Dalas stand auf, und obwohl er den Rücken gebeugt hielt, berührte der Haarschopf des Coricianers die Deckenbalken. Er stapfte hinaus.
»Etwas früher, als ich erwartet hatte«, murmelte Graber und betupfte sich ein letztes Mal die Lippen. Als er sich erhob, schob er den Stuhl zurück, der schabende Geräusche von sich gab. »Entschuldigt mich bitte.«
Er nahm seinen Pokal mit, während Berl mit der Weinflasche hinter ihm herlief.
Asch und Nico waren allein in der plötzlichen Stille.
»Ein anderes Schiff«, erklärte Asch neben ihm.
»Mhannier?«, fragte Nico. Seine Stimme klang gedämpft.
»Sehen wir nach.«
Im kühlen Zwielicht konnte Nico zuerst gar nichts erkennen. Er stand neben Asch und spähte in dieselbe Richtung wie alle anderen, einschließlich des Kerido, doch er sah nichts außer endlosem Wasser unter dem matten Himmel.
Dann bemerkte er es. Im Osten befand sich auf der Meeresoberfläche ein weißes Segel.
»Können wir schon ihre Farben erkennen?«, fragte der Kapitän Dalas. Die hüftlangen Korkenzieherlocken des Coricianers zitterten, als er den Kopf schüttelte.
»Wir sind so weit draußen, dass es nur ein mhannisches sein kann – wenn kein Handelsschiff, dann ein Patrouillenboot. « Zuerst hatte es den Anschein, als ob Graber zu sich selbst sprach, aber als er sich am bleichen Gesicht kratzte, sah er dabei Dalas an. Der große Mann verschränkte die tätowierten Arme vor der Brust und zuckte die Schultern.
Sie hatten sich auf dem Achterdeck neben dem Steuerrad versammelt, der höchsten Stelle auf dem Schiff. Nico zitterte; seine Augen tränten vom andauernden Fegen des Windes. Kapitän Graber nahm einen Schluck aus seinem Pokal und schmatzte mit den Lippen. Mit der anderen Hand, in der sich noch sein Taschentuch befand, fuhr er sanft über das glatte Holz der Reling, als ob er sie vom Staub befreien wollte. Asch hatte Nico gesagt, dass Graber das Schiff aus einem Wrack, das ihm als Bergungslohn überlassen worden war, selbst gebaut hatte. Der Umbau hatte ihn sein ganzes Familienvermögen und noch viel mehr gekostet.
Graber machte vier Schritte zur Achterreling, dann wieder vier Schritte zurück und scharrte mit den Stiefeln über das Deck, als er stehen blieb.
»Die Farben!«, rief er zum Ausguck an der Reling des Vorderdecks, wobei er die Hand an den Mund legte. »Kannst du die Farben schon erkennen?«
»Noch zu weit weg, Käpt’n«, rief der Ausgucker zurück.
Graber zupfte an seinem Kinn herum. Er schaute hoch zu dem Ballon über ihnen, der vom schwindenden Licht angestrahlt wurde. Zu dieser Tageszeit war er für ein scharfes, in seine Richtung blickendes Auge viele Laq weit zu erkennen.
»Haben sie uns schon gesehen – das ist die Frage, die wir uns stellen sollten«, murmelte Graber, während er das ferne Segel betrachtete.
Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als ob die Sonne wieder aufging. Ein blendend helles gelbes Strahlen stieg in den Himmel und blieb dort zunächst in der heraufziehenden Dunkelheit hängen. Darunter spiegelte das Meer das Licht der Sonne als zitternde, feurige Scheibe wider. Das mhannische Schiff warf einen hart umrissenen Schatten auf das Wasser.
Graber schüttete sich den Rest Wein in den Mund und warf Berl den leeren Becher zu. »Das beantwortete die Frage«, verkündete er.
Das Glühen stieg wieder ab, und der leuchtende Kreis auf dem Wasser wurde immer kleiner. Es tauchte unter und brannte noch immer, stieg geisterhaft glimmend in die Tiefe. Nico rieb sich die Augen, um das Nachbild zu vertreiben, dann öffnete er sie wieder und sah, wie am östlichen Horizont ein neuer Feuerschein himmelwärts stieg. Das bedeutete, dass sich dort draußen ein weiteres Schiff befand, das wegen der Entfernung noch nicht zu sehen war.
»Es muss eine Formation in der Nähe sein«, sagte Graber. »Wenn sie ein paar Vögelchen in diesem Gebiet haben, dann haben wir die Bastarde noch vor Sonnenaufgang im Nacken.«
Nico regte sich unbehaglich.
»Bleib ruhig«, warnte Asch ihn. Der alte Rōschun stand reglos da, hatte die Hände in den Ärmeln vergraben und beobachtete das verblassende Glimmen.
»Befehle, Kapitän?«, fragte der Mann am Steuer, ein alter zerlumpter Seemann.
»Befeuere die Röhren, Steiner, und bring uns nach Westen. Schlag den alten Kurs wieder ein, sobald es vollständig dunkel ist.«
»Aye, Käpt’n.«
Graber legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die wenigen abendlichen Sterne, die schon erschienen waren. »Dalas, sorge dafür, dass die Verdunkelung heute Nacht vollständig ist und von jeder Wache überprüft wird. Jeder, der sich über diese Anordnung hinwegsetzt, wird in den Kielraum geworfen.«
Graber drehte dem Himmel den Rücken zu, und seine Zähne leuchteten in der Dunkelheit.
»Arbeit macht durstig«, sagte er zu Asch. »Hast du Lust, mit mir diese Flasche abzuarbeiten?«
Nico wollte nicht zu den kalten Überresten seines Essens zurückkehren. Stattdessen begab er sich allein und verärgert in seine Kabine. Lange versuchte er einzuschlafen. Heute Nacht schien die Koje härter zu sein. Durch die Deckenplanken unmittelbar über ihm war das Gemurmel von Stimmen zu hören: Graber und Asch unterhielten sich und tranken miteinander. Er versuchte, ruhig zu werden, aber es gelang ihm nicht. Immer wieder dachte er an die Zukunft – an morgen und den Tag danach, und an die Wochen, Monate und Jahre, die vor ihm lagen. Schlaf war eine Zuflucht, die ihm verwehrt war.
Einige Stunden später stolperte Asch in die Schwärze des Raums. Er stank nach Wein und grunzte, als er in seiner Koje zusammenbrach. Nico beobachtete seine undeutlichen Umrisse, als er sich auf den Rücken rollte.
In der Düsternis sah er, wie sich der alte Mann mit der Hand an die Stirn griff. Asch atmete tief durch, als ob ihm das helfen würde, und tastete in den Innentaschen seiner Robe herum. Schließlich hatte er den kleinen Beutel gefunden, den er immer bei sich zu tragen schien. Er entnahm daraus ein Dulceblatt und steckte es sich in den Mund.
Der alte Mann kaute und atmete dabei schwer durch die Nase.
»Meister Asch«, flüsterte Nico der dunklen Gestalt zu.
Einen Moment lang glaubte er, der Farlander hätte ihn nicht gehört. Doch dann schnalzte Asch mit der Zunge und fragte: »Was?«
Ein Dutzend Fragen formten sich in Nicos Kopf. Sie hatten bisher nur kurz über den Orden von Rō̄schun, über die Siegel und deren Funktionsweise sowie darüber gesprochen, was er dort tun sollte. Es gab so vieles, was er wissen wollte.
Doch stattdessen sagte er nur: »Ich habe mich bloß gefragt, ob es Euch gutgeht.«
Es kam keine Antwort.
»Ich habe bemerkt, dass Ihr oft diese Dulceblätter kaut.«
Als der Rō̄schun endlich antwortete, klang seine Stimme unterdrückt und hölzern. »Kopfschmerzen. Das ist alles.«
Nico nickte, als ob der Farlander dies in der Dunkelheit sehen könnte. »Bei einem meiner Großväter war es dasselbe«, sagte er. »Nicht dass er wirklich mein Großvater war. Ich habe ihn nur so genannt. Er ist bei der Verteidigung des Schildes gestorben. Ich erinnere mich, dass er auch diese Blätter gekaut hat. Als ich ihn danach gefragt habe, hat er gesagt, das würde er wegen seiner Augen tun. Sie waren immer schlechter geworden, und das Blinzeln hat ihm Kopfschmerzen verursacht.«
Die Koje knirschte; der alte Mann hatte ihm den Rücken zugedreht.
»Meine Augen sind sehr gut«, murmelte er. »Schlaf jetzt, Junge.«
Nico seufzte, rollte sich auf den Rücken und starrte in die Schwärze. Er wusste, dass der Schlaf noch weit weg war.
Irgendwo über seinem Kopf schritt ein Stiefelpaar in der Kajüte des Kapitäns durch die Nacht, hin und her, hin und her.